GRIFF NACH DER WELTMACHT Wehrmachttruppen beim Vormarsch in Polen (1939): Leichte Triumphe über schwache Gegner ULLSTEIN BILDERDIENST Hitlers Blitzkriege Polen ist in 37 Tagen erobert; Frankreich unterwirft sich nach 42 Tagen. Nach seiner Machtübernahme 1933 hat Adolf Hitler nur siebeneinhalb Jahre gebraucht, um Deutschland zur Hegemonialmacht Europas zu machen. Doch die schnellen Siege bergen schon den Keim der späteren Niederlage in sich. E s ist der Nachmittag des 21. Juni 1940, als Adolf Hitler in Compiègne nordöstlich von Paris eintrifft. Der Diktator will der Unterwerfung Frankreichs persönlich beiwohnen und hat befohlen, dass für die symbolträchtige Zeremonie jener Eisenbahnwaggon aus dem Museum geholt wird, in dem Matthias Erzberger im November 1918 die deutsche Niederlage anerkannt hatte. Als er die von den Franzosen zur nationalen Wallfahrtsstätte ausgebaute Waldlichtung betritt, entdeckt Hitler einen Granitblock mit der Inschrift: „Hier scheiterte am 11. November 1918 der verbre- 26 cherische Hochmut des Deutschen Kaiserreichs, besiegt durch die freien Völker, die zu unterjochen es sich anmaßte.“ Hitler ordnet an, den Gedenkstein zu schleifen. Während der Zeremonie wird die Präambel des Waffenstillstandsvertrags verlesen. Darin ist von der „Entehrung und Erniedrigung“ Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg die Rede, auch von der „tiefsten Schande aller Zeiten“, die jetzt endlich getilgt werde. Drei Tage nach der Kapitulation fliegt Hitler nach Paris, um mit seinem Chefarchitekten Albert Speer eine geheime S P I E G E L S P E C I A L 2 / 2 0 0 5 Sightseeing-Tour durch die kampflos eingenommene französische Hauptstadt zu unternehmen. An den Besuch im Invalidendom erinnert sich Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffmann später so: „Stumm und andächtig stand er vor dem Sarkophag Napoleons. Was ging in ihm vor? Zog er Parallelen zwischen sich und dem Mann, der Europa beherrscht hatte? Als sich Hitler endlich aus der Verzauberung löste, sagte er tief ergriffen: ,Das war der größte und schönste Augenblick meines Lebens!‘“ Der Frankreich-Eroberer steht nach siebeneinhalb Jahren Kanzlerschaft auf dem Reich verpflichten, seine tator erzielte – bevor ihn Armee auf höchstens Reichspräsident Paul von 100 000 Mann ohne Panzer Hindenburg am 30. Januar und Luftwaffe zu begren1933 zum Reichskanzler zen. ernannte. Das Sprengen der „FesDer Aufstieg Hitlers seln von Versailles“ zählte zum Regierungschef, der fortan zum propagandistiselbst Propagandachef Joschen Standardrepertoire seph Goebbels wie ein der Nationalsozialisten. „Märchen“ vorkam, war Auch Winston Churchill zweifelsohne nur in einem war früh klar, dass der VerLand möglich, das mit sailler Vertrag keine dauMassenarbeitslosigkeit und ernde Grundlage für Friepolitischer Instabilität geden in Europa sein konnte. schlagen war. Aber wie Deutschland sei „eine viel konnte es die Wehrmacht stärkere Einheit als Frankzuwege bringen, zunächst reich“, schrieb er 1924, Polen und dann das gut„und kann nicht permagerüstete Frankreich so nent unterjocht werden“. schnell zu besiegen? Hitler erklärte schon in Es war nicht allein die einer seiner ersten Kabimoderne Kriegstaktik, die nettssitzungen im Februar in einem neuartigen Zu1933, dass die Zukunft sammenspiel von LuftwafDeutschlands ausschließfe, Panzerverbänden und Hitler in Paris (im Juni 1940) lich vom Wiederaufbau Infanterie bestand. Hitlers Nerven verloren der Streitkräfte abhänge. Erfolge waren auch darin begründet, dass er die Auflagen des Ver- Er war allerdings nicht der alleinige Vater sailler Vertrags skrupellos missachtet hat- der Aufrüstung. Auf Weisung von General te. Die Siegermächte des Ersten Welt- Hans von Seeckt hatten Stabsoffiziere der kriegs wollten, angetrieben von der fran- Reichswehr bereits 1923 einen hochgezösischen Regierung, mit dem 1919 in Ver- heimen Plan entworfen, der den Aufbau sailles abgeschlossenen Vertrag ein für alle eines Heeres mit 102 Divisionen und Mal den preußisch-deutschen Militarismus 2,8 Millionen Mann vorsah. Auch der Bau von Panzern war projekbändigen. Neben sehr hohen Reparationszahlungen musste sich das Deutsche tiert worden; ab 1929 erprobten Reichs- HUGO JAEGER / TIME LIFE / GETTY IMAGES TIME LIFE / GETTY IMAGES Höhepunkt seiner Popularität. Als er bei der Rückkehr nach Berlin in seinem offenen Mercedes vom Anhalter Bahnhof zur Neuen Reichskanzlei fährt, jubeln ihm Hunderttausende zu. Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, General Wilhelm Keitel, ruft ihn zum „Größten Feldherrn aller Zeiten“ aus. Überall in der Reichshauptstadt wehen Hakenkreuzfahnen. Die Deutschen stehen nahezu geschlossen hinter ihrem „Führer“. Er hat es geschafft, so räumen selbst Anhänger der Kommunisten und Sozialdemokraten ein, den verhassten Vertrag von Versailles zu revidieren. Der deutschen Wehrmacht ist es gelungen, mit beeindruckender Geschwindigkeit Polen, Dänemark, Norwegen, Luxemburg, die Niederlande, Belgien und Frankreich niederzuwerfen. Die deutsche Propaganda prägt das Wort vom „Blitzkrieg“. Die übrigen Staaten Europas sind neutral oder mit Nazi-Deutschland verbündet. Allein die Briten trotzen noch dem scheinbar unaufhaltbaren Aufsteiger aus dem österreichischen Braunau. Europa wird jetzt von einem Mann beherrscht, der die Realschule nicht beendet hat, der bei der Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie gescheitert und im Ersten Weltkrieg mangels Führungsqualitäten nicht über den Rang eines Gefreiten hinausgekommen war; ein hypochondrischer Vegetarier, der von 1920 bis 1930 Erfolge als nationalsozialistischer Bierkeller-Agi- Deutsche Infanterie in Versailles (1940): „Einer der erstaunlichsten Feldzüge in der Geschichte des Krieges“ S P I E G E L S P E C I A L 2 / 2 0 0 5 27 GRIFF NACH DER WELTMACHT Militärisches Kräfteverhältnis in Europa zu Beginn des Zweiten Weltkriegs September 1939 Soldaten Schiffe gepanzerte Fahrzeuge Flugzeuge Polen Deutschland Ostfront 1,3 Mio. 1,5 Mio. 50 40 750 3600 900 1929 Mai 1940 Divisionen Geschütze Panzer Flugzeuge 104 10 22 8 144 141 10700 1280 1338 656 13974 7378 3063 310 10 1368 456 250 175 3099 5446 BPK Frankreich Großbritannien Belgien Niederlande zusammen Deutschland Westfront 3383 2445 F: nur Nordostfront, einschließlich Reserven und einer polnischen Division GB: auf den Kontinent verlegte Kräfte; zusätzlich 850 Flugzeuge im Mutterland Quelle: Militärgeschichtliches Forschungsamt Flugzeugmontage in den Augsburger Messerschmitt-Werken: Den Vertrag von Versailles skrupellos missachtet wehrexperten zusammen mit der Roten Armee auf geheimen Übungsplätzen in Kasan an der Wolga als Traktoren getarnte Panzerwagen-Prototypen von Daimler und Krupp. Gleich nach seiner Machtübernahme griff Hitler auf die Pläne der Reichswehrführung zurück und legte ein Rüstungsprogramm auf, mit dessen Hilfe sich auch die Massenarbeitslosigkeit abbauen ließ. Im Wehrgesetz, mit dem im Mai 1935 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde, hieß es: „Wehrdienst ist Ehrendienst am Deutschen Volke.“ Die Friedensstärke der Wehrmacht, wie sie ab 1935 hieß, legte Hitler, ohne die Generäle der Reichswehr zu konsultieren, auf 36 Divisionen mit 550 000 Mann fest. Im Gegensatz zu den meist konservativen Generälen zog Hitler die richtigen Schlüsse aus dem Ersten Weltkrieg, der in einen für Deutschland nicht zu gewinnenden Stellungskrieg mündete. Der Autodidakt, der gern militärische Fachliteratur studierte, konzentrierte sich daher auf den Aufbau einer schlagkräftigen Luftwaffe sowie auf die Entwicklung eigenständig operierender Panzerdivisionen und moderner Funktechnik. Die Politiker der demokratischen Länder Europas beobachteten die „nationale Wiedergeburt“ in Deutschland mit wachsendem Unbehagen. Gleichzeitig befanden sie sich im Einklang mit ihren Völkern, als sie einen neuen Krieg unbedingt zu vermeiden suchten: Briten und Franzosen zahlten im Ersten Weltkrieg einen sehr hohen Blutzoll. Sie hatten also gute Gründe, als sie die Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands durch Hitlers Truppen, den „An28 durch den Korridor, eine Autobahn sowie eine Eisenbahnlinie und die Rückkehr der Stadt Danzig ins Deutsche Reich, doch die polnische Regierung lehnte dies erwartungsgemäß ab. Bei den Bemühungen, Polen zu isolieren und Frankreich und Großbritannien von einer militärischen Intervention abzuschrecken, landete Hitler seinen größten diplomatischen Coup: Am 23. August 1939 konnte er den geheim ausgehandelten Abschluss eines Nichtangriffspakts mit der Sowjetunion bekannt geben. Bis heute ist umstritten, ob Hitler einen umfassenden Kriegsplan hatte oder ob er, von Rastlosigkeit getrieben, eher spontan, je nach den sich gerade ergebenden Möglichkeiten, einen Feldzug an den anderen reihte. Unstrittig ist allerdings, dass er zunächst einen Krieg gegen Großbritannien Die französischen Generäle befinden vermeiden wollte. Die Briten sich – im Gegensatz zu den deutschen – sah er als arische Rassegenossen, die mit ihrem ausgenicht bei den Kampftruppen. dehnten Empire einen unwar nicht klar, dass sie den Appetit des verzichtbaren globalen Ordnungsfaktor Diktators auf Eroberungen mit ihrem Ent- darstellten. Doch nach dem dreisten Bruch des gegenkommen nicht stillten, sondern nur weiter anregten. Und zu den unbestritte- Münchener Abkommens packte die Engnen Fähigkeiten Hitlers zählte, sofort jede länder eine grimmig-resignierte EntSchwäche seiner Gegner zu wittern und schlossenheit. Wenn es nicht anders gehe, werde man wohl wieder gegen die „Hunauszunutzen. Bereits zehn Tage nach der Besetzung nen“ in den Krieg ziehen müssen. Als der Druck Nazi-Deutschlands auf Prags durch die Wehrmacht im März 1939 und der „Erledigung der Rest-Tschechei“, Polen immer stärker wurde, schloss Prewie Hitler die Okkupation bezeichnete, mierminister Chamberlain im April 1939 befahl er dem Oberbefehlshaber des Hee- mit der Regierung in Warschau einen Beires, Walther von Brauchitsch, Pläne für standspakt. In Großbritannien kamen Reeinen Angriff auf den polnischen Nach- gierung und Volk zu der Überzeugung, barn ausarbeiten zu lassen. Von den Polen dass ein Verbrecher wie Hitler gestoppt verlangte er exterritoriale Transitstrecken werden müsse. Hätte es hierfür noch einer schluss“ Österreichs und die militärische Unterstützung Deutschlands für General Francisco Franco im Spanischen Bürgerkrieg nicht mit militärischen Mitteln beantworteten. Briten-Premier Neville Chamberlain und sein französischer Kollege Edouard Daladier glaubten, sie könnten den braunen Diktator durch Zugeständnisse von einem Krieg abhalten. Selbst als Hitler von der Tschechoslowakei die Abtretung des Sudetenlandes verlangte, nahmen sie dies Ende September 1938 auf der Münchner Konferenz hin. Sie glaubten Hitlers Versicherung, dass Deutschland keine weiteren territorialen Forderungen mehr habe. Offenbar hatten sie den ehemaligen Postkartenmaler nicht durchschaut. Ihnen S P I E G E L S P E C I A L 2 / 2 0 0 5 Begründung bedurft, dann lieferte sie der deutsche Diktator im Sommer 1939 selbst. Es war der letzte Augusttag des Jahres, als bei den an der Ostgrenze des Deutschen Reichs aufmarschierten Truppen der entscheidende Befehl einging: „Y = 1.9.4.45“. Am 1. September um 4.45 Uhr, bedeutete das, sollte der als „Fall Weiß“ geplante Überfall auf Polen beginnen. Im Morgengrauen eröffnete das ehemalige Linienschiff „Schleswig-Holstein“ das Feuer auf die polnische Exklave Westerplatte bei Danzig. Als kurz darauf deutsche Panzer über die Grenze rollten, trafen sie auf eine Armee, die zwar über elf Kavalleriebrigaden, aber nur über gut 500 veraltete Panzer verfügte. Und eine polnische Luftabwehr existierte allenfalls in Ansätzen. Kriegsminister Tadeusz Kasprzycki hatte es dennoch abgelehnt, defensive Operationen vorzubereiten: „Wir kennen nur die Offensive“, hatte er geprahlt, „und im Angriff werden wir siegen.“ Sobald die Wehrmacht vorgerückt war, stießen ihre schnellen Panzerverbände, unterstützt von Sturzkampfbombern, durch die polnischen Linien und zerstörten deren rückwärtige Verbindungen. Am Abend des ersten von insgesamt 2194 Tagen des Zweiten Weltkriegs saß Hitler im Musiksalon der Neuen Reichskanzlei in Berlin und verkündete seinem Hofstaat triumphierend immer neue Siegesnachrichten. Die Regierungen in London und Paris forderten sofort den Rückzug der deutschen Truppen, zwei Tage später stellten sie ein Ultimatum. Nachdem beides ohne Antwort geblieben war, erklärten sie am 3. September dem Deutschen Reich den Krieg. Chamberlain berief noch am gleichen Tag als Marineminister einen Mann in sein Kabinett, der wie kein anderer englischer Politiker stets vor Hitler und NaziDeutschland gewarnt hatte: Winston Churchill. „Es geht nicht darum, für Danzig zu kämpfen oder für Polen zu kämpfen“, erklärte der aus dem englischen Hochadel stammende Konservative, der bald zum wortmächtigsten und entschlossensten Gegner Hitlers werden sollte. „Wir kämpfen, um die gesamte Welt vor der Pestilenz der Nazi-Tyrannei zu retten und um all das zu verteidigen, was dem Menschen am heiligsten ist.“ Am gleichen Tag wie Großbritannien und Frankreich erklärten Australien, Neuseeland und Indien dem Deutschen Reich den Krieg. Kurz darauf folgten noch Südafrika und Kanada. Franklin D. Roosevelt hingegen äußerte in Washington die Hoffnung, dass Amerika neutral bleiben könne. „Ich habe Krieg gesehen“, so der USPräsident, „und ich hasse Krieg.“ Trotz ihrer Kriegserklärung wurden die Franzosen und Briten militärisch kaum aktiv. Die polnischen Streitkräfte waren deshalb auf sich gestellt. Der Rundfunkreporter William L. Shirer beobachtete die Eroberung der Hafenstadt Gdingen durch die Wehrmacht. Man habe den Eindruck, berichtete der Amerikaner, „als bewege sich die deutsche Armee mit der Präzision einer Maschine, wie eine Dampfwalze, allerdings eine schnelle“. Bei den Offizieren auf dem Beobachtungsposten sei Wehrmachtpanzer in Frankreich (1940): Die deutschen Angreifer sind so schnell, dass sogar Hitler Angst bekommt GALERIE BILDERWELT GRIFF NACH DER WELTMACHT „nicht der geringste Anschein von Erschöpfung oder Aufregung“ festzustellen. Sie erinnerten Shirer „an Trainer einer Football-Mannschaft, die gelassen am Rand des Spielfelds sitzen und beobachten, wie die Maschine ihrer Schöpfung die gestellte Aufgabe löst“. Angesichts der Überlegenheit der Wehrmacht mit ihren 1,5 Millionen Soldaten ergaben sich die letzten polnischen Verteidiger am 6. Oktober 1939. Am 17. September – dem Tag, an dem die polnische Regierung zunächst nach Rumänien ins Exil flüchtete – waren zudem noch Einheiten der Roten Armee in Polen einmarschiert. Entsprechend dem geheimen Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, das nicht einmal Hitlers Generälen bekannt war, besetzten sie den Osten des Landes. Die Mitte Polens wurde zum deutschen Generalgouvernement degradiert, der Westen ins Reich eingegliedert. Als „ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt“, charakterisierte der spätere Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg die Polen. Für die Wehrmacht hielten sich die Verluste in Grenzen. Weniger als 11 000 gefallenen deutschen Soldaten standen 70 000 polnische gegenüber. Deutscher Vormarsch auf Sedan Panik bei den Verteidigern Hitler hatte schon gut eine Woche vor dem Beginn des Feldzugs die „Vernichtung Polens“ als dessen Ziel benannt. Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamts, kündigte zwei Wochen später an: „Die führenden Bevölkerungsschichten Polens sollen unschädlich gemacht werden.“ Damit bliebe „der Pole“, so Heydrich, „der ewige Saisonund Wanderarbeiter“. Der Generalstabschef des Heeres, Franz Halder, notierte: „Flurbereinigung: Judentum, Intelligenz, Geistlichkeit, Adel.“ Hitler war nun kaum noch zu bremsen. Von dem schnellen und leichten Sieg über Polen beflügelt, wollte er sofort in Frankreich einmarschieren, doch seinen Generälen war bewusst, dass ihre Soldaten es in diesem Fall mit einer weitaus stärkeren Armee zu tun bekommen würden. Umstritten war deshalb auch, nach welchem Angriffsplan die Wehrmacht in Frankreich einfallen sollte. Das Oberkommando des Heeres (OKH) präsentierte eine Variante des von dem preußischen General Alfred Graf von Schlieffen entwickelten Plans, nach dem die Truppen durch Belgien vorstoßen sollten. Der Schlieffen-Plan hatte allerdings den großen Makel, dass er im Herbst 1914 gescheitert war, als der deutsche Vormarsch an der Marne gestoppt wurde und sich daraufhin der für den Ersten Weltkrieg charakteristische Stellungskrieg ent- Der „Sichelschnitt“ im Westen Beginn: 10. Mai 1940 NIEDERLANDE Amsterdam GROSSBRITANNIEN DEUTSCHES REICH Dünkirchen Brüssel Rhein BELGIEN Abbeville Ardennen Sedan Westwall Verdun FRANKREICH Paris Maginotlinie Seine 100 km wickelt hatte. Zudem bot er das geringste Überraschungsmoment. Diese Schwächen erkannte der ehrgeizige Generalleutnant Erich von Manstein, Stabschef der Heeresgruppe A. Bereits im Oktober 1939 entwickelte er in einer Denkschrift die Idee, mit starken PanzerRUE DES ARCHIVES Hitlers Blitzkriege NIEDERLANDE Kapitulation 15. 5. 1940 NORWEGEN Kapitulation 10.6.1940 Der PolenFeldzug DÄNEMARK Kampflos besetzt ab 9.4.1940 DEUTSCHES REICH BELGIEN Kapitulation 28. 5. 1940 Beginn: 1. September 1939 Königsberg Danzig Deutschsowjetische Demarkationslinie Ostpreußen Vorstoß der Roten Armee Weichsel POLEN Ende der Kampfhandlungen 6.10.1939 Warthe Warschau Lodz POLEN Oder Kartenausschnitt BrestLitowsk Bug Breslau Kartenausschnitt FRANKREICH Waffenstillstand 22. 6. 1940 DEUTSCHES REICH JUGOSLAWIEN Kapitulation 18.4.1941 Weichsel Krakau Lemberg 100 km FOTOS: WALTER FRENTZ / ULLSTEIN BILDERDIENST kräften in der Mitte der Front in den men „Amerika“ in seinem militärischen Panzerdivisionen zur Verfügung, die im Ardennen durchzubrechen, in Richtung Hauptquartier „Felsennest“ bei Münster- Schnitt jeweils über knapp 12 000 Mann, Kanalküste vorzustoßen und so die feind- eifel eintrifft, strahlt die Sonne – Hitler rund 400 Panzer und 3300 andere Fahrliche Hauptstreitmacht einzukesseln. Ge- schenkte seinem Chefmeteorologen später zeuge verfügen. Obwohl ihre motorisierten Vehikel anneral Heinz Guderian, der Panzerspe- als Dank für die präzise Prognose ein goleinander gereiht eine bis nach Ostpreußen zialist der Wehrmacht, und General Gerd denes Chronometer. Luxemburg, das keine Armee unterhält, reichende Kolonne ausgemacht hätten, von Rundstedt, Kommandeur der Heeresgruppe A, hielten den Plan für reali- fällt am ersten Tag. In den Niederlanden überwinden die Panzertruppen die Arbesetzen Fallschirmjäger, die zu Tausen- dennen und stehen drei Tage nach dem sierbar und unterstützten ihn. Der Oberbefehlshaber des Heeres, den hinter den feindlichen Linien absprin- Beginn der Offensive an der Maas relativ Walther von Brauchitsch, und das OKH gen, wichtige Brücken und erobern wich- schwachen französischen Kräften gegenglaubten hingegen ebenso wie der fran- tige Festungen. Am 15. Mai, nachdem die über. Sturmpioniere setzen sofort über den zösische Generalstab, das bergige und Luftwaffe die Innenstadt von Rotterdam waldige Terrain der Ardennen würde in Schutt und Asche gebombt hat, unter- Fluss und errichten Pontonbrücken für die einen großen Panzerangriff unmöglich zeichnet der niederländische Oberbefehls- Panzer. Bei den französischen Verteidimachen. Brauchitsch weigerte sich, Man- haber Henri Winkelman die Kapitulation. gern reicht allerdings schon das Gerücht, steins Vorschlag überhaupt zu disku- Königin Wilhelmina flieht mit ihrer Fami- dass deutsche Panzer auf dem Nordufer tieren, geschweige denn, ihn Hitler vor- lie und der Regierung auf einem britischen der Maas gesichtet wurden, um sie in die Zerstörer nach England, wo ihr König Flucht zu schlagen. Ein französisches zulegen. Nachdem Manstein keine Ruhe gab und George VI. ein standesgemäßes Asyl im Untersuchungskomitee macht später ein „phénomène d’halluzination collective“ immer neue Denkschriften verfasste, Londoner Buckingham Palace gewährt. Die entscheidenden Operationen des für den Zusammenbruch der Front verversetzte ihn das OKH kurzerhand als Kommandeur zu einem erst im Aufbau Feldzugs spielen sich allerdings weiter süd- antwortlich. Die französischen Generäle befinden befindlichen Armeekorps nach Stettin. lich ab, dort, wo die von den Franzosen Trotzdem gelang es Manstein, seine un- schwer befestigte Maginotlinie nach Bel- sich – im Gegensatz zu den deutschen – konventionelle Idee Hitler persönlich vor- gien ausläuft. General Rundstedt hat in nicht bei den Kampftruppen. Ihr Oberbeden Ardennen sieben der zehn deutschen fehlshaber Maurice Gamelin, ein hochgezutragen und ihn zu überzeugen. bildeter Mann von 68 JahAm 10. Mai 1940 greifen ren, hat sein Hauptquartier 118 deutsche Divisionen Luin einem Vorort von Paris xemburg, die Niederlande, aufgeschlagen, um Kontakt Belgien und Frankreich an. zum Parlament halten zu Insgesamt 29-mal hat Hitler können. Dort hat er keine den Beginn seines Feldzugs Funkverbindung zu den im Westen verschieben müsfür einzelne Frontabschnitte sen, zunächst wegen logistiverantwortlichen Generälen, scher Probleme beim Aufda er fürchtet, die Deutmarsch, zuletzt mehrfach schen könnten dann seiwegen schlechten Wetters. ne Position entdecken und Als er aber an diesem Mordas Hauptquartier bombargen in seinem gepanzerten dieren. Sonderzug mit dem Tarnna- Generäle Guderian, Rommel, Manstein: Meister des Panzerkriegs S P I E G E L S P E C I A L 2 / 2 0 0 5 31 GRIFF NACH DER WELTMACHT Die entscheidende Nordostfront kommandiert General Alphonse Georges. Als er am vierten Tag vom deutschen Durchbruch bei Sedan erfährt, bricht er schluchzend vor seinem Stab zusammen. Sedan war ein Symbol, schließlich hatte hier Helmuth Graf von Moltke im Sommer 1870 Kaiser Napoleon III. und rund 100 000 französische Soldaten eingeschlossen und gefangen genommen. Als General Fedor von Bock, Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B, die sensationelle Nachricht vom Fall Sedans erhält, notiert er: „Der Franzose scheint wirklich von allen guten Geistern verlassen, sonst konnte und musste er das verhindern.“ „Im Lauf einer einzigen Woche“, so schreibt Charles de Gaulle später in seinen Memoiren, „war das Schicksal besiegelt.“ Der spätere Führer des „Freien Frankreich“ befehligt als Zurückgelassene alliierte Ausrüstung am Dünkirchener Oberst eine Panzereinheit, welcher der einzige nennenswerte französi- quartiers war, wird Hitlers Lieblingsgenesche Gegenangriff des gesamten Feldzugs ral und legt den Grundstein zu dem Mygelingt. thos, der den späteren „Wüstenfuchs“ bis Sechs Tage nach dem Beginn des deut- heute umgibt. „Auf der Rommelbahn schen Angriffs fliegt der neue britische nachts um halb drei“, wird der Hans-AlPremier Winston Churchill nach Paris und bers-Schlager über die Hamburger Reewill von Gamelin wissen, wo dessen stra- perbahn umgedichtet, „jagen Geister mit tegische Reserven stehen. Als der franzö- achtzig vorbei; Rommel selbst voran, jeder sische Oberbefehlshaber antwortet, dass hält sich ran, auf der Rommelbahn nachts er keine habe, kann Churchill das zu- um halb drei.“ nächst nicht glauben und stellt die gleiche Rommel ist auch ganz vorn, als die Frage noch einmal auf Französisch. deutschen Spitzen am 20. Mai Abbéville Nachdem die deutschen Panzerdivi- am Ärmelkanal nehmen; damit sind sionen die Maas überwunden haben, be- rund 1,7 Millionen Soldaten der Alliierwegen sie sich mit einer derartigen Ge- ten in Flandern eingeschlossen. „Der schwindigkeit nach Westen in Richtung Führer“, notiert General Alfred Jodl, Ärmelkanal, dass auch Hitler, der fürchtet, „ist ganz außer sich vor Freude.“ dass sie den Franzosen eine offene Flanke Winston Churchill gibt der spektakulären für Gegenangriffe bieten, die Nerven ver- Operation später den Namen „Sichelliert. „Er tobt und brüllt“, notierte Ge- schnitt“. neralstabschef Halder in seinem Kriegstagebuch, man Die schnellen Erfolge verleiten Hitler sei „auf dem Wege, die gandazu, die eigenen Kräfte und Fähigkeiten ze Operation zu verderben und sich der Gefahr einer kolossal zu überschätzen. Niederlage auszusetzen“. Als der „Schnelle Heinz“ Guderian, Die Verluste des Frankreichfeldzugs der das XIX. Panzerkorps führt, den halten sich für die Deutschen – die Befehl bekommt anzuhalten, legt er aus den Krieg im Gegensatz zum Sommer Protest das Kommando nieder. Einen 1914 nicht gefeiert, sondern gefürchtet Tag später wird ihm wieder erlaubt, Vor- haben – in Grenzen. Während etwa auskommandos loszuschicken, und er 30000 Soldaten der Wehrmacht fallen, hafährt weiter. Der Schnellste in dieser ben die Franzosen 90 000 Gefallene zu entscheidenden Phase des Feldzugs ist beklagen. Erwin Rommel mit seiner 7. PanzerdiviDer britische Militärhistoriker Corelli sion, die an einem Tag 120 Kilometer zu- Barnett charakterisiert den „Westfeldzug“ rücklegt. als „einen der erstaunlichsten Feldzüge Der ehrgeizige Rommel, der im Polen- in der Geschichte des Krieges“. Auch Eric feldzug Kommandant des Führerhaupt- Hobsbawm stellt die Frage, wie die Wehr32 S P I E G E L S P E C I A L 2 / 2 0 0 5 HUGO JAEGER / TIME LIFE / GETTY IMAGES Strand (1940): Demütigende Niederlage macht die alliierten Streitkräfte mit derart „lächerlicher Leichtigkeit“ überrollen konnte. Immerhin verfügten die Alliierten über mehr Soldaten und doppelt so viele Artilleriegeschütze wie die Wehrmacht. Auch was Panzer angeht, hatten die Franzosen ein numerisches Übergewicht. Dies alles nützte nichts gegen die operative Überlegenheit der Wehrmacht. Während die französische Führung einen relativ statischen Krieg im Stil des Ersten Weltkriegs erwartet und beispielsweise ihre Panzer gleichmäßig entlang der Front verteilt, massieren die deutschen Generäle ihre Panzer in eigenen schlagkräftigen Divisionen, die dann via Funk eng mit der Luftwaffe kommunizieren und kooperieren. Hitler allerdings macht nach dem unerwarteten Anfangserfolg einen schweren Fehler, als er die Panzerdivisionen kurz vor Dünkirchen stoppt. Über sein Motiv spekulieren seitdem Militärhistoriker. Wollte er, wie heute die meisten Fachleute annehmen, der Luftwaffe eine heroische Rolle einräumen? Fest steht, dass so 139 000 französische und 226 000 englische Soldaten, fast das gesamte britische Berufsheer, trotz heftiger Bombardements der Luftwaffe nach England flüchten konnten. Die Rettung aus dem Kessel von Dünkirchen wurde zwar in Großbritannien zur Heldensaga verklärt, doch in Wahrheit musste die in keiner Weise auf den Krieg vorbereitete Weltmacht selten eine so demütigende Niederlage hinnehmen. S P I E G E L Nach dem Zusammenbruch Frankreichs durfte Henri Pétain, der einstige Held von Verdun, von dem Kurort Vichy aus ein Restfrankreich verwalten; für rund 270 000 in den französischen Kolonien stationierte Soldaten war der Krieg zu Ende. Als Hitler Mitte Juli 1940 in Berlin zwölf Generäle zu Feldmarschällen befördert, appelliert er „an die Vernunft auch in England“. Er sehe „keinen Grund, der zur Fortsetzung dieses Kampfes zwingen könnte“. Doch der Diktator, der in seinen Kriegsplänen Großbritannien immer als verbündet oder neutral vorgesehen hat, täuscht sich. Außenminister Lord Halifax antwortet trocken: „Deutschland wird den Frieden bekommen, wenn es die von ihm besetzten Gebiete geräumt“ habe. Das waren mutige Worte angesichts der erbärmlichen Verfassung, in der sich die britischen Streitkräfte befanden. Von den rund 300 Panzern, mit denen ihre Expeditionskräfte nach Frankreich übergesetzt hatten, brachten sie nur 9 zurück; von rund 1000 Artilleriegeschützen konnten gerade 12 gerettet werden. Die Legende, nach der es sich bei den Blitzkriegen Hitlers, die er noch mit der Eroberung Jugoslawiens und Griechenlands abrundete, um eine wohldurchdachte Strategie gehandelt habe, hat der Historiker Karl-Heinz Frieser widerlegt. Die leichten Triumphe seien schwachen Gegnern zu verdanken gewesen. Da im Industriezeitalter nicht operative Führungskunst, sondern letztlich die Menschen- und Rüstungspotentiale kriegsentscheidend waren, bleiben die Siege nur das Vorspiel für die absehbare Niederlage der nächsten Jahre. Die unerwartet schnelle Eroberung großer Teile Europas verleitet Hitler, die eigenen Kräfte und Fähigkeiten kolossal zu überschätzen. Kaum ist Frankreich niedergeworfen, visiert er den Feldzug gegen die Sowjetunion an, mit dem er dem deutschen Volk „Lebensraum im Osten“ erobern will. Zum blanken Entsetzen seiner Generäle will der Diktator noch im Herbst 1940 die Wehrmacht Richtung Osten marschieren lassen, obwohl er damit dem Deutschen Reich einen Zweifrontenkrieg bescheren würde, der seit der Niederlage im Ersten Weltkrieg ein nationales Trauma ist. „Jetzt haben wir gezeigt, wozu wir fähig sind“, erklärt er seinem General Wilhelm Keitel. „Ein Feldzug gegen Russland wäre dagegen nur ein Sandkastenspiel.“ Doch ehe es dazu kommt, stellt sich Hitler der erste Gegner in den Weg, der ihm zumindest gewachsen ist: der englische Premier Sir Winston Churchill. S P E C I A L Michael Sontheimer 2 / 2 0 0 5 33