„Über Geist, Personen und Handlungen“ – I. Gegenwärtige Kontexte der Philosophischen Anthropologe Einführung in die Philosophische Anthroplogie und die Grundfragen der Ethik Über die Frage nach dem Menschen und die damit verbundenen Rätsel Sommersemester 2010 Thomas Schärtl 1 Kontexte, 1 2 Kontexte, 2 Faktisch ist die so genannte Philosophische Anthropologie eine sehr junge philosophische Disziplin. Andererseits hat die Frage nach dem Menschen die Menschen zu allen Zeiten beschäftigt. In mythologischer Form haben schon archaische Kulturen darauf eine Antwort zu geben versucht. So bieten die beiden Schöpfungsberichte des Buches Genesis einen Einblick Rahmenthemen und Fragen der Anthropologie: Der Mensch wird als irdisches, der Natur zugehöriges, aber doch mit Freiheit ausgestattetes Wesen gekennzeichnet, das in der Lage ist mit Gott zu kommunizieren und doch verdammt ist zu sterben etc. Die Frage nach dem Menschen ist, bei näherer Betrachtung, in der Philosophie allgegenwärtig. Nur leuchtet diese Frage in der klassischen Philosophie aus „verschiedenen Traktaten“ und Themen (so etwa in der Erkenntnislehre oder in der Metaphysik). Umso mehr erhebt sich die Frage, warum und wieso wir Philosophische Anthropologie als eine eigene Disziplin wirklich brauchen? Würde es nicht genügen, sich mit der vielfältigen, aber indirekten Thematisierung des Menschen in anderen Traktaten zufrieden zu geben? 3 Die Frage nach dem Menschen drängt sich vor dem Hintergrund spezifischer geschichtlicher Konstellationen und Erfahrungen auf. Philosophische Anthropologie ist ein Krisenphänomen, das dadurch erzeugt wurde, dass der Mensch sich zum Rätsel geworden ist. Die philosophische Befassung mit dem Menschen findet ihre markanten Einsatzpunkte nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Diese zivilisatorischen Katastrophen mit ihren Abgründen, zwingen neu zu einer Befassung mit dem, was der Mensch ist und was Menschsein ausmacht: 1. Kann man im Angesicht dieser Katastrophen noch vom Menschen als dem „animal rationale“ reden? 2. Kann man ihm Vernunftorientierung, ethisches Bewusstsein, Moralität und Tugendhaftigkeit, Selbstreflektiertheit und Verantwortlichkeit ansinnen, wenn man das Elend in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs sieht und die Konzentrationslager des Zweiten Weltkriegs kennt? 4 Kontexte, 3 1. 2. 3. 4. 5. Homo Cyber, 1 Die technologischen Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts stellen die Frage nach dem Menschen neu und verschärft: Der Mensch hat die Möglichkeit, seine Spezies ein für allemal zu vernichten (Atombombe). Der Mensch hat die Möglichkeit, die biologischen Grundlagen seiner Existenz radikal zu verändern (Gentechnik). Der Mensch hat die Möglichkeit den zeitlichen Rhythmus seiner Existenz zu manipulieren (Elektronische Revolution, neue Kommunikationsmittel) Der Mensch hat die Möglichkeit die leiblich-räumlichen Bedingungen seiner Existenz zu verändern und teilweise abzustreifen (Mobilität, Telekommunikation). Der Mensch hat die Möglichkeit, die Folgen partikulärer Handlungen und Entscheidungen nahezu ins Unendliche zu steigern (Massenvernichtung, ökologische Eingriffe und Katastrophen). „Man braucht nicht für alles einen realen Körper. Wenn man sich in einer virtuellen Umgebung aufhält reicht ein virtueller Körper völlig aus.” (KURZWEIL, Ray: Homo s@apiens, 226.) „In einer virtuellen Realität kann sich auch der eigenen Körper – zumindest in seinen virtuellen Versionen – verändern. Man kann sich in eine attraktivere Version seiner selbst oder in ein schreckliches Ungeheuer oder in jedes andere reale oder phantastische Wesen verwandeln, wenn man verschiedenen virtuelle Welten betritt und mit ihren Bewohnern interagiert.“ (KURZWEIL, Ray: Homo s@apiens, 229.) 5 6 Fußnote 1 Homo Cyber, 2 Wie wird menschliches Leben im Jahr 2099 aussehen? „Das menschliche Denken verschmilzt mit er Welt der ursprünglich von der menschlichen Spezies erschaffenen Maschinenintelligenz. […] Intelligente Maschinen, die ausschließlich auf […] erweiterten Modellen der menschlichen Intelligenz basieren, nehmen für sich in Anspruch, Menschen zu sein, ungeachtet der Tatsache, daß ihre Denkfunktionen nicht auf kohlenwasserstoffbasierten Zellprozessen, sondern vielmehr auf deren elektronischen oder photonischen ‚Äquivalenten‘ beruhen. Die meisten dieser Intelligenzen sind nicht mit einer spezifischen Prozessoreinheit […] verbunden. Die Zahl dieser ausschließlich softwareresidenten Menschen übertrifft bei weitem die derjenigen, die nach wie vor die traditionelle Neuronen/Zellen-basierte Verarbeitungsmethode benutzen. Eine sofwareresidente Intelligenz ist in der Lage, sich nach Belieben körperlich zu manifestieren: in einem oder mehreren virtuellen Körpern auf unterschiedlichen Ebenen der virtuellen Realität sowie in nanotechnisch hergestellten physischen Körpern, die sich aus in Sekundenbruchteilen rekonfigurierbaren Nanobot-Schwärmen zusammensetzen.“ (KURZWEIL, Ray: Homo s@apiens, 358f.) 7 a) b) c) d) Wie schwierig die Rede vom Menschen ist, lässt sich am Detailproblem der menschlichen Körperlichkeit/Leiblichkeit ersehen. Niemand wird leugnen, dass wir in einem ganz basalen Sinne physische Lebewesen sind, insofern unsere Existenz den Naturgesetzen unterworfen ist. Aber schon auf ‚höherer Betrachtungsebene‘ geraten wir in Schwierigkeiten: Biomedizinische Forschung hat Körperlichkeit zu einer Modelliermasse gemacht. Wir können unsere Grenzen (Hinfälligkeit, Alter, Geschlechtszuordnung) zumindest teilweise verschieben und können uns erfinden. Kosmetik und Ware haben den Körper eingespeist in ein System ökonomischer und ästhetischer Zwecksetzungen, die mit den biologischen Parametern unseres Daseins emanzipiert sind. In der Einordnung in solche sekundären, aber emanzipierten Zwecksetzungen, wird unsere Körperlichkeit selbst zur Projektionsfläche, auf der unsere eigenen Vorstellungen mit der anderer konkurrieren. Offenkundig unterliegen damit auch die basalen Parameter unseres Daseins einer ALS-STRUKTUR: 8 Fußnote 2 Kontexte, 4 Offenkundig unterliegen damit auch die basalen Parameter unseres Daseins einer ALS-STRUKTUR. Auch das harte Faktum materieller Existenz löst sich auf in den ‚weicheren Sachverhalt‘ gedeuteter Realität: a) Wir leben als die Wesen, als die wir uns sehen und erfinden. b) Wir leben als die Wesen, als die wir uns deuten und verstehen. c) Wir sind die Wesen, als die wir uns sehen, erfinden und deuten, so dass wir zwischen dem Vorgegebenen und dem aus der Deutung Erfolgenden keine klaren Grenzen zu ziehen vermögen. 1) 2) 3) Neben den technologischen Revolutionen sind es auch wissenschaftliche Erkenntnisse, die neu nach dem Menschen fragen lassen. Die „drei großen Kränkungen“ (Kopernikus, Darwin, Freud) haben zu nachhaltigen Beben im Menschenbild und im Begriff vom Menschen geführt: So wenig die Sonne im Zentrum des Universums steht, so wenig angemessen scheint es zu sein, vom Menschen als Krone der Schöpfung zu reden. Ist der Mensch nur eine marginale Erscheinung in der Geschichte des Kosmos? Von seinen nächsten biologischen Verwandten (vgl. Schimpansen, Gorillas) trennt den Menschen (auch unter genetischer Hinsicht) nicht viel. Mit welchem Recht meint der Mensch, sich von allen anderen Formen des biologischen Lebens abheben zu können? Ist er am Ende nicht doch nur ein „nackter Affe“? Wenn die psychologischen und neurphysiologischen Kenntnisse, über die wir inzwischen verfügen, sich zu einem Bild zusammenfassen lassen sollten, so werden wir nüchtern fragen müssen, wie „frei“ wir als Menschen wirklich sind. 9 10 Wer sind wir? a) b) c) d) e) Kontexte, 5 Das Bild, das vom Menschen gezeichnet wird, ist verwirrend. Wissenschaftliche Erkenntnisse jüngeren Datums lassen sich kaum in Einklang bringen mit so manchem prächtigen Bild der philosophischen und kulturellen Tradition? Sind wir unsterbliche Seelen, die einen Körper haben bzw. in einem Körper gefangen sind (Leib-Seele-Dualismus), Säugetiere, die bemerkenswerte kognitive Kapazitäten entwickelt haben (Animalismus), Subjekte, die über eine einmalige Erste-Person-Perspektive verfügen, und durch einen biologischen Organismus konstituiert werden (Constitution View), immaterielle Subjekte, die in einer Schicksalsgemeinschaft mit einem biologischen Körper stehen (Selbst-Körper-Dualismus), Gehirne, die an ein biologisches Versorgungssystem angeschlossen sind und deren Kapazitäten sich evolutionär entwickelt haben (Neurophilosophie)? 11 a) b) c) Das Aufkommen der philosophischen Anthropologie hat seine Spuren auch in der Theologie hinterlassen: In der Systematischen Theologie spricht man von der ‚anthropologischen Wende‘ (K. Rahner). Dabei wird die Frage nach dem Menschen zum methodischen Einsatzpunkt für das Verständnis des Dogmas. In der Christologie etwa macht sich dieser Ansatz in einer so genannten ‚Christologie von unten‘ bemerkbar. Die anthropologische Konzentration korreliert mit den zentralen Elementen des christlichen Dogmas: Die Rede von einer ‚Menschwerdung Gottes‘ wird angesichts der neuen Verunsicherung auch zur stetigen Provokation. Kann und soll man ernsthaft davon ausgehen, dass Gott sich in die Gestalt eines biologischen ‚Zigeuners‘, der am Rand des Universums siedelt, begeben habe? Der für die gegenwärtige Theologie verständliche anthropologische Ausgangspunkt scheint aber nur dann eine Sinn zu machen, wenn wir im Sinne eines Fixpunktes angeben können, was wir meinen, wenn wir vom ‚Menschen‘ reden. 12 Gottfried Benn Drei Aspekte „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch -: geht doch mit anderen Tieren um! Mit siebzehn Jahren Filzläuse, zwischen üblen Schnauzen hin und her, Darmkrankheiten und Alimente, Weiber und Infusorien, mit 40 fängt die Blase an zu laufen -: meint ihr, um solch Geknolle wuchs die Erde von Sonne bis zum Mond -? Was kläfft ihr denn? Ihr sprecht von Seele – Was ist Eure Seele? […]” (BENN, Gottfried: Gedichte, 88) a) b) c) Die mythologische und kulturelle Tradition des Abendlandes (vgl. griechische Tragödie) macht uns auf drei Aspekte aufmerksam, die gleichsam den Horizont bilden, in denen sich Menschsein bewegt: Natur: Der Mensch ist Teil der Natur, er ist ein biologisches Lebewesen; er teilt das Schicksal aller Naturerscheinungen (Geburtlichkeit, Sterblichkeit). Kultur: Der Mensch ragt aus der Natur heraus; er schafft etwas Neues. Er artikuliert sich auf eine Weise, die sich im Begriff des nur Natürlichen nicht angemessen begreifen lässt. Der Mensch ist ein Wesen der ‚Offenheit‘ – ein Wesen, das nicht definitiv festgelegt ist (in Hinsicht auf seinen Ort in der Natur etc.). Götter: Der Mensch ‚spricht‘ und ‚verhandelt‘ im Mythos (und in der Tragödie) mit den Göttern. Er ist das Wesen, das seinen Blick zum Himmel erhebt und sich auch vom Himmel her selbst versteht. 13 14 Drei bedrohliche Herausforderungen Drei Aufgaben 1) 2) 3) Die genannten drei Horizonte lassens ich unter heutigen philosophischen Bedingungen als drei Aufgaben verstehen, die sich in die folgenden Fragen kleiden lassen: Wenn der Mensch Teil der Natur ist, wie sehr und wie nachdrücklich haben wir die biologischen Koordinaten menschlicher Existenz für die ‚Selbstbeschreibung‘ des Menschen in Rechnung zu stellen? Wenn Kultur ein Horizont menschlicher Existenz ist, wie sehr haben wir die menschliche Freiheit und ‚Schaffenskraft‘, die sich auch noch einmal im Verstehen und Selbstverstehen der Welt Ausdruck verschafft, in Rechnung zu stellen? Wenn der Transzendenzbezug zumindest eine unvermeidliche Gegebenheit und Aufgabe im menschlichen Leben darstellt, wie angemessen kann eine philosophische Anthropologie bleiben, die nicht auch offen ist für eine religionsphilosophische Fragestellung? 15 1) 2) 3) Als philosophische Disziplin steht philosophische Anthropologie vor einigen elementaren Herausforderungen. Sie alle bedrohen gewissermaßen ihr Existenzrecht und ihren wissenschaftlichen Anspruch. Diese Herausforderungen lassen sich als drei Statements gießen: Philosophische Anthropologie ist unmöglich. Denn der Mensch, als Subjekt dieses philosophischen Verstehensprozesses, müsste sich selbst so vor-objektivieren, dass er sich ganz zum wissenschaftlichen Gegenstand machen kann. Solch eine neutrale Selbstdistanzierung ist unmöglich. Philosophische Anthropologie ist problematisch. Denn sie such nach dem „Wesen“ des Menschen. Wenn sich aber etwas gezeigt hat in den letzten Jahrhunderten, dann dies: Der Mensch kann über jede (auch durch Wesensdefintionen) gesetzte Grenzen hinausgehen. Es gibt keine philosophische Formel, die uns ein für allemal sagen könnte, was der Mensch ist. Philosophische Anthropologie ist illusionär, weil sie den Menschen als eine Art Konstante und Knotenpunkt sieht, der als Ausgangs- und Zielpunkt einer wissenschaftlich-philosophischen Befragung dienen kann, während soziobiologische und soziologische Einsichten uns belehren sollten, dass Menschsein nur ein flackerndes Phänomen in unterschiedlichen Systemkreisläufen (biologischen und soziologischen) 16 ist. Ist Philosophische Anthropologie unmöglich? THESE: Wenn Philosophische Anthropologie Selbstbeschreibung des Menschen ist, dann muss sie reflexiv verfasst sein. Als Reflexion kommt sie aber immer schon zu spät. Zudem ist die beschriebene Instanz die beschreibende Instanz, so dass das Beschriebene sich im Gang des Beschreibens so verändert, dass am Ende das Beschriebene niemals das Resultat des Beschreibens sein könnte. SED CONTRA, 1 In Analogie zum Phänomen des Selbstseins und Selbstbewusstseins können wir die Frage ebenso anschärfen wie beantworten: Philosophische Anthropologie ist nur möglich, wenn wir einen Ansatzpunkt suchen, in dem Identität und Verschiedenheit von Beschreibenden und Beschriebenen strukturell gegeben sind. Im Phänomen Selbstbewusstsein haben wir eine derartige Grundgegebenheit vor uns. Die Reflexion auf ‚sich selbst‘ ist dabei integraler Teil des Phänomens selbst. Die reflexive Struktur, um die es uns zu tun ist, kann aber nicht als Resultat der Reflexion selbst gedeutet werden (sonst bestünde – zu Recht – die Verfälschungsgefahr), sondern muss in einem vorreflexiven Mit-Sich-Vertrautsein gründen, das in der reflexiven Selbstbeschreibung erkundet und expliziert, nicht aber eigentlich erzeugt wird. 17 18 SED CONTRA, 2 SED CONTRA, 3 Damit ist allerdings methodisch die Frage aufgeworfen, wie Philosophische Anthropologie zu betreiben wäre. Offenkundig ist die Frage „Was ist der Mensch?“ nicht mit der Frage „Was sind wir? Was bin ich?“ identisch? Die erste Frage könnte auch als rein wissenschaftliche Frage (biologischer, soziologischer, ethnologischer, historischer) Art verstanden werden. Die zweite Frage zielt auf die reflektierte ‚Einholung‘ des menschlichen Existierens aus der ErstenPerson-Perspektive. 19 Im Anschluss an Kant kann man Philosophische Anthropologie als Summe und Inbegriff zentraler Fragen aus der EPP verstehen: „1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen?“ Diese Frage gipfelt, so Kant, in der Frage: „Was ist der Mensch?“ (vgl. KrV B 832f.; Logik A 25) In den Ausdrücken „Können“, „Dürfen“, „Sollen“ verbergen sich die refelxiven Scharnierstellen philosophischer Anthropologie: Der Mensch ist – und das ist das Mindeste, was wir sagen dürfen – ist ein Wesen, dass im Modus des Könnens, Dürfens und Sollens existiert und danach fragt. Diese Modi sind, sozusagen von selbst, in die Atmosphäre selbst-reflektierenden Fragens getaucht. Philosophische Anthropologie ist möglich, wenn sie dieser Fährte folgt. 20 Ist Philosophische Anthropologie problematisch? THESE: Philosophische Anthropologie ist problematisch, weil sie nach dem Wesen des Menschen zu suchen trachtet. Aber ein „WesensWas“ lässt sich in diesem Fall niemals exakt angeben. Der Mensch ist gerade jenes (paradoxe) Wesen, das sein ‚Wesen‘ je neu erfindet, entwirft, konstruiert und auch empfängt. Der Mensch ‚ek-sisitiert‘ in eine Offenheit hinein, die er immer kreativ (Kultur und in der Kultur sich selbst schaffend) beantwortet. Der Mensch ist grundsätzlich zeitlich situiert und hat sein Selbstverstehen jeweils von dieser Zeit her zu empfangen und zu explizieren. Ein Hinweis Martin Heideggers „Der Mensch ist […] vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins ‚geworfen‘, daß er, dergestalt ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Sein das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine. Ob und wie es erscheint, ob und wie der Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur in die Lichtung des Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch. Die Ankunft des Seienden beruht im Geschick des Seins. Für den Menschen aber bleibt die Frage, ob er in das Schickliche seines Wesens findet, des diesem Geschick entspricht; denn diesem gemäß hat er als der Ek-sistierende die Wahrheit des Seins zu hüten. Der Mensch ist der Hirt des Seins.” (HEIDEGGER, Martin: Brief über den Humanismus, 330f.) 21 Fußnote 1 1) 2) 22 Nietzsche! Die Wesensfrage und Wesenssuche wird erschwert, wenn wir einen Blick auf evolutionstheoretische und paläoanthropologische Forschungen werfen: Ab wann können wir vom Auftreten des Menschen (oder einer irgendwie signifikanten Vor-Menschenart) reden? Gibt es eindeutige genetische, soziale oder kulturelle Merkmale, die den Menschen als Menschen kennzeichnen? Oder müssen wir zugestehen, dass die Grenzen (zwischen Mensch und Tier) fließend sind? Was würde als Kriterium für einen markanten Differenzpunkt in Frage kommen: Werkzeuggebrauch, Sozialstrukturen, Sprachgebrauch, Kunst, Begräbniskultur, Monogamie? Die Frage ist umso schwerer zu beantworten, weil derartige Kriterien in einer Durchmischung von Natur und Kultur nicht immer als gesamtes Bündel, sondern auch in unterschiedlichen Variationen und Konstellationen aufgetreten sind. Offenkundig zwingen uns derartige Befunde, nicht von einem fest umreißbaren, durch klare Kriterien benennbaren Wesen des Menschen auszugehen. Eher sollten wir von einem flexiblen, variablen Bündel von Eigenschaften sprechen. 23 „Mit der Kraft seines geistigen Blicks und Einblicks wächst die Ferne und gleichsam der Raum um den neuen Menschen: seine Welt wird tiefer, immer neue Sterne, immer neue Rätsel und Bilder kommen ihm in Sicht. Vielleicht war alles, woran das Auge des Geistes seinen Scharfsinn und Tiefsinn geübt hat, eben nur ein Anlaß zu seiner Übung, eine Sache des Spiels, Etwas für Kinder und Kindsköpfe; vielleicht erscheinen uns einst die feierlichsten Begriffe, um die am meisten gekämpft und gelitten worden ist, […] nicht wichtiger, als dem alten Manne ein KinderSpielzeug und Kinder-Schmerz erscheint […]“” (NIETZSCHE, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, § 57) 24 Fußnote 2 1) 2) 3) 4) a) b) c) d) Fußnote 3 Die christliche, theologische Anthropologie scheint (zumindest in offiziellen lehramtlichen Verlautbarungen, vgl. KKK) eine Art Wesensdefinition vorauszusetzen: Der Mensch wird verstanden als Leibliches und geistiges Lebewesen, das Ebenbild Gottes ist, in der Geschlechterdifferenz von Mann und Frau existiert, und über moralisch signifikante Freiheit verfügt (die es ihm gestattet, ein Verhältnis der Freundschaft mit Gott zu pflegen oder dieses Verhältnis abzulehnen). In diese „Wesenbestimmung“ gehen die folgenden metaphysischen Voraussetzungen ein: Der Mensch hat eine unsterbliche Seele. Die Vernunft des Menschen spiegelt die Vernunft Gottes. Es gibt eine ‚natürliche‘ (d.h. vorgegebene) Ordnung der Geschlechter. Der Mensch ist ein moralisch verantwortliches Wesen, dass sich in voller Verantwortung für oder gegen etwas entscheiden kann. a) b) c) d) Gegen eine derartige ‚Invarianz-Anthropologie‘ lassen sich die folgenden Bemerkungen ins Feld führen: Es ist überhaupt nicht klar, was eine unsterbliche Seele ist und wie bzw. woran man den „Besitz einer unsterblichen Seele“ festmacht. Der Mensch ist offenkundig nur zu einem gewissen Teil ein Vernunftwesen. Wie verrechnen wir die ‚unvernünftigen‘ oder ‚vorvernünftigen‘ Elemente menschlicher Existenz? Es ist nicht zu leugnen, dass Geschlecht zu einem gewissen Teil eine soziale Konstruktion ist (vgl. „gender“ vs. „sex“) und dass es jenseits extrem basaler biologischer Koordinaten extrem schwer ist, über das Wesen des Männlichen oder des Weiblichen (ohne metaphysische Peinlichkeiten) Auskunft zu geben. Es ist nicht klar, wie wir die biologischen, psychologischen und soziologischen Determiniertheiten in die moralische Freiheit des Menschen zu verrechnen haben. Ist die Rede von der Freiheit nicht selbst nur eine Illusion, ein metaphysisches Überbleibsel oder eine Erfindung der Religion, um den Menschen vor einer letzten, transzendenten Instanz zur Verantwortung zu ziehen? 25 26 SED CONTRA, 1 SED CONTRA, 2 Philosophische Anthropologie muss mit einem bescheideneren Anspruch auftreten. Es geht nicht um eine Wesensdefinition des Menschen, wohl aber um die reflexive Erfassung jener Konstituenten, die notwendig und unausweichlich mit dem menschlichen (in Selbstbewusstsein ansichtig werdenden, aber schon im Handeln aufgegebenen) Selbstverhältnis mitgegeben sind. Vor diesem Hintergrund lässt sich die paradoxe Formulierung als nicht-definitive Wesensangabe verstehen: Der Mensch ist jenes Wesen, dessen Wesen nicht definitiv festgelegt ist, weil ein grundsätzliches Freiheitsmoment es ihm gestattet, die naturalen Konstituenten seines Selbstverhältnisses zu verändern oder hinter sich zu lassen. Hinzu kommt, dass in das Selbstverhältnis immer schon das Verhältnis des Selbst zu Anderem eingeht, so dass das freie, Sich-Selbst-Defnieren des Menschen von der Selbstdefinition anderer nachhaltig und nachdrücklich mitgeprägt ist. Philosophische Anthropologie ist dann nicht problematisch, wenn es dem Menschsein als ‚Existenz in einem freien und reflexiven, jedoch nicht un-bedingt freien Selbstverhältnis‘ nach-denkt. Damit wird Philosophische Anthropologie nicht zur Erforschung eines überzeitlichen Wesens des Menschens, sondern zur Darlegung grundlegender ‚Konstituenten‘, die sich in einer spezifischen Zeit und Kultur je unterschiedlich auslegen (lassen). 27 28 Das Universale und das Partikulare, 1 „Gewiss wollen wir nicht nur wissen, wer wir gerade heute sind, im Unterschied zu denen, die in früheren Zeiten gelebt haben. Aber wenn Anthropologie eine Form von Selbstvergewisserung ist, dann kann sie nicht nachträglich den Orientierungsbedürfnissen früherer Zeiten dienen wollen und ebenso wenig kann sie denjenigen späteren Generationen eine zeitlos gültige Vorgabe machen. Wir sind es die fragen, und zunächst sollen nur unsere Fragen beantwortet werden. Das heißt natürlich nicht, dass wir selbst die Menschen sind, die wir studieren. Vielmehr weitet gerade die anthropologische Fragestellung unsere Perspektive aus dem Partikulären in Richtung auf das Universale, das Menschheitliche.” (HAEFFNER, Gerd: Philosophische Anthropologie, 21) Das Universale und das Partikulare, 2 „Wenn man diese Situation des anthropologischen Forschens ernstnimmt, relativieren sich zwei dornige Probleme. Es relativiert sich das Gewicht des Problems, den Umfang der Anwendbarkeit des Begriffs ‚Mensch‘ festzulegen angesichts der offenbar fließenden Übergänge in der evolutionären Hominisation. Wie immer sich dieser Übergang darstellen mag, seine genaue Erfassung spielt für die Bewusstwerdung dessen, was wir heute und seit langem sind und wohl auch länger sein werden, keine entscheidende Rolle. Und es relativiert sich das Gewicht eines anderen Problems, nämlich ob unsere Erkenntnisse, die mit den begrenzten Mitteln unserer Kultur erworben sind, auch für die anthropologische Selbsterkenntnis der Menschen anderer Kulturen Geltung beanspruchen können.” (HAEFFNER, Gerd: Philosophische Anthropologie, 21f.) 29 30 Noch einmal: Martin Heidegger, 1 Noch einmal: Martin Heidegger, 2 „Die Ex-sistenz läßt sich nur vom Wesen des Menschen, das heißt, nur von der menschlichen Weise zu ‚sein‘ sagen; denn der Mensch allein ist, soweit wir erfahren, in das Geschick der Ek-sistenz eingelassen. Deshalb kann die Ek-sistenz auch nie als eine spezifische Art unter anderen Lebenwesen gedacht werden, gesetzt daß es dem Menschen geschickt ist, das Wesen seines Seins zu denken und nicht nur Natur- und Geschichtshistorien über seine Beschaffenheit und seinen Umtrieb zu berichten. So gründet auch das, was wir aus dem Vergleich mit dem ‚Tier‘ dem Menschen als animalitas zusprechen, selbst im Wesen der Ek-sistenz. Der Leib des Menschen ist etwas wesentlich anderes als ein tierischer Organismus.” (HEIDEGGER, Martin: Brief über den Humanismus, 324.) „Die Verirrung des Biologismus ist dadurch noch nicht überwunden, daß man dem Leiblichen des Menschen die Seele und den Geist und dem Geist das Existentielle aufstockt […]. Daß die Physiologie und die physiologische Chemie den Menschen als Organismus naturwissenschaftlich untersuchen kann, ist kein Beweis dafür, daß in diesem ‚Organischen‘ […] das Wesen des Menschen beruht. […] Es könnte doch sein, daß die Natur in der Seite, die sie der technischen Bemächtigung durch den Menschen zukehrt, ihr Wesen gerade verbirgt. So wenig das Wesen des Menschen darin besteht, ein animalischer Organismus zu sein, so wenig läßt sich diese unzureichende Wesensbestimmung dadurch beseitigen und ausgleichen, daß der Mensch mit einer unsterblichen Seele oder mit dem Vernunftvermögen oder mit dem Personcharakter ausgestattet wird.” (HEIDEGGER, Martin: Brief über den Humanismus, 324f.) 31 32 Ist Philosophische Anthropologie illusionär? SED CONTRA, 3 a) b) c) Auch innerhalb einer klassischen theologischphilosphischen Tradition gibt es Gegenentwürfe zu einer Invarianz-Anthropologie. Ein Beispiel findet sich bei dem Renaissance-Philosophien Giovanni Pico della Mriandola (De hominis dignitate). Pico della Mirandola hebt hervor: Gott hat den Menschen geschaffen als ein Wesen, das in der Lage ist, die Schöpfung durch Kreativität selbst zu würdigen. Aus diesem Grund habe der Schöpfer dem Menschen keinen fest bestimmten Ort in der Schöpfung zugewiesen, sondern als unbestimmtes bzw. nicht vollkommen bestimmtes Wesen geschaffen. In dieser Unbestimmtheit hat der Mensch die Freiheit, sich dem Niederen (dem Tier) wie dem Höheren (den Engeln und Gott) anzugleichen. a) b) c) THESE: Sich auf die Suche nach dem Wesen des Menschen zu machen, ist illusionär, weil es den Menschen als Menschen gar nicht ‚gibt‘. Denn: Wenn wir in handfester wissenschaftlicher Absicht nach dem Menschen suchen, bleiben wir nur bei der Biologie und befassen uns mit einem bestimmten genetischen Programm. Auf dieser Ebene ist Menschsein nur ein genetisches Programm unter anderen – ein auf Entwicklung beruhendes und im Strom von Entwicklungen befindliches Programm. Wenn wir den Menschen beschreiben wollen, werden wir spezifische kulturelle und gesellschaftliche Prägungen nicht abstreifen können. Es gibt nicht ‚die‘ Geschichte vom Menschen zu erzählten, sondern nur eine Mehrzahl von Geschichten. Wenn wir nach dem Menschen fragen, ist dies – wie das Menschsein selbst – nur ein Flackern an einer bestimmten Stelle eines sich selbst erhaltenden sozialen (und biologischen) Mechanismus. Solche ‚autopoietischen‘ Systeme haben kein Interesse an der Wahrheit über den Menschen, sondern nur an der Erhaltung bestimmter systemdienlicher Funktionen. 33 Fußnote a) b) c) 34 Systemtheorie Der Mensch selbst ist ein „Anthropormorphismus“. Denn was uns bei grober Betrachtung wie eine Einheit vorkommt, zerfällt in ein vages Bündel verschiedener Prozesse bzw. in die vielfache Ebenen berührende Teilnahme an unterschiedlichen Prozessen: Der Mensch verkörpert eine Mehrzahl physiologischer und neurophysiologischer Prozesse; er ist Teil übergeordneter ökologischer Prozesse und ist Produkt nicht Ziel bestimmter evolutionärer Prozesse. Die Bedürfnisstruktur des Menschen und damit das Gros seiner Motive ist Resutalt biologischer und sozio-ökonomischer Prozesse, die er im Wesentlichen gar nicht willentlich kontrollieren kann. Lebensentwurf, reflektiertes Selbstverstehen und wissenschaftliches Verstehen sind Produkt übergeordneter gesellschaftlicher und kultureller Prozesse, die Wissensformen, Wissenstransfer und verstehende Verständigung diktieren, aber nicht vom Einzelnen bestimmt werden können. 35 „Es gibt Maschinen, chemische Systeme, lebende Systeme, bewußte Systeme, sinnhaft-kommunikative (soziale) Systeme; aber es gibt keine all dies zusammenfassende Systemeinheiten. Der Mensch mag für sich selbst oder für Beobachter als Einheit erscheinen, aber ist kein System. Erst recht kann aus einer Mehrheit von Menschen kein System gebildet werden. Beil solchen Annahmen würde übersehen, daß der Mensch das, was in ihm an physischen, chemischen, lebenden Prozessen abläuft, nicht einmal selbst beobachten kann.” (LUHMANN, Niklas: Soziale Systeme, 67f.) 36 SED CONTRA, 1 a) b) c) Selbstbewusstsein, 1 Philosophische Anthropologie muss nicht als Kontrast zu der Einsicht, der Mensch ist als ganzer und in Teilen in verschiedenste systemische Prozesse eingelassen, verstanden werden. Man kann dies zugestehen und dennoch die Notwendigkeit der Erhellung des menschlichen Selbstverhältnisses behaupten. Denn: Es gibt eine grundsätzliche Differenz zwischen EPP und Dritter-Person-Perspektive. Menschen sind Teilnehmer und Beobachter. Sie können sich zu einem gewissen Grade allen prozessualen Inanspruchnahmen entziehen und auch unterwerfen, selbst wenn die willentliche Distanzierung Grenzen hat. Noch im Wissen um die Grenzen der Distanzierung scheint eine zumindest auf reflexiver Ebene Ebene zugängliche Möglichkeit der Distanzierung auf. „Was nun das Selbstbewußtsein als solches betrifft, so sollten wir zunächst beachten, daß es zweierlei bewirkt: Zunächst einmal erhöht es unser Interesse an uns dramatisch. Alle Tiere treibt es, ihr Leben zu erhalten. Je niederer das tierische Leben, umso leichter scheint es aber auch von sich ablassen zu können. Doch es ist etwas ganz anderes, um die eigene Stellung in der Welt besorgt zu sein und Selbsterhaltung aus dieser Warte heraus zu organisieren.” (HENRICH, Dieter: Bewußtes Leben, 198.) 37 38 SED CONTRA, 2 Selbstbewusstsein, 2 „Auf der anderen Seite schafft Selbstbewußtsein auch die Möglichkeit der Selbstdistanzierung. Ausdrückliches, von innen als solches gewußtes Selbstbewußtsein kann es nur im Denken und also im Kontrast zwischen dem Wissen von uns und dem Wissen von anderem geben. So haben wir also auch die Möglichkeit, im Selbstbewußtsein eben dies Selbstbewußtsein und das Leben, das sich um es und aus ihm entfaltet, wie in einer Diagnose zu registrieren. Selbstzentrierung und Selbstdistanz gehören zusammen, können aber auch einen Konflikt auslösen […]. Es ist eine der Wurzeln sowohl der Philosophie als der Religionen, ein Leben zu erschließen, in dem Selbstzentrierung und Selbstdistanz in ihre höchsten Möglichkeiten und zugleich zusammenkommen – und dazu noch im Wissen von dem, was sie in den Konflikt treibt.” (HENRICH, Dieter: Bewußtes Leben, 198f.) 39 Dass wir Philosophische Anthropologie aus der EPP nicht vermeiden können, sehen wir ein, wenn wir uns um das Phänomen Selbsterhaltung und Selbstsorge kümmern. Denn das gerade im praktischen/tätigen Selbstverhältnis aufscheinende Phänomen der Selbsterhaltung und Selbstsorge wäre unverständlich, wenn es (diesseits und jenseits aller systemischen Prozesse) nicht ein ‚Gravitationszentrum‘ gäbe. 40 SED CONTRA, 3 a) b) c) Ein Gedankenexperiment An einigen Fragen lässt sich dieser Gedanke verdeutlichen: Wenn es das ‚Selbst‘ als Referenzpunkt unseres tätigen Interesses NICHT gäbe, worum würden wir uns sorgen, wenn wir uns um ‚unsere‘ Zukunft sorgen? Wenn es kein ‚Selbst‘ gäbe, warum würden wir nach den Bedingungen, Faktoren und Notwendigkeiten der Selbsterhaltung fragen? Warum würden wir uns überhaupt um Ausgleich oder Präferenzen in konkurrierenden Erfordernissen der Selbsterhaltung bemühen? Sind Selbstsorge und Selbsterhaltung ohne Rekurs auf Selbstbewusstsein zu klären? Und führt die Aufklärung dieses Phänomens nicht notwendig zu den entscheidenden Fragen der Philosophischen Anthropologie – nämlich wie von jenem Existierenden zu reden ist, dem sich das KÖNNEN, DÜRFEN, SOLLEN als Können, Dürfen und Sollen darstellt? In Anlehnung an die Diskussion um ‚personale Identität durch die Zeit‘ lässt sich mit Derek Parfit (Reasons and Persons) ein Gedankenexperiment formulieren: Nehmen wir an, ich werde von einem Wissenschaftler zu einem Experiment eingeladen: Meine Gehirnhälften sollen in zwei neue (von meinem Körper geklonten) Körper transportiert werden. Beide ‚Nachfolge‘-Personen verfügen über mein Aussehen und meine Erinnerungen. Eine Person wird mit 1 Mio. Euro bedacht, die andere wird einem grausamen Lebendexperiment unterworfen. Darf ich mich auf die 1 Mio. Euro freuen? Oder sollte mir vor dem Lebendexperiment grauen? Oder sollte ich mich stoisch stellen, weil es ‚mich‘ nicht mehr geben wird und auch nicht gegeben hat? 41 42 Fazit 1 Fazit 2 Die Sorge um ‚meine‘ Zukunft macht nur Sinn, wenn es jenseits aller Auflösung meiner ‚selbst‘ in Prozesse und Subprozesse ein Selbst gibt, das sich um sich selbst sorgen kann. Freilich stellt sich die Frage, wie wir von diesem ‚Selbst‘ reden können, wie es sich reflektierend und beschreibend ‚einholen‘ lässt und in welchem Sinne wir (ontologisch) von ihm als Referenzpunkt reden dürfen. Offenkundig ist es höchst problematisch, dieses Selbst als einen Gegenstand jenseits physischer, psychischer und sozialer Prozesse zu verorten. Die Rede vom „Gravitationszentrum“ versucht sich hier tastend und behutsam vorwärts zu bewegen. Die Entfaltung dessen, was der Mensch sei, muss von den unüberspringbaren Konstituenten des Menschseins seinen Anfang nehmen. Der Ausgangspunkt ist dabei das im Praktischen schon anzutreffende, in der Reflexion aber zum Thema werdende menschliche Selbstverhältnis als Selbstbewusstsein, das sich in Selbsterhaltung und Selbstsorge artikuliert. Diese drei, ineinander verschränkten Begriffe könnten dabei zum Anker einer Philosophischen Anthropologie werden. Sie erlauben es überdies, in einer exakteren Weise von Menschen als jenem Wesen zu reden, dass sich in Freiheit selbst bestimmt, obwohl im in dieser Selbstbestimmung auch Grenzen gesetzt sind. 43 44 Fazit 3 a) b) c) d) Fazit 4 In Selbsterhaltung und Selbstsorge erschließen sich die Gegebenheiten menschlichen Daseins als Gegebenheiten: Meine Körperlichkeit wird mir als Leiblichkeit bewusst, insofern ich gezwungen bin, mich zu erhalten (zu ernähren, zu kleiden etc.). Meine Ek-sistenz in der Zeit wird mir als Zeiltichkeit bewusst, insofern ich gezwungen bin, mich um meine Zukunft zu sorgen und für meine Vergangenheit einzustehen. Mein Dasein mit Anderen wird mir als Mit-Sein bewusst, insofern ich mich in meiner Sorge auch um andere kümmere und meine Selbsterhaltung von anderen ermöglicht und begrenzt wird. Meine Selbstsorge wird mir als solche bewusst, insofern ich sie für Andere zurückstelle und mich im Sein-beim-Anderen von mir selbst distanziere. a) b) c) Gleichzeitig erlaubt der Ansatz beim Selbst die Vermeidung o.g. Gefahren. Es bleibt ein formaler Einsatzpunkt, der inhaltlich noch nichts präjudiziert: Das Selbst drängt dazu, sich auszusprechen und begrifflich zu vermitteln, kann sich aber – in allem wissenschaftlichen Bemühen – nicht definitiv erfassen. Das Selbst drängt dazu, sich einen Platz im Ordnungsgefüge der Dinge zuzuweisen, kann sich aber nicht definitiv kategorisieren. Es erfährt schon auf dieser theoretischen Ebene seine ganze existenzielle Heimatlosigkeit. Das Selbst drängt dazu, sich als Ausgangs- und Zielpunkt seiner Welt zu verstehen, kann sich aber nicht ins Dasein rufen und nur in bedingter Weise im Dasein halten. Es erfährt in seinen Machtansprüchen und seiner Kreativität auch schon seine Ohnmacht. 45 Fußnote a) b) c) d) e) 46 Unbestimmtheit Schon an dieser Stelle zeigt sich eine religionsphilosophische Andockstelle in der Philosophischen Anthropologie. Denn der Mensch erscheint – ganz formal betrachtet – als äußerst paradoxes Wesen: Seine Freiheit wird ihm zur Unbestimmtheit. Seine Weltoffenheit wird ihm zur Heimatlosigkeit. Sein reflexes Selbstverhältnis gerät ihm zur Unbegreiflichkeit. Seine Kreativität zwingt ihn zur fortlaufenden SelbstFindung und Neubestimmung. Sein Machtgebaren und seine Macherweise werden von seiner (metaphysischen) Ohnmacht konterkariert. 47 „Das denkende Subjekt ist kein stabiler Punkt. Wäre es ein stabiler Punkt, dann ruhte das befreite Subjekt tatsächlich in sich, und seine Freiheit stellte nicht nur die Freiheit von etwas, sondern auch eine positive Ausgestaltung dar. Das denkende Subjekt ist aber gerade nicht stabil; es kreist vielmehr beständig um sich selbst, indem jedes ‚ich denke‘ von einem weitere ‚ich denke‘ begleitet werden will. In diesem Kreisen bezeugt es das Streben nach seiner Begründung. Dann das ‚ich denke‘ ist der Möglichkeitsgrund der Gedanken. Strebt es danach, von einem weiteren ‚ich denke‘ begleitet zu werden, so strebt es nach nichts anderem als einem eigenen Möglichkeitsgrund. Das Subjekt, das sich in dem Gedanken ‚ich denke‘ ausspricht, will demnach sein eigener Grund sein – und kann es doch nicht.” (HINDRICHS, Gunnar: Das Absolute und das Subjekt, § 218.) 48 Anforderungen an die Philosophische Anthropologie, 1 Unhintergehbarkeit „Das ‚ich denke‘ will in Wahrheit Ursprung sein und ist keiner. Dadurch zeigt das denkende Subjekt, daß es so, wie es ist, ohne Grund ist und zugleich nach einem Grund strebt. Es zeigt, daß es nicht nur der letzte Punkt ist, an dem alles hängt, sondern sich selber ebenfalls noch am eigenen Schopf ergreifen will. Doch weder es selber noch etwas anderes vermag ihm seine Begründung zu verschaffen: Es ist […] unhintergehbar, nicht von ihm selbst und auch nicht von etwas anderem.” (HINDRICHS, Gunnar: Das Absolute und das Subjekt, § 218.) 49 Anforderungen an die Philosophische Anthropologie, 2 „Sie muss […] offen sein für die empirischen Erforschungen des Menschen und seiner Welt. Sie kann nicht allein a priori aufgebaut werden. Dass sie offen ist, heißt einerseits, dass sie das Interesse für die vielfältigen empirischen Untersuchungen des menschlichen weckt, und andererseits, dass sie die zuverlässigsten und systematisch wichtigsten Ergebnisse dieser Forschungen in ihren Rahmen zu integrieren versucht. […] Umgekehrt jedoch heißt ‚Offenheit‘ und ‚Integration‘, dass die Philosophische Anthropologie einen eigenen Boden haben muss.” (HAEFFNER: Philosophische Anthropologie, 45f.) 50 Anforderungen an die Philosophische Anthropologie, 3 „Die Annahme […] besteht darin, dass dieses eigene Prinzip, das die philosophische Anthropologie von allen einzelwissenschaftlichen Anthropologien unterscheidet, der Rückgriff auf das praktische ‚Tiefenwissen‘ ist, das der Mensch als solcher von sich hat. Der Ausdruck ‚Tiefenwissen‘ will sagen, dass das hier gemeinte Wissen nicht einfach ein durch Erinnerung oder Introspektion abrufbares Satzwissen ist. […] Dieses Tiefenwissen – in neuzeitlich-philosophischer Sprache: das transzendentale Selbstbewusstsein – geht aller theoretischen Situierung in einem Rahmen, der empirisch ausfüllbar ist, voraus.” (HAEFFNER: Philosophische Anthropologie, 46.) 51 „Denn dieses Wissen ist nicht in erster Linie ein bestimmtes Gewusstes, sondern das, was als Aktualität des Geistes im Fragen, Forschen, Urteilen und Situieren selbst lebendig ist […]. Dieses Wissen gilt es aufzudecken und auszulegen […]” (HAEFFNER: Philosophische Anthropologie, 46.) 52 Exkurs – Profile Philosophischer Anthropologie 1: Max Scheler, #1 Exkurs – Profile Philosophischer Anthropologie 1: Max Scheler, #2 Scheler (1874-1928) versucht (vgl. Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928) ausgehend von einem grundlegenden Begriff, den Mensch in die Vielgestalt lebendiger Wesen einzuordnen und durch die Angabe einiger Charaktersitika davon abzuheben. Ausgangspunkt ist der Begriff des Lebens, das sich – so Scheler – auf veschiedenen Stufen in verschiedener Intensität zeigt und verdichtet. Zum Leben qua Leben gehört eine Innenseite – ein „Fürsichsein“ und „Innesein“. Damit wird das (auch rudimentär) Psychische zu einem Kennzeichen des Lebens, das (bei näherer Betrachtung) auch die Eigenart menschlichen Lebens erhellen kann. Zur Eigenart des Lebens gehört der Drang (Gefühlsdrang). Schon bei Pflanzen lässt sich dieses Phänomen nachweisen; und noch beim Menschen ist es vorhanden. Von dieser urtümlichen Pflanzlichkeit allen Lebens unterscheidet die Menschen jedoch die dreifache Aufgliederung des psychischen Urphänomens. Über dem Gefühlsdrang gibt es den Instinkt, darüber das assoziative Gedächtnis und noch weiter darüber die praktische Intelligenz. In gewisser Weise teilt der Mensch diese Eigenarten aber auch mit den Tieren. Auch Tiere können (in einem gewissen Umfang) Wahlfreiheit und praktische Intelligenz bekunden (Scheler bezieht sich hier auf die jungen Ergebnisse der Verhaltensforschung zu seiner Zeit und nimmt sie philosophisch auf). Die Grenzlinie zwischen Tier und Mensch markiert der Geist, der als ein Prinzip sui generis angesehen werden kann. 53 Zitat 54 Zitat „Was aber ist nun jener ‚Geist‘, jenes neue und so entscheidende Prinzip? Selten ist mit einem Worte so viel Unfug getrieben worden – einem Worte, bei dem sich nur wenige etwas Bestimmtes denken. Stellen wir hier an die Spitze des Geistbegriffes seine besondere Wissensfunktion, die Art Wissen, die nur er geben kann, dann ist die Grundbestimmung eines geistigen Wesens, wie immer es psychophysisch beschaffen sei, seine existentielle Entbundenheit vom Organischen, seine Freiheit, Ablösbarkeit – oder doch die seines Daseinszentrums – von dem Bann, dem Druck, von der Abhängigkeit vom Organischen, vom ‚Leben‘ und allem, was zum Leben gehört – also auch von seiner eigenen triebhaften ‚Intelligenz‘.” (SCHELER, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 38) 55 „Ein ‚geistiges‘ Wesen ist also nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern ‚umweltfrei‘ und, wie wir es nennen wollen, ‚weltoffen‘: Ein solches Wesen hat ‚Welt‘. Ein solches Wesen vermag ferner die auch ihm ursprünglich gegebenen ‚Widerstands‘- und Reaktionszentren seiner Umwelt, die das Tier allein hat und in die es ekstatisch aufgeht, zu ‚Gegenständen‘ zu erheben und das Sosein dieser Gegenstände prinzipiell selbst zu erfassen, ohne die Beschränkung, die diese Gegenstandswelt oder ihre Gegebenheit durch das vitale Triebsystem und die ihm vorgelagerten Sinnes funktionen und Sinnesorgane erfährt.” (SCHELER, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 38f.) 56 Exkurs – Profile Philosophischer Anthropologie 1: Max Scheler, #3 Zitat „Der geistige Akt, wie ihn der Mensch vollziehen kann, ist im Gegensatz zu der einfachen Rückmeldung des tierischen Leibschemas und seiner Inhalte wesensgebunden an eine zweite Dimension und Stufe des Reflexaktes. Wir wollen diesen Akt ‚Sammlung‘ nennen und ihn und sein Ziel, das Ziel dieses ‚Sichsammelns‘, zusammenfassend ‚Bewußtsein des geistigen Aktzentrums von sich selbst‘ oder ‚Selbstbewußtsein‘ nennen. Das Tier hat Bewußtein, im Unterschied von der Pflanze, aber es hat kein Selbstbewußtsein […]. Es besitzt sich nicht, ist seiner nicht mächtig - und deshalb auch seiner nicht bewußt. (SCHELER, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos,41) Geist macht das Wesen, das ihn besitzt, vom Organischen unabhängig. Den Bedingungen des Lebens im herkömmlichen Sinn ist ein Wesen mit Geist nicht mehr vollkommen ausgeliefert, ebensowenig der Umwelt oder der Beschränkung auf eine bestimmte Umwelt. Qua Geist ist der Mensch ‚weltoffen‘ – er kann sich zu einer Umwelt nicht nur irgendwie (etwa durch bloße Widerständigkeit) verhalten, sondern sie als Umwelt wahrnehmen und überschreiten. Die Umwelt kann zur Welt werden, weil der Mensch qua Geist nicht mehr an einfache Reiz-Reaktions-Mechanismen gebunden ist. Die Distanzierung von der Umwelt dokumentiert Geist und markiert eine Differenz zwischen Mensch und Tier. 57 Zitat 58 Zitat „Der Mensch allein – sofern er Person ist – vermag sich über sich – als Lebewesen – emporzuschwingen und von einem Zentrum gleichsam jenseits der raumzeitlichen Welt aus alles, darunter auch sich selbst, zum Gegenstande seiner Erkenntnis zu machen. So ist der Mensch als Geistwesen das sich selber als und der Welt überlegene Wesen. Als solches ist er auch der Ironie und des Humors fähig, die stets eine Erhebung über das eigene Dasein einschließen.“ (SCHELER, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 47) 59 „Der Geist ist das einzige Sei, das selbst gegenstandsumfähig ist – er ist reine, pure Aktualität, hat sein Sein nur im freien Vollzug seiner Akte. Das Zentrum des Geistes, die ‚Person‘, ist also weder gegenständliches noch dingliches Sein, sondern nur ein stetig selbst sich vollziehendes (wesenhaft bestimmtes) Ordnungsgefüge von Akten. Die Person ist nur in ihren Akten und durch sie.“ (SCHELER, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 48) 60 Exkurs – Profile Philosophischer Anthropologie 1: Max Scheler, #4 Zitat Der Mensch kann sich aber nicht nur von der Umwelt distanzieren, sondern auch von sich selbst (d.h. von seiner eigenen physiologischen und instinktgesteuerten Verfassung). Der Mensch ist nicht nur in der Lage, auf etwas zu reagieren, sondern etwas als etwas wahrzunehmen. Die AlsStruktur dieser Bezugnahme auf Umwelt und Welt (die, wie gesagt, über ein bloßes Reagieren hinausgeht) verweist darauf, dass es im Menschen ein reflexives Aktzentrum gibt – oder anders gesagt: Selbstbewusstsein. Qua Selbstbewusstsein kann der Mensch seine Umwelt als Umwelt vor sich hinstellen, vergegenständlichen und sich auf dieser Metaebene noch einmal darauf beziehen bzw. davon distanzieren. „Das ursprüngliche Wirklichkeitserlebnis als Erlebnis des Widerstandes der Welt geht also allem Be-wußtsein, geht aller Vor-stellung, aller Wahr-nehmung vorher. Auch die aufdringlichste sinnliche Wahrnehmung ist niemals blß bedingt durch den Reiz und den normalen Vorgang im Nervensystem: eine triebhafte Zuwendung, sei es Verlangen oder Abscheu, muß gleichfalls vorhanden sein, wenn es auch nur zur einfachsten Empfindung kommen soll.” (SCHELER, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 54) 61 Zitat 62 Zitat „Der Mensch ist das Lebewesen, das kraft seines Geistes sich zu seinem Leben, das heftig es durchschauert, prinzipiell asketisch – die eigenen Triebimpluse unterdrückend und verdrängend, d.h. ihnen Nahrung durch Wahrnehmungsbilder und Vorstellungen versagend – verhalten kann. Mit dem Tiere verglichen, das immer ‚Ja‘ zum Wirklichen sagt […], ist der Mensch der ‚Neinsagenkönner‘, der ‚Asket des Lebens‘, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit.” (SCHELER, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 55) 63 „Nach meiner Überzeugung ist durch jene negative Tätigkeit, jenes ‚Nein‘ zur Wirklichkeit, jene Abstellung, Inaktivierung, der Wirklichkeit und Bild gebenden Triebzentren keineswegs das Sein des Geistes, sondern nur gleichsam seine Belieferung mit Energie und damit seine Manifestationsfähigkeit bedingt. Der Geist ist […] in letzter Linie eine Attribut des Seienden selbst, das im Menschen manifest wird in der Konzentrationseinheit der sich zu sich ‚sammelnden‘ Person.” (SCHELER, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 56f.) 64 Exkurs – Profile Philosophischer Anthropologie 1: Max Scheler, #5 Zitat Durch Geist und Selbstbewusstsein ist der Mensch der ‚bloßen‘ Natur enthoben. Andererseits sind Geist und Natur auch aufeinander verwiesen. Ohne die Dynamik der Natur wäre der Geist ohnmächtig; ohne Geist bliebe die Natur jedoch blind – einem blinden Drang ausgeliefert. Daher kommt es auf die Durchdringung von Natur und Geist an. Indem der Mensch eben dies beherzigt, erfüllt er sozusagen seine schöpfungsmäßig ihm zugedachte Aufgabe. Geist und Leben sind selbst Attribute des Urgrund des Seins (des Absoluten sozusagen). Das Absolute wird es selbst in der Durchdringung von Leben und Geist, die sich vornehmlich in der menschlichen Existenz vollbringt. „Es ist der alte Gedanke Spinozas, Hegels und vieler anderer: Das Urseiende wird sich im Menschen seiner selbst inne in demselben Akte, in dem der Mensch sich in ihm gegründet selbst schaut. Wir müssen nur diesen bisher viel zu einseitig intellektualistisch vertretenen Gedanken dahin umgestalten, daß dieses Sich-gegründetWissen erst eine Folge einer aktiven Einsetzung unseres Seinszentrums für die ideale Forderung der Deitas und des Versuches, sie zu vollstrecken und in dieser Vollstreckung den aus dem Urgrunde werdenden ‚Gott‘ als die steigende Durchdringung von Geist und Drang allererst mitzuerzeugen.” (SCHELER, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 91) 65 Zitat 66 Zitat „Geist und Drang, die beiden Attribute des Seins, sie sind, abgesehen von ihrer erst werdenden gegenseitigen Durchdringung – als Ziel -, auch in sich nicht fertig: sie wachsen an sich selbst eben in diesen ihren Manifestationen in der Geschichte des menschlichen Geistes und in der Evolution des Lebens der Welt.” (SCHELER, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 92) 67 „Man wird mir sagen und man hat mir in der Tat gesagt, es sei dem Menschen nicht möglich, einen unfertigen Gott, einen werdenden Gott zu ertragen. Meine Antwort darauf ist, daß Metaphysik keine Versicherungsanstalt ist für schwache, stützungsbedürftige Menschen. Sie setzt bereits einen kräftigen, hochgemuten Sinn im Menschen voraus. Darum ist es auch wohlverständlich, daß der Mensch erst im Laufe seiner Entwicklung und seiner Selbsterkenntnis zu jenem Bewußtsein seines Mitkämpfertums, seines Miterwirkens der Gottheit kommt. […] Wir setzen an die Stelle jener halb kindlichen, halb schwächlichen distanzierenden Beziehung des Menschen zur Gottheit, wie sie in den objektivierenden und darum ausweichenden Beziehungen der Kontemplation, der Anbetung, des Bittgebetes gegeben sind, den elementaren Akt des persönlichen Einsatzes des Menschen für die Gottheit, die Selbstidentifizierung mit ihrer geistigen Aktrichtung in jedem Sinne.” (SCHELER, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 92f.) 68 Exkurs – Profile Philosophischer Anthropologie 2: Helmuth Pleßner, #1 Rückblick a) b) c) d) Schelers Anthropologie hat, rückblickend betrachtet, die folgenden Eigenarten: Der Begriff des Lebens öffnet eine metaphysische Plattform (und ein begriffliches Forum) für die Auseinandersetzung mit den ‚Lebenswissenschaften‘. Scheler ringt um die Natur-Geist-Demarkationslinie und sucht sie auch wissenschaftlich und phänomenologisch zu erhellen. Die Sonderstellung des Menschen wird durch das ‚Prinzip‘ Geist ausgewiesen, das den Menschen in Stand setzt, sich von naturalen Bedingtheiten (so weit es geht) zu emanzipieren. Dabei bleibt – die Metaphysik wird in die Gotteslehre verlängert – Geist nur die eine Seite des Absoluten, dessen andere Seite das Leben ist. Die Durchdringung von Geist und Leben ist der Sinn des Existierens. Sie stellt sich dem Menschen als genuine Aufgabe. Pleßner setzt ähnlich an wie Scheler; auch er versucht dem Menschen im Gesamtzusammenhang alles Lebendigen gerecht zu werden (Die Stufen des Organischen und der Mensch). Anders als Scheler setzt er kein zweites, den Menschen als Menschen auszeichnendes eigenes Prinzip an. In der so genannten ‚Korrelationsstufentheorie‘ versucht er stattdessen, die menschliche Lebensform den pflanzlichen und tierischen Lebensformen begrifflich-systematisch anzunähern. Diese Theorie besagt in nuce: Jede Lebensform ist eine bestimmte Lebenssphäre zugeordnet. Vor diesem Hintergrund schält sich schon heraus, inwiefern der Mensch in seiner menschlichen Lebensform vom pfanzlichen und tierischen Leben unterschieden ist: Es ist seine NichtFestlegbarkeit, die den Menschen so ‚eigenartig‘ macht. 69 70 Exkurs – Profile Philosophischer Anthropologie 2: Helmuth Pleßner, #2 Exkurs – Profile Philosophischer Anthropologie 2: Helmuth Pleßner, #3 Was vom Menschen zu sagen ist, überschreitet die Gegenstandsbereiche einzelwissenschaftlicher Anthropologien. Denn die naturwissenschaftlichen, soziologischen und historischen Erkenntnisse erlauben keine definitive Auskunft darüber, was der Mensch sei. Auch evolutionstheoretische Ergebnisse geben uns keine Antwort darüber, ob der Mensch Ziel einer bestimmten Entwicklung sei. Die technologische Entwicklung (Pleßner hat hier Massenvernichtungswaffen im Blick) zeigt, dass der Mensch nicht nur begrifflich, sondern auch im Hinblick auf seine Existenz in der Lage ist, sich radikal in Frage zu stellen. 71 Die prinzipielle Offenheit des Menschen (in Hinsicht auf seine Bestimmung) ist damit auch das Kriterium einer angemessenen Philosophischen Anthropologie. Das heißt: Der Umstand der Nicht-Festlegbarkeit muss der innere Kern einer philosophischen Anthropologie sein. In diesem Sinn formuliert Pleßner den Zentralgedanken seines Konzepts: die Idee er ‚exzentrischen Positionalität‘ des Menschen. Während Tiere etwa durch Triebe, Instinkte und Reiz-Reaktions-Mechanismen auf ihre Umwelt hingeordnet und daran gebunden sind, ist dieser Konnex beim Menschen gelöst. Diese Freiheit ist in gewisser Weise auch eine Belastung; denn der Mensch ist aufgrund dieser exzentrischen Positionierung nicht auf natürliche Weise bei sich selbst. Er muss sich zu sich verhalten, zu sich selbst Stellung nehmen (und auch zu seiner Welt), seine Identität erst gewinnen. 72 Zitat Zitat „Solange man allerdings das positionale Zentrum, das Subjekt als eine fix und fertig vorhandene Größe denkt, die es einfach gibt wie irgend ein körperliches Merkmal, kommt man an der Vermannigfachung und allen damit verbundenen Unmöglichkeiten nicht vorbei. Aber so bequem diese Anschauung ist, so falsch ist sie auch. Sie vergißt, daß es sich um einen positionalen Charakter handelt, dessen Vorhandensein an einen Vollzug oder eine Setzung gebunden ist; Vollzug und Setzung im Sinne der Lebendigkeit eines Seinenden […].” (PLESSNER: Die Stufen des Organischen, 290) „Damit ist die Bedingung gegeben, daß das Zentrum der Positionalität zu sich selbst Distanz hat, von sich selbst abgehoben die totale Reflexivität des Lebenssystems ermöglicht. Sie ist gegeben ohne widersinnige Verdoppelung des Subjektkerns, lediglich im Sinne der Positionalität. Sein Leben aus der Mitte kommt in Beziehung zu ihm, der rückbezügliche Charakter des zentral repräsentierten Körpers ist ihm selbst gegeben. Obwohl auch auf dieser Stufe das Lebewesen im Hier-Jetzt aufgeht, aus der Mitte lebt, so ist ihm doch die Zentralität seiner Existenz bewußt geworden. Es hat sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es I c h, der ‚hinter sich‘ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, […] der nicht mehr objektivierbare, nicht mehr in Gegenstandsstellung zu rückende Subjektpol.” (PLESSNER: Die Stufen des Organischen, 290) 73 Zitat 74 Zitat „Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus. Er erlebt die Bindung im absoluten Hier-Jetzt, die Totalkonvergenz des Umfeldes und des eigenen Leibes gegen das Zentrum seiner Position und ist darum nicht mehr von ihr gebunden. […] Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch. E x z e n t r i z i t ä t ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld.” (PLESSNER: Die Stufen des Organischen, 291f.) 75 „Der Exzentrizität der Struktur des Lebewesens entspricht die Exzentrizität der Lage oder der unaufhebbare Doppelaspekt seiner Existenz als K ö r p e r und L e i b, als Ding unter Dingen an beliebigen Stellen des Raum-Zeit-Kontinuums und als um eine absolute Mitte konzentrisch geschlossenes System in einem Raum und einer Zeit von absoluten Richtungen. Deshalb sind beide Weltansichten notwendig, der Mensch als Leib in der Mitte einer Sphäre, die entsprechend seiner empirischen Gestalt ein absolutes Oben, Unten, Vorne, Hinten, Rechts, Links, Früher und Später kennt, eine Ansicht, die als Basis der organologischen Weltanschauung dient, und der Mensch als Körperding an einer beliebigen Stelle eines richtungsrelativen Kontinuums möglicher Vorgänge, eine Ansicht, die zur mathematisch-physikalischen Auffassung führt. Leib und Körper fallen, obwohl sie keine material von einander trennbaren Systeme ausmachen, sondern Ein und Dasselbe, nicht zusammen.” (PLESSNER: Die Stufen des Organischen, 294f.) 76 Exkurs – Profile Philosophischer Anthropologie 2: Helmuth Pleßner, #4 Exkurs – Profile Philosophischer Anthropologie 2: Helmuth Pleßner, #5 Der Mensch seht, so Pleßner, gewissermaßen außer sich. Das bedeutet nicht, dass der Mensch keine Mitte hat (wie es etwa in der Formalität der Selbstreflexion aufgewiesen werden könnte), sondern, dass ihm wesentlich die Selbstdistanzierung eignet und auszeichnet. Dieser Gedanke lässt sich mit Pleßners drei anthropologischen Grundgesetzen verfugen: a) der natürlichen Künstlichkeit, b) der vermittelten Unmittelbarkeit, c) dem utopischen Standort. Die Natur ist dem Menschen auch nur in Vermittlung gegeben – vermittelt durch das eigene Selbstverhältnis, durch soziale Gegebenheiten, Kultur und gesellschaftliche Instanzen. Die Schaffung von Kultur ist für den Menschen eine naturale Notwendigkeit. Über die Natur hinaus zu gehen, ist eine Unausweichlichkeit. Vermittelte Unmittelbarkeit meint, dass der Mensch nur dann bei sich selbst sein und ankommen kann, wenn er von sich selbst weggeht und wieder auf sich selbst zurückkommt. In der Notwendigkeit der Selbstdistanzierung liegt freilich auch die Gefahr der Selbstentfremdung. Es ‚schiebt‘ sich sozusagen immer schon ein Dazwischen in den Umgang des Menschen mit sich selbst ein. Die Unabgeschlossenheit des Menschen verweist auf seinen ‚utopischen Standort‘ – das heißt: die Eigenart des Menschseins ist, dass es keinen definitiven Standort hat. Seine „Heimatlosigkeit“ ist für ihn konstitutiv. 77 Zitat, AD a) 78 Zitat, AD a) „Weil dem Menschen durch seinen Existenztyp aufgezwungen ist, das Leben zu führen welches er lebt, d.h. zu machen, was er ist – eben weil er nur ist, wenn er vollzieht – braucht er ein Komplement nicht-natürlicher, nichtgewachsener Art. Darum ist er von Natur, aus Gründen seiner Existenzform k ü n s t l i c h. Als exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos, im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos, muß er ‚etwas werden‘ und sich das Gleichgewicht – schaffen. Und er schafft es mit Hülfe der außernatürlichen Dinge, die aus seinem Schaffen entspringen, w e n n die Ergebnisse dieses schöpferischen Machens ein eigenes Gewicht bekommen.” (PLESSNER: Die Stufen des Organischen, 310) 79 „Existentiell bedürftig, hälftenhaft, nackt ist dem Menschen die Künstlichkeit wesensentsprechender Ausdruck seiner Natur. Sie ist der mit der Exzentrizität gesetzte Umweg zu einem zweiten Vaterland, in dem er Heimat und absolute Verwurzelung findet. Ortlos, zeitlos, ins Nichts gestellt schafft sich die exzentrische Lebensform ihren Boden. Nur sofern sie ihn schafft, hat sie ihn, wird sie von ihm getragen. Künstlichkeit im Handeln, Denken und Träumen ist das innere Mittel, wodurch der Mensch als lebendiges Naturwesen mit sich in Einklang steht. Mit der erzwungenen Unterbrechung durch gemachte Zwischenglieder hebt sich der Lebenskreis des Menschen, dem er als selbständiger Organismus von Bedürfnissen und Trieben auf Tod und Leben eingeschmiedet ist, in eine die Natur überlagernde Sphäre und schließt sich dort in der Freiheit.” (PLESSNER: Die Stufen des Organischen, 316) 80 Zitat, AD a) Zitat „Um sich ins Gleichgewicht erst zu bringen und nicht um es zu verlassen, wird der Mensch das dauernd nach Neuem strebende Wesen, sucht der die Überbietung, den ewigen Prozeß. Die Übersteigerung – fälschlich als eine Selbststeigerungstendenz des Lebens verabsolutiert – ist das notgedrungen diese Form annehmende Mittel der Kompensation seiner Halbheit, Gleichgewichtslosigkeit, Nacktheit. Mit der Arbeit sucht der Mensch sich nur das zu verschaffen, was die Natur ihm schuldig bleibt, weil sie ihm die höchste Organisationsform verliehen hat. ” (PLESSNER: Die Stufen des Organischen, 320) „Exzentrizität der Position läßt sich als eine Lage bestimmen, in welcher das Lebenssubjekt mit Allem in indirekt-direkter Beziehung steht. Eine direkte Beziehung ist da gegeben, wo die Beziehungsglieder ohne Zwischenglieder miteinander verknüpft sind. Eine indirekte Beziehung ist da gegeben, wo die Beziehungsglieder durch Zwischenglieder verbunden sind. Eine indirekt-direkte Beziehung soll diejenige Form von Verknüpfung heißen, in welcher das vermittelnde Zwischenglied notwendig ist, um die Unmittelbarkeit der Verbindung herzustellen bzw. zu gewährleisten. Indirekte Direktheit oder vermittelte Unmittelbarkeit stellt demnach keine Sinnlosigkeit, keinen einfach an sich zugrunde gehenden Widerspruch dar, sondern einen Widerspruch, der sich selber auflöst, ohne dabei Null zu werden […]” (PLESSNER: Die Stufen des Organischen, 324) 81 Zitat, AD b) 82 Zitat, AD b) „Man überlege sich aber, was es positional, unter dem Aspekt des Lebewesens gesehen bedeutet, daß zwischen ihm und dem Umfeld eine durch e s s e l b e r vermittelte Beziehung existiert. Diese Beziehung kann dem Lebewesen gar nicht anders als direkt, als unmittelbar erscheinen, weil es ‚sich selber‘ noch verborgen ist. Es steht im Punkte der Vermittlung und bildet sie. Um von ihr etwas zu merken, müßte es daneben stehen, ohne doch seine vermittelnde Zentralität zu verlieren. ” (PLESSNER: Die Stufen des Organischen, 325) 83 „Der Mensch lebt in einem Umfeld von Weltcharakter. Dinge sind ihm gegenständlich gegeben, wirkliche Dinge, die i n ihrer Gegebenheit v o n ihrer Gegebenheit ablösbar erscheinen. Zu ihrem Wesen gehört das Überschußmoment des Eigengewichts, des Für sich Bestehens, des An sich Seins, sonst spricht man eben nicht von wirklichen Dingen. Trotzdem zeigt sich das Überschußmoment, das Übergewicht an – der Erscheinung, die freilich zur Wirklichkeit gehört, aber nicht die ganze Wirklichkeit offenbart und in der Gegenständlichkeit allein die dem Subjekt zugekehrte Seite des Wirklichen reell, d.h. direkt präsentiert. So daß das Subjekt nur durch Vermittlung dieser Erscheinung die Realität zu fassen bekommt und zwar in der Weise der Unmittelbarkeit, weil an der unmittelbaren Gegenwart de Erscheinung unmittelbar das Übergewicht des An sich Seins, das Mehr als Erscheinung Seins ‚zur‘ Erscheinung kommt. ” (PLESSNER: Die Stufen des Organischen, 327) 84 Zitat, AD b) Zitat, AD c) „Der Mensch lebt in einem Umfeld von Weltcharakter. Dinge sind ihm gegenständlich gegeben, wirkliche Dinge, die i n ihrer Gegebenheit v o n ihrer Gegebenheit ablösbar erscheinen. Zu ihrem Wesen gehört das Überschußmoment des Eigengewichts, des Für sich Bestehens, des An sich Seins, sonst spricht man eben nicht von wirklichen Dingen. Trotzdem zeigt sich das Überschußmoment, das Übergewicht an – der Erscheinung, die freilich zur Wirklichkeit gehört, aber nicht die ganze Wirklichkeit offenbart und in der Gegenständlichkeit allein die dem Subjekt zugekehrte Seite des Wirklichen reell, d.h. direkt präsentiert. So daß das Subjekt nur durch Vermittlung dieser Erscheinung die Realität zu fassen bekommt und zwar in der Weise der Unmittelbarkeit, weil an der unmittelbaren Gegenwart de Erscheinung unmittelbar das Übergewicht des An sich Seins, das Mehr als Erscheinung Seins ‚zur‘ Erscheinung kommt. ” (PLESSNER: Die Stufen des Organischen, 327) „In dieser einmal so und nicht anders wirklichen Welt ist auch das Individuum Individualität. Nicht mehr bloß ein unteilbares Wesen aus einem Guß bedeutet sich der Mensch, sondern ein in diesem Hier und Jetzt unersetzliches, unvertretbares Leben. […] Wie sich die Welt als eine Individualität nur abhebt vom Horizont der Möglichkeit des auch anders ein Könnens, so hebt sich dem Menschen sein eigenes Dasein als individuelles nur gegen die Möglichkeit ab, daß er auch ein anderer hätte werden können.” (PLESSNER: Die Stufen des Organischen, 343) 85 Zitat, AD c) 86 Zitat, AD c) „Bewußtsein der Indivudualität des eigenen Seins und der Welt und Bewußtsein der Kontingenz dieser Gesamtrealität sind notwendig miteinander gegeben und fordern einander. An der eigenen Haltlosigkeit, die dem Menschen zugleich den halt an der Welt verbietet und ihm als Bedingtheit der Welt aufgeht, kommt ihm die Nichtigkeit des Wirklichen und die Idee des Weltgrundes. Exzentrische Positionsform und Gott als das absolute, notwendige, weltbegründende Sein stehen in Wesenskorrelation.” (PLESSNER: Die Stufen des Organischen, 345) 87 „Die Exzentrizität seiner Lebensform, sein Stehen im Nirgendwo, sein utopischer Standort zwingt ihn, den Zweifel gegen die göttliche Existenz, gegen den Grund für diese Welt und damit gegen die Einheit der Welt zu richten. Gäbe es einen ontologischen Gottesbeweis, so dürfte der Mensch nach dem Gesetz seiner Natur kein Mittel unversucht lassen, ihn zu zerbrechen. Es müßte sich […] dem Absoluten gegenüber der gleiche Prozeß wiederhohlen, der zur Transzendierung der Wirklichkeit führt: wie die exzentrische Positionsform Vorbedingung dafür ist, daß der Mensch eine Wirklichkeit in Natur, Seele, Mitwelt faßt, so bildet sie zugleich die Bedingung für die Erkenntnis ihrer Haltlosigkeit und Nichtigkeit. Dem menschlichen Standort liegt zwar das Absolute gegenüber, der Weltgrund bildet das einzige Gegengewicht gegen die Exzentritzität. Ihre Wahrheit, ein existentielles Paradoxon, verlangt jedoch gerade darum und mit gleichem inneren Recht die Ausgliederung aus dieser Relation des vollkommenen Gleichgewichts und somit die Leugnung des Absoluten, die Auflösung der Welt.” (PLESSNER: Die Stufen des Organischen, 346) 88 Exkurs – Profile Philosophischer Anthropologie 3: Arnold Gehlen‚ #1 Zitat, AD c) „Ein Weltall läßt sich nur glauben. Und solange er glaubt, geht der Mensch ‚immer nach Hause‘. Nur für den Glauben gibt es die ‚gute‘ kreishafte Unendlichkeit, die Rückkehr der Dinge aus ihrem absoluten Anderssein. Der Geist aber weist Menschen und Dinge von sich fort und über sie hinaus. Sein Zeichen ist die Gerade endloser Unendlichkeit. Sein Element ist die Zukunft.” (PLESSNER: Die Stufen des Organischen, 346) Im Gegensatz zu Scheler und Pleßner sucht Gehlen nach einer metaphysikfreien Ausformulierung der Anthropologie, die wesentliche Einsichten der Naturwissenschaften aufnimmt. Eigentlicher Ansatzpunkt ist das Phänomen des Handelns; ihm wird auch das Erkennen untergeordnet. Auf diese Weise bricht Gehlen mit den ‚theoretischen‘ Präjudizien klassischen und neuzeitlichen Denkens. Auch Bewusstsein wird aus dem Begriff des Handelns (in der Weise der Ziel- und Zwecksetzungsreflexion) ermittelt. Durch das Handeln wir der Mensch in Stand gesetzt, die Defizite, die er sozusagen von Natur aus mitbringt, zu kompensieren. 89 Zitat 90 Zitat „Denn schon die Weltoffenheit ist […] grundsätzlich eine B e l a s t u n g. Der Mensch unterliegt einer durchaus untierischen R e i z ü b e r f l u t u n g, der ‚unzweckmäßigen‘ Fülle einströmender Eindrücke, die er also irgendwie zu bewältigen hat. Ihm steht nicht eine Umwelt instinktiv nahegebrachter Bedeutungsverteilung gegenüber, sondern eine Welt – richtig neativ ausgedrückt: ein Ü b e r r a s c h u n g s f e l d unvorhersehbarer Struktur […]. Schon hier liegt eine Aufgabe physischer und lebenswichtiger Dringlichkeit: aus eigenen Mitteln und eigentätig muß der Mensch s i c h e n t l a s t e n, d.h. d i e Mängelbedingungen seiner Existenz inCha n c e n s e i n e r L e b e n s f r i s t u n g u m a r b e i t e n.“ „Die Weltoffenheit des Menschen wird also insofern zweckmäßig, als sie ein wahrhaft unendliches Feld wirklicher und möglicher Sachverhalte hergibt, ein Erfindungsfeld, in dem die Mannigfaltigkeit so groß ist, daß der Mensch unter allen Umständen einige Mittel findet und ausnutzen kann, um eine das Leben ermöglichende Veränderung hervorzubringen, so die Mängel seiner organischen Ausstattung irgendwie ersetzend. Diese Ausnutzung der Belastung, sie ins Fruchtbare zu wenden, verdankt er aber nur seiner Eigentätigkeit.“ [GEHLEN: Der Mensch, 42.] [GEHLEN: Der Mensch, 38.] 91 92 Exkurs – Profile Philosophischer Anthropologie 3: Arnold Gehlen‚ #2 Zitat „Die Befreiung zur umsichtigen und vorausschauenden Tätigkeit, die Entlastung aus dem Druck der unmittelbaren Gegenwart, in die das Tier verwickelt bleibt, sind also die elementaren Aufgaben, und sie werden vom Menschen in schwierigen Leistungen bewältigt, in mühsamer und Jahre ausfüllender Auseinandersetzung mit der Welt und mit sich selbst. Sieht man die Mängelausstattung des Menschen an, so ist es leicht einzusehen: er muß erkennen, um tätig zu sein, und muß tätig sein, um morgen leben zu können. Diese einfache Formel kompliziert sich sehr, wenn man bemerken muß, daß dieses Erkennen selbst schon ein sehr bedingtes ist: im Chaos der Reizüberflutung ist zunächst gar nichts zu erkennen, und erst die sehr allmähliche Bewältigung desselben durch Umgangs- und Erfahrungsbewegungen lässt die zusammenfassenden Symbole entstehen, an denen das einsetzen kann, was Erkenntnis zu nennen ist.“ [GEHLEN: Der Mensch, 53f.] Der Mensch wird also ‚wesentlich‘ als Mängelwesen bestimmt. Die Grundlage aller seiner ‚großartig erscheinenden kulturellen Leistungen‘ (vgl. Sprache, Kultur) ist ein Defizit. Der Mensch bildet Sprache aus, weil es ihm von Natur aus an einem typischen Verständigungslaut mangelt; er kleidet sich, weil er nackt und bloß geboren wurde etc. Auf Grund dieser Tatsache ist der Mensch gezwungen, sich eine Ersatzwelt, Kultur also, zu schaffen. Für Gehlen scheint der Mensch den Tieren eigentlich unterlegen zu sein, die sich eigentlich perfekt mit der Natur bzw. mit ihrer jeweiligen natürlichen Umwelt arrangiert haben. (Die evolutionäre Neurobiologie würde an Gehlens These allerdings einige Zweifel anmelden, weil das eminent ausgebildete Großhirn den Menschen offenkundig zu eine überlegenen Wesen macht, das in der Lage ist, sich an sehr viele, variierende und konkurrierende Umweltbedingungen anzupassen.) 93 Zitat 94 Zitat „Es handelt sich also bei der Sprache darum, die […] sensomotorische Kommunikation innerhalb einer unbeschränkten Sphäre, welche im aktiven Aufbau von verdichteten Symbolen u n d in der Beliebigkeit der Verfügbarkeit über dieselben (oder die ihn ihnen angedeuteten Sachverhalte) endet, noch einmal sozusagen konzentriert geschehen zu lassen. Das ‚Intendieren‘, sofern es in Lautbewegungen verläuft, erschafft unmittelbar selbst schon das Symbol, den gehörten Laut, den es, mit der Sache umgehend, von ihr her empfängt – es empfindet also zugleich sich selbst und vernimmt die Sache.“ [GEHLEN: Der Mensch, 51f.] 95 „Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß man des menschliche Bewußtsein, ebenso wie das tierische, nur im Zusammenhang mit dem V e r h a l t e n verstehen kann, so daß man es geradezu als eine P h a s e d e r H a n d l u n g definieren muß. […] Das menschliche Denken und Erkennen ist, schon soweit es sprachliche ist, wesentlich aktuell oder virtuell nach außen gewendet, es hebt zweifellos mit der Wahrnehmung an, und eine Untersuchung seines Leistungsaufbaus ergibt überall, daß es sich stets um den Zusammenschluß wahrnehmender und handelnder Tätigkeiten zu einem K ö n n e n handelt.“ [GEHLEN: Der Mensch, 65f.] 96 Exkurs – Profile Philosophischer Anthropologie 3: Arnold Gehlen‚ #3 Zitat Als Mängelwesen muss der Mensch gegenüber der Welt und gegenüber seiner perziptiven Partizipation an der Welt nach Entlastung suchen. Die erste Entlastung ist die Kultur; Institutionen erweitern und entlasten den menschlichen Handlungsbereich. Die zweite Entlastung bietet der so genannte Charakter; da der Mensch sein Handeln nicht auf Instinkte gründen kann, braucht er dennoch konstitutive Elemente, die sein Verhalten regulieren und so die mögliche Überforderung eindämmen. Der Charakter als funktionale Disposition des Verhaltens bildet einen Handlungsleitstrahl, den ein Wesen braucht, dem es am ausreichenden Instinkt mangelt. Es überrascht nicht, wenn Gehlen den Beharrungswert von Institutionen gegenüber der Initiative des einzelnen Subjekts doppelt unterstreicht und die Möglichkeiten des Individuums, sich langfristig gegen das Institutionelle durchzusetzen, negativ bescheidet. 97 „A l l e h ö h e r e n F u n k t i o n e n des Menschen auf jedem Gebiete des intellektuellen und moralischen Lebens, aber auch der Bewegungs- und Handlungsverfeinerung werden nun dadurch entwickelt, daß die Ausbildung fundierender, stabiler Basisgewohnheiten die ursprünglich dort verwendete Motivations-, Versuchs-, und Kontrollenergie e n t l a s t e t u n d ‚n a c h o b e n a b g i b t‘. Dazu erwäge man, z.B., daß die Organisation der Gesellschaft für eine einigermaßen regelmäßige und habituelle Dauererfüllung der elementaren biologischen Bedürfnisse sorgt. […] Die nicht in der Grundproduktion arbeitsteilig Befaßten werden damit in allen ihren höheren intellektuellen und praktischen Funktionen frei für Verhaltensweisen, die man ohne Sophistik nicht mehr als ‚Appetenzverhalten‘ bezeichnen kann.“ 98 [GEHLEN: Der Mensch, 70.] Zitat Zitat „Nennen wir ‚Charakter‘ das System inhaltreicher, an die Welt verteilter Antriebe, Dauerinteressen, Bedürfnisse, Folgebedürfnisse usw., so ist es Handlung und Stoff der Handlung in Einem, am Ende ein Haltungsgefüge aus übernommenen, angeeigneten oder abgestoßenen, aber immer verwerteten Antrieben, die man tätig aneinander und an der Welt orientiert hat, oder die sich als Nebenerfolge unserer Handlungen gegeneinander mitfolgend feststellten oder ‚herausstellten‘.“ [GEHLEN: Der Mensch, 404.] 99 „Man kann also den Bereich des Charakters von zwei Seiten her ansehen, und zwar ist er von ‚oben‘ gesehen eine einverleibte Ordnung von Haltungen und Führungsregeln, von angeeigneten und, wen sie zuverlässig arbeiten sollen, fast bewußtlos gewordenen ‚Instinkten‘, die aus den Antrieben auskrystallisierten und in Handlungen der Welt ausgesetzt, an ihr ausgelesen werden; von ‚unten‘ her gesehen ist jedoch der Charakter eine Fortsetzung der gerichteten, rhythmischen und geschlossenen Abläufe, zu denen sich der biologische Lebensprozeß überall abstimmt, in den Umkreis des S e l b s t – v o l l z o g e n e n. Jede einzelne Gewohnheit kann vom Bewußtsein her gesehen etwas Zufälliges haben […], aber die Gewohnheit, Gewohnheiten anzunehmen und einzuverleiben, also eine Haltung aufzubauen, ist physisch und erzwungen […]“100 [GEHLEN: Der Mensch, 405.] Zusammenfassung und Fazit a) b) c) Konstitutiva Die großen anthropologischen Würfe des 20. Jahrhunderts – insbesondere die Ansätze von Pleßner und Gehlen – teilen einige markante Charakteristika: Sie stehen in Sichtweise zu naturwissenschaftlichen Ergebnissen, insbesondere zu evolutionsbiologischen Thesen. Sie sind in der Lage, spezifisch menschliche Eigenarten in einer formalen Weise zu benennen, ohne dabei die MenschTier-Differenz im Sinne einer Demarkationslinie ein für allemal festzuschreiben. Sie gestatten einen Blick auf Konstitutiva des Menschseins, die nicht als erschöpfende Beschreibung oder gar als Wesensdefinition des Menschen gedeutet werden müssen. Wenn wir – in einer nicht abschließenden und daher nicht essentialistischen Art und Weise – nach den Konstitutiva des Menschseins fragen, so erhalten wir von den prominenten Ansätzen, folgende Hinweise: a) Selbstverhältnis und Selbstbewusstsein, b) Handeln und Weltbezug, c) Kultur und Kontingenz. 101 Konstitutiva 1: Selbstverhältnis und Selbstbewusstsein 102 Konstitutiva 2: Handeln und Weltbezug Dass der Mensch ein Selbst ist, wird ihm in der Weise deutlich, wie er sich um sich selbst sorgen und kümmern muss. Dieses Selbstverhältnis hat ein eminent praktisches Fundament. Bewusstsein und Selbstbewusstsein tritt als Begleitphänomen und Medium dieses praktischen Verhältnisses auf. Das Selbst des Menschen ist kein Ding unter anderen Dingen; es wirkt wie ein ausdehnungsloser Punkt, der inhaltliche Dichte und Bewusstseinsfülle nur im Tätigsein (also im Vollzug des praktischen Selbstverhältnisses und im Vollzug von Bewusstsein) erhält. 103 Sein Selbstverhältnis setzt den Menschen in einer Weise frei, die ihm Handeln im echten Sinne ermöglicht. Handeln (in einem philosophischen Sinn) geht über die reine Produktion von Ereignissen auf der Basis von ReizReaktionen hinaus. Handeln setzt Freiheit voraus – und dies wiederum eine Distanzierung von rein naturalen Zwängen. Die Freiheit ist in einem ersten Schritt negativ bestimmt: Der Mensch ist (relativ) zwei gegenüber biologischen Zwängen; er ist auch frei von der klaren Zuordnung zu einer Umwelt. Seine wesenhafte Heimatlosigkeit begründet die Möglichkeit, in eine epistemische Distanz zu den Dingen in der Welt und zur Welt als ganzer zu treten. Das gestattet die Entstehung typischer ‚geistiger‘ Dispositionen: wie Neugier und Wissensdurst. 104 Konstitutiva 3: Kultur und Kontingenz Dass der Mensch Kultur schaffen muss, ist Teil seiner natürlichen Ausstattung. Er ragt aus der Natur heraus; Kultur entspringt dem freien Weltbezug des Menschen und transformiert Natur in allen Bereichen. Natur wird durch Kultur nicht einfach abgestreift. Kultur ist Distanz von der Natur und Verfeinerung der Natur gleichermaßen. Im Drang, Kultur schaffen zu müssen, wird der Mensch auch seiner Kontingenz inne. In seiner ‚transzendentalen Heimatlosigkeit‘ muss er sich selbst der Grund sein und kann es sich gleichzeitig nicht sein. (Hier liegt die Schnittstelle zur Religionsphilosophie, die Natur- und Kulturphilosophie gleichermaßen sein müsste.) II. Selbstbewusstsein in Selbstsorge und Selbsterhaltung Über Indexikalität und Selbstbewusstsein – und die Existenz in Leiblichkeit, Zeitlichkeit, Sozialität und Geschlechtlichkeit 106 105 Hinweis und Fahrplan, 1 Hinweis und Fahrplan, 2 Dass der Mensch Kultur schaffen muss, ist Teil seiner natürlichen Ausstattung. Er ragt aus der Natur heraus; Kultur entspringt dem freien Weltbezug des Menschen und transformiert Natur in allen Bereichen. Natur wird durch Kultur nicht einfach abgestreift. Kultur ist Distanz von der Natur und Verfeinerung der Natur gleichermaßen. Im Drang, Kultur schaffen zu müssen, wird der Mensch auch seiner Kontingenz inne. In seiner ‚transzendentalen Heimatlosigkeit‘ muss er sich selbst der Grund sein und kann es sich gleichzeitig nicht sein. (Hier liegt die Schnittstelle zur Religionsphilosophie, die Natur- und Kulturphilosophie gleichermaßen sein müsste.) 107 a) b) c) d) Natürlich bleibt die Analyse von Selbstbewusstsein (im Zusammenhang mit einer Ontologie des Selbst) dünn – und im Hinblick auf das Material philosophischer Anthropologie -, wenn nicht gleichzeitig über die Grundphänomene (in Heideggers Terminologie: Existentiale) des menschlichen Daseins nachgedacht wird. Zu diesen Existentialen zählen: die menschliche Existenz in (Körperlichkeit und) Leiblichkeit, die menschliche Existenz in Zeitlichkeit (greifbar am Phänomen Geburt und Tod), die menschliche Existenz in Sozialität (greifbar als der unausweichliche Bezug zum Anderen), die menschliche Existenz in Geschlechtlichkeit (greifbar am Phänomen des Erotischen und seinen Verkümmerungen). Es bleibt zu fragen, wie diese Existentiale in einen (nicht-definitiven) Begriff von Selbstbewusstsein und Selbstverhältnis integriert werden könnten. Gibt eine grundlegende Reflexion auf das ‚Ich‘ einen Weg preis, der in das Verständnis und den Zusammenhang dieser Existentiale hineinführt? 108 Die Rede vom ‚Ich‘ – eine Problemanzeige Die Rede vom ‚Ich‘, 1 „Die Rede von ‘dem Ich’ suggeriert nun eine Auffassung, nach der Subjekte Gegenstände sind, die wir ebenso – wenn auch mit anderen Prädikaten – beschreiben können wie physische Dinge. Schon Kant hat aber betont, daß das ‘Ich denke’ alle meine Vorstellungen begleiten können muß. Man kann das auch so ausdrücken: Alle Aussagen, die ich mache, sind nur dann korrekt, wenn sie mit der Tatsache verträglich sind, daß ich sie mache. Ich kann mich also nicht vollständig beschreiben, weil unter den Eigenschaften, die ich mir zuspreche jene fehlt, daß ich mir all diese Eigenschaften zuspreche. […] Wenn jemand etwas über sich selbst aussagt, […] so ist durch das Pronomen ‘ich’ die Identität der Person, über die er etwas aussagt, mit ihm selbst als Sprecher deutlich. […] Wenn man aber von ‘dem Ich’ redet, so geht dieser Rückbezug verloren, und damit wird der Annahme Vorschub geleistet, man könne über sich wie über andere Gegenstände sprechen. Darin liegt auch die Problematik der Annahme seelischer Substanzen.“ (KUTSCHERA, Franz von: Grundfragen der Erkenntnistheorie, 333f.) a) b) Sobald man den Ausdruck ‚ich‘ verwendet und nach der Referenz des Ausdrucks ‚ich‘ fragt, kommt eine Verdinglichungsgefahr auf. Dabei ist das Ich nur etwas, das sozusagen im Vollzug sichtbar ist (im Vollzug von Selbstbewusstsein oder von Selbstbezug). Es kann von diesem Vollzug nicht noch einmal getrennt werden. Wie gehen wir vor dem Hintergrund dieser Warnungen mit Theorieentwürfen um, die „ich“ als referierenden Ausdruck verstehen möchten, die die Referenz in einem klassischen Sinne dadurch aufklären möchten, dass sie als Bezugsgegenstand von ‚ich‘ eine Art „Gegenstand“ ansetzen. Welche alternativen Theorieansätze finden wir, um einer Verdinglichung des Ich zu entgehen und – gegebenenfalls – trotzdem an der Referenzfunktion des Ausdrucks ‚ich‘ festzuhalten? 109 Fußnote: Landschaftsskizze 1) 2) 3) 4) 110 Zitat Für den Fall, dass der Ausdruck ‚ich‘ als referierender Ausdruck verstanden wird, ergeben sich folgende ontologischen Deutungsmöglichkeiten: ‚ich‘ referiert auf ein ‚immaterielles‘ Selbst, ‚ich‘ referiert auf einen biologischen Körper, ‚ich‘ referiert auf eine individuelle Essenz, ‚ich‘ referiert auf einen instantanen Bewussteinsvorgang und Bewusstseinsgehalt. Anmerkung: 1) und 3) scheinen das Verdinglichungsproblem zu verschärfen. Unklar ist, wieso wir ein immaterielles Selbst ansetzen sollen und in welchem Zusammenhang es mit allen weiteren anthropologischen Grundkoordinaten steht. Unklar ist auch, was individuelle Essenzen eigentlich sind (wie werden gebildet und wie werden sie individuiert) Lösungsangebot 4) geht in eine Richtung die mit Kants Verdinglichungswarnung verträglich ist. 111 „Weil wir beim Denken überhaupt von aller Beziehung des Gedanken auf irgend ein Objekt (es sei der Sinne oder des reinen Verstandes) abstrahieren: so ist die Synthesis der Bedingungen eines Gedanken überhaupt […] gar nicht objektiv, sondern bloß eine Synthesis des Gedanken mit dem Subjekt, die aber fälschlich vor eine synthetische Vorstellung eines Objektes gehalten wird. […] Weil ferner die einzige Bedingung, die alles Denken begleitet, das Ich, in dem allgemeinen Satze Ich denke, ist, so hat die Vernunft es mit dieser Bedingung, so fern sie selbst unbedingt ist, zu tun. Sie ist aber nur die formale Bedingung, nämlich die logische Einheit eines jeden Gedanken, bei dem ich von allem Gegenstande abstrahiere, und wird gleichwohl als ein Gegenstand, den ich denke, nämlich: Ich selbst und die unbedingte Einheit desselben vorgestellet.“ [KANT, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, A 397f.] 112 Zitat Zitat „Denn jener Begriff der Substanz lehret mich nicht: daß die Seele vor sich selbst fortdaure, nicht, daß sie von den äußeren Anschauungen ein Teil sei, der selbst nicht mehr geteilt werden könne, und der also durch keine Veränderungen der Natur entstehen, oder vergehen könne; lauter Eigenschaften, die mir die Seele im Zusammenhange der Erfahrung kennbar machen, und, in Ansehung ihres Ursprungs und künftigen Zustandes, Eröffnung geben könnten. Wenn ich nun aber durch bloße Kategorie sage: die Seele ist eine einfache Substanz, so ist klar, daß, da de nackte Verstandesbegriff von Substanz nichts weiter enthält, als daß ein Ding, als Subjekt an sich, ohne wiederum Prädikat von einem anderen zu sein, vorgestellt werden solle, daraus nichts von Beharrlichkeit folge, und das Attribut des Einfachen diese Beharrlichkeit gewiß nicht hinzusetzen könne, mithin man dadurch über das, was die Seele bei den Weltveränderungen treffen könne, nicht im mindesten unterrichtet werde.“ „Nun ist zwar sehr einleuchtend: daß ich dasjenige, was ich voraussetzen muß, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt erkennen könne, und daß das bestimmende Selbst (das Denken) von dem bestimmbaren Selbst (dem denkenden Subjekt) wie Erkenntnis vom Gegenstande unterschieden sei. Gleichwohl ist nichts natürlicher und verführerischer, als der Schein, die Einheit in der Synthesis der Gedanken vor eine wahrgenommene Einheit im Subjekte dieser Gedanken zu halten. Man könnte ihn die Subreption des hypostasierten Bewußtseins […] nennen.“ [KANT, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, A 402] [KANT, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, A 400f.] 113 114 Die Rede vom ‚Ich‘, 2 Für Kant ist es eine Versuchung, die in der Struktur der menschlichen Vernunft liegt, das Selbst – das einen Einheitspunkt der Vernunft- und Erkenntnistätigkeit darstellt (Stichwort: Synthesis) – als Ding vorzustellen. Die dingliche Substanzkategorie bleibt unanwendbar, weil das Moment des Beharrungsvermögens bei der Rede von einem (immateriellen) Selbst nicht identifiziert werden kann. Ohne diese Art von Identifikation (und Anschaulichkeit) bleibt die Rede von einer Selbst-Substanz vollkommen leer. Sie liefert keine gehaltvolle Erkenntnis. Zugleich stellt uns die Ontologie des Selbst vor ein erkenntnistheoretisches Problem: Da das Selbst der formale Einheitspunkt aller Erkenntnis und aller Vernunfttätigkeit ist, kann es nicht selbst Erkenntnisobjekt (in der notwendigen Distanznahme einem Erkenntnisobjekt gegenüber) gemacht werden. 115 Sprachphilosophischer Einsatzpunkt: Ich-Indexical, 1 Indexikalische Ausdrücke wie „ich“, „hier“, „jetzt“ unterscheiden sich von Demonstrativa wie „Dies“, „Dort“, „Das da“. Der Unterschied lässt sich dadurch erklären, dass Demonstrativa ohne einen Zeigegestus wertlos sind. Der Akt der Identifikation bleibt unvollständig, wenn kein Zeigegestus hinzutritt; es ist der Gestus, der in gewissem Sinne verbale Mittle ersetzt. Anders ist es bei Ausdrücken wie „ich“ und „jetzt“: ein Zeigegestus ist nicht erforderlich. Das schließt nicht aus, dass es Umstände gibt, in denen wir „ich“ oder „jetzt“ doch als Quasi-Demonstrativum verwenden: Angenommen, ich sitze in einer geselligen Runde, habe ein Bier bestellt und ein Kellner kommt mit einem Bier auf die meinen Tisch zu und fragt: „Wer hat dieses Bier bestellt?“ Wenn ich auf diese Frage „ich“ antworte und dabei die Hand hebe oder mit dem Finger auf mich selbst zeige, dann kommt ein Akt des Zeigens hinzu, der für andere die Identifikation vereindeutigt (obwohl er für mich unnötig ist). 116 Zitat „[I]ndexicals, unlike proper names, are tools usually used to make reference in praesentia. As such, a use of an indexical exploits the presence of the referent and this use is acquaintance based, it rests on a recognitional capacity. To be sure, the recognitional capacity involved when one uses a pure indexical differs from the recognitional capacity involved when using a demonstrative expression. For, from the speaker’s or thinker’s viewpoint the paradigmatic use of a demonstrative, unlike the use of a pure indexical, is perception-based. While on the one hand the recognitional capacity rests on the perception of the referent, on the other hand it merely rests on the fact that the speaker/thinker occupies a given perceptual field, i.e. she is egocentrically placed and, thus, has the faculty or potential of acting in a given place.” [CORAZZA, Eros: Reflecting the Mind, 92f.] Sprachphilosophischer Einsatzpunkt: Ich-Indexical, 2 Das „egozentrische Platziertsein“ meint: Ohne den souveränen Gebrauch des Wortes „ich“ könnten wir die Verwendung der Ausdrücke wie „hier“, „jetzt“ oder „heute“ nicht wirklich meistern. Der souveräne Gebrauch des Wortes „ich“ verbunden mit der Tatsache, dass in diesem Fall jede Missidentifikation von vornherein ausgeschlossen ist, nötigt uns möglicherweise, irreduzible Perspektivität als Konstante in unserem Universum aufzufassen. 118 Sprachphilosophischer Einsatzpunkt: Ich-Indexical, 3 Der zweite Aspekt offenbart eine grundlegende Quasi-Indexikalität Tatsache mit Blick auf jeden und jede, der/die den Gebrauch von Indexicals meistert. Er bzw. sie sind nicht nur „egozentrisch“ platziert, sie sind auch in der Lage „instabile“ Kontexte zu erstellen – Äußerungskontexte, die eine Kommunikationssituation schaffen, deren Bewältigung ganz empfindlich vom Äußerer abhängt. Die Kriterien der Bewältigung dieser Kontexte wandern gewissermaßen mit dem Äußerer mit; genauer: da sie ephemer sind, entstehen und vergehen sie mit der Platzierung des Sprechers. 119 Hector-Neri Castaneda hat in seinen sprachphilosophischen Studien zum Ich-Indexikal auf die Wichtigkeit versteckter Perspektivität verwiesen. Anhand von zwei Beispielsätzen soll dies erläutert werden: (1) Der Herausgeber von Soul glaubt, dass er Millionär ist. Aus diesem Satz (1) kann nicht der folgende Satz abgeleitet werden: (2) Der Herausgeber von Soul glaubt, dass der Herausgeber von Soul Millionär ist. Zitat “But (2) is not the same statement as (1). For (1) does not entail (2). The Editor of Soul may know that he himself is a millionaire while failing to know that he is the editor of Soul, because, say, he the Editor of Soul is poverty-stricken Richard Penniless. Indeed, (2) also fails to entail (1). To see this suppose that on January 15, 1965, the man just appointed to the Editorship of Soul does not yet know of his appointment, and that he has read a probated will by which an eccentric businessman bequeathed several millions to the man who happens to be the Editor of Soul on that day.” [CASTANEDA, Hector-Neri: He, 38f.] Fußnote Oratio recta: (1) „Ich bin müde.“ Oratio obliqua: (2) Ich behaupte/glaube/gebe kund, dass ich müde bin.“ Oratio obliqua (aus der Dritten-Person-Perspektive): (3) Thomas Schärtl behauptet, dass er* müde ist. Satz (3) ist nicht äquivalent mit folgenden Sätzen: (4) Thomas Schärtl behauptet, dass Thomas Schärtl müde ist. (5) Thomas Schärtl behauptet, dass ich müde bin. (6) Ich behaupte, dass Thomas Schärtl müde ist. (7) Er behauptet, dass Thomas Schärtl müde ist. (8) Er behauptet, dass er* müde ist. Quasi-Indexikalität, Folgerungen #1 1. 2. 3. Der Gebrauch des Ausdrucks „ich“ in der oratio obliqua entspricht, sofern er uneliminerbar ist, dem Ausdruck „er“ in der oratio obliqua, wenn der in Rede stehende Satz aus der Sicht einer anderen Person formuliert wird. Das Pronomen „er*“ ist ein im strengen Sinne des Wortes untergeordnetes Pronomen. Für sich betrachtet ist es unvollständig und synkategorematisch. Und das gilt in gleichem Maße auch für den Satzteil, zu dem „er*“ gehört. Ein Verwendungsvorkommnis (token) von „er*“ ist im strengen Sinne nicht eliminierbar, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: 1) Das Vorkommnis gehört zur oratio obliqua, die auf ein Antecedens verweist, das eine epistemische Signatur hat („glaube“, „wissen“, „meinen“) oder 2) das Vorkommnis taucht in mehreren, verschachtelten Kontexten auf, die sich aber auf eine grundlegenden epistemischen Ausgangspunkt beziehen lassen. Quasi-Indexikalität, Folgerungen #2 Sprachlogisch zeigen Castanedas Untersuchungen, dass man quasi-indexikalische Verweise nicht verstehen kann, wenn man Selbstreferenz und Selbstbewusstsein als Grundgegebenheiten sozusagen leugnen würde. Nur weil wir über diese Grundgegebenheit bereits verfügen, kommen wir kommunikativ mit quasiindexikalischen Bezugnahmen (auch in verschachtelter Form) zurecht. Indexikalität funktioniert als nur, weil es Selbstreferenz und Selbstbewusstsein gibt. Zitat Quasi-Indexikalität, Folgerungen #3 1. 2. Wenn wir Indexikalität und Quasi-Indexikalität als sprachlich grundlegende Phänomene ernst nehmen, so sagen sie uns etwas über die Eigenart des Menschseins: Wir können sagen, dass Menschen Wesen sind, die kommunikative Kontexte herstellen können in einer Weise, die es nicht erlaubt, die semantische Bewertung dieser Kontexte von der Erstellung der Kontexte, von ihrer Vollzugsform sozusagen, zu trennen. Das wird besonders and Indexicals deutlich, die wir nicht verstehen können, wenn wir die Erstellung des semantischen Kontexts nicht adäquat in Rechnung stellen. In spekulativen Worten ausgedrückt und mit Dieter Henrich in Anlehnung an Fichte gesprochen: Selbstreferenz ist eine „Aktivität, der ein Auge eingesetzt ist“. „Das Auge ist der Aktivität nicht eingesetzt wie eine Plombe in einen Zahn oder ein Bein in einen Stuhl, so als ob die Aktivität durch die ihre eigene Fähigkeit des Gewahrens behindert oder ergänzt würde. Vielmehr ist die Weise, in der sie überhaupt Aktivität ist, im vornhinein bestimmt, und positiv bestimmt, durch ihre Fähigkeit und Eigenschaft des Gewahrens. Das Auge ist das Auge einer Aktivität in derselben Weise, in der die Orientierungsfähigkeit dem Menschen als aktivem Wesen zukommt. Die Aktivität verfügt wesentlich über die Kraft der Orientierung – nur daß im Falle des Selbstbewusstseins diese Orientierung eine solche auf sich im Verständnis des eigenen Selbstverhältnisses ist.“ [HENRICH, Dieter: Fichtes Ich, 76.] Quasi-Indexikalität, Folgerungen #4 Der beste Weg, die Eigenart von Menschen zu beschreiben, beginnt mit der Beschreibung einer besonderen Tätigkeit: der Selbstreferenz. Menschen sind Wesen, die dies Art von Tätigkeit aufnehmen können und sie in einer geradezu traumwandlerischen Sicherheit ausführen. Wer sich philosophisches Staunen noch bewahrt hat, muss das Vorkommen von Wesen, die diese Tätigkeit meistern können, eigenartig finden – eigenartig in einem Universum voller Sterne und voller Staub. Denn Sterne und Staub führen derartige Tätigkeiten nicht aus, sie kommunizieren nicht, sie sind nicht in der Lage, die Vollzug einer Kommunikation so in Rechnung zu stellen, dass daraus ein Bewertungskontext für eben diese Kommunikation selbst wird. Die Rede vom ‚Ich‘, 3 Wenn der quasi-indexikalische Gebrauch von „ich“ auf ein echtes Ich-Indexical als Antecedens verweist, worauf verweist das Ich-Indexical denn nun seinerseits? Ist der Ausdruck „ich“ ein referierender Ausdruck? Dass man diese Frage nur unter Bauchgrimmen mit „ja“ beantworten kann, belegt die philosophische Tradition seit Hume und Kant: Wenn wir nach dem Referenten des Ausdrucks „ich“ zu greifen versuchen, greifen wir geradezu ins Leere. Es lässt sich beim besten Willen kein Ding heranziehen, keine Substanz, kein etwas, das als Referent in Frage kommen könnte – zumindest nicht der Weise, wie wir normalerweise nach Dingen, Entitäten (sprachlich) greifen würden. 128 Ich-Indexikalität, 1 Ich-Indexikalität, 2 Mit dem Ich-Indexical und dem Meistern des Ich-Indexicals ist auf irreduzible Weise die Erste-Person-Perspektive mitgesetzt. Die Selbst-Referenz ist offenkundig von allem beschreibenden Wissen um mich selbst unabhängig. Ein Gedankenexperiment kann dies verdeutlichen: Würde man einen Anmesie-Patienten in eine Art Tankvorrichtung einsperren, die ihn von allen sensorischen Inputs aussperrt, und würde man alle Möglichkeiten, beschreibendes Wissen über sich selbst anzusammeln, unterbinden, so könnte der Patient dennoch korrekt auf sich selbst aus der EPP referieren. Umgekehrt kann das Ich-Indexical auch nicht das Wissen um mich selbst ersetzen, das ich u.U. auf mittelbare Weise erwerben muss. Auch das lässt sich an einem Gedankenexperiment verdeutlichen: Nehmen wir an, ein Amnesie-Patient T.S. verirrt sich in der Universitätsbibliothek Augsburg. Es fällt ihm auf seiner Irrfahrt ein Buch in die Hände, das von T.S. stammt (also von ihm selbst) und eine Biographie. Er kann sich in den Regalen noch so viel Wissen anlesen und eigentlich korrekte Gedanken haben (die sich faktisch auf ihn selbst beziehen), aber er wird nicht wissen, wer und wo er ist, wenn er nicht sagen kann: „Mensch, ich bin T.S.; und ich bin hier in der Unibibliothek Augsburg, Abteilung Philosophie, Regal 5.“ 129 130 Ich-Indexikalität, 3 a) b) Gedankenexperiment Der Gebrauch des Ich-Indexicals lässt sich offensichtlich nicht durch Beschreibungen oder Kennzeichnungen ersetzen. Es stellt eine Art „semantischer Versuchung“ dar den Satz „Ich denke“ durch den Satz: „Ich bin diejenige Person, welche denkt“ zu umschreiben in der Meinung, dadurch das Gleiche gesagt zu haben. In Wahrheit ist das aber nicht der Fall. Die Umschreibung drückt formal aus: „Ich = diejenige Person, die denkt.“ Aber: die linke Seite der Gleichung („diejenige Person, die denkt“) ist eine Kennzeichnung, als Kennzeichnung enthält sie allgemeine Eigenschaften (sogenannte Type-Eigenschaften), die für die Einzigartigkeit desjenigen, auf den Bezug genommen wird, nicht aufkommen können. 131 Nehmen wir wieder einmal einen skurrilen Fall an: Eine Reihe von Anmesie-Patienten wurde in einem Raum in separate Tanks gesperrt. Nach einer längeren Phase des Sediertseins wachen sie gleichzeitig auf und denken: „Verdammt noch mal, wer und wo bin ich?“ Die o.g. Gleichung „>Ich< = >diejenige Person, die denkt: ‚Wer und wo bin ich?‘< beantwortet weder die Frage noch ‚pickt‘ sie die Einzigartigkeit des Ich-Sprechers adäquat heraus, weil es im genannten Experiment in ein- und demselben Augenblick zig verschiedene Individuen gibt, auf die der Kennzeichnungsausdruck korrekter Weise zutreffen wird. Es sieht eher so aus, dass die erfolgreiche Verwendung von Kennzeichnungsausdrücken (und – in the long run – von Eigennamen) von der Meisterung des Ich-Indexicals abhängig gemacht werden müsste. 132 Ich-Indexikalität, 3 a) b) c) Zwischenreflexion Es ist eine weitere Versuchung, den Gebrauch des Ich-Indexikals durch so genannte Token-Descriptions gefügig zu machen. So könnte man folgende Gleichung vorschlagen: „Ich bin diejenige Person, die genau ‚dies-da‘ sieht.“ Allerdings seht auch diese Rekonstruktion vor einigen Schwierigkeiten: Das Ich-Indexical wird an ein Demonstrativum gebunden; die erfolgreiche Beherrschung des Demonstrativums ist damit schon vorausgesetzt. Die Rekonstruktion ist nicht genau genug – eigentlich müsste sie lauten: „Ich bin die Person, die <hier und jetzt> dies sieht.“ Damit werden die Ausdrücke „hier“ und „jetzt“ zu Garanten der ‚instantanen Individuation‘ eines Sinneseindrucks. Doch das Verständnis der Ausdrücke „hier“ und „jetzt“ hängt vom Verständnis des Ausdrucks „ich“ ab. Der Rekonstruktionsversuch bewegt sich also im Kreis. Es scheint so zu sein, dass die Beherrschung der IchIndexikalität ein Grundphänomen des Menschseins ist, sofern mit dem Menschsein eine EPP mitgegeben ist. Diese EPP drückt sich zuallererst praktisch aus: Selbstverhältnis und Selbstsetzung sind kommunikative Akte, die es ermöglichen kommunikative Kontexte so zu erzeugen, dass das Verstehen von Index-Ausdrücken (in prekärer Weise) möglich wird. Philosophisch bleibt zu fragen, ob wir etwas Substantielles hinter dieser Perspektive ‚dingfest‘ machen können und wie wir uns von der Verdinglichungskritik (vgl. Kant, aber auch Scheler, Pleßner und Gehlen) belehren lassen können. Was meinen wir, wenn wir ‚ich‘ sagen? 133 Die Rede vom ‚Ich‘, 4 1. 2. 3. 134 Landschaftsskizze Vor dem Hintergrund dieses Problems lassen sich verschiedene Strategien denken, die wir benutzen können, um mit dem in Rede stehenden Problem umzugehen: Der Ausdruck „ich“ ist kein referierender Ausdruck; eine Analyse der Sprache kann zeigen, dass sich die vermeintliche Referenzfunktion auf etwas anderes rückführen lässt. [Reduktionistische Lösung] Der Ausdruck „ich“ hat eine besondere Funktion, die der Referenz ähnlich ist, aber aus ontologischen Gründen nicht als Referenz gedeutet werden darf. [Attributionstheoretische Lösung] Der Ausdruck „ich“ hat eine Referenzfunktion, die als solche ontologisch auch durchgeklärt werden kann. [Selbstbewusstseinstheoretische und/oder substanzontologische Lösung] 135 1) Reduktionistische Lösung: Z.B.: Ludwig Wittgenstein, Elizabeth G.M. Anscombe, John Perry 2) Attributionstheoretische Lösung: Z.B.: John Perry, Gareth Evans, Roderick Chisholm 3) Selbstbewusstseinstheoretische Lösung: Z.B.: Hector-Neri Castaneda, Lynne Baker, E.J. Lowe, Dieter Henrich, Klaus Müller Substanzontologische Lösung: Z.B.: David Lund, E.J. Lowe, Uwe Meixner 136 Reduktionistische Lösung: Anscombe • • • Anscombes Probleme nähren sich aus einem Unbehagen an der Referenzgarantie, die mit dem Ausdruck „ich“ verbunden zu sein scheint. Ich kann in der Identifikationshandlung, die mit dem Ausdruck „ich“ mitgegeben ist, nicht fehlgehen. Die sollte, ihrer Ansicht nach, als Indikator betrachtet werden, um den Ausdruck „ich“ kritisch und vorsichtig zu behandeln. Die Tatsache, dass der vermeintliche Gegenstand des Ausdrucks „ich“ dunkel bleibt, dass wir ihm keinem Begriff (keinen begrifflich zu fassenden, beschreibbaren geistigen Gehalt) zuordnen können, spricht dafür, den in Rede stehenden Ausdruck gerade nicht als referentiellen 137 einzustufen. Zitat „Wie denn könnte man die Annahme rechtfertigen, wenn es eine Annahme ist, dass es genau ein Denken gibt, das dieses Denken dieses Gedankens ist, den ich gerade denke – will sagen, genau einen Denker gibt? Wie weiß ich, daß ‘ich’ nicht zehn unisono denkende Denker ist – wenn auch vielleicht gerade darin nicht einmal erfolgreich. Das dürfte der Konfusion der Gedanken, die ich manchmal spüre, Rechnung tragen. – Man ziehe die Entgegnung ‘Legion, denn wir sind viele’ in Betracht, die der Besessene im Evangelium gibt. Vielleicht sollten wir das ernst nehmen und nicht für einen grammatikalischen Witz halten.“ [ANSCOMBE, G.E.M.: Die erste Person, 101.] Zitat „Ob ‘ich’ ein Name oder ein Demonstrativum ist, in beiden Fällen bedarf es eines ‘Begriffes’, durch den es seinem Objekt anhängt. Nun welcher andere Begriff kann vorgeschlagen werden als der des Denkens, des Denkens von Ich-Gedanken, der diese Garantie gegen Fehl-Referenz verbürgt? Es mag sehr schön sein zu beschreiben, was Selbste sind. Aber wenn ich nicht weiß, daß ich ein Selbst bin, dann kann ich mit ‘ich’ kein Selbst meinen.“ [ANSCOMBE, G.E.M.: Die erste Person, 96.] Zitat „Wenn ‘ich’ ein Name wäre, müsste es ein Name für etwas mit dieser Art von Verbindung mit dieem Körper sein und kein außergewöhnlicher Name für diesen Körper, weil seinsorische Deprivation und sogar Verlust des Bewusstseins von Haltung usw. kein Verlust des Ichs sind. (So wenigstens müßte man es beschreiben, wenn man ‘Ich’ als Namen auffaßte.) Aber ‘ich’ ist kein Name: Diese Ich-Gedanken sind Beispiele für ein reflexives Bewusstsein von Zuständen, Handlungen, Bewegungen usw., nicht eines Objektes, das ich vermittels ‘ich’ meine, sondern dieses Körpers. Diese Ich-Gedanken […] sind nicht vermittelte Begriffe (Wissen oder Glauben, wahr oder falsch) von Zuständen, Bewegungen usw. dieses Objektes hier, von dem ich herausfinden kann (wenn ich es nicht schon weiß), dass es E.A. ist. Wovon ich übrigens lernte, daß es ein menschliches Wesen ist.“ [ANSCOMBE, G.E.M.: Die erste Person, 105.] SED CONTRA, 2⊳ SED CONTRA, 1⊳ • • • Man muss in einer ersten Durchsicht – ausgehend von Castanedas Analysen - festhalten, dass Anscombe mit ihrer Kritik das Phänomen, um das es geht, noch gar nicht erreicht ja – ja, sozusagen e contrario in seinem Eigenrecht sogar stützt. Denn um zu verstehen, was sie uns sagen will, müssten wir schreiben: „Anscombe denkt über die Möglichkeit nach, dass sie* zehn unisono denkende Denker ist, so dass ihre* bisweilen konfusen Gedanken von verschiedenen Denkern produziert sein könnten.“ Die quasi-indexikalischen Rückbezüge ihres Gedankenexperiments lassen es einfach nicht zu, dass sie aus dem Kreis der Selbstbezüglichkeit, die für das Phänomen Selbstbewusstsein typisch ist, herausspringt. • • (a) Dieser Satz ist verschieden von: (b) 141 (c) Reduktionismus und Attributionstheorie: John Perry, # 1 Die Eigennamen in der oratio obliqua erhalten ihre Eindeutigkeit erst, wenn sie quasi-indexikalisch genommen werden: „E.A. denkt, dass E.A.s* Denken ein Zustand von E.A.s* Körper sei“. • • • • • „E.A. denkt, dass E.A.s Denken ein Zustand von E.A.s Körper sei“. 142 SED CONTRA, 3⊳ • Die Tatsache, dass Bewusstseinphänomene nicht unabhängig mit physischen Phänomenen auftreten, berechtigt nicht zu dem Schluss, dass Bewusstsein ein Attribut eines körperlichen Agglomerates sei. Nehmen wir erneut Castanedas Perspektive zu Hilfe: „E.A. denkt, dass ihr* Denken ein Zustand ihres* Körpers sei.“ Aber dann erfüllen sie praktisch die Rolle des quasi-indexialischen er*/sie*/es*. Der Unterschied zwischen (a) und (b) – vom Sprachanalytischen ins eher Phänomenologische gewendet – zeigt an, dass es eine Differenz zwischen der Bedeutung „E.A.s Körper“ und „mein Körper“ gibt: Woher weiß E.A., dass E.A.s Körper ihr* Körper ist. Überdies operiert Anscombes Analyse mit dem Demonstrativpronomen „dies“ („dieser Körper“). 143 • John Perry bewegt sich auf einem ähnlichen Terrain wie Anscombe. Sein Frageansatz ist leicht varriiert: Was tue ich, wenn ich von mir selbst Rede. Seine Antwort: Ich schreibe mir Meinungszustände zu, die Ausdruck einer bestimmten Haltung, einer Verwunderung oder einer Aufmerksamkeit sind. Weil Sätze, die das Wort ‚ich‘ enthalten, keinen begrifflichen Bestandteil und keine Vorstellung mitliefern, die uns über den Inhalt von ‚ich‘ informieren könnten, können egologische Sätze nicht wie herkömmliche Sätze behandelt werden. 144 Reduktionismus und Attributionstheorie: John Perry, # 2 • Perry lädt uns zu einem Gedankenexperiment ein: Im Supermarkt entdecke ich, während ich meinen Einkaufswagen vor mir herschiebe, eine Zuckerspur auf dem Boden. Ich stelle erst nach einer Weile fest, nachdem ich der Spur nachgefahren bin, dass ich derjenige bin, der die Spur auf dem Boden durch eine geplatzte Packung im Wagen hinterlassen hat. Wenn ich sage: „Mein Gott, ich richte hier eine Riesensauerei an“, dann rede ich, so Perry, eigentlich nicht von mir, sondern drücke nur einen Aufmerksamkeitszustand oder einen Meinungszustand aus, der (im vorliegenden Fall) eine Handlungsbereitschaft signalisiert. Zitat „Der Satz, mittels dessen ich angebe, zu welcher Meinung ich gelangt bin, ist für sich genommen keine Proposition. Es gibt einen fehlenden begrifflichen Bestandteil: eine Bedeutung, für die ich die Referenz bin, oder ein Bündel von Eigenschaften, die nur ich habe, oder ein singulärer Terminus, der nur auf mich referiert.“ [PERRY, John: Indexwörter, 407.] 145 Zitat „Wenn man anderswo plausible Gründe für den Glauben an ein Universum findet, das zusätzlich zu unserer gemeinsamen Welt Myriaden von Privatperspektiven aufweist, wird man den Gedanken von eingeschränkt zugänglichen Propositionen ohne Schwierigkeiten einbauen können. Ich kann kein durchschlagendes Argument gegen solche Propositionen noch gegen metaphysische Entwürfe anführen, die ihnen einen Stellenwert einräumen. Aber ich glaube nur an die gemeinsame, tatsächliche Welt und denke nicht, daß das Phänomen der wesentlichen Indexwörter mich zur Preisgabe dieser Ansicht nötigt.“ [PERRY, John: Indexwörter, 419.] Zitat „Wir verwenden Sätze mit Indexwörtern […], um Meinungszustände zu individuieren, zwecks Klassifizierung der Meinungsträger in solchen Weisen, die für die Erklärungen und Voraussagen von Nutzen sind. D.h., auf diese Weise individuierte Meinungszustände gehen in unsere gewöhnliche Theorie über menschliches Verhalten ein sowie in alle komplexen Theorien, die aus ihr erwachsen. Wir erwarten von allen gutmütigen Menschen, die sich in jenem Zustand befinden, der sie zu der Äußerung veranlaßt, ‘Ich mache eine Schweinerei’, daß sie ihren Einkaufswagen durchsuchen, unabhängig davon, welche Meinungen sie aufgrund der Tatsache haben, daß sie sich in jenem Zustand befinden. Daß wir Meinungszustände in dieser Weise individuieren, hängt ohne Zweifel mit der Tatsache zusammen, daß ein von uns postuliertes Kriterium dafür, sich in solchen Zuständen zu befinden, zumindest für seriöse, erwachsene Sprecher, in der Disposition besteht, den fraglichen indexikalischen Satz zu verwenden “ [PERRY, John: Indexwörter, 421.] Zwischenbemerkung, 1 • • Zwischenbemerkung, 2 Trotz ihrer Geschliffenheit unterscheidet sich Perrys These hier nicht wesentlich von der älteren These, die auf Wittgenstein zurückgeht und die, egologische Prädikationen (in ihrer urtümlichen, reinen Form) für Äußerungsakte hält und nicht für Aussagen im strengen Sinne des Wortes. Anders gesagt: Perry gibt sich damit zufrieden, Selbstbewusstsein als eine Art Wachheit zu begreifen, die einer Verhaltensdisposition für bestimmte Äußerungsakte (und für die praktischen Konsequenzen dieser Äußerungsakte) zugrunde liegt. Von Wittgenstein zu Perry: • So wie ein Kind, das von einer Biene gestochen wird, einen Schmerzenschrei ausstößt und ein bestimmtes Verhalten an den Tag legt (das der Ursache des Schmerzes korrespondiert), genauso benimmt sich aus Perrys Sicht der Kunde, der entdeckt, dass er durch seine Unachtsamkeit eine Sauerei im Supermarkt angerichtet hat. • Statt „Ich habe diese Schweinerei angerichtet“ hätte der Kunde vielleicht auch nur sagen können: „Sapperlot!“, mit den gleichen praktischen Folgen seiner sprachlichen Performance. 149 150 SED CONTRA, 1⊳ SED CONTRA, 2⊳ Perrys Rekonstruktion hat zwei Haken: 1) Egologische Prädikationen enthalten zu viel vernünftige (und damit auf Wahrheit hin befragbare) Information, um bloß als Äußerungen bzw. Indikatoren für Meinungszustände gehalten werden zu dürfen. 2) Unter der Hand wird die Besonderheit von Selbstbewusstsein zu einem niedrigeren Tarif verkauft. Selbstbewusstsein wird als reine Aufmerksamkeit und Verhaltensdisposition gedeutet. 151 Perry spielt auf eine besondere Zugänglichkeit eines Sachverhaltes an – eine Zugänglichkeit, die von dem besonderen Meinungszustand gewissermaßen bewirkt wird. Aber in seiner Darstellung hört sich dies so an, als sei die besondere Zugänglichkeit, die „mich“ mit bestimmten Sachverhalten verbindet, sobald ich egologische Sätze verwende, möglicherweise nur ein kontingentes Faktum. So kann der Eindruck entstehen, dass auch Außenstehende in den Genuss dieser besonderen Relation kommen könnten, wenn sie sich beispielsweise in meinen kognitiven Apparat gewissermaßen einloggen könnten. Aber wäre solch eine Vorstellung nicht absurd? 152 Attributionstheorie: Roderick Chisholm, # 1 • • 1) 2) Attributionstheorie: Roderick Chisholm, # 2 Chisholm möchte einfach nicht, dass es so extravagant aussehende Propositionen, die egologischen Prädikationen zugeordnet werden, gibt. Chisholm gibt für sein Unbehagen auch einige Gründe an: Zum einen scheinen Ich-Propositionen, wenn es sie denn gibt, für andere unzugänglich zu sein, da sie eben nur für mich gelten können. Zudem scheint die Architektur von Ich-Propositionen das Konzept eines individuellen Wesens, einer individuellen Essenz vorauszusetzen, die im Bezugnehmen auf das Selbst erfasst wird. Beide Bürden wiegen für Chisholm viel zu schwer, als dass er sie sich weiterhin aufladen würde. • a) b) c) Chisholm steuert auf die Hypothese zu, die besagt, „daß es so etwas wie Propositionen der ersten Person nicht gibt, obwohl es durchaus so etwas wie Propositionen gibt, die durch bestimmte Typen wohlgeformter Sätze ausgedrückt werden können, und obwohl es Sätze der ersten Person gibt.“ [CHISHOLM: Die erste Person, 36.] Das heißt: Egologische Prädikationen sind sinnvoll. Mit egologischen Prädikationen wird etwas ausgesagt. Aber egologische Prädikationen referieren nicht auf ein Selbst oder eine individuelle Essenz und auch nicht auf egologische Sachverhalte. 153 154 Zwischenbemerkung, 1 • • • Zwischenbemerkung, 2 Für Chisholm scheinen Propositionen für ihn so etwas wie Universalien zu sein, zumindest abstrakte Gegenstände, die überzeitlichen und allgemeinen Charakter haben. Es liegt auf der Hand, dass Ich-Propositionen in diesem Koordinatensystem störend wirken müssen. Daher gilt es, Sätze, die den Ausdruck „ich“ verwenden, in eine Form zu bringen, die ihren eigentlichen Verwendungszweck offen legt und auch darstellt, wo und inwiefern ein propositionaler Gehalt egologischer Prädikationen überhaupt in Sicht kommen kann. 155 • • • Diesem Ziel einer wohlgeformten Darstellung dient denn auch Chisholms grundlegende Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Zuschreibung: Chisholm meint, dass der Satz „x meint, dass er selbst F ist“ in der folgenden Form rekonstruiert werden soll: „Die Eigenschaft des F-Seins ist so, daß x sie x direkt zuschreibt.“ Chisholm hat auf eine sehr schnelle Weise das Problem der quasi-indexi-kalischen Rückbezüglichkeit beseitigt, die Variablen im untergeordneten dass-Satz sind davon unbelastet, weil Chisholm die Rückbezüglichkeit in der „direkten Zuschreibung“ aufgehoben denkt. 156 SED CONTRA, 1⊳ 1. 2. 3. SED CONTRA, 2⊳ Die aufwendige Reformulierung egologischer Prädikationen wirft die folgenden Fragen auf: Was ist direkte Zuschreibung? Was macht eine Zuschreibung zu einer direkten? Ist es eine privilegierte epistemische Position, die wir voraussetzen müssen, um diese privilegierte Zuschreibung zuzulassen, wie Chisholm andeutet (und wenn ja, wäre das dann nicht schnurgerader Cartesianismus)? Oder hängt es an den in Rede stehenden Eigenschaften, die direkt zugeschrieben werden dürfen (offensichtlich können nicht alle beliebigen Eigenschaften direkt zugeschrieben werden); aber wenn das so ist, woran liegt es, dass bestimmte Eigenschaften direkt zugeschrieben werden können? Liegt es an einer Art Transparenz oder Unmittelbarkeit, die ihnen anhaftet? 1. 2. Diese Fragen legen bereits einen ersten Finger auf die Wunde dieses Konzepts: Wenn man von selbst-transparenten Eigenschaften spricht, dann hat man unter der Hand bereits Bewusstsein als Grundgegebenheit vorausgesetzt, ohne es aber noch einmal eigens philosophisch durchgeklärt zu haben. Die Rede von „direkter Zuschreibung“ entpuppt sich dann aber sehr schnell als philosophische Vermeidungsstrategie, die die schwere Kost ‘Selbstbewusstseinstheorie’ in verdauliche Häppchen dank geschmeidiger klingender Begriffe unterteilen möchte. 157 Zitat SED CONTRA, 3⊳ 1. 2. 3. 158 Das macht, aus komplementärer Perspektive auch noch einmal Chisholms Charakterisierung der indirekten Zuschreibung deutlich: Wenn ich jemand oder etwas zum Gegenstand meiner Erwägungen und meines Nachdenkens mache, dann schreibe ich diesem Gegenstand bestimmte Eigenschaften indirekt zu, während ich mir gleichzeitig Eigenschaften direkt zuschreibe (ein Vorgang, der sich angeblich ohne quasi-indexikalische Rückstände wohlgeformt explizieren lässt). 159 „Angenommen zum Beispiel, daß ich mit dir und nur mit dir spreche und daß ich in bezug auf dich meine, daß du einen Hut trägst. In diesem Fall bestünde die Eigenschaft de F-Seins – die Eigenschaft, die ich dir indirekt zuschreibe – im Tragen des Hutes; die identifizierende Relation R, in der ich zu dir und nur zu dir stehe, wäre die des Miteinandersprechens; und die Eigenschaft, die ich mir selbst direkt zuschreibe, wäre die Eigenschaft, mit genau einer Person, die einen Hut trägt, zu reden. Indem ich dir so indirekt eine Eigenschaft zuschreibe, schreibe ich mir eine bestimmte zweiseitige Eigenschaft direkt zu.“ [CHISHOLM, Die erste Person, 53.] »Metaphysik des Selbst« SED CONTRA, 4⊳ • • Zu den gravierenden Problemen in Chisholms Attributionstheorie gehört: Die Differenz zwischen direkter und indirekter Zuschreibung bleibt ein Rätsel. Wenn wir auf Unmittelbarkeit, SelbstTransparenz, Irrtumsimmunität etc. als Unterscheidungskriterien verweisen, beginnen wir uns langsam im Kreis zu drehen, denn es ist ja gerade Bewusstsein und Selbstbewusstsein, was SelbstTransparenz etc. erklärt und nicht umgekehrt. Chisholm hat das natürlich gesehen, konnte aber nicht mehr anders, als die Differenz zwischen direkter und indirekter Zuschreibung, die durch das Phänomen Bewusstsein und Selbstbewusstsein ermöglicht wird, als fundamentale Tatsache gewissermaßen auf sich beruhen zu lassen. Was aber tut eine philosophische Theorie, die sich hier vor weiteren Analysen und Erklärungen drückt? 161 Zitat „The self must be conceived of as having the status of a substance vis-à-vis its thoughts and experiences – they are ‘adjectival’ upon it (are ‘modes’ of it, in an earlier terminology), rather than it being related to them rather as a set it to its members. And indeed this is precisely what we should expect in the light of our earlier remarks about the individuation of thoughts and experiences – for there we argued that they depend for their identity upon the identity of the subjects possessing them, rather than vice-versa […].“ [LOWE, E.J., Subjects of Experience, 195.] 1) 2) Ein starker metaphysischer Ansatz versucht Kapital aus dem Gedanken zu schlagen, dass uns das von Chisholm beschriebene Rätsel einige eigenartige Fragen aufgibt: Wenn ich mir selbst (direkt) Eigenschaften zuschreibe, dann kann ich mich – sofern ich dies im Ernst tue – in Hinsicht auf die in Rede stehenden Eigenschaften eigentlich nicht irren. Die Eigenschaften, um die es geht, sind sozusagen schon immer in die Dimension des Bewusstseins getaucht. Die in Rede stehenden Eigenschaften sind eher Attribute an mir, so dass in der Beschreibung der Bewusstheit dieser Eigenschaften das Selbst als eigene Größe in den Vordergrund tritt. E.J. Lowe zieht daraus den Schluss, dass das Subjekt als ‚Substanz‘ gedacht werden muss. 162 Zitat „But if the self is a substance, can we say any more about what kind of substance it must be? Can it, in particular, be identified, with the substance that is the self’s body (or indeed any bodily part of that, such as the brain)? Plainly not – for I have […] pointed out that it is perfectly conceivable that different selves should share the same body […]. Bodies, then, are sharable between selves (as are parts of bodies) – but thoughts and experiences are not. Hence bodies (and their parts) cannot serve to individuate thoughts and experiences as selves do.” [LOWE, E.J., Subjects of Experience, 195.] Fußnote 1 Fußnote 2 Lowes Argument lässt sich auf zwei entscheidende Prämissen zurückführen: Das Verhältnis des Selbst zu den Gedanken, die es denkt, und allen mentalen Zuständen, die es hat, ist nicht das Verhältnis einer Menge zu ihren Elementen (oder irgend ein Verhältnis dieser Art). Wir sind daher genötigt das Selbst (im aristotelischen Sinne) als Substanz zu denken, der Gedanken als Eigenschaften inhärieren. (Nota bene: Kant hätte gegen so einen Substanzbegriff bzw. seine Brauchbarkeit interveniert.) Das Selbst individuiert Gedanken, mentale Zustände etc. so, dass sie zu ‚meinen Gedanken‘ etc. werden. Da der Körper die Singularität der Person nicht garantieren kann (s. Gedankenexperiment), kann als Individuationskriterium nicht das ‚Haben dieses Körpers‘ in Frage kommen. 165 Lowe macht keine weiteren Angaben darüber, was das Selbst nun genauer ist. Man kann in gewisser Weise von einem Selbst-KörperDualismus sprechen, den Lowe vom Cartesianischen Dualismus unterscheiden will. Der Körper, den ich habe, ist nicht einfach eine beliebige ‚res extensa‘ unter anderen. Denn der Körper ist ‚mein‘ Körper, so dass ich ihm anders ‚gegenüberstehe‘ als jedem anderen Körper (im Universum). Mein Körper öffnet sich mir in einem privilegierten epistemischen Zugang (ich kann Schmerz in meinem Körper fühlen, aber nicht im Körper eines anderen Menschen). Das Selbst ist eine einfache, ungeteilte Substanz. Deshalb sind die herkömmlichen Kriterien einer identischen Existenz durch die Zeit auf es nicht anwendbar. 166 Zitat Fußnote 3 Das wirft aber Fragen auf: 1) Wenn das Selbst eine Substanz ist, aber nicht mit einem Körper identisch ist, von welcher Art ist diese Substanz? 2) Kann man das Selbst eine immaterielle (und daher ausdehnungslose) Substanz nennen? 3) Wie können solche eigenartigen Substanzen dem Kantischen Kriterium von Substanzhaftigkeit (Beharrung in Zeit und im Erfahrungsraum) unterliegen oder gegen seine Kritik gefeit sein? 167 „Thus the reason why the self – or any simple substance – cannot be provided with a criterion of diachronic identity is that such a criterion (in the case of substance or continuant) always makes reference to a substance’s constituent parts, of which simple substances have none.” [LOWE, E.J., Subjects of Experience, 41.] “A consequence of the ungroundedness of the self’s identity over time is that there is, and can be, no definitive condition that necessarily determinates the ceasing-to-be […] of a self. In the case of complex substances which are governed by criteria of identity the conditions of substantial change (that is, their coming or ceasing-to-be) can be specified fairly exactly, even though these conditions may in some cases be infected by some degree of vagueness.” [LOWE, E.J., Subjects of Experience, 42.] »Metaphysik des Selbst« »Metaphysik des Selbst« David H. Lund entwickelt ebenfalls eine Metaphysik des Selbst, die noch aufgeladener ist als E.J. Lowes Entwurf. Sein Ansatz greift alle Positionen an, die Selbstbewusstsein untertariflich ‚verkaufen‘ wollen. Zwischen bloßer Aufmerksamkeit und echtem SelbstBewußtsein gibt es noch einmal einen qualitativen Unterschied. Kernargument ist, dass es keine subjektlose Erfahrung geben kann. Das heißt: Wer auf die Eigenart von Erfahrung reflektiert, wird das Moment Selbstbewusstsein hier mit aufnehmen müssen. a) b) Lund verwirft damit attributionstheoretische und reduktionistische Antworten. Übrig bleiben zwei denkbare Versionen: Das Subjekt ist eine instantane, augenblickshafte Instanz. Es ist ein Denkinhalt, der genauso flüchtig ist, wie die mit dem Ausdruck ‚ich‘ ermöglichte Bezugnahme auf den Äußerer des Indexicals. Das Subjekt ist eine sich „diachron“ durchhaltende Entität und Garant von Identität. Damit wären die Bestimmungen personaler Identität durch die Zeit ausschließlich vom Vorhandensein einer Ersten-PersonPerspektive abhängig. 169 Zitat „A concept is not merely a concept of something but also that […] in virtue of which conceiving is accomplished by someone. It is employed by someone or something, in the mental activity of conceiving. More specifically, even if the I-concept is understood to be a mere appearance of a subject, there must be something to which it appears – something that cannot itself be a mere appearance. Moreover this something cannot be a manifold of items […] such that only a part of the I-concept appears to each.” [LUND, David H.: Conscious Self, 77.] 170 Zitat „[T]hird-person information about oneself is neither necessary nor sufficient for self-consciousness and therefore cannot mediate one’s consciousness of oneself. It is not necessary, for such consciousness would remain even if one lost, as in a case of severe amnesia, all third-person information about oneself. […] There is every reason to suppose that I would be aware of myself and having such thoughts as ‘I cannot see anything’ or ‘I seem to bee floating’. But perhaps more importantly, no amount of third-person information that I might acquire about myself would be sufficient to guarantee that I have first-person awareness. For I would be unable to see that the thirdperson information is information about me unless I were already aware of myself in a first-person way […].” [LUND, David H.: Conscious Self, 77.] Zitat „Of course, the existence of an unmediated prerefelctive self-awareness is not, by itself, sufficient to justify the conclusion that this self-awareness is the self-awareness of a subject of conscious states, or, in other words, that a subject is known by acquaintance. For its existence is compatible with the possibility that consciousness is (or becomes) aware of itself and thus is in this sense self-aware. But this conclusion is justified, if not rendered undeniable, when the entire case for believing that experience cannot be subjectless is taken into consideration. […] To say that a first-order experience has a first-personal character intrinsically, and its having such a character intrinsically seems impossible to understand if it is not intrinsically the experience of a subject.” [LUND, David H.: Conscious Self, 113.] Das ‘immaterielle’ Selbst Nach Lund können wir und vorstellen, dass wir ‚dieselben‘ sind, aber nicht in einer Beziehung zu materiellen Dingen stehen. Daraus schließt Lund, dass es metaphysisch möglich ist, dass unser Selbst auch ohne Bezug zu materiellen Entitäten existieren kann (sogar ohne einen biologischen Körper etc.) Wenn darüber hinaus gilt, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, dass ein materielles Ding in ein immaterielles Ding transformiert wird, dann müssen wir ebenfalls folgern, dass das Selbst (immer schon) als immaterielle Entität existiert. 174 Zitat „(1) Whatever is secunda facie conceivable for me is something I am secunda facie warranted in believing to be metaphysically possible. (2) I can clearly and distinctly conceive of myself with exactly my thought properties existing in isolation form all material things […]. (3) Therefore, I am secunda facie warranted in believing that my existing in isolation from all material things […] is metaphysically possible.” “(4) It is not metaphysically possible for a material thing to become immaterial and exist in isolation from material things […].” “(5) Therefore, I am secunda facie warranted in believing that I am not a material thing.” [LUND, David H.: Conscious Self, 113.] SED CONTRA⊳ Immer noch wird darüber gestritten, ob Argumente aus der Vorstellbarkeit (Conceivability-Diskussion) brauchbare und valide Argumente darstellen. Logiker mahnen hier, dass es sich um Argumente innerhalb epistemischer Kontexte befindet, die a) einen sozusagen ungerechtfertigten Sprung vom Denken/Vorstellen zum Sein vollziehen und die b) im Grunde schon voraussetzen müssen (das unangefochtenen Eigenrecht von Bewusstsein), was sie erst beweisen wollen. 176 SED CONTRA⊳ Ein Gegenbild, #1 1) Aber selbst wenn wir diese Argumentation auf sich beruhen lassen könnten, so wäre doch damit die Frage nach der personalen Identität einer Person x durch die Zeit nicht beantwortet. Das lässt sich an einem Split-Brain-Gedankenexperiment verdeutlichen: Nehmen wir an, meine Gehirnhälften werden in zwei genetische Klone meines Körpers übertragen, so dass für beide resultierende Personen gilt, dass sie erstens körperlich mit mir ähnlich sind und dass zweitens ihre Erinnerungen mit meinen in Kontinuität stehen. Welche der resultierenden Personen ist mit mir identisch? Beide 177 verfügen ja über eine EPP. Welche davon ist meine? Ein Gegenbild, #2 1) 2) 3) 4) 5) Castanedas Guise-Theorie versucht, das Selbstreferieren in seiner Bezüglichkeit einzuholen, muss aber am Ende zugestehen, dass der Bezugsgegenstand dünn bleibt. Wenn das „ich“ in der Tradition Humes und Kants geradezu als schwarzes Loch betrachtet wird, dann hat das eine gewisse Berechtigung. Das Selbst ist bei Castaneda als nur ein I-Guise; es ist ontologisch dünn und bleibt dünn. Darin liegt andererseits auch ein erheblicher Vorteil: Das Ich kann gar nicht mit den „thick particulars“ – den alltäglichen Gegenständen der Welt, die ihrerseits (doxastische) „chunks“ von Guises sind, verwechselt werden. Das hat einige pikante Folgen: Es gibt eine Vielzahl von Ich-Guises, ihre Verfugung und Verbindung muss erst a fortiori geklärt, sie muss anhand von Kriterien ausgewiesen und kann nicht 179 vorausgesetzt werden. 2) 3) 4) Hector-Neri Castaneda hat eine Theorie entwickelt, die das ‚Selbst‘ zuallererst als Denkinhalt begreift. In einem entscheidenden Schritt (entfaltet in seiner so genannten ‚Guise‘-Theorie) entledigt er sich eines klassischen sprachphilosophischen Dogmas, das an der Dichotomie von Referenz einerseits und Vorstellung bzw. Begriff und Gehalt andererseits festhält. In Castanedas Theorie sind Denkgehalte dann auch Referenzgegenstände. Denkinhalte können kombiniert auftreten (Castaneda spricht hier von ‚Konsubstantiierung‘) oder in einer diachronen Reihung (Castaneda spricht hier – nicht ganz ohne Augenzwinkern – von Transsubstantiation bzw. Transsubstantiierung). 178 Zitat „So wie ich es sehe, erreicht das Denken seinen Bezugsgegenstand ohne vermittelnden Sinn, Fregeschen oder sonstigen: Die Bedeutungen singulärer Terme, wie sie in Sätzen als Mittel des Denkens verwendet werden, existieren nur als Neigungen von Sprechern, sich auf Individuen bestimmter Typen zu beziehen; die speziellen Individuen werden durch den Kontext des Sprechens und Denkens ausgesondert. Bedeutungen sind im Grunde nichts als kausale Rahmen, innerhalb deren und relativ zu denen Aspekte von Kontexten, die Formulierungen (tokenings) der Ausdrücke in jemandes Sprache, kausal mit seinem Denken von diesem oder jenem verknüpft sind. Die Kommunikation setzt das Phänomen des Denkens [und hier könnte man ergänzen: Bewusstseins und Selbstbewusstseins, TS] voraus, aber sie formt es auch.“ [CASTANEDA: Bedeutung, Glaube und Bezugnahme, 461.] Zitat Zitat „The main point is that in this case we are not dealing with synchronic existential sameness, but with diachronic existential sameness, which we may call transubstantiation. The main differences between these two samenesses are these: in the case of consubstantiation we have the principles of a sameness that relate[s] individual guises pairwise, whereas in the case of transubstantiation we have principles of sameness that tackle systems of guises; consubstantiation is less conventional than transubstantiation; consubstantiation deals with experiences at times and provides the basis for the principles of transubstantiation to apply. In short, the fluidity and richness of the sameness relations is what we need here.” [CASTANEDA: The Self and the I-Guises, 199.] „An I-guise is, in the light of the preceding discussion, a rather thin individual which is the proprietary subject of a given experience, and vanishes when the experience vanishes.“ [CASTANEDA: The Self and the IGuises, 198.] Ein Gegenbild, #3 • a) b) c) Ein Gegenbild, #4 Castanedas Theorie schließt die folgenden Einsichten ein: Dass die Welt, die ich erfahre, meine Erfahrungswelt ist, verdankt sich einem Mit-sich-Vertrautsein, das meine Erfahrungen grundiert und mein Denken mit den Guises anreichert, auf die ich mich faktisch beziehe. Es macht auch keinen Sinn, in meiner Erfahrungswelt nach dem genauen Gegenstand dieses urtümlichen Mit-SichVertrautseins zu suchen oder gar, sich Auskünfte zu erhoffen, indem man einen Blick hinter den Vollzug der Selbstreferenz zu wagen versucht. Es gibt kein ‚in’ und ‚dahinter’ im gegenständlichen Sinne, denn das transzendentale Ich ist meine Erfahrungswelt qua Erfahrungsvollzug. 183 • a) b) c) Das hat aber auch einige andere, weitreichende Konsequenzen für eine immaterialistische Theorie des Selbst: Es macht keinen Sinn macht, von einem immateriellen Selbst als Grundlage meiner Selbstreferenz zu sprechen: Denn das Selbst ist, wenn man sich auf diese Terminologie einlassen möchte, weder materiell noch immateriell, weil diese Dichotomie nur auf Gegenstände unserer Erfahrungswelt sinnvoll angewendet kann. Zu solchen Schlüssen kommt Castaneda in der Spur Kants – und bleibt ihnen treu, nicht ohne einzuräumen, dass es möglicherweise Sinn macht, unabhängig von der ‘Natur des Selbst’ über die Existenz einer Seele nachzudenken. Er verwahrt sich aber dagegen, von den I-Guises ausgehend weit reichende (vielleicht sogar ausschließende) Schlüsse auf ein irgendwie zugrunde liegendes immaterielles Substrat zu ziehen. 184 Zitat Fazit, #1 „An I-Guise is the I of an experience. An I, a Here, and a Now, constitute the inner framework of an experience. They are mutually irreducible and irreducible to the contents of experience. They are all exhausted by the experience they demarcate: they are most ephemeral and subjective. Because I-guises overlap through overlapping specious presents, which underwrite the unity of the consciousness of each episode of consciousness of succession, there is a concept of a synchronical experiential I or self as a manifold of overlapping I-guises. Beyond the internal aspects of experience, there are concepts of self erected upon manifolds of experiential I’s by layers of consubstantiations. We also have operative concepts of the self as an enduring entity. These selves are simply networks of consubstantiations and transubstantiations built around overlapping I’s as well as successive I’s, embellished with physical, psychological, and sociological guises as allowed by the context of surrounding environment and institutions we belong to. That context imbues such networks with special patterns of consubstatiations and transubstantiations.” [CASTANEDA: The Self and the I-Guises, 201.] • • Wenn es gute Gründe gibt, in einer Metaphysik des Selbst vorsichtig zu sein, wenn wir zudem aber aus dem Zirkel des Selbstbewusstseins nicht hinausspringen können, dann brauchen wir eine entsprechende Selbstbewusstseins-Theorie, die das Selbst weder verdinglicht noch Selbstbewusstsein als Phänomen herunterspielt. Castanedas Deutung lässt eine solche Theorie sozusagen zu; sie hält uns aber dazu an, in einem eigenen Schritt nach Kriterien personaler Identität zu fragen. Sie sind nicht automatisch mit der EPP mitgegeben; die EPP sorgt nur für die Einzigartigkeit der in Rede stehenden Person. Sie sagt uns nichts, wenn es um prekäre Identitätsfragen geht. 186 Fazit, #2 • 1) 2) 3) 4) Selbst-Bewusstsein Nicht nur die Frage nach den Bedingungen der personalen Identität durch die Zeit, sondern auch die Frage nach dem Zusammenhang verschiedener Denkinhalte mit dem (an sich dünnen Denkinhalt des) Ich wird durch Castanedas Analysen aufgeworfen: Was denke ich „von mir“ auf einer ganz grundsätzlichen Basis, wenn ich auf mich selbst verweise? Ist es wirklich so, dass ich mich als isoliertes, immaterielles Etwas denke, wenn ich ‚mich selbst‘ denke? Oder gibt es andere Gedankeninhalte, die ich in der Bezugnahme ‚auf mich selbst‘ aus der EPP sofort mit-setze? Ist die Rede von Denken und Denkinhalt angemessen? Oder müssen wir andere Weise der Bezugnahme ebenfalls in Rechnung stellen (wie etwa das Erfahren, Vorstellen oder Spüren)? 187 • 1) 2) 3) Nimmt man Castanedas Theorie als Ansatzpunkt, so lässt sich Dieter Henrichs und Gunnar Hindrichs‘ Hinweis auf die ‚Nervosität‘ des Selbst, die Instabilität des Selbst besser verstehen: In der Frage nach den Bedingungen der Identität ist das Selbst-Bewusstsein konstitutiv an das Welt-Bewusstsein verwiesen, auch wenn das Selbstbewusstsein qua SelbstBezug nicht aus einem Wissen um die Welt entspringt. Die Frage nach der Dinghaftigkeit des Selbst bleibt insofern offen, als das selbst als ‚nervöser Denkinhalt‘ grundsätzlich nicht als „thick particluar“ gesehen werden kann. Die Frage, ob es eine immaterielle Substanz des Selbst gibt, kann u.U. auch als Kategorienproblem ‚geahndet‘ und damit negativ beschieden werden. 188 Fußnote, 1 • a) b) 1) 2) Fußnote, 2 • Lowe und Lund scheinen ausgehend von der Feststellung, dass das Selbst gleichsam ein ‚ausdehnungsloser‘ Punkt ist und dass die herkömmlichen Kriterien der ‚Persistenz‘ von Dingen auf es nicht anwendbar sind, zu schließen: dass das Selbst eine Substanz ist und dass das Selbst immateriell ist. 1) 2) Diese Schlüsse haben aber zwei durchaus umstrittene (heimliche) Voraussetzungen, die etwa so lauten könnten: Was ein logisches Subjekt ist, ist immer auch eine metaphysische Substanz. Alles, was nicht materiell ist, ist immateriell. Diese beiden Prämissen sind aber höchst problematisch. Denn: Sprachanalytisch lässt sich zeigen, dass nicht alles, was als logisches Subjekt auftreten kann, auch ein echtes Ding ist, das sich ‚in der Zeit‘ durchhält. Die Qualifikation „immateriell“ kann auch als rein formale Angabe darüber gelesen werden, dass eine bestimmte Entität nicht in die Kategorie materieller Dinge fällt (wie etwa Zahlen oder Propositionen). Über deren ontologischen Status und die daran sich knüpfende Frage nach den Identitätskriterien ist damit aber noch nichts Positives gesagt. In beiden Fällen scheinen Lund und Lowe aus eher formalen Beobachtungen und Feststellungen weitreichende Schlüsse zu ziehen, die eigentlich nicht gestattet sind, weil die genannten Prämissen nicht uneingeschränkt anerkannt sind. 189 190 Fußnote, 3 • 1) 2) a) b) c) d) Fußnote, 4 Auch in sachlicher Hinsicht steht die These, dass das Selbst eine ‚atomische‘ immaterielle Substanz sei, vor einigen erheblichen Schwierigkeiten. Denn: Wie sind die folgenden (sinnvollen und ggf. wahren) Sätze ontologisch zu interpretieren? Vgl. „Ich wiege 80 kg.“ „Ich bin 24 Jahre alt.“ Offenkundig klingen die folgenden Rekonstruktionen seltsam und wirken in den in ihnen implizit ausgesagten Ontologien kontra-intuitiv: „Mein Selbst wieg 80 kg.“ „Mein Selbst ist 24 Jahre alt.“ „Mein Körper wiegt 80 kg.“ „Mein Körper ist 24 Jahre alt.“ 191 Die o.g. einfachen Sprachbeispiele zeigen, dass die Bezugnahme auf ‚Ich‘ immer und in jedem Fall einen erheblichen Sonderfall des Referierens darstellen wird. Wenn es stimmt, dass die Kriterien für die Beharrlichkeit von Substanz immer aus der Dritten-Person-Perspektive formuliert werden (müssen), dann können sie ‚beim‘ Selbst gar nicht erst greifen. Auch wenn der Übergang von logischem Subjekt zu metaphysischer Substanz in den meisten Fällen gestattet sein mag, so stoßen wir beim Selbst auf eine erste, echte Grenze. In der Selbstreferenz ist eine ‚distanzlose‘ Referenzform gegeben; das gilt nicht nur in Hinsicht auf das Selbst, sondern auch in Hinsicht auf meinen Körper, der mir nur nach einer gewissen Abstraktion gegenübersteht, im Grunde aber als Leib in der Dimension des Bewusstseins für mich transparent wird. Außerdem zeigt sich, dass das Ich in einer transparenten Form mit dem Körper in Verbindung steht und auf dieser Grundlage auch ‚materielle Eigenschaften‘ ‚annehmen‘ kann, ohne dass man deswegen sagen könnte, es sei materiell (was auch für das Gegenteil gilt: es sei immateriell). 192 Zwischenfazit a) b) c) d) Leiblichkeit, erste Fragen Selbstbewusstsein ist auf Weltbewusstsein verwiesen. Es gibt eine urtümliche Verschränkung, die aus der ‚ontologischen Nervosität‘ des Selbst folgt: Das Selbst kann sich als befindlich begreifen und erspürt damit ganz prinzipiell seine Leiblichkeit. Das Selbst ergreift sich nur im Augenblick und erfährt darin seine Zeitlichkeit, die die Fragen nach seiner Identität aufwerfen. Das Selbst sieht sich in Hinblick auf die Gehaltlichkeit seines Denkens, Tuns und Sorgens auf den Anderen bezogen – und erfährt darin die Dimension der Sozialität. Das Selbst erfährt die Verschränkung von Leiblichkeit, Zeitlichkeit und Sozialität in einer ganz eigenen Dimension: in seiner Sexualität. Könnten wir uns vorstellen, ohne einen Leib zu existieren? Anmerkungen: 1) Die Frage ist eigenartig: Ich kann mir nicht vorstellen, ohne meinen* Leib zu existieren. Ich kann mir aber vorstellen, ohne Leberfunktionen, ohne Verdauungsorgane, ja sogar ohne ein Gehirn zu existieren. 2) Es ist kaum vorstellbar, ohne einen Leib ein Weltbewusstsein zu haben und zu entwickeln. Durch meine Leiblichkeit kommt mir meine Ausrichtung auf die Welt zu. Über meine Leiblichkeit greife ich in die Welt ein. 193 194 Leiblichkeit, erste Fragen 1) 2) Leib und Körper, 1 Dank meiner Leiblichkeit bin ich ‚befindlich‘: Ich befinde mich hier, obwohl ich gerade noch dort war. Ich befinde mich gegenüber X, ich bin Distanz zu Y etc. Mich zu ‚befinden‘ ist eine urtümliche Gestalt dessen, was ich ‚erfahre‘, wenn ich mich selbst erfahre und mich auf mich selbst beziehe. In dieser grundsätzlichen Weise ist Leiblichkeit immer schon ein notwendiger Gehalt meines Selbstbewusstseins: Meine I-Guises sind in einer primären Weise mit Guises verschränkt, die die Erspürens und Gewahrungsdimension meines Weltbewusstseins eröffnen. Andererseits erfahre ich, dass ich ein Gehirn, eine Leber etc. habe, dass Verdauungs- und Stoffelwechselvorgänge in ‚mir‘ (in meinem Körper) ablaufen, erst aus der Dritten-Person-Perspektive. Ich ‚lerne‘ diese Dinge über mich genau so, wie ich Informationen auch über andere Personen aufsammeln muss. 195 1) 2) 3) 4) 5) Als ‚ich‘ kreise ich nicht um mich selbst, sondern befinde und orientiere mich. In dieser Grundbefindlichkeit spüre ich mich – ich spüre meine Befindlichkeit und meine Ortung in Raum und Zeit. Ich spüre mich als eine Ganzheit in einem Hier und Jetzt, an einer Stelle im Raum, die ich einnehme und die ich begrenze. Ich bin affektiv und spüre den Widerstand der mich umgebenden Welt. Die Erfahrbarkeit der Welt erschließt sich mir als Widerständigkeit der die Welt konstituierenden Gegenstände. Ich spüre Schmerzen und Lust; ich spüre Müdigkeit und Hunger. Ich spüre meine Grenzen und die Notwendigkeit, mich selbst zu erhalten. Ich spüre nicht die biologischen Vorgänge als biologische Vorgänge. Wenn ich sie spüre, spüre ich sie als etwas in mir – nicht als Tatsachen mir gegenüber, sondern als transparente Tatsachen. Als biologische Tatsachen bleiben sie intransparente Tatsachen; ich muss von ihnen lernen und erfahren, wie ich ganz allegemein von Tatsachen aus der Dritten-PersonPerspektive erfahre. 196 Leib und Körper, 2 1) 2) 3) 4) Die Individuation des Körpers Der Leib ist mein ‚Mich-Befinden‘ und ‚Mich-Spüren‘ aus der Ersten-Person-Perspektive. Schon im Gegebensein der EPP ist die Leibdimension mitgegeben. Der Körper ist eine Größe, die sich mir als biologischer Körper aus der Dritten-Person-Perspektive erschließt. Der Körper als mein* Körper ist mir in der Leibdimension zugänglich – aber dann ist er für mich nicht bloß Körper, sondern erspürter Leib. Der Leib ist eine Ganzheit, die ich als Ganzheit spüre, erfahre und erfasse. Der Körper ist – wenn ich ihn als biologischen Körper betrachte – ein komplexes Ganzes, das aus vielen Teilen und Unterebenen besteht. Meinen Körper erfahre ich dagegen als Leib als transparente Ganzheit; der Körper als biologische Größe dagegen ist eine verschränkte, intransparente Ganzheit. 1) 2) 3) Wenn wir (in der Weise einer bestimmten Abstraktion) nur auf den biologischen Körper sehen, dann ergeben sich Fragen an seine Individuation: Was macht diesen biologischen Körper zu einem einzigartigen Körper? Die Frage ist auch deshalb von besonderer Brisanz, weil der biologische Körper lediglich ein ‚mobiles‘ Subsystem in einem bestimmten ökologischen Großsystem darstellt. Sind die ‚Ränder‘ seiner Individualität und Identität damit nicht eher fließend? Für die Individuation des Körpers scheint am Ende doch entscheidend zu sein, dass er ‚mein Körper ist‘. Auf dieser Grundlage ist es nicht identitäts-bedrohend, wenn der Körper Teile verliert oder wenn wir feststellen müssen, dass der Körper faktisch in einem permanenten Austausch mit seiner Umwelt durch die Zeit existiert (Teile kommen und gehen sozusagen beständig). 197 198 Anmerkungen Fragen und Gedankenexperimente 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) Könnte ich einen anderen Körper haben – den Körper einer anderen Person? Könnte ich den Körper eines anderen Lebewesens haben (den Körper eines Tieres)? Könnte ich mir z.B. vorstellen, kugelförmig und ganz Auge zu sein (aber ohne Gehör, Tast- Geruchs- und Geschmackssinn)? Wären meine Erfahrungen und meine Wege, Wissen zu erlangen, dieselben, wenn ich den Körper eines anderen Lebewesens hätte? Kann ich mir vorstellen, übergangslos meinen Körper zu wechseln? Würde ich wissen können, wie man Fahrrad fährt, wenn ich keinen Körper hätte? Würde ich wissen können, wie man nach Santa Fe fährt, wenn ich keinen Körper hätte? Könnte ich einen anderen Leib haben? 199 1) 2) 3) Unseren kogntiven Kapazitäten hat sich unsere Leiblichkeit als wesentliche Dimension aufgeprägt; aber auch unsere Biologie beeinflusst diese Kapazitäten. Tut sie das als Biologie oder ‚transformiert‘ in und über die Leiblichkeit? Die leibliche Dimension unserer Erkenntnis ist uns in einer ersten, basalen Weise als Sprachlichkeit gegeben: Wir kommunizieren symbolisch – unsere Leiblichkeit prägt sich dem Erkennen in Gestalt symbolischer Kompetenz auf. Durch unsere Leiblichkeit wird unsere Erkennen vermittelt. Und die Unmittelbarkeit gibt es immer nur im Medium vom Vermitteltheit. Ich kann mir nicht vorstellen, den Leib einer anderen Spezies zu haben. In all diesen Gedankenexperimenten würde ich mir immer nur meine Leiblichkeit in einer anderen ‚biologischen Realisierung‘ vorstellen. Es wäre aber immer noch die Prägung meiner ‚menschlichen Leiblichkeit‘, die hier zum Tragen kommt. 200 Die Widerständigkeit des Leibes 1) 2) 3) Zitat Die Rede von „meinem Leib“ darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir auch eine Spannung erleben: Unser Leib leistet uns Widerstand – hier erfahren wir die Körperdimension als robuste Materialität. Die Widerständigkeit erfahren wir auch als Eigendynamik. Es liegt nicht alles in unserer Kontrolle: Wir erfahren z.B. dass wir müde werden (obwohl wir es nicht wollen), dass wir aufgeregt sind (obwohl wir das nicht brauchen können), dass wir hungrig sind, obwohl wir dafür vielleicht im Augenblick keine Zeit haben etc. Wir können den Leib – in seiner Körperdimension – zu einem gewissen Grade objektivieren (aber eben nicht vollständig zum Ding machen), wenn wir uns über unser Aussehen wundern, unser Gewicht beklagen oder mit unserem Alter kokettieren. „Ein Kind, das seinen Trieben und Launen noch nichts entgegensetzen kann, soll ein Ich aufbauen, kraft dessen es dazu fähig ist, und ein Erwachsener, der sich nicht beherrschen kann, wird verachtet. Aber diese Herrschaft ist nie vollkommen, sonder nur größer oder kleiner innerhalb eines gewissen Spielraums: Ein zwanzigjähriger Fußballer beherrscht seinen Körper nur besser als ein zehnjähriger; eine geübte Geigerin besser als eine Anfängerin.“ [HAEFFNER: Philosophische Anthropologie, 137.] 201 Leib sein und Leib haben 1) 2) Zitat Mit einem gewissen Recht können wir gleichzeitig sagen, dass wir Leib sind und einen Leib haben. Beide Formulierungen können aber missverstanden werden. Denn: Der Leib ist kein vollständig objektivierbarer Gegenstand, den ich neutral haben kann, wie ich jeden anderen, x-beliebigen Gegenstand haben kann. Der Leib ist mir in seiner Körperdimension nicht ‚restlos‘ transparent. Zu einem gewissen Grade entzieht er sich mir (und entzieht sich besonders meiner Verfügungsgewalt). Daher müssen beide Sätze gleichermaßen als wechselseitiges Korrektiv gelten: „Ich bin Leib, insofern ich einen Leib habe.“ 203 „Noch einmal: das Fleisch, von dem wir sprechen, ist nicht die Materie. Es ist das Einrollen des Sichtbaren in den sehenden Leib, des Berührbaren in den berührenden Leib, das sich vor allem dann bezeugt, wenn der Leib sich selbst sieht und sich berührt, während er gerade dabei ist, die Dinge zu sehen und zu berühren, sodaß er gleichzeitig als berührbarer zu ihnen hinabsteigt und als berührender und alle beherrscht und diesen Bezug wie auch jenen Doppelbezug durch Aufklaffen oder Spaltung seiner eigenen Masse aus sich selbst hervorholt.“ [MERLAU-PONTY, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, 191.] Zitat Zitat „Die außerordentliche Tatsache, daß unser eigener Leibkörper von diesen beiden ursprünglich verschiedenen und unvereinbaren Standpunkten aus betrachtet und beschrieben werden kann, so daß es darüber hinaus so scheint, als versammle er diese beiden Standpunkte derart in sich, um von dieser Dualität aus verstanden zu werden, hat nicht wenig zur Verwirrung beigetragen […].“ [HENRY, Michel: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, 181.] Leib – Körper – Bedeutung, 1 Dass die Leiblichkeit wesentlich zu Selbstbewusstsein gehört erschießt sich uns über die Zeichenhaftigkeit des Leibes. Unser Denken ist im Leib ‚ausgedrückt‘ – und damit entzifferbar. Der biologische Körper ist in diese Bedeutungsdimension mit hineingehoben. Über die Art des Umgangs mit dem biologischen Körper legen wir Bedeutungen bei, die auf der Ebene des Leib-Seins und Leib-Habens signifikant werden. Auch in der Widerständigkeit des Leibes (in Hinsicht auf seine Körperlichkeit) ergibt sich eine zeichentheoretische Bedeutsamkeit: Der Leib als Körper entzieht sich zu einem gewissen Grad der Beliebigkeit von zeichen-bedingten Deutungen und Neu-Deutungen. 207 „Das Fleisch tritt zum Ich […] nicht wie ein kontingentes und unverständliches Attribut hinzu, als eine Art synthetischer Hinzufügung zu unserem Sein, um es in zwei entgegengesetzte und unversöhnbare Instanzen zu spalten. Weil das Fleisch nichts anderes als die innerste Möglichkeit unseres Sich ist, bildet dieses ein einheitliches Sich. Der Mensch kennt den Dualismus nicht. Das Sich denkt dort, wo es handelt, wo es begehrt, wo es leidet; dort, wo es ein Sich ist: in seinem Fleisch.“ [HENRY, Michel: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, 187.] Zitat „Diese doppelte Sichtweise tritt sehr deutlich zutage beim Vergleich mit der Sprache. Wir können ein Wort als Zeichen betrachten […]. Wir können das Wort aber auch als physischen Laut oder als physische Masse betrachten […]. Beim Leib ist es ähnlich, Wir können ihn einerseits betrachten, sofern er als das Hier, von dem aus ich etwas wahrnehme, als Bewegungsorgan, als Wahrnehmungsorgan, als Inbegriff von Empfindung fungiert. […] Und umgekehrt läßt der gleiche Leib sich als Ding unter anderen betrachten.“ [WALDENFELS: Leibliches Selbst, 249f.] Zitat Zitat „Diese doppelte Sichtweise tritt sehr deutlich zutage beim Vergleich mit der Sprache. Wir können ein Wort als Zeichen betrachten […]. Wir können das Wort aber auch als physischen Laut oder als physische Masse betrachten […]. Beim Leib ist es ähnlich, Wir können ihn einerseits betrachten, sofern er als das Hier, von dem aus ich etwas wahrnehme, als Bewegungsorgan, als Wahrnehmungsorgan, als Inbegriff von Empfindung fungiert. […] Und umgekehrt läßt der gleiche Leib sich als Ding unter anderen betrachten.“ [WALDENFELS: Das leibliche Selbst, 249f.] Leib – Körper – Bedeutung, 2 1) 2) Andererseits können wir den Leib auch mit zusätzlicher Bedeutung aufladen: Das wir uns kleiden müssen, entspricht ja nicht allein einer natürlichen Notwendigkeit, sondern eröffnet auch „neue“ Weisen, den Leib zu präsentieren: Durch die Kleidung wird der Leib zur Ausdrucksfläche reflexiver Selbsterfassung und Bestimmung durch die Anderen (durch Rollenzuschreibungen z.B.). Durch die Präsentation des Leibes lenke ich auch den ‚Blick‘ der Anderen und damit die Zeichendiskurse, in denen ich vorkomme. Ich kann mich durch die ‚Darbietung‘ zum Gegenstand für andere machen und gleichzeitig mich als Gegenstand entziehen. 211 „Wir betrachten den Leib nie rein von außen, wir sind der Leib; auch der Andere ist der Leib, an dem ich auf gewisse Weise partizipiere. Wir haben es immer schon mit einer Selbst-differenzierung zu tun. Selbst wenn wir den Leib als Körper betrachten, so ist er ebenfalls daran beteiligt; er fungiert auf seiten des Beobachters – und sei es als der bloße Ort, von wo aus der Körper gemessen wird. Der Leib ist immer schon in unserem Rücken, wir können ihn nie so weit von uns wegrücken, daß wir sagen könnten: ‚Da drüben ist der Leib‘. […] Wir können das Ich nicht als Moment des Gesagten in die Welt versetzen; das Ich ist die Instanz dessen, der ‚Ich‘ sagt und eine Welt hat […] Ebenso ist der Leib beteiligt, wenn ich über ihn spreche; er läßt sich nicht nach außen verlagern und beobachten wie eine ferner Planet.“ [WALDENFELS: Das leibliche Selbst, 251.] Leib – Körper – Bedeutung, 3 Beispiele: 212 Zitat Zitat „Selbstbezug ist nur im Fremdbezug zu fassen. Und umgekehrt: der Leibbezug ist zu fassen als innerer Entzug. Die Rede von einem Leibkörper bedeutet nicht, daß der Leib als inneres Erleben einem äußeren Körper vorausginge, sondern in der Leiblichkeit selber, im leiblichen Erleben entzieht sich etwas, im Innen tritt schon ein Außen auf. Der Körper tritt nicht ergänzend hinzu, sondern die Körperlichkeit wird auf eine Weise selbst erlebt in dem Sinne, daß der Leib sich entzieht. Ein Beispiel wäre etwa die Müdigkeit, wo der Leib etwas Lastendes bekommt und seine Funktion nicht mehr voll erfüllt. Ein anderes Beispiel wäre eine Verletzung, bei der die Körperlichkeit erlebt wird als Leib, der seine Funktion nicht mehr ausübt, die er normalerweise übernimmt.“ [WALDENFELS, Bernhard: Das leibliche Selbst, 266.] „1. Der Leib ist im Unterschied zum visuell-taktil wahrnehmbaren Körper eine Gegebenheit eigener Art. 2. Der Leib ist nicht ein diffuses Bündel insignifikanter Erregungen, die beliebig in Diskurse integriert und dabei mit Bedeutung belegt werden können, sondern ein strukturiertes Gebilde, das als solches dazu geeignet ist, Bedeutungen zu tragen, also in zeichenhafte Verweisungszusammenhänge integriert zu werden. 3. Der Leib steht zum Körper in einem Verhältnis wechselseitigen Bedeutens. “ [LINDEMANN, Gesa: Zeichentheoretische Überlegungen, 151f.] Leib – Körper – Bedeutung, 4 a) b) Waldenfels spricht im Anschluss an Husserl vom Leib als der Umschlagstelle zwischen Natur und Kultur. Dieser eher technisch klingende Ausdruck vermittelt aber genau diese Transmissionsfunktion der Leibdimension: Meine* Natur wird mir (z.B. meine Hinfälligkeit, meine Bedürftigkeit etc.) in der Leibdimension bewusst. Meine Kultur schaffende Kreativität wird andererseits durch die Tatsache, dass der Körper als Leib sich mir gewissermaßen aufdrängt, ausgerichtet, bedingt, manchmal sogar gebremst. Die ‚Proportionen‘ von Kultur sind Proportionen, die sich an meiner Leiblichkeit orientieren. 215 Jenseits des Fleisches a) b) c) d) Durch die Schaffung von Kultur sind wir in der Lage, die vermeintlichen Grenzen unserer Leiblichkeit zu erweitern: Wir erweitern die Fertigkeit unserer Hände durch zahlreiche Technologien, die unseren Radius erweitern oder uns entlasten. Wir erweitern die Fertigkeit unserer Beine durch Mobilisierung, die uns weit über das hinaus führt, was wir auf der Basis unserer eigenen Physis leisten könnten. Wir erweitern die Möglichkeiten unseres Kontaktes durch elektronische Kommunikationsmedien, die eine neue Sphäre von Wirklichkeit (Virtualität) schaffen, die uns zu einem gewissen Grad von den Bedingungen unserer Physis entbinden. Wir erweitern auch die Dimensionen unseres Räsonierens durch Maschinen, die evtl. die nicht-fleischliche Alternative zu bewusstem Leben darstellen könnten. 216 Jenseits des Fleisches, Fußnote 1 Jenseits des Fleisches: Fragen Könnten wir uns vorstellen, vollkommen ohne biologisches Substrat zu existieren? Könnten wir uns vorstellen, unser Bewusstsein, in einen künstlichen Organismus zu transferieren? Könnten wir uns vorstellen, alle unsere Kontakte in einer virtuellen Welt zu führen, so dass wir uns von unseren biologisch-ökologischen Parametern weitgehend emanzipieren könnten? Könnten wir uns vorstellen 1000, 5000 oder 10000 Jahre alt zu werden? Was würde dies für die Modi unseres Menschseins bedeuten? Transhumanismus? 217 218 Jenseits des Fleisches, Fußnote 2 Der Leib und der Andere, 1 Virtuelle Realität? 219 Obwohl der Körper in der Leibdimension in die Ebene des Bewusstseins gehoben ist – und damit als mein* Leib präsent ist –, ist der Leib in seiner Widerständigkeit auch die Außenseite meiner Existenz. Durch die Leibdimension erfahre ich mich in meiner Passivität. Ich bin abhängig; ich bin gezwungen, mich um mich selbst zu sorgen. Die Leibdimension verweist auf Exteriorität als Grunddimension menschlichen Lebens. Denn auch der Andere begegnet mir primär in der Leibdimension – in der Überkreuzung meiner und seiner Leibdimension. Der Andere begegnet mit z.B. als Gesicht, das ich lese, um die Intention seines Blickes zu erahnen. 220 Zitat „Die Gleichzeitigkeit von Fremdbezug und Selbstbezug setzt allerdings eine gewisse Form der Fremdheit schon in mir selbst voraus. Die Frage nach dem Primat des Dialogs oder des Monologs liefert das klassische Beispiel für diese ganze Problematik. Die Frage lautet dann: Was ist eher, der Monolog oder der Dialog? Die Antwort würde so lauten: Im Monolog liegt immer schon ein Dialog vor, im Selbstgespräch liegt immer schon ein Fremdgespräch vor. Fehlt der Bezug auf Andere, so fehlt er nie völlig. Denn im Selbstgespräch zerteile ich mich selbst; indem ich mit mir selbst spreche.“ [WALDENFELS, Bernhard: Das leibliche Selbst, 285.] Der Leib und der Andere, 2 a) b) c) Paul Ricoeur hat die Dimension der Leiblichkeit durch den Hinweis auf das Leiden und Erleiden zu deuten versucht: Wir beschreiben des Leiden in Kategorien des Schmerzes. Schmerzen sind uns bewusst – und gleichzeitig wird uns an ihnen bewusst, was wir nicht ohne Weiteres steuern und beeinflussen können, dass wir ‚befindlich‘ und passiv sind. Wir reden über die Weise, wie wir in der Welt sind, auch als Erleiden. Im Erleiden erleben wir ebenfalls unsere Befindlichkeit, im Pathos und in den Leidenschaften drückt sie sich in umgekehrter Richtung (in der Form der Intentionalität, die sich auf Welt und Dinge ausrichtet) aus. In beiden Fällen ist der Andere immer schon Thema. Das Leiden und die Leidenschaften beziehen sich mehr oder weniger auf den Anderen. Im planen Leiden ist der nur als formales Prinzip gegenwärtig. In den Leidenschaften verdichtet sich der Andere für uns zu einem immer konkreteren Du. 222 Zitat „Um die Modalität der Andersheit, die dieser Passivität entspricht, spekulativ zu artikulieren, müßte man der Meta-Kategorie des Eigenleibes eine Spannbreite einräumen, die mit derjenigen, die das Leiden dem Erdulden gibt, vergleichbar wäre. In einer verschärften Dialektik von Praxis und Pathos wird der Eigenleib zum emblematischen Titel einer umfassenden Untersuchung, die über die bloße Jemeinigkeit des Eigenleibes hinaus die ganze Sphäre der intimen Passivität und daher auch der Andersheit bezeichnet, deren Gravitationszentrum er bildet.“ [RICOEUR, Paul: Das Selbst als ein Anderer, 285.] Alterität Die Philosophie der Gegenwart hat den durchaus herben Vorwurf erhoben, die Kategorie der Alterität nicht entsprechend gewürdigt zu haben. Der Andere als ‚Anderer‘ komme in der klassischen Philosophie nicht vor, sondern nur reduziert auf einen Modus des Selbst: a) Die traditionelle Philosophie sei eine Philosophie des Selbstbewusstseins – also meines Bewusstseins, in das der Andere nur als Gegenstand eindringt. b) Der Andere kann in dieser Sicht niemals in der ihm entsprechenden und adäquaten Weise als echter Anderer vorkommen – er bleibt ein bloßer Gegenstand, eine reine Außenstelle für ein am Ich aufgerichteten Bewusstsein. 224 Zitat Alterität und Freundschaft „Die abendländische Philosophie fällt mit der Enthüllung des Anderen zusammen; dabei verliert das Andere, das sich als Sein manifestiert, seine Andersheit. Von ihrem Beginn an ist die Philosophie vom Entsetzen vor dem Anderen, der Anderes bleibt, ergriffen, von einer unüberwindbaren Allergie. Aus diesem Grund ist sie wesentlich Philosophie des Seins, ist Seinsverständnis ihr letztes Wort und die fundamentale Struktur des Menschen.“ [LEVINAS, Emmanuel: Die Spur des Anderen, 211.] Derartige Anwürfe treffen eine gewissen Bereich der Philosophie, doch schon in der klassischen Philosophie war man sich – unter anderen Überschriften – der Alteritätsdimension bewusst. So sind zwei Aspekte bedeutsam: a) Eine Philosophie der Freundschaft wurde schon von Aristoteles entwickelt. b) Eine Philosophie der Liebe geht ihrerseits schon auf Platon zurück. Es mag sein, dass die Kategorie der Andersheit in der klassischen Philosophie noch nicht unter eben diesem Namen zugänglich war; in Spurenelementen kommen die Themen, die anthroplogisch mit der Kategorie ‚Alterität‘ verbunden sind, vor. 226 Alterität, anthroplogisch Paradoxie der Andersheit, 1 In einer Reflexion auf die Weise, wie sich unser Selbstbewusstsein vollzieht, stoßen wir sofort auf die Dimension der Alterität: a) Es ist nicht zu leugnen, dass Denken sich in Sprache vollzieht und dass Sprache wesentlich einen Dialog voraussetzt. b) Es stellt sich heraus, dass die am Leib erfahrbare Passivität, sich verlängern lässt hinein in ein Bestimmtwerden durch „den Anderen“ (erfahrbar am Phänomen der Geburtlichkeit). c) Es ist ebenfalls nicht zu leugnen, dass es ohne die (formale) Orientierung am Anderen den Bereich des Ethischen nicht gäbe: Was ich tun soll, das hängt im Grunde an der Frage, was ich wem tun soll oder nicht antun darf. 227 Der Andere ist der mir Gleiche. Diesen Grundsatz scheint besonders die klassische Philosophie beherzigt zu haben, so dass sie einen Freundschaftsbegriff entwickeln konnte, der darauf aufbaut. In der Unterstellung der Gleichheit scheint der Andere aber auch in einen Begriff gezwängt und in eine Identität mit mir und allem, was mir eigen ist, gezwungen zu sein. Der Andere ist aber auch der mir Fremde; er ist der, der mir buchstäblich gegenübersteht, den ich nicht vollkommen begreifen kann, der so ‚ganz anders‘ ist als ich selbst. Für mich ist der Andere beides zugleich: Ich gewahre seine Andersheit nur aufgrund seiner Gleichheit. Und doch bemerke ich in dieser Gleichheit seine vollkommene Andersheit von mir. Er ist auf eine ganz fundamentale Weise so wie ich; aber er ist nicht ich. 228 Zitat Paradoxie der Andersheit, 2 „Der Andere ist nicht anders im Sinne einer relativen Andersheit, wie in einem Vergleich der Arten […] Die Andersheit des Anderen hängt nicht von irgendeiner Qualität ab, die ihn von mir unterschiede; denn eine Unterscheidung dieser Art würde zwischen uns gerade jene Gemeinsamkeit der Gattung voraussetzen, die die Andersheit schon vernichtet. Und dennoch, der Andere leugnet nicht schlicht und einfach das Ich; die totale Verneinung, deren Versuchung und Versuch der Mord ist, weist auf eine vorgängige Beziehung. […] Der Andere bleibt unendlich transzendent, unendlich fremd – aber sein Antlitz, in dem sich seine Epiphanie ereignet und das nach mir ruft, bricht mit der Welt, die usnere gemeinsame Welt sein kann […]“ [LEVINAS, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit 277f.] a) b) c) Das Verhältnis von Bekanntheit versus Fremdheit induziert eine dialektische Verhältnisbestimmung zuwischen mir und dem Anderen; sie entlädt sich formal und konkretpraktisch in einem Ja oder Nein, in der Affirmation oder Negation des Anderen in seiner Andersheit. Die Schaffung menschlicher Institutionen kann als zusätzlicher konkreter Ausdruck der o.g. Paradoxie, als Domestizierung von Affirmation und Negation, als jeweiliger übergeordneter (und damit anonymisierter) Ausdruck von Affirmation oder Negation genommen werden. Philosophisch und anthropologisch bleibt zu fragen, ob Bekanntheit oder Fremdheit den eigentlichen Schwerpunkt oder die eigentliche Drift unseres Verhältnisses zum Anderen darstellen oder ob es hier um ein gleichursprüngliches Wechselverhältnis geht. 230 Paradoxie der Andersheit, 3 Illustration Die Paradoxie und die anthropologisch brisante Frage nach dem eigentlichen Schwerpunkt in der o.g. Paradoxie lässt sich in zwei konkurrierenden Urszenen veranschaulichen: a) Der Andere begegnet mir als Bekannter im Antlitz (und Lächeln) meiner Mutter, die auf vor-propositionale Weise schon immer als Andere erkannt und anerkannt habe. b) Der Andere begegnet mir als Fremder und Bedrohung im Antlitz von Feinden, vor denen ich mich auf vor-propositinale Weise immer schon ängstige, selbst dann, wenn sie noch keine konkrete Kontur haben. Urszenen 231 232 Zitat Zitat „Man kann den Andern […] nicht als regulativen Begriff qualifizieren. Zwar entgehen auch Ideen, wie zum Beispiel die Welt, grundsätzlich meiner Erfahrung: aber wenigstens beziehen sie sich auf sie und haben Sinn nur durch sie. Der Andere dagegen bietet sich in einem gewissen Sinn als die radikale Negation meiner Erfahrung dar, denn er ist der, für den ich nicht Subjekt, sondern Objekt bin. Als Erkenntnissubjekt bemühe ich mich also, dasjenige Subjekt als Objekt zu bestimmen, das meinen Subjektcharakter leugnet und mich seinerseits als Objekt bestimmt.“ [SARTRE, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, 417.] „Am Anfang des Problems der Existenz des Andern gibt es eine fundamentale Voraussetzung: der Andere ist tatsächlich der andere, das heißt das Ich, das ich nicht ist; wir erfassen hier also eine Negation als konstitutive Struktur des Anderer-seins. […] Der andere ist der, der nicht ich ist und der ich nicht bin. Dieses nicht zeigt ein Nichts als gegebenes Trennungselement zwischen dem Andern und mir selbst an. Zwischen dem Andern und mir selbst gibt es ein Trennungs-Nichts. Dieses Nichts leitet seinen Ursprung weder von mir selbst noch vom Andern oder von einer Wechselbeziehung zwischen dem Andern und mir selbst her; sondern es ist im Gegenteil ursprünglich die Grundlage jeder Beziehung zwischen dem Andern und mir als primäres Fehlen einer Beziehung.“ [SARTRE, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, 420f.] Zitat „Sobald der Andere nicht durch sein Sein auf mein Sein einwirken kann, ist demnach die einzige Art, in der er sich mir enthüllen kann, meiner Erkenntnis als Objekt zu erscheinen. Darunter ist aber zu verstehen, daß ich den Andern als die Vereinigung konstituieren muß, die meine Spontaneität eine Verschiedenheit von Eindrücken aufzwingt, das heißt, daß ich der bin, der den Andern im Feld seiner Erfahrung konstituiert.“ [SARTRE, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, 422f.] Paradoxie der Andersheit, 4 Für Jean-Paul Sartre ist der Andere als Anderer unerreichbar und daher (als Anderer) sozusagen unerkennbar. Noch mehr: Der Andere ist insofern eine Bedrohung für mich, als er genau das tut, was ich mit ihm tue: Ich verobjektiviere den Anderen, so wie der Andere mich verobjektiviert. Aus meiner Ich-Perspektive heraus kann ich den Anderen als Anderen gar nicht wahrnehmen (allenfalls in der Negation: Nicht-Ich zu sein, was ihm aber nur den Status des Fremden einräumt). Aber auch für den Anderen kann Ich als ich nicht vorkommen, sondern nur als ‚etwas‘. Im Blick, den der Andere auf mich richtet, bin ich in meinem Eigenrecht schon hinterfragt und im Grunde bedroht. Der Blick verobjektiviert. Für Sartre ist dies Situation prinzipiell ausweglos. Philosophisch lässt sich aber fragen, ob ich den negativen Grundton im Verhältnis zum Anderen nicht doch überwinden kann. 236 Zitat Über mich hinaus …, 1 „Aber die ursprüngliche Beziehung von mir selbst zum Andern ist nicht nur eine abwesende Wahrheit, die über die konkrete Anwesenheit eines Objekts in meinem Universum anvisiert wird; sie ist auch ein konkreter alltäglicher Bezug, dessen Erfahrung in ich jedem Augenblick mache: in jedem Augenblick sieht mich der Andere an […].“ [SARTRE, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, 465.] Gibt es einen Möglichkeit, mein Verhältnis zum Anderen in Begriffen zu denken, die uns nicht allein eine negative Auskunft über den Inhalt oder die Intention dieses Verhältnisses geben? a) In einer ersten Analyse lässt sich zeigen, dass Selbstbewusstsein ohne Sprachlichkeit nicht zu Inhaltlichkeit führt. Sprachlichkeit braucht den Anderen als Anderen. Meine Leiblichkeit erzeugt einen ‚intentionalen Raum‘, in dem der Andere als Anderer vorkommen kann. Er taucht nicht einfach in diesem Raum auf: Er kommt vielmehr ‚in den Blick‘. Die Art und die Richtung dieses Blicks ist durch meine Leiblichkeit bestimmt. Der Andere ist in dieser Blickrichtung nicht einfach der, der mich negiert oder den ich (durch meine epistemischen Kräfte) erst konstituieren muss. b) 238 Über mich hinaus …, 2 Über mich hinaus …, 3 In der Dimension meiner Leiblichkeit wird mir schon mein Orientiertsein am Anderen bewusst: In meinem Leiden und in meinen Leidenschaften ist der Andere für mich schon Thema. Eine genauere Analyse des Phänomens der Liebe lässt aber noch weitaus mehr zu: Hier offenbart sich meine Außenorientierung. Nicht nur meine Liebesbedürftigkeit verweist mich an den Anderen. Es ist gerade meine Liebesfähigkeit, die die (möglicherweise immer mit gegebenen) negativen Untertöne im Verhältnis zum Anderen grundsätzlich überwindet. In der Logik Hegels (vgl. seine Philosophie der Religion) heißt Liebe, die Möglichkeit zu haben, als Selbst ganz beim Anderen seiner Selbst zu sein, um sich beim Anderen ganz zu finden. Natürlich ist diese Orientierung am Anderen (im Sinne einer Selbstfindung im Anderen) gefährdet – sie ist durch mich selbst und durch den Anderen gefährdet. ABER: Sie entspricht einer genuinen Sehnsucht, die ihrerseits eine Dimension menschlicher Existenz darstellt, in der ich mich erfahre, wahrnehme und erspüre. 239 a) b) c) d) Die Sehnsucht nach dem Andere, die in der Liebe am konkretesten wird (eine Sehnsucht, die sich als Liebesbedürftigkeit und Liebesfähigkeit zeigt), konstituiert damit auch das Feld des Ethischen: Das Ethische ist also mehr als nur ein Feld der Gestaltungsregeln für die negative Abgrenzung zwischen mir und dem Anderen (im Sinne brachialer Vorfahrtsregulierungen, um Anarchie zu vermeiden), Das Ethische ist auch nicht nur das Resultat eines Eingeständnisses, das besagt, dass der Andere in seiner Negativität mich so anspricht, dass ich diesem Anspruch (nolens, volens) gehorchen muss. Dass Ethische ist vielmehr jenes Feld, das aus meiner ‚liebesbefähigten‘ Orientierung am Anderen entspringt – aus meiner Sorge um den Anderen, die in der Sorge um mich selbst in einer ganz natürlichen Weise mit angelegt ist. Von daher ist es legitim, philosophisch zu fragen, ob Furcht und Pflicht oder Fürsorge, Mitleid und Liebe die eigentlichen Triebfedern ethischen Handelns sind. 240 Über mich hinaus …, 4 Eine fundamentale Ethik der Alterität Für Sartre ist der Andere die Begrenzung meiner (formal als solipsistisch) vorgestellten Freiheit. Diese Freiheit wird primär negativ qualifiziert. Auch für Levinas bleibt ein negativer Unterton bestehen; gleichwohl lässt sich von ihm her sagen, dass meine Freiheit darin aufgeht, sich an den Anderen zu „binden“ und „von ihm gebunden“ zu werden. Ein alternatives Konzept kommt aus Teilen der klassischen und idealistischen Tradition: Meine Freiheit ist nicht allein negativ qualifiziert (als Freiheit von), sondern hat eine positive Dimension (als Freiheit zu) In dieser Hinsicht findet meine Freiheit ihre Erfüllung gerade in anderer Freiheit: in der Anerkennung durch andere Freiheit. Der Kampf um Anerkennung ist (lediglich) die negative Möglichkeit einer positiven Grundausrichtung: mich vom anderen in meiner Freiheit anerkannt und dadurch frei gelassen zu werden. a) b) c) a) b) c) d) Wenn das Verhältnis zum Anderen eine primär positive Bedeutung hat, lässt sich mit der Eröffnung des ethischen Raumes auch eine Eröffnung des ethischen Sollens (in Hinsicht auf seinen Richtungssinn) formulieren: Wenn meine Freiheit ihre Erfüllung nur in anderer Freiheit findet, dann gilt dies in reziproker Weise für mich und für den Anderen. Wenn diese Freiheit die formale Bedingung für mein praktisches (und theoretisches) Selbstverhältnis ist, dann ist der Bezug zu anderer Freiheit auch das unbedingte Richtmaß meiner eigenen Freiheit. Daher kann gelten, dass die Anerkennung anderer Freiheit und die Ermöglichung anderer Freiheit (als Bedingung der Möglichkeit für die Realisierung meiner eigenen Freiheit) das oberste ethische Richtmaß darstellt. Daraus lässt sich folgern, dass unser Tun prinzipiell so geartet sein muss, dass wir unsere eigene Freiheit und die Freiheit der/des Anderen fördern. 241 Der Andere und das Gewissen, 1 a) b) Von Paul Ricoeur und Emanuel Levinas wird die Frage diskutiert, ob das Gewissen nicht als Stimme des Anderen in mir gedeutet werden könne. Auch wenn die in dieser Frage mitschwingende These etwas weit ausholt, so kann man im Phänomen des Gewissens auf jeden Fall das bestätigt sehen, was oben die formale Orientierung am Anderen und auf den Anderen hin bezeichnet wurde: Das Gewissen ist Ausdruck eines in die Dimension des Selbstbewusstseins gehobenen fundamentalen Ausrichtung am Anderen. Im Gewissen spiegeln sich Modi des menschlichen Daseins, die diese Orientierung am Anderen bestätigen und gleichzeitig perspektivisch anreichern. 243 242 Zitat „Diese letzte Zweideutigkeit, was den Status des Anderen im Phänomen des Gewissens anbetrifft, ist vielleicht das, was letzten Endes zu wahren ist. In der Freudschen Metapsychologie wird sie in einem klaren und eindeutigen anthropologischen Sinn entschieden: Das moralische Gewissen ist ein anderer Name für das Über-Ich, das sich auf die […] Identifikationen mit den Eltern- und Ahnenfiguren reduziert. So deckt sich die Psychoanalyse […] mit manchen volkstümlichen Glaubensüberzeugungen, denen zufolge sich die Stimme der Ahnen unter den Lebenden immer noch Gehör verschafft und auf diese Weise nicht nur die Weitergabe der Weisheit, sondern ihre innere Rezeption auf jeder Stufe gewährleistet.“ [RICOEUR, Paul: Das Selbst als ein Anderer, 424.] Zitat Der Andere und das Gewissen, 2 Darüber hinaus lässt sich sagen: a) Wir erfahren im Gewissen das Aufgefordertsein genauso wie das In-der-Pflicht-Sein oder das Versprochen-Haben. Im Gewissen wird uns die Bezüglichkeit des Anderen auf uns selbst (in der Unvertretbarkeit von uns selbst) noch einmal bewusst. b) Auch psychologische Reduktionen (das Gewissen als Stimme des Über-Ich bei S. Freud) bestätigen noch einmal, wenn auch indirekt, die Tatsache, dass das Gewissen die Orientierung auf den Anderen als ethische Dimension im Feld des Selbstbewusstseins zum Ausdruck bringt. „Gegen diese genetische […] Erklärung läßt sich einwenden, daß sie das Phänomen der Aufforderung und – mehr noch – Schuld nicht erschöpft. Wenn nicht, einerseits, das Selbst bereits ursprünglich als Empfangsstruktur für die Sedimentierungen des Über-Ich konstituiert wäre, so wäre die Verinnerlichung der Stimmen der Ahnen undenkbar. Das Ich, als ursprüngliche Instanz, könnte nicht einmal seine Vermittlungsfunktion ausüben, oder besser: seine Funktion eines Unterhändlers […].“ [RICOEUR, Paul: Das Selbst als ein Anderer, 424.] 245 Zitat „In der Zeit und selbst zeitlich zu sein, gehört zum Dasein des Menschen wesentlich und unaufhebbar. Umso tiefer ist in der menschlichen Natur die Sehnsucht nach Freiheit von der Zeit verwurzelt. Wenn wir aber, solange wir in dieser Welt leben, an Zeit gebunden sind und bleiben, müssen wir uns fragen, ob Freiheit von der Zeit nur ein leerer Gedanke ist. Wohl beschreiben Mytiker ein Sich-Versenken in die raum- und zeitlose Tiefe des Nichts. Aber wir wissen nicht, ob es derlei gibt, müssen wir doch sogar bezweifeln, daß es Sinn macht, von etwas wie dem Nichts zu sprechen. Wohl verweisen Idealisten auf die Reflexion. Aber wenn Reflexion auch Freiheit gewährt – Freiheit von der Zeit gewährt sie sicherlich nicht.“ [THEUNISSEN, Michael: Negative Theologie der Zeit, 285.] Die Erfahrung der Zeit, 1 Als Mensch erfahren wir unsere Zeitlichkeit schon an der Weise, wie wir auf ‚das Ich‘ Bezug nehmen (oder eben nicht stabil Bezug nehmen können). Die Zeit wird zum Problem in der EPP: Wenn das Ich immer nur ‚instantan‘ und momenthaft in Erscheinung tritt, wer garantiert dann meine Identität durch die Zeit? Die Identitätsfrage wird in der Dimension der Zeitlichkeit zur Frage nach den Bedingungen meiner Kontinuität durch die Zeit. Meine EPP kann meine Einzigartigkeit garantieren – nicht aber dafür aufkommen, dass der, der ich gestern war, derselbe ist wie der, der ich jetzt (im Moment) bin. 248 Die Erfahrung der Zeit, 2 a) b) Die Erfahrung der Zeit, 3 Die Zeitmodi der Vergangenheit und Zunkunft gehören unaufhebbar zu unserer Zeiterfahrung (wobei mit dieser Aussage philosophisch noch nichts darüber ausgesagt ist, ob dieser Erfahrung auch eine passgenau entsprechende Realität gegenüber steht, d.h. ob Zeit selbst eine Wirklichkeit ist). Vergangenheit und Zukunft korrespondieren Erinnerung und Antizipation/Imagination. Ein nicht geringer Teil unseres bewussten Lebens ist geprägt und gefärbt von genau diesen beiden Dimensionen geistiger Bezugnahme – der des Erinnerns und der Antizipation. Wir erfahren Zeit nicht mechanisch – und auch nicht einfach als Maßeinheit oder Gleichmaß, sondern eben in den ‚Intentionalitätsrichtungen‘, auf denen später Erinnern oder Antizipation aufruhen: Wir erfahren Vergangenheit in der „Rückschau“ oder im „Vergewissern“, aber auch im Bereuen oder Entsetzen. Wir erfahren Zukunft im Ersehnen, Erhoffen, Sorgen und Befürchten. a) b) Die Erfahrung der Zeit kann eine je eigene Färbung annehmen. Nicht nur der Rückbezug oder Vorausbezug ist gefärbt (und kann sich als Rückschau, Bereuen etc. hier oder als Antizipation, Sorge oder Befürchten) entladen, auch unser reflexives Selbstverhältnis kann geprägt sein von Färbungen des SichBeziehens auf Vergangenheit und Zukunft: Wir können in Hinsicht auf Vergangenheit von Melancholie oder Nostalgie sprechen und darin (mehr philosophisch als psychologisch) eine bestimmte Weise der reflexiven Interpretation des Verhältnisses zur Vergangenheit erblicken. Hier wird die Vergangenheit eigentlich ersehnt (und mit Attributen bedacht, die der Zukunft angehören). Wir können in Hinsicht auf die Zukunft von Furcht und Depression sprechen und dabei ebenfalls eine bestimmte Weise der Interpretation des Verhältnisses zur Zukunft erfahren. Hier wird die Zukunft als etwas, was nicht sein sollte oder als verstörend angesehen wird, erfahren und mit Attributen bedacht, die eher auf Vergangenes zutreffen könnten. Die Furcht kann eine in die Zukunft gerichtete Reue sein. 249 250 Zitat „In einem anderen Sinn von Versperrung ist indes auch die in der Melancholie prospektiv wahrgenommene Zukunft versperrt. Sie ist es insofern, als ihre Gewißheit den Verlust ihrer Offenheit bedeutet. Den Verlust der Offenheit der Zukunft ein Versprechen der Zukunft selbst zu nennen, erscheint um so sinnvoller, als die Offenheit die spezifische Differenz des pathologisch unverzerrten Prospekts gegenüber jedem stets eingeschränkten Projekt ausmacht.“ [THEUNISSEN, Michael: Negative Theologie der Zeit, 239.] Zeit und Identität, 1 a) b) c) Weil unsere Identität wesentlich an die Zeit gebunden ist, ist die Frage nach unserer Identität durch die Zeit eine prekäre Frage. Wir können sie von einer Außenseite und einer Innenseite her stellen: Von der Außenseite her sehen wir uns als Lebewesen, die einen Körper haben, der über die Leiblichkeit in die Dimension des Bewusstseins ragt. Wir können daher nach den Bedingungen der Identität des Körpers durch die Zeit fragen. Von der Innenseite her erleben wir einen mäandrierenden Bewusstseinsstrom, der unterbrochen, ab- und umgelenkt werden kann, so dass wir uns nach dem Zusammenhang unserer Erinnerungen und nach der Kohärenz der erinnerten Inhalte fragen müssen, um auf diese (indirekte) Weise uns unserer eigenen Identität zu vergewissern. Die prekäre Identitätsfrage entspricht dabei sozusagen passgenau einem klassischen Prinzip: der vermittelten Unmittelbarkeit. Unsere Identität (durch die Zeit) ist uns nicht in unmittelbarer Weise versicherbar, sondern nur im vermittelnden Umweg über die Kontinuität unserer körperlichen Realisierung und im Umweg über die Kohärenz der von uns erinnerten Inhalte. 252 Zeit und Identität, 2 Zeit und Identität, 3 Aber in manchen Fällen (puzzlinig cases) können beide Kriterien nicht ausreichen, um uns eindeutig über unsere Identität zu informieren. An dieser Stelle kann der Andere – bzw. meine formal und inhaltlich gefüllte Beziehung zum Anderen – als Substitut für die Stabilisierung meiner Identität auftreten: Das Zeugnis des Anderen kann so zum integralen Bestandteil meiner Identitätsvergewisserung werden. Als Gedankenexperiment könnte man sich einen Amnesiepatienten denken, der nicht nur alle Detailerinnerungen verloren hat, sondern auch noch vergessen hat, wie er aussieht und welche körperliche Erscheinung er hat. Sein Ich-Bewusstsein und sein LeibSpüren allein werden ihm keine inhaltlich brauchbare Auskunft über seine Vergangenheit und die Möglichkeiten seiner Zukunft geben können. Hier tritt der Andere als Substitut auf. a) b) c) Die Beziehung zum Anderen ist aber nicht nur ein Identitätsmoment für den Grenzfall, sondern gerade auch ein konstitutives Element in all meiner inhaltlich gefüllten Bezugnahme auf mich selbst: Da ich die Vielfalt meiner zeitlichen Präsenzen nur in der Erzählung synthetisieren kann und da ich das Erzählen von mir brauche, um mir selbst ansichtig zu werden, da ein Erzählen von mir (formal und inhaltlich) nicht ohne den Bezug zum Anderen erfolgen kann, so dass ich mein Bild von mir immer schon im Spiegel des Bildes vom Anderen entwerfe, ist der Andere immer schon direkt und indirekt Thema der Erzählung, die ich von mir selbst mache, um mich selbst „anschauen“ zu können. Anschauung bedeutet in diesem Rahmen nicht nur Erfahrung, sondern das Vor-mich-Hinstellen des Disparaten und zeitlich Erstreckten als Einheit. Durch die Erzählung werde ich von der prekären, um Identität Ringenden Person zur Figur (m)einer Erzählung. 253 254 Zitat „Der entscheidende Schritt in Richtung einer narrativen Auffassung von Identität ist mit dem Übergang von der Handlung zur Figur getan. Eine Figur ist derjenige, der die Handlung in der Erzählung vollzieht. Die Kategorie der Figur ist also gleichfalls eine narrative Kategorie […]. Es stellt sich nun also die Frage, was die narrative Kategorie der Figur für die Diskussion personaler Identität leistet. Hier soll die These vertreten werden, daß die Identität der Figur als eine Übertragung der zunächst auf die Erzählhandlung angewandte Fabelkomposition auf sich selbst zu verstehen ist. Die Figur, so möchten wir sagen, wird selbst zum Gegenstand einer Fabelkomposition.“ [RICOEUR, Paul: Das Selbst als ein Anderer, 176.] Identität und Zeit 1. 2. Dadurch dass ich – über die Bezeugung durch Andere und in der Vermittlung durch die Erzählung, an der ich und die Anderen konstitutiv beteiligt sind und in die ich und der Andere konstitutiv einfließen – zur Figur meiner eigenen Erzählung und in den Erzählungen anderer werden, werden auch die Modi der Zeitlichkeit und die Weisen der Bezugnahme auf Vergangenheit und Zukunft für mich anschaulich: Die Rückschau kann den Charakter einer distanzierten Beobachtung annehmen, einer summarischen Darstellung von Episoden, eines Herausgreifens von Anekdoten, eines reumütigen Schilderns von Entscheidungen etc. In der Erzählung wird die Zeit für mich akzentuierbar und ich lege dem Geschehenen einen Erzählsinn bei (indem ich das Mannigfaltige in der Dimension der Folgerichtigkeit oder Intentionalität, aber auch der Friktionen etc. betrachten kann). Die Vorausschau kann den Charakter der lebendigen Imagination annehmen, indem ich Träume ausmale, Pläne anschaulich entwerfe, mich in antizipierten Kontexten ‚als Figur auftreten lasse‘ oder aber auch meine Befürchtung zum Ausdruck bringe etc. 256 Zitat „Diese Vermittlungsfunktion, die die narrative Identität der Figur zwischen den Polen der Selbigkeit und der Selbstheit ausübt, wird wesentlich durch die imaginativen Variationen bezeugt, denen die Erzählung diese Identität unterwirft. In Wirklichkeit duldet die Erzählung nicht allein diese Variationen, sie erzeugt sie und sucht sie immer wieder auf. In diesem Sinne erweist sich die Literatur als ein weiträumiges Laboratorium für Gedankenexperimente, in denen die Variationsmöglichkeiten narrativer Identität auf den Prüfstand der Erzählung gestellt werden. Der Gewinn dieser Gedankenexperimente besteht darin, daß sie die Differnez zwischen den beiden Bedeutungen der Beständigkeit in der Zeit ersichtlich machen, und zwar dadurch daß sie deren wechselseitiges Verhältnis variieren.“ [RICOEUR, Paul: Das Selbst als ein Anderer, 176.] Fußnote: idem und ipse Für Paul Ricoeur ist personale Identität durch die Zeit eine mehrfach überkreuztes, prekäres Verhältnis zwischen mir und mir selbst im Umweg über den Anderen, der mir das Erzählen von mir selbst möglich macht: Wenn ich nach meiner Identität frage, so frage ich nach dem Selbst als Punkt und Gravitationszentrum meiner Existenz – nach etwas, was sich mir so aufprägt, dass es mich einzigartig macht und jeden Abschnitt der Zeit, die ich erlebe, zu meiner Zeit macht. Wenn ich nach meiner Identität frage, so frage ich auch nach meiner Selbigkeit in der Zeit – nach Eigenschaften und Erinnerungsgehalten, die sich so verbinden, dass sie eine kontinuierliche Linie bilden. Wenn ich von mir erzähle, suche ich diese Linien narrativ abzubilden und gleichzeitig auf mich (ipse) zu beziehen. Identität ist demnach eine Überkreuzung von Ipse-Identität und Idem-Identität. 258