ADHS Eine Kinder­ krankheit wird erwachsen ADHS persistiert bei bis zu 60 % der erkrankten Kinder bis ins Erwachsenenalter. Das Risiko für Fotos: Sergey Nivens / Fotolia weitere psychiatrische Erkrankungen ist erhöht. Lange Zeit galt die ADHS (Aufmerksamkeits-DefizitHyperaktivitäts-Störung) ausschließlich als Erkrankung des Kindesalters. Doch Langzeituntersuchungen zeigen, dass die Symptome bei zwei von drei erkrankten Patienten bis ins Erwachsenenalter andauern. Etwa drei bis vier Prozent der Erwachsenen sind betroffen und die ADHS ist eine häufige und die vermutlich am häufigsten unterdiagnostizierte psychiatrische Krankheit. Damit nicht genug: ADHS geht im Erwachsenenalter mit einer hohen ADHS-Symptome Rate weiterer psychiatrischer „verstecken“ sich oft Erkrankungen einher. Die Lehinter anderen psychibenszeitprävalenz für komorbiatrischen Erkrankungen de psychiatrische Erkrankungen und werden bei Erwachsenen daher häubetrug in einer US-amerikanifig übersehen. schen Studie (doi:10.1176/appi. ajp.163.4.716) 88,6 Prozent; eine deutsche Veröffentlichung (Sobanski E., 2006, Der Nervenarzt) identifizierte das signifikant häufigere Auftreten von depressiven Episoden, Essstörungen und substanzabhängigen Störungen. Beeinträchtigte Lebensqualität ADHS beeinträchtigt eine Vielzahl von Lebensbereichen, insbesondere im Leistungsbereich und bei den sozialen Beziehungen. Als Folge sind Ausbildungsabbrüche, Kündigungen und Arbeitslosigkeit typisch. ProDer Hausarzt 18/2014 57 Hausarzt Medizin bleme in Partnerschaften sind häufig oder die Scheidungsrate sowie die Rate von EinEltern-Familien erhöht. Innerhalb einer Familie sind nicht selten mehrere Generationen betroffenen. Aufgrund der Therapie der ADHS – Häufige Symptomatik entstehen AusBehandlungsziele einer Kombinations­ einandersetzungen um chaobehandlung aus medikamentöser und tisches Verhalten, mangelnde Verhaltenstherapie Zuverlässigkeit und Impulsivität, welche das Eltern-KindEines der Hauptziele ist die Reduktion der ADHSVerhältnis belasten können. Symptomatik, darüber mittel und langfristig VerAufgrund von riskantem Verbesserung des Alltagsfunktionsniveaus. halten in der Freizeit und im ▪▪ Verbesserte Alltags- und Selbstorganisation Straßenverkehr ist das Unfall▪▪ Bewältigung sozialer Anforderungen und von risiko erhöht. Leistungsanforderungen (z.B. Arbeit, PartnerDas Scheitern in verschiedeschaft, Familie) ▪▪ Verbesserte Impulskontrolle nen Lebensbereichen kann ▪▪ Nutzung der verfügbaren Aufmerksamkeitsinsbesondere im Kindes- und kapazität Jugendalter begünstigen, dass ▪▪ Emotions- und Stressregulation die Patienten in ein ungüns▪▪ Abbau von Vermeidungsverhalten tiges Milieu gelangen oder ▪▪ Abbau von negativen Grundannahmen und sich einer Peer-Group mit unSelbstbewertungen günstigem Einfluss anschlie▪▪ Funktionales Verhalten, Aufbau von differenziertem, auf das konkrete Verhalten und die ßen. Daraus können Abhängigkonkrete Situation bezogene Denken keitserkrankungen entstehen oder die Betroffenen können Quelle: Kognitive Verhaltenstherapie der ADHS des Erwachsenenalters. Safren et al., MWV 2008, ISBN: 978-3vermehrt mit dem Gesetz in 939069652 Konflikt kommen. ADHS nicht übersehen Aus diesen Gründen kommt der frühzeitigen Diagnose und einer adäquaten Behandlung sehr große Bedeutung zu. Nur so kann der Leidensdruck der Patienten gelindert und ihnen ein Leben entsprechend ihrer Fähigkeiten und Vorstellungen ermöglicht Pathophysiologie der ADHS Die ADHS ist eine chronische neurobiologische Störung, an deren Entstehung genetische Faktoren und Umweltfaktoren beteiligt sind. Zwillingsstudien konnten zeigen, dass die Erblichkeit bei fast 80 % liegt. Mehrere Mutationen und Polymorphismen in Genen wie Dopamin- und Serotonintransportern wurden in den letzten Jahren entdeckt. Verschiedene prä-, peri- und postnatale Einflüsse (z.B. Enzephalopathien, intrauterine Exposition ggü. toxischen Substanzen und schlechter sozioökonomischer Status) zählen zu den Umweltfaktoren, die mit einem erhöhten ADHS-Risiko assoziiert werden. Von den neuroanatomischen Strukturen spielt der Präfrontalcortex (PFC) eine Schlüsselrolle. Er ist oberste Regulationsinstanz über Aufmerksamkeits-, Affekt- und Verhaltenskontrolle. 58 werden. Doch wie erreicht man die Patienten, die von ihrer Grunderkrankung ADHS noch nichts wissen und sich wegen anderer Probleme beim Hausarzt vorstellen? Nicht selten kommen Patienten wegen einer anderen psychiatrischen Störung, die die ADHS-Symptomatik überlagern kann; häufig sind das depressive Verstimmungen. Dann ist genaues Hinsehen gefragt, um zu erkennen, ob bestimmte Symptome wie Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen bereits seit Kindheit und Jugend bekannt sind. Manchmal erfolgt der Anstoß für eine Diagnose auch über die Behandlung des Kindes. In diesen Fällen empfiehlt der Kinder- und Jugendpsychiater dann Eltern mit vermuteter ADHS-Symptomatik, sich selbst auf ADHS untersuchen zu lassen. Diesen Anstoß kann auch der Hausarzt geben, der oft die einzige Anlaufstelle im medizinischen System für viele Erwachsene ist. Diagnostik und Differenzialdiagnostik Da in den letzten Jahren viele Aspekte der ADHS im Erwachsenenalter erforscht wurden, finden sich in der aktuellen Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM-5, erstmals explizite diagnostische Kriterien für die ADHS des Erwachsenenalters. Aus den Bereichen „Unaufmerksamkeit“ und „Hyperaktivität/Impulsivität“ müssen mindestens fünf Symptome vorliegen, die direkte Auswirkungen auf mindestens zwei Lebensbereiche (soziale und/oder schulische/berufliche Aktivitäten) haben. ADHS ist eine klinische Diagnose, die durch eine psychiatrische Untersuchung gestellt wird. Fragebögen können die Diagnosestellung unterstützen oder auch in der Hausarztpraxis als Screeninginstrument eingesetzt werden. Der ASRS-Fragebogen umfasst z.B. nur 6 Fragen (z.B. http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.7.47.3161.3163.3174). Wenn sich in der Hausarztpraxis ein Verdacht auf ADHS ergibt, sollte zum Facharzt oder an eine ADHS-Spezialambulanz zur weiteDer Hausarzt 18/2014 Hausarzt Medizin ADHS-Kernsymptome (nach DSM-V und ICD-10): ▪▪ Aufmerksamkeitsstörung ▪▪ Impulsivität ▪▪ motorische Hyperaktivität Typische Symptome bei Erwachsenen: ▪▪ Desorganisiertheit im Alltag ▪▪ fehlende Effizienz bei der Erledigung von Aufgaben ▪▪ Schwierigkeiten, Pläne geordnet umzusetzen und Routinen im Alltag zu etablieren ▪▪ mangelndes Zeitmanagement und Unpünktlichkeit ▪▪ Vergessen von Terminen und Zusagen ▪▪ Zerstreutheit ▪▪ erhöhte Ablenkbarkeit und mangelnde Fähigkeit, sich ausreichend lange auf einen Sachverhalt zu konzentrieren – „Chaos im Kopf“ ▪▪ ein erhöhtes Bewegungsbedürfnis und Dysphorie bei ruhigen Tätigkeiten und längerem Stillsitzen ▪▪ erhöhte feinmotorische Unruhe ▪▪ impulsives Verhalten wie unüberlegte Geldausgaben, spontane Entscheidungen und Äußerungen ohne Überdenken der Konsequenzen und dem sprunghaften Wechsel zwischen verschiedenen Tätigkeiten ohne diese abzuschließen ▪▪ affektive Dysregulation im Sinn von Wutausbrüchen, Affektlabilität, Ängstlichkeit, Irritabilität, Dysphorie und Stimmungsschwankungen Quelle: Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie. Möller, Laux, Kapfhammer (Hrsg.), Springer 2011, ISBN 978-3-642-03637-8 ren Diagnostik überwiesen werden, da vor der Behandlungseinleitung eine Diagnosesicherung und differenzialdiagnostische Abklärung erfolgen sollte. Kombinationstherapie oft sinnvoll Die Behandlung der ADHS beim Erwachsenen erfolgt multimodal und umfasst mehrere Säulen: Alle aktuellen Leitlinien empfehlen bei deutlicher Beeinträchtigung in der Lebensbewältigung aufgrund der Symptomatik eine medikamentöse Therapie. Diese kann mit Einzel- und/oder Gruppenpsychotherapie und sozialpsychiatrischen Maßnahmen wie z. B. beruflichen Rehabilitations- und Eingliederungsangeboten kombiniert werden. Viele Patienten entscheiden sich für eine Kombination aus medikamentöser Therapie und Verhaltenstherapie. Durch die Medikamente wird es für einige Patienten erst möglich, eine Verhaltenstherapie zu beginnen, weil sich die Konzentrationsfähigkeit bessert und die Impulsivität nachlässt. Liegen komorbide psychiatrische Störungen vor, so wird zuerst die Erkrankung behandelt, welche die gravierendsten Beeinträchtigungen verursachen. In einem folgenden Schritt werden fortbestehende Symptome erfasst und behandelt. PD Dr. Esther Sobanski Leiterin der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe ADHS im Erwachsenenalter am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und ltd. Oberärztin an der AHG Klinik für Psychosomatik Bad Dürkheim E-Mail: esther. sobanski@ zi-mannheim.de MIKA-Fotografie Berlin Dateiname: _03D9V_0014909.pdf; Nettoformat:(210.00 x 95.00 mm); Datum: 06. Oct 2014 16:31:37; PDF-CMYK ab 150dpi (WF), L.N. Schaffrath DruckMedien Der Hausarzt 18/2014 59