Macht und Gewalt ethnischer Politik

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Macht und Gewalt ethnischer Politik
Michael Portmann (Wien)
Rezension v. Brunnbauer, Ulf/Esch,
Michael G./Sundhaussen, Holm
(Hg.): Definitionsmacht, Utopie, Vergeltung. „Ethnische Säuberungen“
im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts. Berlin: LIT 2006, 301 pp.
Seit im Jahr 1992 im Zusammenhang mit den schrecklichen Ereignissen in Bosnien der Begriff „ethnische Säuberung“ erstmals auftauchte, ist eine ganze Reihe wissenschaftlicher Publikationen zu diesem modernen Phänomen erschienen. Auch in dem zur Besprechung vorliegenden Sammelband dürften die kriegerischen Auseinandersetzungen in Ex-Jugoslawien
Anlass dafür gewesen sein, sich auf wissenschaftlicher Ebene der Thematik anzunähern. Mit
Sicherheit haben diese Kriege illustriert, dass das der Vorstellung von Nationen als quasi biophysischen Einheiten inhärente Gewaltpotenzial noch nicht ausgeschöpft scheint.
In dem souverän und sensibel verfassten einleitenden Beitrag (Ulf Brunnbauer/Michael
G. Esch: Einleitung. Ethnische Säuberungen in Ostmittel- und Südosteuropa im 20. Jahrhundert, pp. 7-20) wird die Kausalität von Moderne, Nationalismus, ethnischer Nation („Kulturnation“) und „ethnischer Säuberung“ hervorgehoben. Obwohl die Verfasser betonen, dass
ein ethnisches Nationsverständnis nicht zwangsläufig zu ethnischen „Säuberungen“ führen
muss, räumen sie zumindest ein, dass ethnische „Säuberungen“ „am Horizont der nationalen Ideologien lagen, welche ihre Nation als homogene Volkskörper imaginierten.“ (p. 15)
Die seit dem späten 19. Jahrhundert und bis heute in vielen Köpfen herumgeisternde Vorstellung, Staaten hätten idealerweise „ethnisch rein“ zu sein, ist stets der ideologisch-politische Ausgangspunkt für Verbrechen unter ethnischen Vorzeichen. Während beim Völkermord die physische Vernichtung von Großgruppen eindeutig im Vordergrund steht, geht es
bei der „ethnischen Säuberung“ vielmehr darum, jegliche Spuren der unerwünschten Bevölkerung zu beseitigen, um Ansprüche auf ein der eigenen Ethnie zugedachtes Territorium zu
erheben. Diese Unterscheidung ist insofern von Bedeutung, „weil es ja nicht nur um die Konstatierung der tragischen Fakten gehen darf, sondern auch um die Klärung der strukturellen
Gründe, um solche Ereignisse in Zukunft zu verhindern.“ (p. 10)
Holm Sundhaussen erhebt in seinem ausgezeichneten Aufsatz (Einführende Bemerkungen: Wider Vertreibung als nationalen Erinnerungsort, pp. 21-31) die berechtigte Forderung, Vertreibung europäisch und nicht national zu erinnern, da „die […] kollektive Erinnerung an Vertreibung […] immer national oder völkisch aufgeladen ist und [gerade das] reproduziert […], was zur Vertreibung geführt hat.“ (p. 31) Wie schwierig dieser hehre Anspruch
indes umzusetzen ist, lässt sich nicht zuletzt an dem bis heute in Deutschland nicht gänzlich
entschiedenen Ringen um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ erkennen. Am Schluss des
Bandes kommen Rainer Ohliger (Flucht und Vertreibung als Migrationsgeschichte: Möglichkeiten und Grenzen einer neuen Deutung und Erinnerung, pp. 213-239), Piotr Madajczyk
(Das „Zentrum gegen Vertreibungen“, das polnische und deutsche historische Gedächtnis
und die polnisch-deutschen Beziehungen, pp. 240-280) und Peter Haslinger (Die Dynamik
der aktuellen geschichtspolitischen Debatten um „Flucht und Vertreibung“ in Zentraleuropa, pp. 281-301) in ihren drei Beiträgen noch einmal ausführlich auf diese Problematik
zurück.
Einen eher allgemein gehaltenen Beitrag zur Minderheitenproblematik liefert Hans Lemberg (Sind nationale Minderheiten Ursachen für Konflikte? Entstehung des Problems und
Lösungskonzepte in der Zwischenweltkriegszeit, pp. 32-48). Da sich sämtliche nach dem
Ersten Weltkrieg in Ost- und Südosteuropa neu errichteten Länder als „Nationalstaaten“
sahen, entstanden so zahlreiche „Minderheiten“. Zwischen der Mehrheits- und der Minderheitenbevölkerung (bzw. zwischen den jeweiligen Vertretern) kam es entlang des Ländergürtels von Finnland bis in die Türkei zu zahlreichen Problemen, die auch im Rahmen des
Minderheitenschutzes des Völkerbundes nur sehr bedingt gelöst werden konnten.
Onur Yıldırım (Repräsentation und Realität: Historiografie, nationale Meistererzählungen und persönliche Erfahrungen des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches von
1923, pp. 49-76) zeichnet mit beeindruckender Kenntnis der Literaturlage die Entwicklung
der griechischsprachigen Historiografie über den Bevölkerungsaustausch von 1923 nach. Eine
Gegenüberstellung mit der Geschichtsschreibung in der Türkei wäre in diesem Fall wünschenswert gewesen, hätte aber vermutlich den Rahmen seines Textes gesprengt.
Im Gegensatz zum sehr faktenreichen, aber etwas blassen Beitrag von Detlef Brandes (Die
Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei. Pläne,
Entscheidungen, Durchführung 1938–1947, pp. 77-95), in dem er als Hauptmotive der Vertreibung der Deutschen „den Wunsch nach Vergeltung und das Streben nach einem national
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Michael Portmann (Wien)
homogen Staat“ (p. 91) ausmacht, wagt Michael G. Esch („Ethnische Säuberungen“ zwischen
Deutschland und Polen 1939 bis 1950: Überlegungen zu ihrer Genese und Einordnung, pp.
96-124) den berechtigten Vergleich zwischen der nationalsozialistischen und der sich unmittelbar daran anschließenden polnischen Bevölkerungspolitik. Er stellt dabei die alles entscheidende Frage, wie die Behörden die Angehörigkeit zu einer Ethnie objektiv feststellen
können. Die zu diesem Zwecke erstellte „Deutsche Volksliste“ bezeichnet er als Instrument
einer „positiven Selektion“, da es weniger um den Ausschluss „volksfremder“ Elemente sondern um die möglichst vollständige Erfassung der deutschen „Rasse“ ging. Ein „Volkstumswechsel“ (bzw. eine „Wiedereindeutschung“) war daher zumindest bei „Polen“ (und anderen „Slawen“) grundsätzlich möglich. Nicht jedoch bei den „Juden“, wo es „theoretisch und
praktisch keine Grauzone [gab], die Deutungsmöglichkeiten offengelassen hätte.“ (p. 109)
Im Unterschied zu dieser biologistisch-pragmatischen „Rasseneinteilung“ des nationalsozialistischen Deutschlands setzte man im kommunistischen Polen lieber auf soziologisch-politische Merkmale, um Polen von Deutschen zu trennen: Theoretisch war das Verhalten zur
Besatzungszeit mitentscheidend, ob von einer Zugehörigkeit zur polnischen Nation ausgegangen werden konnte. Ähnlich jedoch wie unter Hitler konzentrierten sich die sog. Verifizierungskommissionen ebenfalls „weniger auf die Aussonderung Unerwünschter als vielmehr auf die Verschonung potenziell Erwünschter vor Deportation oder Zwangsarbeit.“ (p.
119) Die grundsätzliche Unmöglichkeit einer ethnischen Fremdzuschreibung führte in beiden
Fällen zu einer mehr oder weniger Leid verursachenden Willkür der Machthaber gegenüber
der Bevölkerung.
Marie-Janine Calic (Die „ethnischen Säuberungen“ im ehemaligen Jugoslawien, pp. 125–
143) analysiert kenntnisreich die historischen und juristischen Hintergründe, die Ziele, Methoden, Ergebnisse und Folgen der ethnischen „Säuberungen“ auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien. Zu Recht bezieht sie sich auf den früheren UNO-Sonderberichterstatter
für Jugoslawien, Tadeusz Mazowiecki, der damals betonte, dass die „Säuberungen“ „nicht
lediglich Begleiterscheinung und Ergebnis, sondern vielmehr auch Ziel des jugoslawischen
Nachfolgekrieges“ waren (p. 129).
Einen methodisch gänzlich anderen Zugang als Calic wählte Natalija Bašić (Die Akteursperspektive. Soldaten und „ethnische Säuberungen“ in Kroatien und Bosnien-Herzegowina
[1991–1995], pp. 144-168). Die von ihr durchgeführten qualitativen biografischen Interviews
mit Kriegsdienstleistenden der Jahrgänge 1960–1974 dienten bewusst nicht der Suche nach
historischen „Wahrheiten“, sondern dem Erfassen von „Realitäten derer, die Gewalthandlungen begangen haben.“ (p. 146) Auf Grund der gänzlich anderen retrospektiven Wahrnehmung von ihren Kriegshandlungen unterscheidet Bašić zwei Handlungstypen: Einerseits die
„unwilligen Vollstrecker“ und andererseits die „Freiwilligen“. Während Erstere „rein zufällig
oder spontan […] in bewaffnete Auseinandersetzungen und den Krieg ‚hineingeschlittert‘ […]
wurden“ (p. 166), machten sich die „Freiwilligen“ noch „eher Vorstellungen über Feindbilder
und Bedrohungen“ (p. 166). Bašić kommt auf Grund der Interviews zum erschreckenden aber
wohl glaubwürdigen Befund, dass die Menschen von der „ethnischen Säuberung“ gewusst
haben mussten.
Die wieder der klassischen Ereignisgeschichte zuzuordnenden Texte von Andrea Friemann
(„Brennpunkt Krajina“. Ethnische Säuberungen im Kroatien der neunziger Jahre, pp. 169–
186) und Carolin Leutloff-Grandits (Die schwierige Rückkehr serbischer Kriegsflüchtlinge
nach Kroatien [1995–2005], pp. 187-212) beschreiben sachlich-nüchtern zwei wichtige – in
der Historiografie und Gesellschaft Kroatiens erst ansatzweise aufgearbeitete – Aspekte aus
der jüngsten Geschichte des Landes. Friemann plädiert zu Recht dafür, die Auseinandersetzungen zu Beginn der 1990er Jahre insbesondere auch vor dem Hintergrund immer unverhohlener ausgetragener Macht- und Verteilungskämpfe zu bewerten (p. 174). Nationalistische Symbolik und der einseitige Rückgriff der Eliten auf die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg
vermochten die Massen in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten national zu mobilisieren.
Leutloff-Grandits geht auf die Gründe für die Schwierigkeiten der Rückkehr des serbischen
Bevölkerungsteils nach Kroatien ein. Es sind ideologische, politische, legale, administrative,
sozio-ökonomische und nicht zuletzt psychologische Hürden, die sowohl von den serbischen
Rückkehrern als auch den kroatischen Alt- bzw. auch Neusiedlern überwunden werden müssen, um ein lebenswertes wenn (noch) nicht Mit- dann zumindest Nebeneinander zu ermöglichen.
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Macht und Gewalt ethnischer Politik
Michael Portmann (Wien)
Den Herausgebern und den AutorInnen ist insgesamt hohes Lob zu zollen: Die Beiträge
sind nicht nur allesamt informativ und objektiv, sondern regen mehrheitlich auch zur Reflexion über die Gefahren an, die mit der politischen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt wissenschaftlichen Verwendung ethnischer Kategorien verbunden sind. Und dies ist eine der Voraussetzungen dafür, um in der Diskussion um die Rolle von moderner, nach wie vor national
geprägter Geschichte und Geschichtswissenschaft einen sachlichen Beitrag zu leisten.
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