Wilfried Mende Systemische Rotionolisierungsprozesse Studien zur Wissenschafts- und Technikforschung Herausgegeben von Prof. Dr. Wolfgang Krohn und Prof. Dr. Peter Weingart Die Studien zur Wissenschafts- und Technikforschung richten den Blick auf die Funktionen von Forschung und technologischer Entwicklung in der entstehenden Wissensgesellschaft. Wissenschaft und Technik sind einerseits die wichtigsten Garanten der Innovationsfahigkeit der Gesellschaft, andererseits aber auch Quellen neuer Unsicherheiten und Befurchtungen. In den Banden der Schriftenreihe werden neue Formen der Wissenserzeugung, die Bewaltigung von Risiken sowie die Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessen und Wissenskulturen analysiert. Wilfried Mende Systemische Rationalisierungs- prozesse Zum Management rekursiver Informatisierung Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Wolfgang Krohn 1jyl1.\r7 DeutscherUniversitatsVerlag ~ GABLER ·VIEWEG WESTDEUTSCHER VERLAG Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Mende. Wilfried: Systemische Rationalisierungsprozesse : zum Management rekursiver Informatisierung / Wilfried Mende. Mit einem Geleitw. von Wolfgang Krohn Wiesbaden : DUV, Dt. Univ.-Verl., 1998 (DUV : Sozialwissenschaft) (Studien zur Wissenschafts- u. Technikforschung) Zugl. Bielefeld, Univ., Diss., 1998 Aile Rechte vorbehalten © Deutscher Universitiits-Verlag GmbH, Wiesbaden, 1998 Lektorat: Cornelio Reichenbach Der Deutsche Universitiits-Verlag ist ein Unternehmen der Bertelsmann Fachinformation GmbH. Dos Werk einschlieBlich oller seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzuliissig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfiiltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. http://www.duv.de Gedruckt auf siiurefreiem Papier ISBN 978-3-8244-4298-0 DOI 10.l007/978-3-322-95363-6 ISBN 978-3-322-95363-6 (eBook) Geleitwort Rationalisierungsprozesse bestimmen die Innovationsstrategien vieler Firmen, aber wie "rational" geht es dabei zu? Diese Arbeit unternimmt es, diese Prozesse an Hand vorhandener Fallstudien und verschiedener theoretischer Modellierungen zu begreifen und womoglich die Ergebnisse in die Innovationspraxis zuriickzuspielen. 1m Zentrum steht dabei eine neue Rationalisierungspraxis, fiir deren Bezeichnung sich in der Industriesoziologie der Begriff "systemisch" herausgebildet hat: betriebliche Modernisierung aus einem GuB. Die vielen empirischen Beispiele, die Mende fiir seine Analyse heranzieht, lassen allerdings erhebliche Zweifel daran aufkommen, daB es dem Management haufig gelingt, solehe Prozesse ohne groBe Briiche durchzusetzen. Mende deckt die unerkannten - und dennoch vermeidbaren - Fehler auf, die die Strategien zum Scheitern bringen: Zu abstrakte Modellierungen der Organisationsstrukturen, Vernachlassigung der Kompetenz der Mitarbeiter, Gleichgiiltigkeit gegeniiber der Akzeptanz der Veranderungen, top-down Implementationen neuer Strukturen. ZusammengefaBt steht im Zentrum seiner kritischen Bestandsaufnahme der Mangel an betrieblicher Kommunikation und Partizipation bei Prozessen der systemischen Rationalisierung. Das zentrale Gegenstandsfeld der Arbeit ist durch die zwei Begriffe Flexibilisierung und Informatisierung umrissen. Es geht darum, daB Wirtschaftsorganisationen ihre eigene Handlungsprogrammierung auf schnell wechselnde und im Anforderungsprofil sich ausweitende zunehmende Marktanforderungen einstellen miissen, ohne dabei ihre organisationsintegrierte Handlungsfahigkeit zu verlieren. Dieses "Flexibilitats-Stabilitats-Dilemma" wird los bar durch "Informatisierung". Informatisierung ist ein Typ der Technisierung, der gleichermaBen die Erzeugung neuer Artefakte und die Veranderung von Organisation umfaBt. Informatisierung verspricht neben klassischen Rationalisierungseffekten neue Moglichkeiten in der Verarbeitung situativ relevanter Information und in der kommunikativen Bewaltigung komplexer Aushandlungsprozesse. Wie aber wird der ProzeB der Informatisierung gesteuert - und wie sollte er gesteuert werden? Geleitwort vi Mende zieht zur theoretischen Interpretation seiner Befunde zwei Ansatze heran, die einander ziemlich entgegengesetzt sind. Da ist einmal die mikropolitische Kritik an der systemischen Rationalisierung, die die Bedeutung von UngewiBheitszonen, Macht- und Interessenkonstellationen herausstellt. Dieser Ansatz betont, daB Rationalisierungsprozesse starker durch organisationale Bastelei als durch die Implementation praziser Planungen gekennzeichnet sind. Die herangezogenen Fallstudien belegen dies. Da ist auf der anderen Seite das Konzept der Managementstrategie, das trotz aller Kritik herangezogen werden muB, urn die organisationale Effizienz zu erklaren, die bei einigen Fallen gliicklich zum AbschluB gebrachter Innovationsprozesse nicht zu bestreiten ist. Mendes eigener Versuch, diese Spannung zu iiberwinden, schlieBt an die moderne Theorie der Selbstorganisation an. Dieser Ansatz macht es ihm moglich, die soziale Interpretations- und Handlungskomplexitat und damit die begrenzte Kalkulierbarkeit der Strategien einzelner Akteure nachzuzeichnen und dennoch zu verstehen, wie daraus neue Strukturen entstehen konnen. Er zeichnet nach, wie aus Unsicherheit, Unzufriedenheit und Widerstand Lernprozesse entstehen konnen, die rekursiv in Interaktionszyklen ablaufen. Wenn die systemische Rationalisierung in ein solches Muster kollektiven Lernens eingepaBt ist, kommt es zur schrittweisen Spezifikation, Herstellung und Erprobung derjenigen Technik, die Trager der erwarteten Flexibilisierung betrieblicher Ablaufe und Leistungen ist. Damit ist ein idealtypischer ProzeB des organisationalen Lernens entworfen worden, an dem gemessen die Beobachtungen tatsachlicher Innovationen auf gravierende Defizite hinweisen. Vor allen wird deutlich, daB die mit der Managementstrategie verbundene topdown Planungsstrategie beinahe regelmaBig erst einmal scheitern muB, damit das Management die Vorteile rekursiver Design- und Lernprozesse begreift oder sich abringen laBt. Nur allmahlich findet es zum ~ vernetzten Denken" und zur diskursiven Konfliktbehandlung. Mende schlagt also eine neue Losung fUr das Flexibilitats- Stabilitats-Dilemmas VOL Er beantwortet die Frage, ob systemische Rationalisierung eher durch strategische Planung oder durch mikropolitische Spiele gesteuert und gestaltet werden, nicht mit einem unbefriedigenden teils-teils, sondern mit dem Angebot eines neuen Grundgedankens: Systemische Rationalisierung funktioniert als ein rekursiver GestaltungsprozeB. In diesem wird unterstellt, bzw. durch schlechte Erfahrungen gelernt, daB Akteure nur begrenzt kontrollierbar und strategisch steuerbar sind. Kontrolle kann immer nur durch die Handlungsund Interpretationsumwelt der Akteure - und daher letztlich immer nur "unkontrolliert" ausgeiibt werden. Statt Kontrolle wird auf die selbstorganisierende Leistungsfahigkeit von Geleitwort vii Akteursnetzwerken bei der Gestaltung und Stabilisierung von technischen und organisatorischen Innovationen verwiesen. Diese Kombination von Kontextsteuerung durch das Management und Entwicklung einer Eigenlosung durch die beteiligten Akteursgruppen anerkennt die groBe Bedeutung der Mikropolitik, ohne allerdings einzuraumen, daB alles innovatorische Prozessieren auf nmuddling through" oder nbricolage" hinauslauft. Wolfgang Krohn Danksagung Der Weg, diese Promotion zu erstellen, war selten gradlinig und direkt sondern eher ein Erkunden und Erforschen auf "unbekanntem Geliinde". Auf dieser "Expedition" begleiteten mich eine Vielzahl von Menschen, denen ich allen hiermit fur ihre Unterstutzung und ihr Interesse herzlich danken mochte. Dies sind insbesondere: Peter Naeve, meinem Doktorvater (im positivsten Sinne des Wortes), der mich stets ermutigte, das unbekannte Geliinde zu erkunden, auch wenn der Ausgang dieses Vorhabens offen war, Wolfgang Krohn, der sich als Soziologe darauf eingelassen hat, einen "Fachfremden" zu betreuen, Volker Bieta, der immer wieder mit wechselndem Erfolg versuchte, meinen Blick auf die "akademische Realitiit" zu lenken, Gaby Schutte, die mich den Soziologen und den Hintergrunden der Soziologie niiher brachte, Dhyano Evermann, der mich immer wieder auf die Dinge des Lebens aufmerksam machte, die nichts mit dem Promovieren zu tun haben, Petra Godecke, die mich am best en verst and, wenn es mal nicht so gut lief, den Kollegiaten des Graduiertenkollegs "Genese, Strukturen und Folgen von Wissenschaft und Technik" fur die anregenden Diskussionen, die DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft), fur ihre finanzielle Unterstutzung meiner Arbeit im Rahmen eines Graduierten-Stipendiums, meinen Eltern, Christel und Wilhelm Mende, die nie so recht verstanden haben, was ich so an der Universitiit trieb, mich aber trotzdem immer unterstutzten, und besonders Ute Schoneich, meiner Lebensgefiihrtin, fur so vieies, was ich nicht in Worte fassen kann. Wilfried Mende I nhaltsverzeichnis xv Abbildungsverzeichnis Einleitung 1 1 Systemische Rationalisierung und Technik 7 1.1 1.2 Systemische Rationalisierung. . . . . . 7 1.1.1 Merkmale systemischer Rationalisierung 7 1.1.2 Beispiel einer geplanten systemischen Rationalisierung 12 1.1.3 Rationalisierungspotentiale der neuen Informationstechnik 14 Systemische Rationalisierung als Technik? 1.2.1 Technik als Artefakt .. . . . . . . 16 1.2.2 Technik als 19 1.2.3 Technik als Medium . . . . . . . . . 21 1.2.4 Technik als soziotechnisches System. 24 1.2.5 Systemische Rationalisierung als Technik 27 Zweck~Mittel~Beziehung 2 Zwei Modelle systemischer Rationalisierungsprozesse 2.1 2.2 16 29 Managementstrategie und Mikropolitik . . . . . . . 29 2.1.1 Systemische Rationalisierung als Managementstrategie 29 2.1.2 Systemische Rationalisierung als Mikropolitik . . . . . 35 Managementstrategie und Mikropolitik in systemischen Rationalisierungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Inhaltsverzeichnis xii 2.2.1 2.2.2 2.3 Vier Fiille zwischen Managementstrategie und Mikropolitik . 42 2.2.1.1 Fall 1: Integrierter Kundenservice . . . . . . . . . 42 2.2.1.2 Fall 2: Personalinformationssystem in einer Bank 44 2.2.1.3 Fall 3: EDV-Strategie 47 2.2.1.4 Fall 4: Logistikprojekt 48 Systemische Rationalisierung als Managementstrategie oder Mikropolitik? ................................ 52 2.2.2.1 Systemische Rationalisierung als Managementstrategie? . 52 2.2.2.2 Systemische Rationalisierung als Mikropolitik? 57 Die Grenzen von "Managementstrategie" und "Mikropolitik" .. 3 Akteursstrategien unter Unsicherheit und Unzufriedenheit 3.1 3.2 3.3 3.4 62 65 Element und Wechselwirkungen 65 3.1.1 Akteure . . . 66 3.1.2 Interaktionen 68 Kognitive Dissonanzen 69 3.2.1 Unsicherheit .. 71 3.2.2 Unzufriedenheit 72 Ausgangsbedingungen von Unsicherheit und Unzufriedenheit 73 3.3.1 Komplexitiit. 74 3.3.2 Konflikte... 78 3.3.3 Das Spannungsfeld zwischen Kontingenz und Interdependenz . 82 Akteursstrategien im Umgang mit Unsicherheit und Unzufriedenheit . 86 3.4.1 Abwehr: Passiver Widerstand .. 87 3.4.2 Mikropolitik: Aktiver Widerstand 91 3.4.3 Lemen............... 95 Inhaltsverzeichnis xiii 4 Systemische Rationalisierung als rekursiver ProzeO 101 4.1 Projektinitialisierung . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.1.1 Grunde fur die Entstehung einer systemischen Rationalisierung . 105 4.1.2 Die Entwicklung einer Lasungsidee 107 4.2 Die Bildung eines Projektnetzwerkes 110 4.3 Projektspezifikation. 113 4.4 Technikherstellung . 117 4.5 Implementation: Der Transfer der Lasung in die Organisation 121 4.6 Reorganisation 124 5 Grundprobleme des Managements systemischer Rationalisierungsprozesse 131 5.1 Klassifikation von EDV-Projekten . . . . . . 132 5.2 Operationale Geschlossenheit von Akteuren 139 5.3 Unsicherheit in systemischen Rationalisierungsprozessen . 146 5.4 Zusammenfassung...................... 152 6 SchluObetrachtungen 153 6.1 Vorgehen und Ergebnisse. 153 6.2 Methodische Reflexionen 158 6.3 Ausblick . . . . . . . . . 162 Literatur 165 Abbildungsverzeichnis 3.1 Interdependenzen zwischen den Akteuren . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 84 4.1 Rekursiver ProzeB . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4.2 Verlauf systemischer Rationalisierungsprozesse 104 4.3 Interaktionszyklen zur Projektspezifikation . 115 4.4 Reorganisation durch die Einfiihrung eines PPS-Systems 126 5.1 Komplexitat der Entwicklung von Informationssystemen 133 5.2 Der zentrale Kreislauf . 136 5.3 Integrierte Perspektive 137 5.4 Learning-Loops . . . . 151 6.1 Rekursive Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Einleitung Durch zunehmende Veriinderungen der Markt- und Konkurrenzbedingungen erhoht sich in der Regel der Rationalisierungsdruck auf die Unternehmen: Es wird mehr produziert als abgesetzt werden kann, Produktinnovationen der Konkurrenz folgen in immer kiirzeren zeitlichen Abstiinden aufeinander, die Wiinsche von Kunden werden zunehmend differenzierter, und auslandische Konkurrenz dringt immer starker in nationale Miirkte ein [vgl. Halbich 1989, 137]. Diese Umweltanderungen zwingen jene Unternehmen, die wettbewerbsfiihig bleiben wollen, zunehmend fiexibler zu agieren. Wahrend bislang die Fiihigkeiten zur Kostenreduzierung und Produktivitiitssteigerung als Voraussetzungen fiir die" Uberlebensfiihigkeit" der Unternehmen gesehen werden, treten im Zuge neuer Rationalisierungsstrategien die Flexibilitat von Organisationen und ihre Anpassungsfiihigkeit an Marktveriinderungen als zentrale Kriterien fiir Rationalisierungen in den Vordergrund [Altmann u.a. 1986, 193; BaethgeJOberbeck 1986, 22]. In diesem Zusammenhang wird ein neuer Rationalisierungstyp diskutiert: die systemische Rationalisierung. Der neue Rationalisierungstyp wurde erstmals in den Arbeiten von Baethge und Oberbeck [1986] sowie Altmann u.a. [1986] thematisiert. Altmann u.a. [1986] haben die systemische Rationalisierung im Bereich der Produktion untersucht, BaetgheJOberbeck [1986] im Bereich der Dienstleistungen. Unter "systemische Rationalisierung" wird def Versuch verstanden, empirisch beobachtete Phiinomene im Bereich der Entwicklung und Einfiihrung neuer Informationstechniken und der damit zusammenhiingenden Umgestaltung organisatorischer Abliiufe begriffiich zu fassen. In erster Linie geht es hierbei urn die Verkniipfung von Informationstechnik und Organisation mit dem Ziel, die strategische Wettbewerbsposition der Unternehmen durch Informationstechnik und Flexibilisierung zu stiirken. "Heute geht es nicht mehr darum, ob die Informationstechnik wichtige Auswirkungen auf die Wettbewerbsposition eines Unternehmens hat, sondern nur noch darum, wann und wie diese Effekte eintreten werden. Wer heute nicht reagiert, wird kiinftig Einleitung 2 gezwungen sein, einen Wandel hinzunehmen, den andere eingeleitet haben." [Porter zit. nach Nagel [1989, 50JJ Die Wettbewerbspositionen der Unternehmen durch Informatisierung bzw. systemische Rationalisierung verbessern zu wollen, setzt eine positive Antwort auf die grundlegende Frage voraus, ob Organisationen iiberhaupt in der Lage sind, ihre systemischen Zusammenhange auf Basis der Einfiihrung von Informationstechniken zu verandern; und wenn ja, wie sie dabei vorgehen? Das heiBt, es ist fraglich, ob Organisationen die potentiellen Wettbewerbsvorteile der Informationstechniken iiberhaupt nutzbar machen konnen? Ein grundlegendes Problem hierbei ist das Rationalisierungsdilemma, mit dem die Unternehmen im Zuge ihrer Rationalisierung umgehen miissen. Die veranderten Markt- und Konkurrenzbedingungen stellen Unternehmen mehr und mehr vor das grundlegende Problem, mit zwei Formen von Unsicherheit umgehen zu miissen: mit externer und interner Unsicherheit. Interne Unsicherheit entsteht, wenn organisationsinterne Arbeitsablaufe nicht festgelegt sind und offen ist, welche Handlungen in den jeweiligen Entscheidungssituationen ausgefiihrt werden. Externe Unsicherheit ergibt sich daraus, daB Unternehmen die Entwicklung ihrer Umwelt (Absatzmarkte, technische Innovationen, etc.) nicht absehen konnen [vgl. Thompson 1967, lOff]. Unsicherheit bedeutet demnach, daB Unternehmen zukiinftige Ereignisse innerhalb und auBerhalb ihrer Organisationen nur schwer abschatzen konnen. Unternehmen haben zwei Formen des Umgangs mit Unsicherheit entwickelt: "Action Planning" und "Performance Control" [vgl. Mintzberg 1979, 149]: "performance Control" bezeichnet den Versuch, Prozesse anhand von Ergebnissen zu steuern: Wenn die Resultate ablaufender Prozesse nicht zufriedenstellend sind, werden sie - die Resultate - im nachhinein reguliert. "Action Planning" dagegen bedeutet, daB der Ablauf von Operationen von vornherein fixiert ist. "Performance Control" reduziert die ext erne Unsicherheit, "Action Planning" die interne. Das Problem des Umgangs mit Unsicherheit stellt Organisationen vor folgendes Rationalisierungsdilemma: Einerseits miissen Unternehmen flexibel sein, urn sich veranderten Umweltbedingungen anpassen zu konnen ("Performance Control") und andererseits stabil genug, urn effizient und berechenbar zu sein ("Action Planning") [Thompson 1967, lOff; Tacke/ Japp 1992, 2]. Wenn Organisationen ihre internen Arbeitsablaufe festlegen und fixieren, reduziert sich die interne Unsicherheit. Dadurch verringert sich jedoch auch ihr Anpassungsvermogen Einleitung 3 an Umweltveriinderungen, was zur Folge hat, daB die externe Unsicherheit steigt. Legen Organisationen dagegen ihre internen Abliiufe nicht fest, so konnen sie flexibler auf Umweltveriinderungen reagieren, was die ext erne Unsicherheit reduziert; hierdurch erhoht sich aber gleichzeitig die interne Unsicherheit. Organisationen konnen nicht einseitig Stabilitiit auf Kosten von Flexibilitiit priiferieren und umgekehrt: Sie miissen einen Ausgleich zwischen Flexibilitiit und Stabilitiit finden. Aus diesem Grund wird das Rationalisierungs dilemma auch als "Flexibilitiits-Stabilitiits-Dilemma" bezeichnet [vgl. Rammert 1993, 117]. Da Organisationen nach Luhmann [1988, 174] die Tendenz haben, interne Unsicherheit zu reduzieren, also ihre Stabilitiit zu erhohen, lautet das zentrale Problem der systemischen Rationalisierung, wie Flexibilitiit und damit interne Unsicherheit in Organisationen eingebracht werden kann. In der Literatur 1 werden hauptsiichlich zwei Ansiitze, diskutiert, systemische Rationalisierungsprozesse zu beschreiben: Managementstrategie und Mikropolitik. Beide Beschreibungen sind jedoch fiir eine komplexe Problemstellung, wie sie die systemische Rationalisierung darstellt, zu einfach; an beiden wird deutlich, was Stafford Beer [zit. nach Hub [1994, 71]] allgemein fiir komplexe Probleme formuliert hat: "To every complex problem there is a simple solution and it's allways wrong." (Stafford Beer) Das Ziel, das in dieser Arbeit verfolgt wird, ist eine zur Managementstrategie und Mikropolitik alternative Rekonstruktion systemischer Rationalisierungsprozesse zu erarbeiten, die der Komplexitiit der Problemstellung "systemische Rationalisierung" Rechnung triigt. Hierzu wird eine Sekundiiranalyse der in der Literatur vorliegenden Fallbeschreibungen vorgenommen. Die Sekundiiranalyse ist bei geeigneten Primiirquellen dazu geeignet, die Komplexitiit systemischer Rationalisierungen zu erfassen und die damit verbundenen Probleme und Prozesse abzubilden. Sie bildet die Grundlage fiir eine weiterfiihrende Diskussion des Managements systemischer Rationalisierungsprozesse und dessen Alternativen. Fiir dieses Vorhaben werden folgende Arbeitsschritte in dieser Arbeit durchgefiihrt: Der Gegenstand dieser Arbeit, die systemische Rationalisierung, wird im ersten J(apitel anhand theoretischer Diskussionen beschrieben und von anderen Rationalisierungsvorhaben abgegrenzt. Ziel dieses Kapitels ist es, den Kern systemischer Rationalisierung und lYgl. u.a. Altmann u.a. [1986], Baethge/Oberbeck [1986] und Ortmann u.a. [1990] 4 Einleitung die inhiirenten Grundprobleme fur derartige Projekte herauszuarbeiten. Hierzu werden unter anderem vier Technikbegriffe im Bezug auf die systemische Rationalisierung diskutiert, mit der Intention, die AnschluBfiihigkeit dieses neuen Konzepts an bestehenden theoretischen Technikkonzepten uberprufen zu konnen. 1m zweiten I(apitel werden Managementstrategie und Mikropolitik dargelegt, die in der Literatur als angemessene Beschreibungen fur die Entwicklung systemischer Rationalisierung diskutiert werden. Es wird anhand von vier exemplarischen Fiillen uberpruft, ob und wie umfassend beide Konzepte zur Beschreibung der Empirie geeignet sind. An dieser Stelle ist ein Ergebnis vorwegzunehmen: Managementstrategie und Mikropolitik sind beide in den Fiillen wiederzufinden. Aber beide haben auch ihren "blinden Fleck", der dort zu finden ist, wo das jeweils andere Konzept gerade seinen Erkenntnisschwerpunkt hat. Eine anschlieBende theoriebasierende Diskussion ergibt, daB sich beide Konzepte strenggenommen gegenseitig ausschlieBen: 1m Konzept der Managementstrategie wird das Management systemischer Rationalisierungen als zu einfach angesehen und im Konzept der Mikropolitik dagegen als nahezu unmoglich. Die Grundlage fUr die Rekonstruktion eines Modells, das Managementstrategie und Mikropolitik integriert und deren gegenseitige AusschlieBlichkeit aufhebt, wird im dritten /(apitel gelegt. Hier sind das Basiselement systemischer Rationalisierungsprozesse und seine Wechselwirkungen zu ermitteln sowie die Faktoren herauszuarbeiten, die diese Interaktionen beeinfiussen. Als Grundlage dieses Kapitels dienen die in der Literatur beschriebenen Fiille systemischer Rationalisierungen. Sie werden derart analysiert und verdichtet, bis sich generelle Aussagen zu den Akteuren, ihren hauptsiichlichen Problemen und ihren Strategien des Umgangs mit diesen Problemen getroffen werden konnen. Das Ziel dieses Kapitels besteht also darin, eine Grundlage fur die Rekonstruktion systemischer Rationalisierungsprozesse zu schaffen. 1m vierten /(apitel wird der Verlauf systemischer Rationalisierungsprozesse auf Grundlage des in Kapitel drei extrahierten Basiselements und seiner Wechselwirkungen rekonstruiert. Mit der Rekonstruktion wird intendiert, eine Beschreibung systemischer Rationalisierungsprozesse zu erarbeiten, die erstens Mikropolitik und Managementstrategie integriert und zweitens den tatsiichlichen Ablauf weniger idealisierend darstellt - also die tatsachliche Komplexitat systemischer Rationalisierung starker beriicksichtigt. Das theoretische Modell, das hierfur als Basis der Rekonstruktion dient, ist das der rekursiven Prozesse. Rekursive Prozesse sind dadurch gekennzeichnet, daB ihr Output wieder zu ihrem Input wird. Die in Kapitel drei und vier ermittelten Probleme, mit denen die Akteure in systemi- Einleitung 5 schen Rationalisierungen umgehen miissen, werden im fiinftcn J(apitcl hinsichtlich dreier Grundprobleme zusammengefaBt und diskutiert. Anhand dieser Grundprobleme werden drei Alternativen des Managements systemischer Rationalisierungsprozesse vorgestellt, die als Ansiitze fiir eine weitere Auseinandersetzung mit dem Management komplexer, integrativer Informatisierungsprojekte diskutiert werden. Hierbei handelt es sich urn das vernctzte Denken, die Kontextsteuerung und das experimentelle Lernen. Mit dem Ansatz des vernctzten Denkens wird in diesem Kapitcl intendiert, die Komplcxitiit systemischer Rationalisierungen und die unterschiedlichen Akteursperspektiven die in diesen Prozessen vorherrschen, zu ermittcln und zu verdeutlichen. Die Kontextsteuerung stellt eine Alternative dar, die es eher als Managementstrategie und Mikropolitik ermiiglicht, zentrale Vorgaben und dezentrale Besonderheiten zu beriicksichtigen. Da in den Organisationen bisher nur wenig Erfahrungen beziiglich systemischer Rationalisierungen existieren, sind diese Prozesse unsicher und aufgrund der bestehenden Erfahrungsbasis lmum zu kontrollieren. Deshalb wird fiir systemische Rationalisierungen eine Methode zur systematischen Erfahrungsgenerierung vorgestellt, das experimentelle Lernen. In den SchlujJbctrachtungcn werden die in dieser Arbeit durchgcfiihrten Arbeitsschritte noch einmal zusammengetragen und die Ergebnisse dargestellt. Riickblickend wird auf drei Metaprobleme eingegangen, die fiir diese Arbeit geliist werden muBten: das forschungsstrategische, das methodische und das theoretische Problem. Meine Erfahrungen mit dem methodischen Vorgehen, das fiir die Rekonstruktion der Fiille zur Anwendung learn, werden refiektierend beschrieben und dargclegt. Als besonders schwierig stellte sich die intensive Auseinandersctzung mit dem empirischen Material heraus; besonders problematisch war die Bewiiltigung der Komplexitiit, spezicll die Integration der verschiedenen empirischen und theoretischen Aspekte. 1m Ausblick wird auf weitere noch auszufiihrende Forschungs- und Entwicklungsarbeiten im Zusammenhang mit dem Management systemischer Rationalisierungsprozesse verwiesen. Dem Management system ischer Rationalisierungsprozesse wird bislang wenig Aufmerksamkeit in wissenschaftlichen Diskursen zuteil, weshalb noch erhebliche theoretische und praktische Anstrengungen erforderlich sind, bis sich ein allgemein akzeptiertes Vorgehensmodell herausbilden kann. Hicrfiir sind vor allem noch folgende Aufgaben zu bewiiltigen: die Verbreiterung und Verticfung der empirischen Untersuchungen und deren Integration in die Rekonstruktion systemischer Rationalisierungsprozesse, die Explikation und empirische Uberpriifung der formulierten Managementalternativen, die Auswertung weiterer Managementalternativen und letztendlich die Initiierung organisationaler Lernprozesse im Kontext einer systemischen Rationalisierung. 1. Systemische Rationalisierung und Technik Der Begriff "systemische Rationalisierung" ist noch nicht einheitlich und eindeutig definiert. Bisher ist nicht einmal festgelegt, welche Phiinomene unter diesen Begriff fallen und inwieweit der Begriff den beobachteten Phiinomenen angemessen ist [vgl. Kerst u.a. 1990, 65J. In verschiedenen Veroffentlichungen zur systemischen Rationalisierung wird der Begriff unterschiedlich verwendet und kontrovers diskutiert. Deshalb wird in diesem Kapitel die Bedeutung des Konzeptes "systemische Rationalisierung" erliiutert und fiir diese Arbeit festgelegt. 1.1 Systemische Rationalisierung In diesem Abschnitt werden die grundlegenden Merkmale des Konzepts "systemische Rationalisierung" herausgearbeitet, urn seine Bedeutung fiir diese Arbeit festzulegen, dann werden die Merkmale an einem Beispiel verdeutlicht und abschlieBend festgestellt, ob die informationstechnischen Voraussetzungen fiir systemische Rationalisierungsvorhaben iiberhaupt gegeben sind. 1.1.1 Merkmale systemischer Rationalisierung In den meisten Veroffentlichungen werden die Merkmale systemischer Rationalisierung mit unterschiedlichen Schwerpunkten diskutiert. 1 1 Die Diskussion urn die systemische Rationalisierung begann mit den Arbeiten von Altmann u.a. (1986] und Baethge/Oberbeck (1986], in denen die wichtigsten Merkmale der systemischen Rationalisierung benannt werden. Systemische Rationalisierung und Technik 8 Baetghe/Oberbeck [1986, 22] bestimmen die Prozesse systemischer Rationalisierung wie folgt: ,~ystemische Rationalisierungsprozesse sind dadurch gekennzeichnet, daft unter Nutzung neuer, mikroelektronisch basierter Datenverarbeitungs~ und Kommunika- tionstechnik der betriebliche und iiberbetriebliche Informationsfiuft, die Kommunikation iiber und die Kombination von Daten, die Organisation der Betriebsabliiufe und die Steuerung der unterschiedlichen Funktionsbereiche in einer Verwaltung bzw. in einem Unternehmen in einem Zug neu gestaltet werden. " Bei Altmann u.a. [1986, 191] wird die systemische Rationalisierung so beschrieben: ,~ystemische Rationalisierungsmaftnahmen hingegen richten sich auf die datentech- nisch gestiitzte Verkniipfung und Integration der einzelnen Teilprozesse." [Altmann u.a. 1986, 191} Systemische Rationalisierung beruht auf Informationstechnik, die in Unternehmen derart eingesetzt wird, daB die Regelung und Steuerung von einzelnen Teilprozessen starker miteinander verkniipft und aufeinander abgestimmt wird. Den Arbeiten von Altmann u.a. [1986] und Baethge/Oberbeck [1986] ergibt sich, daB systemische Rationalisierungsprozesse durch folgende vier Merkmale gekennzeichnet sind: 1. Das Ziel systemischer Rationalisierung ist die Flexibilisierung von Arbeitsprozessen und damit die Steigerung der Anpassungsfahigkeit der Organisation an veranderte Umweltbedingungen. 2. 1m Rahmen der systemischen Rationalisierung wird die betriebliche und iiberbetriebliche Arbeitsteilung umgestaltet, so daB einzelne Arbeitsprozesse starker aufeinander abgestimmt sind (Integration). 3. Systemische Rationalisierung zeichnet sich dadurch aus, daB nicht mehr in erster Linie ausfiihrende Tatigkeiten rationalisiert werden, sondern die dispositiven Tatigkeiten, wie etwa Koordinieren, Informieren, Planen, Kontrollieren in den Vordergrund der Rationalisierung riicken. 4. Die Basis der systemischen Rationalisierung ist der Einsatz der neuen Informationstechnik. Systemische Rationalisierung 9 1m folgenden werden diese vier Merkmale weiter ausgefiihrt und eriautert. 1. Flexibilisierung Grundsatzlich ist das Ziel von RationalisierungsmaBnahmen die Verbesserung der Wettbewerbsfahigkeit von Unternehmen gegeniiber ihren Konkurrenten. Dies ist auch bei der systemischen Rationalisierung der Fall; aber hier werden die bisherigen Ziele der Rationalisierung, die Reduzierung der Kosten und die Steigerung der Produktivitat in Frage gestellt [vgl. Baethge/Oberbeck 1986; Wittke 1990J. Wahrend bisher Kostenreduzierung und Produktivitatssteigerung als Voraussetzungen fiir die Uberiebensfahigkeit der Unternehmen gesehen werden, wird nun die Flexibilitat von Organisationen und ihre Anpassungsfahigkeit an Marktveranderungen als zentrales Kriterium fiir ihren Weiterbestand gesehen [vgl. Altmann u.a. 1986, 193; vgl. Baethge/Oberbeck 1986, 22J. Das heiBt jedoch nicht, daB die Parameter Kosten und Produktivitat durch Flexibilitat ausgetauscht werden, sondern sie werden lediglich neu bewertet. Die veriinderte Zielsetzung, die mit systemischer Rationalisierung verfolgt wird, stellt die traditionellen Effektivierungsmethoden, sowie die Betriebs- und Unternehmensorganisation als Verkorperung von Effizienz, schlechthin in Frage [vgl. Wittke 1990, 29; vgl. Kern 1989, 261J. Die Uberiebensfahigkeit der Unternehmen, bzw. das Halten oder Steigern der Marktpositionen wird von der systemischen Rationalisierung nicht angezweifelt. 1m Zuge der systemischen Rationalisierung wird lediglich die Rangfolge der Ziele verschoben: An erster Stelle stehen nicht mehr wie bisher Kostenreduzierung und Produktivitatssteigerung, sondern die Flexibilisierung der Organisation.