JURISTRAS Grundsatzpapier Die Rolle des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Österreich: Empfehlungen zur Förderung der innerstaatlichen Wirkung seiner Urteile Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte (BIM) A – 1010 Wien, Freyung 6/2 http://bim.lbg.ac.at Barbara Liegl Astrid Steinkellner Hannes Tretter Mit Unterstützung von Kerstin Buchinger Verena Neisser Februar 2010 Projektbericht im Rahmen des Forschungsprojektes JURISTRAS, gefördert von der Europäischen Kommission, GD Forschung, FP 6, „Citizens and Governance in a Knowledge Based Society” (Vertragsnr. FP6-028398) JURISTRAS – Der Straßburger Gerichtshof, Demokratie und Menschenrechte von Individuen und Gruppen: Muster der Prozessführung, innerstaatliche Umsetzung und nationale Reformen Das von der Europäischen Kommission finanzierte Forschungsprojekt JURISTRAS (September 2006 - August 2009) hat die Beziehungen zwischen Gerichten und Politik, zwischen richterlicher Kontrolle der Menschenrechte auf supranationaler Ebene und innerstaatlicher Politik bzw. Politikbereiche in ausgewählten europäischen Staaten untersucht. Besonderes Augenmerk wurde auf eine Analyse der Prozessführung im Bereich der Menschenrechte und die Umsetzung von Erkenntnissen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) gelegt, ebenso auf die Wirkungen dieser Erkenntnisse auf den nationalen Rechtschutz und gesetzgeberische Reformen. Die gemeinsame Forschungsarbeit wurde von erfahrenen WissenschafterInnen auf dem Gebiet der Menschenrechte aus Österreich, Belgien, Bulgarien, Deutschland, Griechenland, Italien, Rumänien, Großbritannien und der Türkei durchgeführt. Das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte hat die Fallstudie für Österreich ausgearbeitet. Das Projekt hat untersucht, unter welchen Bedingungen Erkenntnisse des Straßburger Gerichtshofes, in denen eine Verletzung von Bestimmungen der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) festgestellt wurde, eine weiter reichende innerstaatliche Reform bzw. Politikänderung herbeiführen und so das Maß an Gerechtigkeit für Individuen und Gruppen erhöhen. Ein besonderer Schwerpunkt wurde auf die Rechtsprechung des EGMR gelegt, welche die Rechte von gesellschaftlichen Randgruppen und Minderheiten und deren Teilnahme am öffentlichen Geschehen in einem demokratischen Umfeld betrifft. Eine solche Rechtsprechung ist in erster Linie aus jenen Fällen des EGMR entstanden, die hauptsächlich Verletzungen des Rechtes auf Privat- und Familienleben, der Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Meinungsfreiheit, der Vereins- und Versammlungsfreiheit oder des Diskriminierungsverbotes zum Gegenstand hatten. Im Zuge der Forschung wurden best practices erarbeitet, wie man zum Zweck der Vermeidung künftiger bzw. Wiedergutmachung bereits erfolgter Menschenrechtsverletzungen nationale oder auch europäische Mechanismen besser gestalten, sowie die Rechte des Einzelnen mit den Interessen des Staates besser in Einklang bringen kann. Darauf basierend werden in diesem Grundsatzpapier Vorschläge gemacht, wie die Übereinstimmung der nationalen Methoden und Politiken mit der Rechtsprechung des EGMR bestmöglich zu gewährleisten ist. Es werden Empfehlungen für einen verstärkten Menschenrechtsschutz im Allgemeinen und die Vermeidung der Diskriminierung von Randgruppen und Minderheiten in Österreich im Besonderen formuliert. 2 Obwohl sich das vorliegende Grundsatzpapier vor allem an österreichische EntscheidungsträgerInnen richtet, sind wir davon überzeugt, dass die vorliegenden Informationen und Empfehlungen in gleicher Weise wichtig für andere AkteurInnen und Einrichtungen sind, die mit der Wahrung von Menschen- bzw. Grundrechten betraut – oder zumindest darin eingebunden – sind, indem sie neues Rechts konzipieren oder Erkenntnisse des EGMR in Österreich umsetzen. Angesprochen werden Personen wie zB RegierungsbeamtInnen, VertreterInnen der Ministerien, BeamtInnen des Bundes und der Länder, Ombudsmann-Einrichtungen, Organe des Rechtschutzes und der Gleichberechtigung, die Menschenrechtskomissionen und -beiräte, aber auch SprecherInnen politischer Parteien und RepräsentantInnen der verschiedenen parlamentarischen Ausschüsse. Zusätzlich zu den Genannten werden die Forschungsergebnisse und daraus resultierenden Vorschläge für die Justiz, JuristInnen, NGO’s und Gruppen von MenschenrechtsaktivistInnen, StudentInnen sowie die interessierte Öffentlichkeit im Allgemeinen von Nutzen sein, um ihren Umgang mit menschenrechtsbezogenen Aufgaben im Alltag zu erleichtern und kontinuierlich zu verbessern. Die österreichische Länderstudie – Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Die Ratifizierung der EMRK vor über 50 Jahren war in Österreich politisch unumstritten und wurde als ein Akt der europäischen Solidarisierung angesehen. Sowohl die Regierung als auch die Justiz waren der Meinung, dass Grundrechte innerstaatlich bereits ausreichend garantiert seien, und dass die Ratifizierung der Konvention daher keine großen Veränderungen bzw. kein Umdenken notwendig machen würde. Daher war es umso überraschender, als gegen Österreich eine relativ große Anzahl von Beschwerden an den EGMR gerichtet wurde – und bis heute gerichtet wird. Österreich war der erste Staat, der die EMRK in seine Verfassungsrechtsordnung inkorporiert hat. Dies hat bei der österreichischen Gesellschaft ein hohes Bewusstsein sowohl über die rechtlichen und praktischen (Aus-)Wirkungen der Konvention geschaffen, als auch über den Einfluss, der vom Straßburger Gerichtshof ausgeht. Eine der Hauptaufgaben des JURISTRAS Projektes war es, auf diese Auswirkungen näher einzugehen. Etwa 90 Urteile und Entscheidungen des EGMR, gefällt zwischen 1985 und 2007, die bürgerliche und politische Rechte so genannter Randgruppen, einschließlich ethnischer und religiöser Minderheiten und homosexueller Personen, zum Gegenstand hatten, wurden zu diesem Zweck studiert. Das heißt, es wurden alle Urteile und Entscheidungen betreffend die Artikel 8 bis 11 und 14 EMRK in die Studie einbezogen, sowie jene, welche die oben genannten Gruppen zwar betreffen, allerdings auf andere Bestimmungen der Konvention Bezug nehmen. In etwas weniger als einem Drittel der ausgewählten Fälle waren Fremde bzw. AsylwerberInnen involviert, es ging hierbei vor allem um Verfahren betreffend die Erlassung von Aufenthaltsverboten nach gerichtlicher Verurteilung, Verfahren, in denen eine Verletzung des 3 fairen Verfahrens im Sinne von Art. 6 EMRK behauptet wurde, oder Verfahren, die Diskriminierungsvorwürfe aufgrund der ethnischen Herkunft einer Person zum Gegenstand hatten. Andere wesentliche Verfahrensreihen bezogen sich auf diskriminierende Behandlung wegen sexueller Orientierung sowie auf eine behauptete Verletzung der Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit, gestützt auf Artikel 10 EMRK. Insgesamt hat das Straßburger Gericht in fast 60 Prozent der untersuchten Fälle eine Verletzung der Konvention durch österreichische Behörden festgestellt. Um ein genaues Bild der Implikationen der Prozessführung vor dem EGMR und des Umsetzungsprozesses von EGMR Urteilen in Österreich zu erzielen, wurden 17 Interviews mit unterschiedlichen ExpertInnen geführt. Die InterviewpartnerInnen reichten von RechtswissenschafterInnen und AnwältInnen über BeamtInnen der zuständigen Ministerien, Regierungs- und ParlamentsvertreterInnen sowie RichterInnen bis hin zu VertreterInnen von NGO’s im Menschenrechtsbereich. Nicht überraschend gaben sämtliche befragte Personen an, dass eine übergeordnete bzw. supranationale Kontrolle der Einhaltung von Menschenrechten von höchster Bedeutung sei, und dass der EGMR eine entscheidende Rolle spiele, um einen grundlegenden Menschenrechtsschwerpunkt in die nationale Rechtsentwicklung zu bringen bzw. zu gewährleisten. Wie aber kann der Gerichtshof dieser Rolle gerecht werden? Bereits im Jahr 1964 wurde die EMRK rückwirkend in den Verfassungsrang gehoben und mit dem Staatsgrundgesetz von 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, dem ursprünglichen österreichischen Grundrechtskatalog, und den übrigen grundrechtlichen Verfassungsbestimmungen, wie etwa dem aus Art. 7 der Bundesverfassung resultierenden Gleichheitssatz, gleichgestellt. Damit konnte (und kann) jeglicher Verstoß gegen die Konvention als Verletzung von verfassungsmäßig garantierten Rechten geltend gemacht werden. Demzufolge sind alle Organe der Legislative, Exekutive und Gerichtsbarkeit dazu verpflichtet, die Konvention zu befolgen und in ihrem Wirkungsbereich anzuwenden. Der österreichische Gesetzgeber hat die seitens der EMRK garantierten Rechte bei der Erlassung von Gesetzen zu berücksichtigen, und auch alle Gerichte und Verwaltungsbehörden haben die innerstaatlichen Rechtsvorschriften konventionskonform anzuwenden bzw. auszulegen. Beides, die verfassungsrechtliche Stellung der Konvention und das Fehlen eines „modernen“ innerstaatlichen Kataloges für Grundrechte und -freiheiten, ist Ausdruck für den großen Stellenwert, der der EMRK in Österreich beigemessen wird. In Ausführung seiner Aufgabe, Gesetzgebungs- und verwaltungsrechtliche Vollzugsakte im Hinblick auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, hat der österreichische Verfassungsgerichtshof eine Rechtsprechung entwickelt, die sich sehr stark an jener des EGMR orientiert. Der Oberste Gerichtshof in Österreich, welcher wiederum die Befugnis hat, gerichtliche Entscheidungen nachzuprüfen, hat in den letzten Jahren auch begonnen, sich mehr und mehr auf die Straßburger Judikatur zu beziehen und eine grund- und menschenrechtlich einschlägige Sichtweise zu entwickeln. 4 Dennoch hat der Sonderstatus der Konvention in Österreich weder die unmittelbare Durchsetzbarkeit von EGMR Entscheidungen zur Folge, noch tragen Letztere automatisch zu einer Beseitigung von innerstaatlichen Entscheidungen oder Gesetzen bei, die im Widerspruch zur EMRK stehen. Die innerstaatlichen Strukturen, welche die Weiterleitung von relevanten Entscheidungen des EGMR an die zuständigen Stellen in den jeweiligen Ministerien und Ressorts bzw. an die nationalen Gerichte zur Aufgabe haben, sind – wie auch die jeweiligen Befugnisse der damit Betrauten – klar festgelegt. Eine bestimmte Umsetzungsmaßnahme, die im Allgemeinen angebracht und richtig wäre, gibt es dennoch nicht, denn die notwendigen Schritte in Reaktion auf ein Urteil des EGMR variieren von Fall zu Fall. Die individuellen und generellen Maßnahmen der staatlichen Behörden, die als Antwort auf Österreich betreffende Urteile des Straßburger Gerichtshofes getroffen werden, umfassen zumeist Kompensationszahlungen, beinhalten aber auch zB die Wiederaufnahme inländischer Verfahren, die Weitergabe von Entscheidungen und Informationen an die zuständigen AkteurInnen, diverse Änderungen in der gerichtlichen und verwaltungsbehördlichen Praxis und gesetzliche Reformen. Unsere Auswertungen haben gezeigt, dass – sowie ein negatives Urteil des EGMR ergangen ist – die Umsetzungsmaßnahmen sehr oft auf Ausgleichszahlungen an die einzelnen BeschwerdeführerInnen beschränkt bleiben. Solche Zahlungen wurden und werden in Österreich stets unverzüglich und zur Gänze geleistet. Das Vorsehen von allgemeinen Maßnahmen (etwa die Verabschiedung von Gesetzesnovellen), die verlangt sind um ähnliche Menschenrechtsverletzungen in Zukunft zu vermeiden, ist naturgemäß eine komplexere Angelegenheit. Der österreichische Gesetzgeber wurde fortwährend von der Konvention und der Rechtsprechung der Straßburger Organe beeinflusst, indem er auf Urteile gegen Österreich wie auch auf Entscheidungen des EGMR, die gegen andere Staaten ergingen, reagieren musste. In seinen Reaktionen hat er dabei in vielen Fällen bewiesen, dass Österreich den Auffassungen des EGMR durch Zusätze zu oder Beschlussfassungen von neuen Gesetzen folgt. Ungeachtet dessen hat das gegenständliche Forschungsprojekt offengelegt, dass in manchen Politik- bzw. Gesellschaftsbereichen seitens der österreichischen Behörden eine gewisse Zurückhaltung besteht, die menschenrechtlichen Verpflichtungen, die in der Konvention festgelegt und in weiterer Folge durch den Gerichtshof konkretisiert wurden, bis ins letzte Detail umzusetzen. Tatsächlich war zu beobachten, dass jenen EGMR Urteilen intensive Reformen folgten, die weitgehend unumstrittene Umstände betrafen, wie etwa Fälle, die einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK (das Recht auf ein faires Verfahren) zum Gegenstand hatten. In solchen Fällen erfolgte relativ rasch und unbürokratisch eine rechtspolitische Neuorientierung. Im Gegensatz dazu führte die EGMR Rechtsprechung in gewissen anderen Bereichen nicht zu einer gleichermaßen raschen und effektiven Anpassung der gesetzgeberischen Praxis im Sinne eines wachsenden Respekts für Menschenrechte. Vor allem im Hinblick auf politisch heikle Bereiche – wie zB dem Asyl- und Fremdenwesen – 5 schienen notwendige, umfassende gesetzliche Änderungen durch ein hohes Maß an Einzelfallentscheidungen bzw. individuellen Maßnahmen umgangen worden zu sein (zB bei der Aufhebung von unrechtmäßig erlassenen Aufenthaltsverboten). Dieser individuelle Zugang bewahrte bzw. bewahrt die zuständigen österreichischen Behörden und den Gesetzgeber vor unerwünschten öffentlichen Reaktionen, die etwa im Zusammenhang mit der Änderung des Fremden- oder Asylrechts zum Zweck der Verbesserung der Rechtssicherheit von Nicht-StaatsbürgerInnen üblicherweise zu erwarten sind. Im Allgemeinen ist das öffentliche Bewusstsein für Menschenrechte sehr stark von der politischen Tagesordnung und dem daraus resultierenden Diskurs getrieben, was zu einer recht selektiven Wahrnehmung dieser Rechte in Österreich führt. Während manche die Menschenrechte vorwiegend als nur zum Schutz von Minderheiten und gesellschaftlichen Randgruppen geschaffen erachten, möchten andere das „Privileg“ des Menschenrechtsschutzes auf die „hart arbeitenden“ österreichischen StaatsbürgerInnen im Gegensatz zu Fremden bzw. Nicht-StaatsbürgerInnen beschränkt wissen. Darüber hinaus ist das öffentliche Bewusstsein für einige Menschenrechte in bestimmten politischen Bereichen bzw. Lebensbereichen höher als in anderen. Dieses ungleiche Bewusstsein ergibt sich aus unterschiedlichen Faktoren. In manchen Bereichen existiert eine stärkere Lobby und stehen der Mobilisierung der Rechte der betroffenen Individuen und Gruppierungen mehr Mittel zur Verfügung; bestimmte Bereiche erfahren auch von der Gesellschaft größere Akzeptanz als andere. Selbst jene NGO’s, JuristInnen und Medien, die per se einen „breiten“ Menschenrechtszugang haben, neigen dazu, gewisse Fragen öfter zu thematisieren und kommentieren als andere. Die Setzung eines Schwerpunktes auf bestimmte Themen und der Versuch einer strategischen Prozessführung vor dem EGMR erhöhen erwiesenermaßen die Erfolgschancen, auf nationaler Ebene nachhaltige Veränderungen im Sinne einer Stärkung und vermehrten Einhaltung der Menschenrechte herbeizuführen. Die Aufhebung des § 209 des österreichischen Strafgesetzbuches (StGB) etwa, der männliche Homosexuelle diskriminierte, ist ein positives Beispiel für den Erfolg einer solchen Strategie: Obwohl die gesetzlichen Änderungen und damit die Abschaffung der aus dieser Bestimmung resultierenden Diskriminierungen nicht allein den Entscheidungen des EGMR zugeschrieben werden können, hätten die bewirkten Verbesserungen nicht bzw. nicht so konsequent durch ein Vorgehen auf nationaler Ebene alleine erreicht werden können. Abschließend hat die Untersuchung gezeigt, dass der EGMR vor allem in jenen Fällen eine geeignete Anlaufstelle darstellt, in denen auf nationaler Ebene bzw. seitens der nationalen Organe das Bewusstsein für die Einhaltung der seitens der EMRK garantierten Rechte (noch) nicht in adäquater Weise ausgeprägt und ein ausreichender Schutz daher nicht gegeben ist. Das Rechtsschutzsystem des Europarates kann zweifellos bemerkenswerte Verbesserungen auf innerstaatlicher Ebene bewirken, sei es durch das Herbeiführen von Änderungen der innerstaatlichen Rechtsordnung, oder durch eine entsprechende Bewusstseinserweiterung der 6 Rechtsgemeinschaft hinsichtlich jener Fälle und Umstände, die wesentlich für den Schutz der Rechte des Einzelnen bzw. von schutzwürdigen Gruppierungen sind. Es ist das Kernziel eines Menschenrechtsregimes, gleiche Rechte für alle zu gewährleisten und im Speziellen jene zu schützen, die „schwach“ sind, sei es aufgrund ihrer Eigenschaft, einer Minderheit anzugehören, sei es zufolge mangelnder finanzieller Ressourcen oder im Hinblick auf ihre Stellung in der Gesellschaft. Um dieses Ziel auch in Zukunft nachhaltig weiter zu verfolgen und die zahlreichen möglichen Strategien zur Umsetzung von Entscheidungen des EGMR zu verbessern, geben wir die folgenden Empfehlungen ab: 7 STRATEGISCHE EMPFEHLUNGEN 1. Ratifikation des 12. Zusatzprotokolls zur EMRK Das Protokoll Nr. 12 der EMRK beinhaltet ein generelles Verbot der Diskriminierung. Die derzeitige Nicht-Diskriminierungsbestimmung der Konvention, nämlich Art 14 EMRK, ist ausschließlich eine begrenzte, da sie die Diskriminierung lediglich auf jene Rechte beschränkt, die in der Konvention und ihren Zusatzprotokollen garantiert sind. Das 12. Protokoll beseitigt diese Beschränkung und gewährleistet, dass niemand aus irgendeinem Grund durch eine öffentliche Behörde diskriminiert werden soll. Das Protokoll Nr. 12 der EMRK wurde zur Unterzeichnung durch die Mitgliedstaaten des Europarates am 4. November 2000 eröffnet und trat am 1. April 2005 in Kraft, nach 10 Ratifikationen. Bis jetzt jedoch, sind nur 17 von 47 Mitgliedern des Europarates dem neuen Protokoll beigetreten, 20 Staaten haben unterzeichnet, aber nicht ratifiziert, darunter auch Österreich. Deshalb empfehlen wir, dass Österreich das 12. ZP zur EMRK ratifiziert, um Vorsorge für ein umfassendes Diskriminierungsverbot im Bereich aller Grund- und Freiheitsrechte zu treffen. Die Ratifizierung des 12. ZP intensiviert den Schutz vor Diskriminierung aus Gründen des Geschlechtes, der Hautfarbe, der Sprache, der religiösen Überzeugung, der politischen Meinung, der nationalen oder ethnischen Herkunft oder der Zugehörigkeit zu einer Minderheit, der sexuellen Orientierung, des Eigentums, der Geburt oder eines sonstigen Status. 2. Errichtung einer Nationalen Menschenrechtsinstitution Das österreichische System zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, mit dem Verfassungsgerichtshof als zentraler Rechtsschutzinstanz, war lange Zeit beispielhaft in Europa. Inzwischen ist jedoch klar geworden, dass gerichtliche Überprüfungs- und Kontrollmaßnahmen alleine für eine umfassende Einhaltung und den effektiven Schutz der Menschenrechte auf innerstaatlicher Ebene, insbesondere in präventiver Hinsicht, nicht ausreichen. Aus diesem Grunde wäre die Einrichtung einer unabhängigen und plural zusammengesetzten nationalen Institution für eine nachhaltige Verbesserung der gegenwärtigen Menschenrechtssituation und Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Österreich in hohem Maße förderlich. 8 Die besondere Bedeutung nationaler Einrichtungen für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte steht seit der im Jahr 1993 in Wien abgehaltenen Weltkonferenz über die Menschenrechte außer Zweifel. Die so genannten „Pariser Prinzipien“ der Vereinten Nationen vom Dezember 1993 stellen eine umfassende Sammlung von Empfehlungen über die Rolle, Zusammensetzung, den Status und das Funktionieren von solchen nationalen Menschenrechtsinstitutionen dar und zählen jene Verantwortlichkeiten auf, die diesen Institutionen übertragen werden sollen. Der breite Auftrag einer solchen Menschenrechtsinstitution soll Beratungs- und Kontrollfunktionen gegenüber der Gesetzgebung und Verwaltung, insbesondere im Hinblick auf die Tätigkeit der Polizei, der Sicherheitsdienste und des Militärs, umfassen. Zu den Aufgaben solcher Institutionen zählen diverse Vermittlungsbemühungen zwischen unterschiedlichen Interessenslagen ebenso wie die Zusammenarbeit mit internationalen und Nicht-Regierungs-Organisationen. Themen wie Menschenrechtsbildung, Bewusstseinsförderung, Forschung und Dokumentation vervollkommnen die Vielfalt an Aufgaben, die diese Institution ausführen soll. Die Einrichtung von Nationalen Menschenrechtsinstitutionen wird nicht nur innerhalb der Vereinten Nationen forciert, sie steht auch auf der Tagesordnung des Europarates, der EU und diverser nationaler Gremien. Die JURISTRAS-Forschung hat gezeigt, dass das österreichische Menschenrechtssystem grundsätzlich effektiv ist, es jedoch etliche Lücken zu füllen gilt, so etwa in der Umsetzung von Erkenntnissen des EGMR, die nicht in allen Bereichen zufriedenstellend ist. Dem könnte durch die Einrichtung einer nicht-richterlichen Institution zur Förderung und zum Schutz der Grund- und Menschenrechte adäquat begegnet werden. Daher empfehlen wir, in Übereinstimmung mit den „Pariser Prinzipien“ eine finanziell und organisatorisch unabhängige, pluralistische Österreichische Menschenrechtsinstitution zu schaffen, welche die Zuständigkeiten und Aufgaben ergänzen soll, die durch die bestehenden Behörden und sonstigen nationalen Institutionen bereits wahrgenommen werden. Im Besonderen sollten die staatlichen Organe unterstützt werden, um in bestmöglicher Weise die Einhaltung der Menschenrechte, die in der Konvention gewährleistet sind, zu ermöglichen, und eine besondere Kontrollfunktion im Hinblick auf Maßnahmen auszuüben, die zur ausreichenden Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR im innerstaatlichen Bereich notwendig sind. 9 3. Bewusstseinssteigerung über die gesetzlichen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten, die aus den Entscheidungen des EGMR resultieren Die aus Verurteilungen Österreichs durch den EGMR entstehenden Verpflichtungen, folgen dem Schema internationaler Staatenverantwortung: Zunächst muss eine begonnene oder anhaltende Menschenrechtsverletzung unverzüglich beendet werden und Verfahren zu ihrer Verfolgung von Amts wegen eingeleitet werden. Sodann müssen geeignete Garantien geschaffen werden, um ähnliche Verletzungen in Zukunft zu verhindern. Die Wahl der Mittel zur Erreichung dieser Ziele steht dem betreffenden Staat grundsätzlich frei. Die generellen Maßnahmen reichen von der schlichten Bekanntmachung der Urteile, wodurch die zukünftige Rechtsprechung und/oder die Verwaltungspraxis den Ansichten des EGMR angepasst werden soll, bis hin zu gesetzlichen Änderungen, die entsprechend den Feststellungen des Gerichtshofes notwendig sind. Des Weiteren hat Österreich für eine volle Beseitigung der negativen Konsequenzen der jeweiligen Konventionsverletzung zu sorgen (so genannte restitutio in integrum, d.h. den/die BeschwerdeführerIn in jene Position zu bringen, in der er/sie ohne die Verletzung gewesen wäre). Neben der Zahlung einer gerechten Entschädigung erscheinen oftmals auch andere individuelle Maßnahmen, wie etwa die Wiederaufnahme eines nationalen Verfahrens, notwendig (siehe auch die Empfehlung zu 4.). Im Laufe der Forschungsarbeit am Projekt JURISTRAS, insbesondere im Zusammenhang mit den ExpertInneninterviews, wurde deutlich, dass sowohl die legislativen als auch die Verwaltungsinstanzen in Österreich nur geringe Kenntnis über die Rechtsprechung des EGMR und die verbindliche Wirkung seiner Urteile haben. Dies betrifft in erster Linie Urteile, die unmittelbar an Österreich als betroffenen Staat gerichtet sind. Nachdem die Entscheidungen des Gerichtshofes in der Anwendung und Auslegung innerstaatlicher Rechte aber allgemein von Relevanz sind, sind auch jene Urteile für die österreichischen Behörden beachtlich, die im Bezug auf andere Mitgliedstaaten des Europarates ergehen. Deshalb empfehlen wir konkrete Schritte zu unternehmen, um das Bewusstsein innerhalb der österreichischen Gesetzgebung und Vollziehung dahingehend zu schärfen, dass Urteile des EGMR verbindliche Wirkung ausüben und in nationalen Abläufen und Strukturen berücksichtigt werden müssen. Die verantwortlichen Behörden müssen über die Nichtübereinstimmung eines von ihnen erlassenen Vollzugsaktes, der zu einer Verurteilung durch den EGMR geführt hat, informiert und ausdrücklich dazu angehalten werden, die nationale Rechtsordnung in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR anzuwenden. Für den Fall, dass eine nationale Bestimmung der Konvention entgegensteht, muss die Aufmerksamkeit der Gesetzgebung auf diesen Mangel gelenkt werden (siehe die Empfehlung zu 8.). Information und Bewusstseinssteigerung sollten durch Workshops und Seminare ergänzt werden. 10 Zielgruppe dafür sollen Mitglieder der Parlamente, BeamtInnen der Ministerien und anderes Verwaltungspersonal sowie Angehörige der Justiz sein (siehe die Empfehlung zu 5. und 6.). 4. Wiederaufnahme von inländischen Verfahren In gewissen Fällen ist die Beseitigung der verletzungsursächlichen, nationalen Entscheidung die einzige adäquate Maßnahme für das Opfer einer Menschenrechtsverletzung zu sein. Demgemäß hat das Ministerkomitee des Europarates auch eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten über die neuerliche Prüfung bestimmter Fälle oder die Wiederaufnahme eines Verfahrens auf nationaler Ebene gerichtet (CoM Recommendation No. R(2000)2). Die Verfahrenswiederaufnahme auf nationaler Ebene aufgrund einer Verurteilung durch den EGMR ist jedoch nicht zwingend. In Österreich – wie in vielen anderen Konventionsstaaten auch – gibt es eine Bestimmung für die Wiederaufnahme bzw. Erneuerung von Verfahren, wenn der EGMR darin eine Verletzung der EMRK erkannt hat. Dies ist hierzulande ausschließlich hinsichtlich strafrechtlicher Verfahren vorgesehen. Gemäß § 363a der österreichischen Strafprozessordnung (StPO) ist ein Strafverfahren auf Antrag zu erneuern, wenn der EGMR festgestellt hat, dass durch eine Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichtes eine Verletzung der EMRK stattgefunden hat. Das Recht zur Antragstellung ist zeitlich nicht befristet und steht sowohl den von einer Verletzung Betroffenen als auch dem Generalprokurator offen. Die Bestimmung des § 363a StPO wurde im Jahr 1996 hauptsächlich infolge einiger einschlägiger Urteile des EGMR gegen Österreich verabschiedet (Lingens gegen Österreich vom, 8. Juli 1986, Oberschlick I gegen Österreich vom 23. Mai 1991 und Kremzow gegen Österreich, 21. September 1993), nachdem sich die (bereits vorgesehene) Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes als unzureichendes Mittel erwiesen hatte. Eine bemerkenswerte Verbesserung im Recht auf eine wirksame Beschwerde wurde durch ein Urteil des österreichischen Obersten Gerichtshofes (OGH) im Jahr 2007 bewirkt (OGH vom 1. August 2007, 13 Os 135/06m). Dieser Entscheidung zufolge bedarf es in Österreich nicht mehr zwingend eines Erkenntnisses des EGMR als Voraussetzung für die Erneuerung des Strafverfahrens. Vielmehr kann auch eine vom OGH selbst – aufgrund eines Antrages auf Erneuerung des Strafverfahrens – festgestellte Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines untergeordneten Strafgerichtes dazu führen. Diese Entscheidung blieb dennoch nicht ohne Diskussion, da vielfach die Ansicht vertreten wird, dass die Aufgabe, Lücken in der Gesetzgebung zu schließen, dem Gesetzgeber und nicht den Gerichten obliegt. 11 Was nach wie vor fehlt, sind vergleichbare Instrumente, um auch Verfahren in Verwaltungsangelegenheiten und Zivilrechtssachen wiederaufzunehmen bzw. zu erneuern. Daraus ergibt sich eine Lücke im Rechtschutz, wie einzelne Urteile des EGMR (Gaygusuz gegen Österreich vom 16. September 1996, Jancikova gegen Österreich vom 7. April 2005) bereits aufgezeigt haben. Hinsichtlich des Verwaltungsstrafrechtes wird an einer dem § 363a StPO ähnlichen Bestimmung gearbeitet, wobei der Zeitpunkt der tatsächlichen Verabschiedung dieser Bestimmung derzeit noch nicht absehbar ist. Im Hinblick auf die Wiederaufnahme zivilrechtlicher Verfahren ist aufgrund erheblicher Bedenken betreffend die Rechtskraft derselben und den damit zusammenhängenden Vertrauensschutz eine Anpassung derzeit noch nicht absehbar, wobei letzterem Problem mittels einer Schadenersatzlösung begegnet werden könnte. Daher empfehlen wir, dass der Gesetzgeber die Mängel im Rechtschutz der von einer vom EGMR festgestellten Konventionsverletzung Betroffenen durch die Verabschiedung von dem § 363a StPO gleichgelagerten Bestimmungen auch im Bereich des Verwaltungs- und des Zivilprozessrechtes beheben soll. In Fällen, in denen innerstaatliche Urteile bereits rechtskräftig geworden sind, soll angedacht werden, die Bestimmungen über die Staatshaftung anzuwenden, um dem bona fide Prinzip im Hinblick auf die Rechtsposition Dritter ausreichend Rechnung zu tragen. 5. Menschenrechtsbildung und berufsbegleitende Weiterbildung für die Justiz Den Ergebnissen unseres Forschungsprojektes zufolge scheint die Rechtsprechung des EGMR stärkere Auswirkungen auf die inländischen Gerichte höherer Instanzen zu haben, und wird bei Gerichten der Unterinstanzen ganz allgemein weniger sichtbar. Dieser Umstand soll nicht zu der Annahme führen, dass Menschenrechte nur bei Verfahren des Obersten Gerichtshofes eine Rolle spielen bzw. finden sollten; im Gegenteil, die Herbeiführung eines grundrechtskonformen Interessenausgleiches im Konfliktfall ist im Interesse der Betroffenen in erster Linie Aufgabe von Richtern und Richterinnen an Gerichten erster Instanz, soweit das über eine entsprechende Interpretation der gesetzlichen Bestimmungen im Rahmen der Zuständigkeit des Gerichts möglich ist. So hat beispielsweise der Umgang der nationalen Gerichte mit Art. 10 EMRK (Recht auf Presse- und Meinungsfreiheit) in den letzten Jahren einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt, da hier dem Persönlichkeitsrecht in vielen Fällen mehr Raum gegeben wurde im Vergleich zu der Rechtsprechung des EGMR – eine Abwägungspraxis die anlässlich des „Caroline“-Urteils (Von Hannover gegen Deutschland vom 24. Juni 2004) auch Reflexion auf europäischer Ebene gefunden hat. Davor schlug sie sich die Rechtsansicht österreichischer Gerichte in 12 einer relativ großen Zahl an Verurteilungen vor dem EGMR nieder: Seit dem Jahr 2000 ergingen insgesamt 13 solcher Urteile gegen Österreich (nach der Türkei und vor Russland wurde Österreich demnach am zweithäufigsten wegen Verletzungen von Art. 10 EMRK verurteilt). In sämtlichen dieser Fälle wurden JournalistInnen vor österreichischen Gerichten wegen Beleidigung (zumeist von PolitikerInnen) verurteilt, während der EGMR der Meinungs- und Informationsfreiheit den Vorzug eingeräumt hat. Ein Wandel der Rechtsprechung der österreichischen Gerichte infolge der Straßburger Erkenntnisse war in diesem Bereich lange nicht erkennbar. Vor dem Hintergrund des richterlichen Ausbildungssystems, das bis vor kurzem kein verpflichtendes Seminar zu Fragen der Grund- und Menschenrechte vorgesehen hatte, scheint dies auch nicht weiter überraschend. Aus diesem Grund hat die Fachgruppe Grundrechte der Vereinigung österreichischer Richterinnen und Richter im Jahr 2007 in Zusammenarbeit mit dem Justizministerium und drei österreichischen Menschenrechtsinstituten (dem Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte [Wien], dem Österreichischen Institut für Menschenrechte [Salzburg] und dem Europäischen Trainings- und Forschungszentrum für Menschenrechte und Demokratie [Graz]) die Entwicklung eines so genannten „Grundrechtsmoduls für RichteramtsanwärterInnen“ in die Wege geleitet. Das Ausbildungsmodul legt seinen Hauptschwerpunkt auf die von der EMRK bzw. der Grundrechtecharta der EU gewährleisteten Rechte und Freiheiten. Im Zuge der Erarbeitung des Moduls wurde auch eine schriftliche Ausbildungsunterlage konzipiert, die die für die Justiz wesentlichen Grund- und Menschenrechtsthemen enthält und anhand von Fallstudien und -beispielen den Blick auf heikle Sachverhalte mit grund- bzw. menschenrechtlichem Bezug schärfen soll. Das Modul sieht vor, dass die Vortragenden im „Tandem“ (d.h. je ein/e RichterIn referiert gemeinsam mit einem/einer MenschenrechtsexpertIn) in knapp dreitägigen Seminaren die auszubildenden RichterInnen und StaatsanwältInnen in die Bereiche des nationalen Rechtes einführen, die in besonderem Maße mit unterschiedlichsten Menschenrechtsfragen verknüpft sind. Für Richter und Richterinnen nach Absolvierung der Richteramtsprüfung (also nach Abschluss der Ausbildung) werden Seminare zu menschenrechtlichen Themen derzeit nur auf freiwilliger Basis angeboten. Daraus folgt, dass österreichische RichterInnen, die bereits seit einiger Zeit im Amt sind, mit Menschenrechtsfragen weniger stark vertraut bzw. nicht dementsprechend sensibilisiert sind. Es erscheint jedoch nicht zufriedenstellend, es der nachrückenden, jüngeren Generation der Justiz allein zu überlassen, in ihrer täglichen Praxis einen menschenrechtsbezogenen Rechtsprechungsansatz zu entwickeln, und sicherzustellen, dass die Förderung und Einhaltung der Menschenrechte bereits an den Gerichten erster Instanz beginnt. 13 Daher empfehlen wir, für alle österreichischen RichterInnen und StaatsanwältInnen eine umfangreiche Aus- und Weiterbildung im Bereich der Menschenrechte sowohl im Allgemeinen zu institutionalisieren, als auch für bestimmte Bereiche, wie zB Meinungsund Informationsfreiheit, Diskriminierungs-, Datenschutzfragen etc., wann auch immer eine nennenswerte Rechtsprechung des EGMR es nötig macht, aktuelle „Brush-up“Seminare anzubieten. Es sollten sowohl Basis- als auch Fortbildungskurse angeboten werden, wobei die Teilnahme an Letzteren nicht länger freiwillig sein sollte. Die Seminare sollten nach dem Tandem-Konzept des bestehenden Grundrechtsmoduls für RichteramtsanwärterInnen gestaltet sein, welches erprobtermaßen ideal dazu geeignet ist, die TeilnehmerInnen auf eine umfassende Einbeziehung von Menschenrechten in ihre tägliche Praxis vorzubereiten. 6. Schulungen im Bereich Menschenrechte für Verwaltungspersonal Obwohl die Meinungen darüber, ob die VertreterInnen österreichischer Behörden im Allgemeinen ausreichend über menschenrechtliche Belange informiert sind, bei den verschiedenen InterviewpartnerInnen divergierten, so kam doch eine klare Tendenz für eine diesbezüglich verstärkte Bewusstseinsbildung unter den öffentlich Bediensteten zum Vorschein. Im Vergleich zu anderen untersuchten Ländern, erreicht das Bewusstsein für das Thema Menschenrechte innerhalb der österreichischen Behörden ein hohes Niveau; dennoch ist das Verständnis, wodurch und in welchem Ausmaß behördliche Vorgehens- und Handlungsweisen geeignet sind, Menschenrechte zu verletzen, eher begrenzt. Angesprochen sind hier in erster Linie die Ressorts Inneres (BMI), Wirtschaft (BMWFJ) und Soziales (BMASK), das Unterrichtsministerium (BMUKK), das Verkehrsministerium (BMVIT) sowie sämtliche andere Bundesministerien, wobei das österreichische Justizressort im Hinblick auf die anhaltende Zusammenarbeit mit der „Fachgruppe Grundrechte“ der Vereinigung österreichischer Richterinnen und Richter als positives Beispiel für die Wahrnehmung von Menschenrechten hervorzustreichen ist. Insbesondere weist auch die Arbeit der MenschenrechtskoordinatorInnen in den einzelnen Ministerien gravierende Defizite auf, die durch bessere Ausbildungs- und Informationsmöglichkeiten ausgeräumt werden könnten. Aus diesem Grund empfehlen wir gezielte Schulungen für das österreichische Verwaltungspersonal, vor allem innerhalb der genannten Ministerien und ihrer MenschenrechtskoordinatorInnen, um sowohl eine erhöhte Sensibilität für menschenrechtliche Belange zu erzielen, als auch ein umfassenderes Wissen über die Konvention und die Wirkungsweise von EGMR Urteilen zu erreichen. 14 7. Empirische Forschung über den Aufbau und die Verhaltensweisen der österreichischen Gerichtsbarkeit Der hypothetische bzw. mitunter gedanklich bestehende Dualismus von innerstaatlichen Grundrechten und -freiheiten und den in der Konvention verankerten Rechten erklärt sich aus der in früheren Jahren eher reservierten Haltung des VfGH gegenüber der EMRK und der Rechtsprechung der Straßburger Organe. Diese Haltung hat sich im Laufe der Jahre entschieden gewandelt, und der wachsende Einfluss der Straßburger Rechtsprechung auf die Entscheidungen des VfGH (und nunmehr auch verstärkt des OGH) wird immer sichtbarer. Wie anhand einiger Verurteilungen Österreichs wegen Verletzung der Presse- bzw. Meinungsäußerungsfreiheit bereits verdeutlicht wurde, werden die Konvention und die in ihr garantierten Rechte und Freiheiten bzw. die diesbezüglichen Interpretationen des EGMR jedoch (vor allem von Gerichten der unteren Instanzen) nicht immer ausreichend berücksichtigt. Viele jener Fälle beziehen sich auf das österreichische Verbotsgesetz, das rassistische Handlungen und Anstiftungen im Zusammenhang mit der (Neo-)Nazi Ideologie explizit unter Strafe stellt. Konkret wurden VertreterInnen der rechts-orientierten, populistischen Freiheitlichen Partei Österreich (FPÖ) von diversen Medien für Äußerungen, die rassistisch motiviert waren bzw. sich auf den Nationalsozialismus bezogen, kritisiert. Die PolitikerInnen brachten die JournalistInnen, die Kritik geübt hatten, in weiterer Folge wegen Beleidigung bzw. Verleumdung vor Gericht, was vielfach zu deren Verurteilung durch nationale Gerichte führte, ohne dass den aus Art. 10 EMRK erfließenden Freiheiten im Verfahren ausreichend Rechnung getragen worden wäre. Daher erschiene es besonders interessant, die Haltung der österreichischen RichterInnen gegenüber Menschenrechten im Allgemeinen und gegenüber der EMRK bzw. der Rechtsprechung des EGMR im Besonderen zu untersuchen. Bis dato wurden diesbezüglich keinerlei Erhebungen unter den Angehörigen der Justiz durchgeführt; ebenso wenig existieren aktuelle sozio-politische Studien, die sich mit den gesellschaftspolitischen Standpunkten der RichterInnen beschäftigen. RichterInnen werden – nicht zuletzt auch aufgrund ihrer unabhängigen Stellung – als Schlüsselpersonen des inländischen Menschenrechtsschutzes angesehen. Obwohl sie an sich eine neutrale Position einnehmen, können aber auch sie sich nicht gänzlich von in der Gesellschaft bestehenden Stereotypen bzw. Vorurteilen frei machen. Daher empfehlen wir, empirische Studien bzw. Forschungsarbeiten über die Zusammensetzung der österreichischen Justiz und die Einstellung der einzelnen Richterinnen und Richter zu ermöglichen, um den Stellenwert, welcher der EMRK und dem EGMR beigemessen wird, und deren Bedeutung für das österreichische Rechtssystem bzw. die Rechtsentwicklung, festzustellen. Die daraus gewonnenen 15 Ergebnisse könnten die Grundlage für weitere konkrete Schritte (zB weiterführende Ausbildungsmaßnahmen) bilden, mit dem Ziel, die in der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten nachhaltiger zu garantieren und die Wirkungen der Rechtsprechung des EGMR in der österreichischen richterlichen Praxis zu stärken. 8. Information und Weiterbildung für Parlamente In Österreich werden Parlamentsmitglieder nicht systematisch über EGMR Urteile informiert. Dies ist nur dann der Fall, wenn seitens der Medien über ein Erkenntnis berichtet wird, das politisch heikle Fragen betrifft, wie etwa das Fremden- oder Asylrecht. Unsere Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass nicht einmal in den Sitzungen des parlamentarischen Menschenrechtsausschusses regelmäßig über den EGMR und dessen Rechtsprechung berichtet wird. Stattdessen ist der Straßburger Gerichtshof eher auf der Tagesordnung des außenpolitischen Ausschusses, da sämtliche Geschehnisse außerhalb Österreichs gewöhnlich eher als Angelegenheiten der Außenpolitik wahrgenommen werden. Aus diesem Grund scheint auch die Schaffung von Möglichkeiten zur Fortbildung der ParlamentarierInnen in Menschenrechtsangelegenheiten geboten. Daher empfehlen wir, die Mitglieder des österreichischen Parlaments systematisch mit den relevanten Entscheidungen des EGMR und den sich aus seiner Rechtsprechung ergebenden Standards, die im Zusammenhang mit parlamentarischen Aktivitäten stehen, vertraut zu machen. Diese Aufgabe könnte einer neuen, im Parlament einzurichtenden Abteilung zugeteilt werden, oder aber auch dem Rechts-, Legislativund Wissenschaftlichen Dienst der Parlamentsdirektion. Darüber hinaus sollte ein Konzept über die konsequente Weiterbildung der Parlamentsabgeordneten in Menschenrechtsangelegenheiten erarbeitet und unter Hinzuziehung einschlägiger ExpertInnen aus AnwältInnen-, RichterInnenschaft und Forschung umgesetzt werden. 9. Ausgedehnte Verbreitung von Übersetzungen der Urteile des EGMR innerhalb der Bundesministerien und anderer wichtiger Institutionen Insbesondere im Vergleich mit anderen europäischen Ländern scheint die Verbreitung von Informationen über die Rechtsprechung des EGMR in Österreich gut zu funktionieren, zumal diese sich vielschichtiger Kanäle bedient. Zunächst werden Rundschreiben über Urteile gegen Österreich direkt an die betroffenen Behörden gerichtet, mit welchen sie im Allgemeinen an die Beachtung der Konvention innerhalb ihrer Handlungsbereiche erinnert werden. Deutsche 16 Kurzfassungen bedeutender (auch internationaler) Entscheidungen mit menschenrechtlichem Bezug, einschließlich jener des EGMR und der österreichischen Höchstgerichte, werden in Form eines periodischen Newsletters (Newsletter Menschenrechte) durch das Österreichische Institut für Menschenrechte veröffentlicht. Diese stehen sowohl auf der Website des Instituts (http://www.menschenrechte.ac.at/home.htm) als auch durch das Bundeskanzleramt (Rechtsinformationssystem des Bundes, RIS, http://www.ris.bka.gv.at) online zur Verfügung. Schließlich werden manche Entscheidungen des EGMR auch im Rechtspanorama, einer wöchentlichen Beilage der österreichischen Tageszeitung Die Presse, sowie in sonstigen juristischen Fachzeitschriften (zB ÖJZ, JBl.) einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dennoch ergab unsere Studie, dass die Verbreitung der Entscheidungen des EGMR innerhalb der österreichischen Gerichts- und Verwaltungsbehörden in manchen Bereichen noch ausbaufähig ist. Daher empfehlen wir, das Informationssystem insbesondere dadurch zu verbessern, dass sämtliche Urteile des EGMR gegen Österreich, aber auch solche gegen andere Staaten, sofern sie eine weitreichende Bedeutung entfalten und für die österreichische Rechtsordnung und –praxis von Interesse sind, ins Deutsche übersetzt werden. Weiters sollten insbesondere folgende AkteurInnen bzw. Einrichtungen systematisch über die thematisch bedeutende Rechtsprechung des EGMR durch das Völkerrechtsbüro im Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten unterrichtet werden: die MenschenrechtskoordinatorInnen der Ministerien, der Menschenrechtsbeirat im Bundesministerium für Inneres, die Volksanwaltschaft, die PatientInnenanwaltschaften, die Rechtschutzbeauftragten, die Gleichbehandlungsanwaltschaft, der Volksgruppenbeirat, der Beirat für Asyl- und Migrationsfragen, der Datenschutzbeirat u.a. 10. Bewusstseinssteigerung, Unterstützung und Förderung von Netzwerkarbeit unter RechtspraktikerInnen, NGO’s und einer breiteren Öffentlichkeit Wie bereits erläutert, ist das Bewusstsein für Grund- und Menschenrechte in Österreich in manchen Politikbereichen stärker ausgeprägt als in anderen – insbesondere aufgrund des politischen Diskurses, der bestimmte Bereiche stärker thematisiert und polarisiert. Diese ungleiche Situation hängt vor allem mit den Möglichkeiten der Mobilisierung und der Interessen, die rund um bestimmte Bereiche bestehen, zusammen. So werden etwa die Interessen von AsylwerberInnen, ImmigrantInnen, Flüchtlingen oder auch von Homosexuellen von AnwältInnen und NGOs oftmals in höherem Maße gefördert als jene anderer Gruppen. Einige der Anwälte, die BeschwerdeführerInnen vor dem Straßburger 17 Gerichtshof vertraten, sind selbst Gründer oder Vertreter von NGOs, wie zB jener des Rechtskomitee Lambda, Plattform gegen § 209 StGB. Dennoch bestehen hinsichtlich des Ausmaßes an strategischer Prozessführung vor dem EGMR auch innerhalb der genannten Gruppierungen teils erhebliche Unterschiede. So werden behauptete Konventionsverletzungen im Bezug auf die Rechte von AsylwerberInnen weniger häufig an den EGMR herangetragen als zB solche betreffend die Rechte homosexueller Personen. Obwohl es in Österreich eine Vielzahl an NGOs und anderen Vereinigungen gibt, die ihren Schwerpunkt auf die Vertretung und Unterstützung von Personen legen, die (potenziell) von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind, sind nur sehr wenige dieser Einrichtungen (wie zB Amnesty International, Interrights und UNHCR) in Fälle, die tatsächlich vor den EGMR gebracht werden, aktiv einbezogen. Die Gründe dafür sind vielfältiger Natur. Die Haupthindernisse, sich an den EGMR zu wenden, sind vor allem in der langen Verfahrensdauer und im Kostenrisiko der innerstaatlichen Verfahren (die Ausschöpfung nationaler Rechtsdurchsetzungswege ist eine Voraussetzung für eine Beschwerde an den EGMR) begründet. In einer Reihe von Fällen ist der Grund für die Entscheidung, sich nicht an den EGMR zu wenden, jedoch auch in einem eklatanten Mangel an Information (sowohl der potenziellen BeschwerdeführerInnen als auch der AnwältInnen bzw. sonstigen VertreterInnen) zu sehen. Auch das rechtliche Konzept der Nebenintervention wird in Österreich nicht besonders häufig in Anspruch genommen. Daher empfehlen wir zur Bewusstseinssteigerung hinsichtlich der Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR, eine verbesserte staatliche Unterstützung und öffentliche Förderung für NGOs und sonstige Organisationen der Zivilgesellschaft, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen in inländischen Verfahren und auch in Verfahren vor dem EGMR beraten und vertreten, sowie weiters die aktive Förderung der Vernetzung von PraktikerInnen, die Erfahrung in strategischer Prozessführung im Menschenrechtsbereich haben, mit möglichen BeschwerdeführerInnen und NGOs, die mit der Einbringung von Beschwerden an EGMR nicht gleichermaßen vertraut sind. 11. Verbesserung der innerstaatlichen fremden-, asyl- und aufenthaltsrechtlichen Rechtslage und deren Vollziehung Von ImmigrantInnen, Fremden und AsylwerberInnen eingebrachte Fälle sind unter den am schnellsten wachsenden Bereichen der EGMR Rechtsprechung. Die meisten Entscheidungen gegen Österreich in diesem Zusammenhang betrafen Aufenthaltsbewilligungen sowie Ausweisungen oder Abschiebungsbescheide nach strafrechtlicher Verurteilung. Derartige Straßburger Urteile berühren einen heiklen politischen Bereich, da sie Fragen der staatlichen 18 Souveränität betreffen, nämlich die Aufnahme und den Aufenthalt von ImigrantInnen und den Umgang mit diesen durch inländische Behörden. Daher neigen die österreichischen Behörden dazu, diese Entscheidungen eher zurückhaltend umzusetzen, d.h. ohne das Aufsehen der Öffentlichkeit und vor allem der rechtsgerichteten, konservativen Parteien zu wecken, die für einen gänzlichen Migrationsstopp aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und sozialer Interessen eintreten. Die im Einzelfall gefundenen Lösungen bedeuten zumeist nicht mehr als die Aufhebung eines unrechtmäßig über die/den BeschwerdeführerIn verhängten Aufenthaltverbotes. Gesetzliche Änderungen zur Verbesserung des Schutzes von Nicht-StaatsbürgerInnen vor Diskriminierungen, konzentrierten sich bislang nur auf besondere Aspekte, wie z.B. den Zugang zu Sozialleistungen (Gaygusuz gegen Österreich vom 16. September 1996) oder verschiedene Verfahrensbestimmungen in Dolmetsch- und Übersetzungsfragen sowie zur Kostenerstattung. Aber auch die wiederholten, umfassenden Reformen der asyl- und fremdenrechtlichen Gesetzeslage in Österreich haben über die letzten Jahre nicht die erhofften Fortschritte gebracht, im Gegenteil. Vor einer erneuten Verschärfung der gesetzlichen Rahmenbedingungen im Bereich des Fremden- und Asylrechts ist daher ausdrücklich zu warnen, da die immer komplexere Rechtslage nicht nur die Gefahr neuer Ungleichbehandlungen von Staats- und Nicht-StaatsbürgerInnen, sondern auch und insbesondere die einer erschwerten Umsetzung in sich birgt. Im Jahr 2008 hat der VfGH acht Kriterien spezifiziert, welche die nationalen Behörden in ihren Entscheidungen über die Gewährung humanitären Aufenthalts leiten und dem vorherrschenden „Individualisierungstrend“ in der verwaltungsbehördlichen Praxis entgegenwirken sollten. Diese Leitlinien waren bislang nicht Gegenstand eines Verfahrens vor dem EGMR, und es bleibt zu beobachten, ob und inwiefern sie – gemeinsam mit der EU Richtlinie betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen vom 25. November 2003 – positive Auswirkungen im Sinne einer spürbaren Reduktion der Anzahl an Ausweisungen von Drittstaatsangehörigen entfalten werden. Daher empfehlen wir, auf eine massive Verbesserung in der Umsetzung bzw. im Vollzug der bestehenden Gesetzeslage im Bereich des Asyl- und Fremdenrechts hinzuwirken, und die Rechtssicherheit der betroffenen Personen auch auf Basis gut definierter Kriterien für das Recht auf humanitären Aufenthalt in Österreich maßgeblich zu stärken. Überdies sei wiederholt die Ratifikation des 12. ZP zur EMRK empfohlen, da dieses Zusatzprotokoll einen sehr viel effektiveren Rechtsschutz für potenzielle Diskriminierungsopfer vorsieht als die bisherigen Konventionsbestimmungen allein. 19