Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie Ergebnisse aus Psychotherapie, Beratung und Psychiatrie Herausgeberinnen und Herausgeber: Albert Lenz, Paderborn; Franz Resch, Heidelberg; Georg Romer, Münster; Maria von Salisch, Lüneburg; Svenja Taubner, Klagenfurt Verantwortliche Herausgeber: Univ.-Prof. Dr. med. Franz Resch, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Blumenstr. 8, D-69115 Heidelberg Univ.-Prof. Dr. med. Georg Romer, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie, Schmeddingstr. 50, D-48149 Münster Redakteur: Dipl.-Psych. Kay Niebank (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Hartwigstr. 2c, D-28209 Bremen, E-Mail: [email protected] Gegründet von A. Dührssen und W. Schwidder Frühere Herausgeber: R. Adam, M. Cierpka, A. Dührssen, E. Jorswieck, G. Klosinski, U. Lehmkuhl, M. Müller-Küppers, W. Schwidder, I. Seiffge-Krenke, F. Specht, A. Streeck-Fischer Manuskripteinsendungen werden an die Redaktion erbeten. Hinweise zur Manuskriptgestaltung bei der Redaktion oder unter www.v-r.de. Eingesandte Manuskripte werden von unabhängigen Gutachtern vor ihrer Annahme beurteilt (referee-Verfahren). Mit der Annahme des Manuskriptes und seiner Veröffentlichung in der Zeitschrift erhält der Verlag das ausschließliche Verlagsrecht für alle Sprachen und Länder. Für die Rücksendung unverlangter Rezensionsexemplare keine Gewähr. Produkthaftung: Autoren und Verlag haben sich um größtmögliche Genauigkeit bemüht. Dennoch kann für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen keine Gewähr übernommen werden. Bezugsbedingungen: Die Zeitschrift erscheint zehnmal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 800 Seiten. Der Bezugspreis beträgt jährlich € 84,–/86,40 (A)/sFr 105,–. Inst.-Preis: € 199,–/204,60 (A)/sFr 243,–. Einzelheft € 14,95/15,40 (A)/sFr 20,90. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich um ein Jahr, wenn keine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Übersetzungen, Nachdruck, Vervielfältigungen, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen; E-Mail: [email protected], Tel.: 07071/9353-16 (für Bestellungen und Abonnementverwaltung). Verantwortlich für die Anzeigen: Ulrike Vockenberg, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. ONLINE unter www.v-r.de Druck- und Bindearbeiten: Hubert & Co GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Die Zeitschrift wird regelmäßig von den Literaturdatenbanken DIMDI, ETHMED, Psyc-INFO und PSYNDEX und den Referatediensten „Current Contents“ (SSCI), „Psychological Abstracts“ und „Psychologischer Index“ ausgewertet. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier. ISSN (Printausgabe): 0032-7034, ISSN (online): 2196-8225 1 Beilage: Vandenhoeck & Ruprecht. ipabo_66.249.78.20 Inhalt Originalarbeiten / Original Articles Marc Birkhölzer, Kirstin Goth, Christian Schrobildgen, Klaus Schmeck und Susanne Schlüter-Müller Grundlagen und praktische Anwendung des Assessments of Identity Development in Adolescence (AIDA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 Background and Practical Use of the Assessment of Identity Development in Adolescence (AIDA) Lina Werpup-Stüwe und Franz Petermann Visuelle Wahrnehmungsleistungen bei motorisch auffälligen Kindern – eine Pilotstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Visual Perceptual Abilities of Children with Low Motor Abilities – A Pilot Study Sabine Loos, Saskia Wolf, Dunja Tutus und Lutz Goldbeck Häufigkeit und Art traumatischer Ereignisse bei Kindern und Jugendlichen mit Posttraumatischer Belastungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Frequency and Type of Traumatic Events in Children and Adolescents with a Posttraumatic Stress Disorder Autoren und Autorinnen / Authors 634 | Neuere Testverfahren / Test Reviews 635 Buchbesprechungen / Book Reviews 649 | Tagungskalender / Congress Dates 653 Aus dem Inhalt des nächsten Heftes / Preview of the next Issue 654 Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 583 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 ORIGINALARBEITEN Grundlagen und praktische Anwendung des Assessments of Identity Development in Adolescence (AIDA) Marc Birkhölzer, Kirstin Goth, Christian Schrobildgen, Klaus Schmeck und Susanne Schlüter-Müller Summary Background and Practical Use of the Assessment of Identity Development in Adolescence (AIDA) A paradigm shift towards early detection and intervention of personality disorders in adolescence to prevent persistent and chronic suffering is currently taking place. Aside further distinct areas of impaired psychosocial integrity, disturbed identity development is seen as one core component of personality disorders. Thus, the detection of early antecedents of impaired identity development is an important step to allow for early intervention. The selfreport questionnaire Assessment of Identity Development in Adolescence (AIDA) is a reliable and valid diagnostic instrument to detect disturbed identity development. This questionnaire allows for global assessment of identity and a differentiation in fundamental subdomains as well and distinguishes between identity diffusion on one side and consolidated and stable identity on the other. In clinical practice, it supports the differentiation between severely disturbed identity as the core component of personality disorders and identity crisis or stable identity development that can be found in other mental disorders. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64/2015, 584-600 Keywords identity – personality disorder – adolescence – psychopathology – assessment Zusammenfassung Seit kurzem findet ein Paradigmenwechsel zugunsten früher Erkennung und Intervention bei Persönlichkeitsstörungen in der Adoleszenz zur Vermeidung dauerhaften und chronischen Leidens statt. Neben weiteren Bereichen beeinträchtigter psychosozialer Integrität wird die gestörte Identitätsentwicklung als ein Kernelement von Persönlichkeitsstörungen angesehen. Der Selbstbeantwortungsfragebogen „Assessment of Identity Development in Adolescence“ (AIDA) ist ein reliables und valides Diagnoseinstrument, um eine gestörte IdentitätsentwickPrax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 584 – 600 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 ipabo_66.249.78.20 �������������������������������������������������� Grundlagen und praktische Anwendung des AIDA������ 585 lung zu erkennen. Dieser Fragebogen erlaubt eine globale Erfassung und eine Differenzierung fundamentaler Teilbereiche der Identitätsentwicklung und unterscheidet dimensional zwischen Identitätsdiffusion auf der einen Seite und gefestigter und stabiler Identität auf der anderen. In der klinischen Praxis ist er hilfreich bei der Unterscheidung zwischen schwer beeinträchtigter Identität als Kernelement von Persönlichkeitsstörungen und vorübergehend krisenhaft oder auch stabil verlaufender Identitätsentwicklung, wie sie bei anderen psychischen Störungen zu finden ist. Schlagwörter Identität – Persönlichkeitsstörung – Jugendliche – Psychopathologie – Fragebogen 1 Hintergrund Die Vergabe der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung im Jugendalter ist nach wie vor umstritten (Schmid, Schmeck, Petermann, 2008). Die eine Seite argumentiert, dass die Symptome einer Persönlichkeitsstörung in Kindheit und Jugend zu schwach und instabil sind, um die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ zu rechtfertigen. Auch wird argumentiert, dass die Adoleszenz per se eine aufwühlende und verunsichernde Lebensphase sei, sodass zwischen „gesund“ und „krank“ keine valide Trennlinie gezogen werden könne. Gleichzeitig wird die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ häufig als unveränderlich und stigmatisierend angesehen, weshalb sie bei Jugendlichen nicht gestellt werden solle, obwohl das Bestehen entsprechender Symptome bereits seit Kindheit und Jugend ein Diagnosekriterium der Persönlichkeitsstörung ist. Die andere Seite argumentiert, dass Symptome einer Persönlichkeitsstörung bereits früh erkennbar und außerdem ausreichend stabil sind, um eine solche Diagnose vor dem 18. Lebensjahr eindeutig zu rechtfertigen (Schmeck u. Schlüter-Müller, 2009; Chanen et al., 2004). Zahlreiche umfangreiche und qualitativ hochwertige Studien der vergangenen Jahre zeigen, dass die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung im Jugendalter valide gestellt werden kann (Becker, Grilo, Edell, McGlashan, 2002; Johnson et al., 1999, 2000a, b; Kasen, Cohen, Skodol, Johnson, Brook, 1999; Westen, Shedler, Durrett, Glass, Martens, 2003; Crawford et al., 2008; Westen et al., 2014). Kasen et al. (1999) betonen, dass das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörungen, gekennzeichnet durch eine persistierend maladaptive Art zu denken und zu Handeln, wichtige Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz erschweren oder gar verhindern kann. Als Folge dessen kann eine Persönlichkeitsstörung zu tiefgreifenden inter- und intrapersonellen Problemen und aufgrund der negativen Umweltreaktion zu einem Negativkreislauf der maladaptiven und dysfunktionalen Persönlichkeit im Erwachsenenalter führen. Die Erfassung und Therapie der Persönlichkeitsstörungen im Kindes- und Jugendalter ist deshalb notwendig, um der Chronifizierung und Progredienz der Problematik ins Erwachsenenalter entgegen- 586 M. Birkhölzer et al. zuwirken und die Betroffenen dabei zu unterstützen, altersadäquate Entwicklungsaufgaben wieder selbstständig zu bewältigen. Persönlichkeitsstörungen und auch solche, die sich bereits in der Adoleszenz manifestieren, sind spezifisch und manualisiert behandelbar (Böhme, Fleischhaker, Mayer-Bruns, Schulz, 2002; Foelsch et al,, 2013; Rossouw u. Fonagy, 2012). Mit der Einführung des DSM-5 im Jahr 2013 wurde die Altersgrenze von 18 Jahren für die Vergabe der Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ aufgehoben (APA, 2013). Diese Entwicklungsperspektive von Persönlichkeitsstörungen über die Lebensspanne hinweg wird auch in der 11. Version der ICD in ähnlicher Weise integriert werden (Tyrer et al., 2011), da die Ergebnisse empirischer Studien eindeutige Hinweise dafür liefern, dass es eine Kontinuität von Persönlichkeitsmerkmalen und ihren Störungen über die Lebensspanne hinweg gibt (Bernstein et al., 1993; Caspi et al., 2003). Nach DSM-5 soll bei der Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen zusätzlich geprüft werden, ob die Persönlichkeitsbeeinträchtigungen nicht besser durch das normative Verhalten der Entwicklungsphase erklärbar sind (Kriterium G). Dies ist eine sinnvolle Ergänzung, um im Jugendalter zum Beispiel eine Identitätskrise von einer voll ausgeprägten Borderline-Persönlichkeitsstörung mit Identitätsstörung zu differenzieren (Koch, Resch, Schlüter-Müller, Schmeck, 2013). Im vorliegenden Artikel wird ein Instrument beschrieben, mit dessen Hilfe eine solche Differenzierung möglich ist, was anhand von fünf Kasuistiken erläutert wird. 1.2 Persönlichkeitsstörungen und Identität Bereits in der ICD-10 und im DSM-IV galt ein gestörtes Identitätserleben als ein zentrales Symptom vor allem der Borderline-Persönlichkeitsstörung (APA, 2000). In der Sektion III des 2013 veröffentlichten DSM-5 kommt der Identität bzw. deren Störung eine Schlüsselrolle für die Diagnose nicht nur der Borderline-Persönlichkeitsstörung, sondern einer Persönlichkeitsstörung per se zu (Schmeck, Schlüter-Müller, Foelsch, Döring, 2013). Es wurde mit der „Levels-of-Personality-Functioning“Skala ein dimensionales Störungskonzept eingeführt, das Beeinträchtigungen der Identität und Selbststeuerung sowie der Fähigkeit zu Empathie und Intimität als zentrale Kriterien der Persönlichkeitsstörung etabliert. Jegliche Persönlichkeitsstörungen sollen sich durch dimensionale Beeinträchtigungen in diesen Kernbereichen beschreiben lassen (APA, 2013). Erickson (1959) sieht die Identität als das zentrale Organisationsprinzip der Persönlichkeit an, welches sich andauernd und durchgehend weiterentwickelt und doch gleich bleibt und ein Gefühl von Kontinuität innerhalb des Selbst und in der Interaktion mit anderen erzeugt. Außerdem sieht er in ihr den Rahmen, innerhalb dessen sich ein Individuum von anderen abzugrenzen und eigenständig von ihnen zu existieren vermag. Identität und Identitätserleben stellen somit einen Schlüssel der psychosozialen Integrität dar. Er sieht die Konsolidierung der Identität als zentrale Aufgabe der normalen Entwicklung eines jeden Adoleszenten an. Die erfolgreiche Bewältigung dieser Schlüs- ipabo_66.249.78.20 �������������������������������������������������� Grundlagen und praktische Anwendung des AIDA������ 587 selaufgabe geht mit dem Verwerfen und der Umwandlung früherer Identifikationen und verinnerlichter Erfahrungen mit sich selbst und anderen einher, was zu zeitweiligen Krisen des Selbsterlebens führen kann, die bewältigt werden müssen. Das erfolgreiche Bewältigen dieser Identitätskrisen führt zu einem subjektiven Gefühl der Kontinuität und Kohärenz des Selbsterlebens und somit zu einer integrierten Identität als harmonische Gesamtheit (Taskforce OPD, 2007). Eine integrierte Identität, resultierend aus der erfolgreichen Bewältigung zeitweiliger Identitätskrisen, kann als Voraussetzung für eine realistische Selbstreflexion, Eigenständigkeit und befriedigende soziale Interaktion angesehen werden und ermöglicht eine Vorhersagbarkeit und Kontinuität des Empfindens und des Erlebens innerhalb eines Individuums – über die Zeit und verschiedene Situationen hinweg (Kernberg, Weiner, Bardenstein, 2000). James (1890, vgl. Resch, 2005) unterscheidet ein eher emotional-intuitives, vitales Selbsterleben von einer eher kognitiv-selbstreflektierten Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis. Diese beiden Formen des Selbst konstituieren zwei unterscheidbare Domänen der Identität: das subjektive Selbst mit dem Fokus auf Kontinuität, einen stabilen Kern und emotionalen Zugang und das definitorische Selbst mit dem Fokus auf Kohärenz, integrierter Gesamtheit und kognitivem Zugang. Fonagy, Gergely und Jurist (2003) fassen die Entwicklung komplexer mentaler Repräsentationen von sich selbst und anderen zusammen in dem Konzept der Mentalisierung: Diese entsteht durch die Entwicklung und Fähigkeit zur Emotionsregulation (Selbstbeherrschung und Affektkontrolle), das Vermögen zur Intersubjektivität (Imitation, Rollen-Akzeptanz und Perspektivenwechsel) und Selbstreflexion. Diese mentalen Repräsentanzen entstehen fortschreitend aus selbstreflexiven Prozessen und ermöglichen das Verständnis, die Vorhersage und die Beachtung eigener und fremder seelischer Zustände. Dies kann als Grundvoraussetzung für ein Identitätserleben angesehen werden. Seiffge-Krenke und Beyers (2005) heben besonders die großen Veränderungen, die mit der Adoleszenz einhergehen, hervor und die damit einhergehende Notwendigkeit, neue Selbstbilder entwickeln zu müssen. 1.3 Identitätskrise und Identitätsdiffusion: Begriffserläuterung Nach Kernberg (1978) resultiert eine Identitätskrise aus der Diskrepanz zwischen sich rasch ändernden physischen sowie psychischen Erlebnissen auf der einen Seite und auf der anderen einer zunehmenden Kluft zwischen Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung darüber, wie man von anderen gesehen wird. Zeitliche und situative Kontinuität bleiben jedoch trotz etwaiger Experimente mit unterschiedlichen Rollen erhalten und die Identitätskrise löst sich hin zu einer konsolidierten und zugleich anpassungsfähigen und flexiblen Identität (Kernberg et al., 2000). Dies erlaubt dem Jugendlichen, erfüllende Freundschaften aufzubauen, klare Lebensziele zu formulieren, angemessen mit den Eltern und Lehrkräften zu interagieren, intime und sexuelle Beziehungen aufzubauen und einen positiven Selbstwert zu entwickeln (Foelsch et al., 2013). 588 M. Birkhölzer et al. Wenn die beschriebene Integration der unterschiedlichen Anforderungen der Identitätsentwicklung nicht gelingt und Identitätskrisen nicht bewältigt werden können, so kann es zu Blockaden der Identitätsentwicklung kommen. Diese Blockaden können sich auf mehreren Ebenen äußern: als mangelhafte Integration des Selbst-Konzepts und des Konzepts bedeutsamer anderer, als Unfähigkeit zur Selbstdefinition, als mangelnde Verbindlichkeit in Bezug auf Ziele, Wertvorstellungen und Beziehungen und als schmerzhaftes Gefühl der Inkohärenz. Diese Identitätsdiffusion wird in Form unreflektierter, chaotischer und offensichtlich widersprüchlicher Selbstbeschreibungen und Beschreibung anderer und in Form des Unvermögens, diese Widersprüche zu integrieren oder überhaupt wahrzunehmen, sichtbar (Clarkin, Yeomans, Kernberg, 1999). Nach Kernberg (1985) manifestiert sich die unvollständig integrierte, mangelhaft konsolidierte Identität durch ein chronisches Gefühl der Leere, Widersprüchlichkeiten und Oberflächlichkeit und durch andere Anzeichen der Ich-Schwäche. Die Identitätsdiffusion ist laut Kernberg ein Kernelement der Borderline-Persönlichkeitsorganisation, kann aber auch insgesamt als Grundlage weiterer Persönlichkeitspathologie angesehen werden, die zu einem breiten Spektrum maladaptiver und dysfunktionaler Verhaltensweisen führt (Fonagy et al., 2003). Besonders die Adoleszenz stellt eine vulnerable Phase der Persönlichkeitsentwicklung dar. Störungen des Selbsterlebens in diesem Zeitraum treten aufgrund des zunehmenden Wegfalls äußerer stabilisierender Faktoren (klare Rollenbilder und Selbstkonzepte der Kindheit) und aufgrund steigender Anforderungen an den Jugendlichen (Eigenständigkeit, erste intime Beziehungen, Verantwortungsübernahme) deutlicher und gravierender zutage und bereits beeinträchtigte Persönlichkeitsfunktionen können symptomatisch werden. Dem überwiegenden Teil der Jugendlichen gelingt es, diese aufwühlende und unter Umständen destabilisierende Lebensphase gut zu bewältigen und neue Anforderungen und Selbstbilder in ihr Selbstkonzept zu integrieren, während bei einer Minderheit der Jugendlichen rigide, maladaptive und dysfunktionale Verhaltensweisen nun endgültig offenbar werden und den Beginn einer Persönlichkeitsstörung markieren können. Die Entwicklung der Identität bzw. deren Störung kann als ein dimensionales Kontinuum von gesunder, integrierter Identität zu fragmentierter, diffuser Identität als Grundlage einer Persönlichkeitsstörung beschrieben werden (Goth et al., 2012). Zwar mag die „normale“ Adoleszenz durch phasenhafte Identitätskrisen gekennzeichnet sein, diese unterscheiden sich in ihrem Ausmaß jedoch eindeutig von einer Identitätsdiffusion als Grundlage der Persönlichkeitsstörung (Foelsch et al., 2010). 2 Erfassung von Störungen der Identitätsentwicklung Eine große Einschränkung der meisten bisherigen Studien, die Persönlichkeitsstörungen im Kindes- und Jugendalter untersucht haben, war die mangelnde Verfügbarkeit altersgerechter Diagnoseinstrumente und die meist kategoriale Erfassung von Symptomen. Von Goth et al. (2012) wurde der Selbstbeantwortungsfragebogen ipabo_66.249.78.20 �������������������������������������������������� Grundlagen und praktische Anwendung des AIDA������ 589 AIDA zur Erfassung pathologischer Identitätsentwicklung im Jugendalter entwickelt. Ziel dieses „Assessment of Identity Development in Adolescence“ (AIDA) ist eine dimensionale Differenzierung zwischen gesunder Identitätsentwicklung, einfacher Identitätskrise und klinisch auffälliger Identitätsdiffusion bei Jugendlichen. Diese Einschätzung soll sowohl diagnostische Entscheidungen fundieren als auch eine wertvolle Grundlage für die Therapie sein, z. B. die spezifische Therapieform AIT für Jugendliche mit Persönlichkeitsstörungen (Adolescent Identity Treatment; Foelsch et al., 2013). Die inhaltliche Struktur des zugrundeliegenden Konstrukts „Identität“ bzw. „Identitätsintegration“ entspricht der oben genannten Definition des Konzepts „Identität“ als Ergebnis der Synthese von Beschreibungen aus verschiedenen Theorieschulen. Das Gesamtkonstrukt setzt sich dabei aus den beiden Hauptskalen Kontinuität (entsprechend einem emotional-intuitiven Selbstkonzept) und Kohärenz (entsprechend einem kognitiv-definitorischen Selbstkonzept) zusammen (s. Tab. 1, folgende Seite). Die jeweils drei Subskalen je Hauptskala leisten zusätzlich eine Subdifferenzierung in die klassischen psychologischen Funktionsbereiche selbstbezogen (identitätsstabilisierende Eigenschaften und Perspektiven und konsistentes Selbstbild), sozialbezogen (stabilisierende Beziehungen und Autonomie, Ichstärke) und zudem den Bereich der mentalen Repräsentationen (emotionale und kognitive Selbstreflexion). Die beiden Hauptskalen mit den Benennungen „Diskontinuität“ und „Inkohärenz“ bilden als Summe die Gesamtskala „Identitätsdiffusion“. Die Hauptskala Diskontinuität bildet sich aus den drei Subskalen „Stabilisierende Eigenschaften und Perspektiven“, „Stabilisierende Beziehungen und Rollen“ und „Stabilisierende emotionale Selbstreflexion“, während die Hauptskala Inkohärenz sich aus den drei Subskalen „konsistentes Selbstbild“, „Autonomie“ und „Differenzierte kognitive Selbstreflexion“ bildet. Die 58 Items zur Selbstbeantwortung werden auf einer fünfstufigen Skala von 0 = nein bis 4 = ja beantwortet. Die resultierende Gesamtskala „Identitätsdiffusion“ und die Hauptskalen „Diskontinuität“ und „Inkohärenz“ zeigten sehr gute Skalenreliabilitäten (α: .94, .86, .92) und eine hervorragende Differenzierung zwischen Patienten mit Persönlichkeitsstörungen (N = 20) und Schülern aus zwei öffentlichen Schulen (N = 305) mit Effektstärken d = 1.94 bis d = 2.17 (Goth et al., 2012). Eine Effektstärke von d > 0.8 wird als großer Effekt angesehen (Bortz u. Döring, 2006), Effektstärken von d = 2 entsprechen inhaltlich einem Unterschied von zwei Standardabweichungen. Normwerte aus deutschen Schulen stehen zur Verfügung (N = 1.446). Die differenzierte diagnostische Validität des Instruments konnte in klinischen Studien dargelegt werden. Jung, Pick, Schlüter-Müller, Schmeck und Goth (2013) zeigten, dass sich der AIDA in einer klinischen Stichprobe mit 86 jugendlichen Patienten sehr gut eignet, um Patienten mit Persönlichkeitsstörungen von Patienten mit externalisierenden (z. B. ADHS) oder internalisierenden Störungen (z. B. Depression oder Angststörung) zu differenzieren (s. Abb. 1). Besonders stark vertreten in der Gruppe der Persönlichkeitsstörungen war die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die Ergebnisse von Jung et al. (2013) weisen darauf hin, dass eine stark auffällige „Identitätsdiffusion“, gekenn- 590 M. Birkhölzer et al. Tabelle 1: Aufbau und interne Struktur des „Assessment of Identity Development in Adolescence“ (AIDA); Sub = Subskala, F = Facetten Gesamtskala: Identitäts-Integration vs. Identitäts-Diffusion Skala 1: Skala 2: Identitäts-Kontinuität vs. Diskontinuität Identitäts-Kohärenz vs. Inkohärenz Ich-Stabilität, intuitiv-emotionales Ich Ich-Stärke, einheitlich definiertes Ich Sub 1.1: Stabilisierende Eigenschaften/ Sub 2.1: Konsistentes Selbstbild vs. Gegensätzlichkeit Ziele vs. fehlende Perspektive F1: Engagement/stabilisierende Bindung an Interessen, Talente, Perspektiven, Lebensziele F1: gleiche Eigenschaften bei unterschiedlichen Personen/Situationen F2: stabile innere Zeitlinie, historischbiografisches Selbst, subjektive Ich-Stabilität F2: keine extremen unüberbrückbaren inneren Gegensätzlichkeiten F3: stabilisierende moralische Richtschnur F3: gefühlte definierte Mitte und Konsistenz Bsp.: Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich als Kind gedacht und gefühlt habe, ich bin jetzt wie ein ganz anderer Mensch. Sub 1.2: Stabilisierende Beziehungen/Rollen vs. fehlende Zugehörigkeit Bsp.: Ich habe das Gefühl, dass ich verschiedene Gesichter habe, die nicht gut zueinander passen. Sub 2.2: Autonomie, Ich-Durchsetzung vs. Überidentifikation/Beeinflussbarkeit F1: Engagement/stabilisierende Bindung an dauerhafte Beziehungen F1: Ich-Stärke, Durchsetzungsfähigkeit, keine Überidentifikation Selbstbezogen intrapersonal Ebene: Ich und Ich sozialbezogen interpersonal Ebene: Ich und die anderen F2: positive Identifikation mit stabili­ F2: unabhängiger Selbstwert, Eigenstänsierenden Rollen (sexuell, ethnisch, kultu- digkeit rell, familär) F3: positives Körper-Selbst F3: positive Affektregulierung Bsp.: Ich habe das Gefühl, dass ich nirgends richtig dazugehöre. Sub 1.3: Stabilisierende emotionale Selbstreflexion vs. Misstrauen in Stabilität von Gefühlen Bsp.: Wenn ich alleine bin, fühle ich mich hilflos. Sub 2.3: Differenzierte kognitive Selbstreflektion vs. oberflächliche, diffuse Repräsentationen Bsp.: Manchmal habe ich starke Gefühle ohne zu wissen, wo sie herkommen. Bsp.: Ich kriege oft nicht auf die Reihe, was, wann und warum ich Dinge gemacht habe. Mentale Repräsentationen Zugänglichkeit und DiffeF1: Verstehen eigener Gefühle, innere F1: Verstehen eigener Motive und Taten, renziertheit von eigenen gute kognitive Zugänglichkeit Kommunikation, gute emotionale Zuund fremden gänglichkeit Gefühlen/MoF2: Verstehen fremder Gefühle, Vertrauen F2: differenzierte und kohärente mentale tiven in Stabilität von eigenen positiven Gefühlen Repräsentationen von sich und anderen ipabo_66.249.78.20 �������������������������������������������������� Grundlagen und praktische Anwendung des AIDA������ 591 T-Werte zeichnet durch T-Werte > 70 im AIDA, ein wichtiger Indikator für das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung und nicht bloß ein Indikator psychischer Erkrankung im Allgemeinen ist. Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erreichten TWerte von T > 70 sowohl in der Gesamtskala „Identitätsdiffusion“ als auch in den beiden Hauptskalen „Diskontinuität“ und „Inkohärenz“, das heißt, nur 2,3 % der Normpopulation weisen im AIDA ebenso hohe Werte auf. Demgegenüber wiesen Patienten mit internalisierenden Störungen leicht erhöhte T-Werte um den Grenzwert T > 60 auf (nur 15,8 % der Normpopulation weisen vergleichbar hohe Werte auf), was im Sinne einer Identitätskrise interpretiert werden könnte. Im Gegensatz dazu zeigten die Patienten mit externalisierenden Störungen Werte im Normbereich und somit keine Auffälligkeiten bezüglich der Ich-Stabilität und der Ich-Stärke, wie sie im AIDA als Identitätsproblematik definiert ist. Abbildung 1: Vergleich der T-Werte des AIDA-Gesamtwertes und der beiden Hauptskalen zwischen verschiedenen diagnostischen Gruppen und der Normalpopulation 3 Klinische Anwendung des AIDA: Fallbeispiele 3.1 Fallbeispiel 1 Vorstellungsgrund: Die 15-jährige Patientin wurde von ihrer Mutter vorgestellt wegen selbstverletzenden Verhaltens, akuter Schulprobleme, massiver Affekt-Dysregulation, Trennungsängstlichkeit von der Mutter und der Unfähigkeit, allein zu sein. 592 M. Birkhölzer et al. Auf der Symptomebene erfüllte sie somit vier von neun Borderline-Kriterien. Auch das äußere Erscheinungsbild (schwarze Kleider, schwarze Haare, schwarzer Lippenstift und Nagellack sowie verschiedene Gesichts-Piercings) widersprach einer entsprechenden Psychopathologie zunächst nicht. Das klinische Interview jedoch zerstreute diesen Verdacht, da die Patientin sich in klarer und kohärenter Weise selbst beschrieb, eine kohärente und differenzierte Beschreibung von bedeutsamen Anderen sowie sichere Beziehungen zu Peers (schon seit langem bestehende Freundschaften) und Eltern hatte. Ferner hatte sie klare Vorstellung von der Zukunft. Sie berichtete, verwirrt über ihre Veränderung zu sein („Ich bin total anders als früher, irgendwie weiß ich nicht mehr wer ich bin.“) und äußerte einen klaren Wunsch nach Hilfe. Diagnostik: AIDA (s. Abb. 2): unauffällige Identitätsentwicklung, keine IdentitätsPathologie. Abbildung 2: Profil zu Fallbeispiel 1 Behandlung: In der Behandlung bestätigte sich der klinische Eindruck und das Ergebnis des AIDA. Trotz der Borderline-Symptomatik zeigte die Patientin die Fähigkeit, Hilfe anzunehmen, dankbar zu sein, ihre Abwehrmechanismen waren altersadäquat und nicht durch Spaltung, Manipulation oder einen Wechsel von Idealisierung und Entwertung geprägt. Sie befand sich in einer massiven Krise durch einen Suizidversuch ihrer Mutter, der sie völlig aus der Bahn geworfen hatte. Sie machte sich massive Vorwürfe, nicht genug auf die Mutter geachtet und ihre Krankheit übersehen zu haben. Die Psychotherapie stellte in relativ kurzer Zeit (sechs Monate) einen stabilen Zustand mit Rückgang sämtlicher Symptome her. ipabo_66.249.78.20 �������������������������������������������������� Grundlagen und praktische Anwendung des AIDA������ 593 3.2 Fallbeispiel 2 Vorstellungsgrund: Die 15,6-jährige, stark übergewichtige Jugendliche wurde von ihrer Mutter wegen massiver Aggressionsdurchbrüche, selbstverletzenden Verhaltens (tiefes Schneiden), ständiger Auseinandersetzungen mit Peers, gewalttätiger Auseinandersetzungen mit Mutter und Bruder, eines großen Gefühls von Langeweile und Leere, unregelmäßiger Schulbesuche und eines drohenden Schulausschlusses vorgestellt. Nicht nur auf der Symptomebene, sondern auch vom klinischen Aspekt her bestand bei der Patientin der dringende Verdacht einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Sie erfüllte sechs von neun Borderline-Kriterien, außerdem war sie in der Untersuchungssituation feindselig, aggressiv, entwertend und sprunghaft. Sie hatte keine Vorstellung von sich selbst und anderen und keinerlei Fähigkeit zur Selbstreflexion bei guter Intelligenz. Von der Mutter wurde jedoch beschrieben, dass sich die Tochter plötzlich verändert habe und früher ein liebes und eher unauffälliges Kind gewesen sei. Die Untersucherin vermutete jedoch zunächst ein Dissimulieren der Mutter. Diagnostik: Der AIDA (s. Abb. 3) zeigte keine großen Auffälligkeiten in der Identitätsentwicklung außer einem grenzwertigen Ergebnis bezüglich der Konsistenz des Selbstbildes, hinsichtlich innerer Gegensätzlichkeit („verschiedene Gesichter“), eines starken Unterschiedes zwischen Innen und Außen, schmerzhafter Ambivalenz oder Leere (T-Wert 65). Insgesamt erreichte die Patientin auf der Gesamtskala „Identitätsdiffusion“ einen Gesamt-T-Wert von 61, was bedeutet, dass weniger als 15 % der Normpopulation einen solchen Wert erreichen. Dieses Ergebnis entspricht nach jetziger Studienlage Jugendlichen, die unter einer internalisierenden Störungen (Depressive Episode, Angststörung usw.) leiden. Abbildung 3: Profil zu Fallbeispiel 2 594 M. Birkhölzer et al. Behandlung: Die Behandlung der Patientin wurde durch ständige Notaufnahmen in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik wegen massiver Aggressionsdurchbrüche unterbrochen. Dort wurde sie dann dabei beobachtet, wie sie Deo inhalierte. Daraufhin erfolgten ein Drogenscreening und eine Drogenevaluation, die ergaben, dass die Jugendliche seit circa neun Monaten zunehmend Deo-Dämpfe inhalierte, zum Schluss bis zu acht Dosen pro Tag. Es werden folgende Nebenwirkungen bei Deo-Inhalation beschrieben: massive Aggressivität, Wesensveränderung, extreme Abhängigkeit, massives Craving; tödliche Komplikationen sind häufig. Nach dem extrem belastenden Entzug zeigte sich ein Mädchen mit deutlich reduzierter Psychopathologie und deutlichem Rückgang der Borderline-Symptomatik. Das Ergebnis des AIDA hatte – trotz der akuten Symptomatik – die tatsächlich zugrundeliegende, wenig beeinträchtigte Identitätsstruktur erfasst. 3.3 Fallbeispiel 3: Vorstellungsgrund: Die 16,8-jährige Patientin mit seit Jahren bestehendem ausgeprägten Lügen, massiven Essstörungen (Wechsel von bulimischer, anorektischer und binge-eating Symptomatik), selbstverletzendem Verhalten und schon seit Jahren bestehenden Problemen mit Peers (ständig wechselnde Freunde nach streithaften Auseinandersetzungen), wurde jugendpsychiatrisch vorgestellt. Sie hatte bereits vier Mal die Schule abgebrochen (bei einem IQ von 120), war schon mehrfach in kinderpsychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung gewesen. Diese habe sie aber immer abgebrochen. Nun war sie in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht. Dort fiel sie durch ein stark manipulatives Verhalten, einen ständigen Wechsel zwischen Idealisierung und Entwertung sowie selbstverletzendes Verhalten auf. Auf der Symptomebene erreichte sie sieben von neun Kriterien einer BorderlinePersönlichkeitsstörung. Im klinischen Interview zeigte sich eine verwirrende und wenig greifbare Patientin, die wie ein Chamäleon wirkte. Die Beschreibung von sich selbst und anderen war leer. Trotz sehr guter Intelligenz hatte die Jugendliche keine Vorstellung von ihrer Zukunft, keine Erklärungen, warum sie die Schule trotz guter Leistungen immer wieder abbrach, vor allem, warum sie ständig die ungeheuerlichsten Geschichten erfand, konnte sie selbst nicht erklären. Lediglich die Aussage, wie sehr sie ihren Körper hasse, war klar von ihr benannt. Diagnostik: Im SKID II erfüllte sie die Kriterien für eine Dependente, eine Negativistische und eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Das AIDA-Profil (s. Abb. 4) ist gut vereinbar mit dem SKID II-Ergebnis und dem klinischen Eindruck und zeigt eine stark beeinträchtigte Identitätsentwicklung, geprägt durch eine starke Identitäts-Diskontinuität (T-Wert 80). Im Einzelnen fällt eine fehlende Stabilisierung durch langfristige Ziele und stabile Eigenschaften und ein fehlendes inneres Kontinuitätsgefühl und fehlende Perspektive auf (T-Wert 80). Der Bereich der stabilisierenden Beziehungen und Rollen ist ebenso auffällig (T-Wert 74). Insgesamt ist auch die Identitätskohärenz auffällig (T-Wert 72), getragen durch die Ergebnisse in den Subskalen „Konsistenz“ im ipabo_66.249.78.20 �������������������������������������������������� Grundlagen und praktische Anwendung des AIDA������ 595 Sinne eines widersprüchlichen Selbstbildes mit Gefühlen starker Gegensätzlichkeiten (T-Wert 76), und „kognitive Selbstreflexion“ geprägt durch große Schwierigkeiten eigene Motive und Taten zu verstehen (T-Wert 74). Einzig die Subskala „Autonomie“ im Sinne wahrgenommener Ich-Schwäche und starker Beeinflussbarkeit von außen ist gerade noch unauffällig (T-Wert 60). Insgesamt erreichte die Patientin auf der Gesamtskala „Identitätsdiffusion“ einen T-Wert von 77, was bedeutet, dass weniger als ein Prozent der Normpopulation ähnlich hohe Werte erreichen. Abbildung 4: Profil zu Fallbeispiel 3 Behandlung: Zu Beginn der Behandlung zeigte die Patientin eine fast unterwürfige Haltung, passte sich der Therapeutin völlig an, war unecht und gekünstelt im Affekt und imponierte wie eine „Als-Ob-Persönlichkeit“. Schnell zeigte sich, dass die Patientin Versionen von Vorfällen präsentierte, die durch die Zusammenarbeit mit der Jugendhilfeeinrichtung als erfunden entlarvt werden konnten, an die die Jugendliche selbst fest glaubte (Pseudologia phantastica). Sie hatte eine starke Manipulationsfähigkeit. Nach anfänglicher Idealisierung der Therapeutin schlug diese in eine starke Entwertung um, die darin gipfelte, dass sie ihrer Mutter angebliche Vorfälle aus der Therapie erzählte, was dazu führte, dass die Mutter der Tochter dazu riet, die Therapie abzubrechen und sogar mit anwaltlichen Konsequenzen drohte. Da die Situation nicht aufzuklären war, wurde die Therapie auf diese Weise beendet, wie schon drei Therapien zuvor. 3.4 Fallbeispiel 4 Vorstellungsgrund: 16,2-jähriger Junge, der seit mehreren Monaten die Schule nicht mehr besuchte. Vorausgegangen sei eine „Mobbing-Situation“, nachdem er zuvor, wie er selbst sagte, „für alle, vor allem für die Mädchen, der wichtigste Mitschüler“ 596 M. Birkhölzer et al. gewesen sei. Niemand würde andere so gut verstehen wie er, deshalb hätten ihn die anderen auch dringend gebraucht. Die anderen seien neidisch darauf gewesen, dass er so überdurchschnittlich sei, und hätten ihn dann schlecht gemacht. Seine Vorgeschichte ist geprägt von Entwertung und Überhöhung seiner Person: Er ist das uneheliche Kind seiner Mutter, und das außereheliche Kind seines Vaters, der im selben Haus wie Mutter und Sohn mit seiner Ehefrau (mit der er keine Kinder hatte) lebte, die aber nicht wissen durfte, dass der Junge sein Sohn war. Außerhalb dieser Konstellation (also z. B. im Freizeitbereich) wurde der Junge aber stolz präsentiert und wie ein „Prinz“ dargestellt. In anderen Situationen durfte er wiederum nicht zu erkennen geben, wer er war. Von der Mutter wurde er als „einziger Mann im Haus“ ebenso stark aufgewertet. Diese beiden Seiten wechselten so lange ab, bis der Vater vor drei Jahren starb. Laut der Lehrer hatte der Junge immer schon ein sehr arrogantes und überhebliches Auftreten und dadurch keine Freunde. Er habe immer versucht, andere zu manipulieren und Mitschüler gegeneinander auszuspielen sowie falsche Dinge zu erzählen, bis die Klasse sich gegen ihn zusammentat und er ausgeschlossen wurde. Daraufhin habe er die Schule verweigert. Diagnostik: Im SKID II erfüllt der Patient die Diagnosekriterien für eine Narzisstische Persönlichkeitsstörung. Der AIDA ist sowohl auf Subskalen-Ebene als auch auf Hauptskalen-Ebene hoch auffällig im Sinne einer Identitätsdiffusion. Beide Hauptskalen und vier der sechs Subskalen erreichen den Maximal-T-Wert von 80, was bedeutet, dass weniger als 0,1 % der Normpopulation vergleichbar hohe Werte erzielen. Insgesamt zeigt sich eine stark beeinträchtigte Identitätsentwicklung im Sinne einer Identitätsdiffusion, gekennzeichnet durch fehlende Stabilisierung durch langfristige Ziele, ein fehlendes inneres Kontinuitätsgefühl und fehlende Perspektive (T-Wert 72); ein fehlendes Zugehörigkeitsgefühl und fehlende soziale Verankerung (T-Wert 80), außerdem durch Gefühle innerer Gegensätzlichkeit („verschiedene Gesichter“), einen starken Unterschied zwischen Innen und Außen, schmerzhafte Ambivalenz oder Leere (T-Wert 80) sowie durch große Probleme, eigene Motive und Taten zu verstehen (T-Wert 68), einen fehlenden Zugang zur eigenen und fremden Gefühlswelt und fehlendes Vertrauen in die Stabilität von positiven Gefühlen (T-Wert 80), ebenso wie eine wahrgenommenen Ich-Schwäche, starke Beeinflussbarkeit von außen, Überidentifikation, fehlende Selbstbehauptung und mangelhafte Affektregulierung (T-Wert 80). Behandlung: Anfangs war es schwierig, den Patienten in der Behandlung zu halten. Er zeigte ein stark entwertendes und arrogantes Verhalten, das ein therapeutisches Arbeiten schwierig machte. Da die „narzisstische Überblähung“ auch eine Bedürftigkeit nach Behandlung nicht zulassen konnte, konnte er eine positive Veränderung weder zulassen noch erkennen. Anfangs bestand nur das Ziel, ihn wieder in eine Schule zu integrieren und ihn in der Behandlung zu halten. Beides gelang, und sehr langsam konnte der Adoleszente auch seine bedürftige Seite zeigen, ohne die Angst, dass der Therapeut „triumphieren“ könnte. Mehrmals drohte eine erneute Schulverweigerung, da er auch in der neuen Schule mit seiner überheblichen Art nicht gut ankam. ipabo_66.249.78.20 �������������������������������������������������� Grundlagen und praktische Anwendung des AIDA������ 597 3.5 Fallbeispiel 5 Vorstellungsgrund: Die 15,5-jährige Patientin wurde von einer Jugendhilfeeinrichtung vorgestellt, in der sie nach einer Inobhutnahme seit einem Jahr lebte. Sie sei auffallend kühl und distanziert im Kontakt, wäre am liebsten allein, wirke depressiv und wenig interessiert an Kontakten. Seit Kurzem zeige sie selbstverletzendes Verhalten. Im Erstkontakt zeigte sich ein rationales, sehr intelligentes Mädchen mit starkem Wunsch nach Autarkie („Ich brauche niemanden!“), ohne eigene Therapiemotivation, da sie sich nicht ändern wolle („Ich habe keine Gefühle und das finde ich gut!“). Aufgrund der starken Selbstverletzungen bestand die Jugendhilfeeinrichtung aber auf eine Behandlung und so wurden zunächst 14-tägige Therapiestunden vereinbart. Die Patientin brach nach kurzer Zeit die Therapie ab und kam erst fünf Monate später zurück, dieses Mal mit eigenem Wunsch nach Hilfe. Diagnostik: Im SKID II erfüllte sie die Kriterien für eine Schizoide sowie für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Im AIDA zeigt sich ein auffälliges Profil, welches – zur Schizoiden Persönlichkeitsstörung passend – jedoch unauffällig ist in den Bereichen „Autonomie“ (T-Wert 56) und „kognitive Selbstreflexion“ (T-Wert 58), ebenso ist der Bereich „Diskontinuität bezgl. Eigenschaften“ wenig auffällig (T-Wert 63). Die Patientin erreicht einen Gesamt-T-Wert von 73, entsprechend erreichen weniger als 1,1 % der Normpopulation vergleichbar hohe Werte, was als Identitätsdiffusion interpretiert wird. Behandlung: Besondere therapeutische Herausforderung war es, auf die starken Distanzierungs- und Autonomiewünsche der Patientin zu achten, um einen erneuten Therapieabbruch zu verhindern. Da jede Art von emotionaler Abhängigkeit von starker Angst begleitet wurde, waren die zentralen Abwehrmechanismen am Anfang der Behandlung Rationalisierung und Intellektualisierung (Diskrepanz zwischen fehlender emotionaler bei guter kognitiver Selbstreflexion, siehe AIDA-Profil). Sehr allmählich entstanden in der Therapie traurige Gefühle über die sehr traumatische Kindheit mit vielen Entbehrungen. 4 Diskussion Ein Kernbereich der beeinträchtigten psychosozialen Funktionen der von einer Persönlichkeitsstörung Betroffenen und somit ein Kernbereich der Störung überhaupt, ist die Identitätsentwicklung. Eine gestörte Identitätsentwicklung im Sinne einer Identitätsdiffusion beinhaltet eine stark beeinträchtigte Selbstreflexion, eine stark beeinträchtigte Emotionsregulation, ein Gefühl innerer Leere, Bedeutungslosigkeit, Wertlosigkeit und Orientierungslosigkeit sowie starke Instabilität bezüglich des Selbsterlebens und bezüglich zwischenmenschlicher Beziehungen. Auf Symptomebene kann sich eine Identitätsdiffusion durchaus vielseitig präsentieren (Depression, Selbstverletzendes Verhalten, Suizidalität, Unfähigkeit zu stabilen, nahen Beziehungen etc.). 598 M. Birkhölzer et al. Auf der anderen Seite können für eine Identitätsdiffusion typische Symptome eine völlig andere Grundlage haben. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Ursache, das Zugrundeliegende einer klinischen Symptomatik zu suchen und zu verstehen, damit die Identitätsdiffusion spezifisch behandelt werden kann. Mit dem AIDA wurde ein Instrument eingeführt, welches eine pathologische Identitätsentwicklung im Jugendalter differenziert und mit hervorragender statistischer Güte erfassen kann. Im klinischen Setting differenziert er deutlich zwischen Jugendlichen mit Persönlichkeitsstörung und anderen Störungsbildern (Depression etc.). Er kann somit sehr gut als ScreeningInstrument eingesetzt werden. Zudem können die Ergebnisse dem Untersucher dabei helfen, ein differenziertes Bild des Jugendlichen unter Einbeziehung der beeinträchtigten Kernbereiche etwaiger Identitätspathologie zu erlangen. Häufig sind Jugendliche erleichtert, wenn sie erfahren, dass es für ihre komplexen Schwierigkeiten einen Namen gibt und sie mit ihrer psychischen Störung nicht allein sind, dass ihre Probleme nachvollziehbar sind, dass sie wahrgenommen und verstanden werden und vor allem, dass man ihnen störungsspezifisch helfen kann, da inzwischen verschiedene störungsspezifische Therapiemethoden zur Verfügung stehen. Insbesondere wurde mit dem Adolescent Identity Treatment (Foelsch et al., 2013) eine identitätsstörungsspezifische Therapie für Jugendliche eingeführt. Fazit für die Praxis Es konnte gezeigt werden, dass Persönlichkeitsstörung bereits im Jugendalter diagnostiziert werden können. Es stehen verschiedene manualisierte Therapiemethoden zur Behandlung von Jugendlichen zur Verfügung, die unter einer Persönlichkeitsstörung leiden. Aus diesem Grund sollten Betroffene spezifisch nach ihrem Störungsbild behandelt werden, und man sollte ihnen nicht aufgrund befürchteter Stigmatisierung eine wirksame Therapiemethode vorenthalten. Die Erfassung und Therapie von Persönlichkeitsstörungen im Kindes- und Jugendalter ist notwendig, um der Verfestigung und Verschlimmerung der Problematik ins Erwachsenenalter entgegenzuwirken. Literatur APA – American Psychiatric Association (2000). DSM-IV, Diagnostic and Statistical Manual (4. Aufl.). Washington DC: American Psychiatric Publishing. APA – American Psychiatric Association (2013). DSM-5, Diagnostic and Statistical Manual (5. Aufl.). Washington DC: American Psychiatric Publishing. Becker, D. F., Grilo, C. M., Edell, W. S., McGlashan, T. H. (2002). Diagnostic efficiency of borderline personality disorder criteria in hospitalized adolescents: Comparison with hospitalized adults. 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Korrespondenzanschrift: Marc Birkhölzer, Jugendforensische Ambulanz (JAM), Universitäre Psychiatrische Kliniken, Wilhelm-Klein-Strasse 27, CH-4012 Basel; E-Mail: [email protected] Marc Birkhölzer, Kirstin Goth, Christian Schrobildgen, Klaus Schmeck und Susanne Schlüter-Müller, Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel/Schweiz; Susanne Schlüter-Müller, Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Frankfurt am Main/Deutschland ipabo_66.249.78.20 Visuelle Wahrnehmungsleistungen bei motorisch auffälligen Kindern – eine Pilotstudie Lina Werpup-Stüwe und Franz Petermann Summary Visual Perceptual Abilities of Children with Low Motor Abilities – A Pilot Study The results of many studies show visual perceptual deficits in children with low motor abilities. This study aims to indicate the correlation between visual-perceptual and motor abilities. The correlation of visual-perceptual and motor abilities of 41 children is measured by using the German versions of the Developmental Test of Visual Perception – Adolescent and Adult (DTVP-A) and the Movement Assessment Battery for Children – Second Edition (MABC-2). The visual-perceptual abilities of children with low motor abilities (n = 21) are also compared to the visual-perceptual abilities of children with normal motor abilities (the control group, n = 20). High correlations between the visual-perceptual and motor abilities are found. The perceptual abilities of the groups differ significantly. Nearly half of the children with low motor abilities show visual-perceptual deficits. Visual perceptual abilities of children suffering coordination disorders should always be assessed. The DTVP-A is useful, because it provides the possibilities to compare motor-reduced visual-perceptual abilities and visualmotor integration abilities and to estimate the deficit’s degree. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64/2015, 601-616 Keywords visual perception – low motor abilities – DTVP-A – correlation – comparative study Zusammenfassung Viele Studien weisen auf das Vorliegen von visuellen Wahrnehmungsdefiziten bei motorisch auffälligen Kindern hin. Diese Studie beschäftigt sich mit den Zusammenhängen zwischen den motorischen Leistungen Handgeschicklichkeit, Ballfertigkeiten und Balance und visuoperzeptiven sowie visuo-motorischen Wahrnehmungsfähigkeiten. Der Zusammenhang der visuellen Wahrnehmungsleistungen mit den motorischen Fertigkeiten von 41 Kindern wird anhand des Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung für Jugendliche und Erwachsene (FEW-JE) und der Movement Assessment Battery for Children – Second Edition (M-ABC-2) erhoben. Zudem werden die visuellen Wahrnehmungsleistungen der motorisch auffälligen Kinder (n = 21) mit denen von motorisch unauffälligen Kindern (n = 20) verglichen. Die visuellen Wahrnehmungsleistungen der Kinder korrelieren stark mit den motorischen Leistungen. Die Wahrnehmungsleistungen beider Gruppen unterscheiden sich Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 601 – 616 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 602 L. Werpup-Stüwe, F. Petermann signifikant. Knapp die Hälfte der motorisch auffälligen Kinder weist visuelle Wahrnehmungsdefizite auf. Im Rahmen der klinischen Diagnostik und der Therapieplanung sollten die visuellen Wahrnehmungsfähigkeiten von Kindern mit motorischen Defiziten immer überprüft werden. Der Einsatz eines Testverfahrens wie dem FEW-JE erscheint angemessen, da sich die motorik-reduzierten visuellen Wahrnehmungsleistungen gezielt mit den Leistungen im Bereich der visuo-motorischen Integration vergleichen lassen und so der Schweregrad der visuellen Wahrnehmungsdefizite eingeordnet werden kann. Schlagwörter visuelle Wahrnehmung – motorische Funktionen – FEW-JE – Korrelation – Vergleichsstudie 1 Hintergrund 1.1 Motorische Entwicklungsstörungen Motorisch auffällige Kinder können Defizite in den Bereichen Grob- und Feinmotorik aufweisen (vgl. z. B. Kastner et al., 2011; Knievel u. Petermann, 2008. Feinmotorische Defizite zeigen sich beispielsweise beim Ausführen alltäglicher Handlungen (Selbstversorgung, Spiel- und Freizeitaktivitäten) und oftmals auch in schlechten Schulleistungen im Schreiben. Grobmotorische Auffälligkeiten kann man an einem ungeschickten Umgang der Kinder mit dem Ball oder häufige Stürze erkennen (Kastner u. Petermann, 2009). Das DSM-5 erfasst das beschriebene Störungsbild unter der Diagnose „Entwicklungsbezogene Koordinationsstörung“, wobei bei dieser Störung häufig auch kognitive Defizite und psychische Verhaltensauffälligkeiten auftreten (Kastner u. Petermann, 2010a, b). Zur Diagnosestellung ist zunächst relevant, dass die Ausführung von koordinierten motorischen Bewegungsabläufen des Kindes wesentlich unter dem Niveau liegen muss, das für sein Lebensalter und seine Lernund Übungsmöglichkeiten zu erwarten wäre. Dabei sind Ungeschicklichkeiten (wie beispielsweise an Gegenstände anstoßen) und verlangsamt ausgeführte bzw. ungenau koordinierte Bewegungsabläufe (z. B. beim Fangen eines Balls oder Benutzen einer Schere) beobachtbar. Die beschriebenen Schwierigkeiten müssen zur Diagnosestellung zudem Aktivitäten des täglichen Lebens, die für das Lebensalter angemessen sind (z. B. schulische Fertigkeiten und Freizeitaktivitäten) deutlich und überdauernd behindern sowie die schulische Leistungsfähigkeit, Ausbildungsaktivitäten, berufliche Tätigkeiten oder das Freizeit- und Spielverhalten beeinträchtigen. Außerdem muss der Beginn der Symptomatik in einer frühen Entwicklungsphase liegen und die motorischen Schwierigkeiten dürfen sich nicht besser durch eine intellektuelle Beeinträchtigung oder Sehstörung erklären lassen bzw. dürfen nicht auf neurologischen Faktoren basieren, die mit Bewegungsabläufen in Verbindung stehen (z. B. Zerebralparese oder degenerative Erkrankungen). ipabo_66.249.78.20 ����������������������������������������������������������������������� Visuelle Wahrnehmungsleistungen bei motorisch auffälligen Kindern������ 603 Die ICD-10 bietet eine vergleichbare Möglichkeit, Beeinträchtigungen der motorischen Leistungsfähigkeit zu erfassen; sie werden unter dem Begriff „Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen“ (F82, kurz UEMF) klassifiziert. Das Hauptmerkmal bildet eine schwerwiegende Entwicklungsbeeinträchtigung der motorischen Koordination, welche nicht allein durch eine Intelligenzminderung oder eine neurologische Störung erklärbar sein darf, und die Schulausbildung oder alltägliche Tätigkeiten beeinflussen muss. Die European Academy for Childhood Disability (EACD) stellt Diagnosekriterien bereit, nach denen das Störungsbild sowohl nach ICD-10 als auch nach DSM-5 klassifizierbar ist (vgl. Blank, Smits-Engelsman, Polatajko, Wilson, 2012). Sie sind in Kasten 1 dargestellt. In der internationalen Fachliteratur wird zur Beschreibung der Störung meist die DSM-5-Diagnose „Developmental coordination disorder (DCD)“ (dt. Entwicklungsbezogene Koordinationsstörung) verwendet. Die EACD empfiehlt, diesen Begriff in Ländern zu verwenden, in denen das Klassifikationssytem DSM-5 gilt. In Ländern, in denen die ICD-10 gültig ist (u. a. in Deutschland), sollte der dazugehörige Begriff UEMF (engl. „Specific developmental disorder of motor functions“) verwendet werden. In einigen Studien werden zur Beschreibung des Störungsbildes auch die Begriffe „motorische Ungeschicklichkeit“ (bzw. engl. „clumsiness“) oder „Kinder mit schwachen motorischen Fähigkeiten“ (engl. „children with low motor ability“) verwendet (vgl. Bonifacci, 2004; Schott u. Roncesvalles, 2004). Kasten 1: Diagnosekriterien für Entwicklungsbezogene Koordinationsstörung/Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen nach EACD (modifiziert nach Blank et al., 2012) 1. Die motorische Leistung liegt wesentlich unter dem Niveau, das aufgrund des chronologischen Alters bei angemessenen Entwicklungsbedingungen zu erwarten wäre. Die schwache motorische Leistung kann sich in schwacher Balancefähigkeit, in Ungeschicklichkeit, im Fallenlassen von oder im Zusammenstoßen mit Objekten zeigen oder in anderen Schwierigkeiten beim Erwerb von basalen motorischen Fertigkeiten (z. B. Fangen, Werfen oder Schießen von Bällen sowie Rennen, Springen, Hüpfen, Schneiden, Anmalen, Drucken, Handschreiben). Ebenso können deutliche Verzögerungen im Erreichen von entwicklungsbedingten motorischen Meilensteinen (z. B. Laufen, Krabbeln, Sitzen) berichtet werden. 2. Die bestehenden motorischen Schwierigkeiten behindern die Alltagsaktivitäten oder Schulleistungen (z. B. Selbstfürsorge und -pflege, Handschrift, schulische/berufliche Leistung, Freizeitund Spielaktivitäten) wesentlich. 3. Die Beeinträchtigung der motorischen Koordination ist nicht allein durch eine Intelligenzminderung zu erklären. Die Störung lässt sich nicht durch eine spezifische angeborene oder erworbene neurologische Schädigung oder psychosoziale Probleme (z. B. durch eine schwere Aufmerksamkeitsstörung) erklären. Die UEMF gehört mit einer Prävalenz von 5-6 % zu einer der häufigsten Störungen des Kindes- und Jugendalters (Dewey u. Wilson, 2001; Kadesjo u. Gillberg, 1998; Mandich u. Polatajko, 2003). Die Ursachen der Störung sind noch unklar. Es wird allerdings von multikausalen Erklärungsansätzen ausgegangen (Kastner u. Petermann, 2009). Die Defizite der Kinder sind sehr unterschiedlich ausgeprägt (Dewey 604 L. Werpup-Stüwe, F. Petermann u. Wilson, 2001) und sie bestehen vermutlich bis ins Erwachsenenalter (Cousins u. Smyth, 2003; Mandich u. Polatajko, 2003; Schott u. Roncesvalles, 2004). Bei Kindern mit visuellen Wahrnehmungsstörungen lassen sich oftmals nicht nur ähnliche Defizite (z. B. im Laufen, Fangen, Werfen, Abzeichnen; vgl. Petermann et al., 2013) beobachten, sondern auch Zusammenhänge zwischen motorischen und visuellen Wahrnehmungsstörungen feststellen (vgl. z. B. Kastner et al., 2011; Knievel u. Petermann, 2008). 1.2 Visuelle Wahrnehmung und Motorik Bei der Erforschung visueller Wahrnehmungsleistungen ist es besonders problematisch, dass unterschiedliche Begriffe zur Spezifizierung herangezogen werden und bislang keine eindeutige Definition einer „visuellen Wahrnehmungsstörung“ nach ICD-10 oder DSM-5 existiert. In der vorliegenden Studie wird visuelle Wahrnehmung als Bestandteil der Informationsverarbeitung definiert, der zwischen der Sinnesempfindung (passive Reaktion der Rezeptorzellen) und komplexen kognitiven Prozessen (z. B. gesprochene und geschriebene Sprache, Denken und Schlussfolgern) vermittelt. Visuelle Wahrnehmung beinhaltet demnach einfache Prozesse wie die Wahrnehmung von Farbe, Form etc. Hierzu gehören die Aspekte „Formkonstanz“, „Figur-Grund-Unterscheidung“, „Lage im Raum“ und „Räumliche Beziehungen“ (Reynolds, Pearson, Voress, 2002). Bei der visuellen Wahrnehmung lassen sich zwei eng verknüpfte, aber unterschiedlich spezialisierte kortikale visuelle Systeme unterscheiden. Das eine System verarbeitet die Wahrnehmung von Objekten. Es handelt sich um einen ventral verlaufenden Pfad, der vom primären visuellen Kortex in den inferiotemporalen Kortex projiziert. Das andere System verläuft dorsal vom primären visuellen Kortex in den intraparietalen Sulcus und den superioren okzipito-parietalen Kortex. Hier werden räumliche Wahrnehmungsaspekte verarbeitet, die auch zur Bewegungsanbahnung (z. B. Greifen von Objekten) relevant sind (Goodale, 2013). Demnach ist davon auszugehen, dass visuelle Wahrnehmungsaufgaben, die Bewegung beinhalten (z. B. Abzeichnen) eher über die dorsale Route verarbeitet werden und dass die Lösung motorik-reduzierter Aufgaben (z. B. Formkonstanz) eher über den ventralen Pfad erfolgt. Neuropsychologische Studien kommen zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung des dorsalen Pfades im Vergleich zur Entwicklung des ventralen Pfades empfindlicher für Funktionsstörungen ist („Dorsal stream vulnerability“; vgl. Braddick, Atkinson, Wattam-Bell, 2003). Die Schnittstelle zwischen motorischer Handlung und visueller Wahrnehmung bildet die Visuomotorik (AWMF, 2009). Die Hirnregion, in der die visuo-motorischen Transformationen erfolgen, ist ebenfalls der intraparietale Sulcus. Hier werden die sensorischen Informationen in körperzentrierte Koordination transformiert. Der anteriore intraparietale Sulcus ist unter anderem beim visuell geführten Greifen, beim vorgestellten Objektmanipulieren und beim mentalen Rotieren aktiviert und zuständig für die Analyse dreidimensionaler Informationen im Zusammenhang mit Greifbewegungen. In die visuelle Kontrolle von Bewegungen sind zudem Regionen im su- ipabo_66.249.78.20 ����������������������������������������������������������������������� Visuelle Wahrnehmungsleistungen bei motorisch auffälligen Kindern������ 605 perioren Parietallappen beteiligt (vgl. Jäncke, 2013). Bei vielen neuropsychologischen und Entwicklungsstörungen (Autismus, Williams Syndrom, frühgeborene Kinder) konnte bereits nachgewiesen werden, dass die Funktionen des dorsalen Pfades der betroffenen Kinder häufig gestört sind. Ob dies auch auf Kinder mit UEMF zutrifft, ist bislang fraglich (vgl. Übersicht von Braddick u. Atkinson, 2013). Die Ergebnisse einiger Studien, die mit Kindern mit motorischen Entwicklungsstörungen durchgeführt worden sind, weisen auf defizitäre Funktionen in der dorsalen Verarbeitung der visuellen Informationen hin. Im Rahmen der Validierung des FEW-2 wurden die visuellen Wahrnehmungsleistungen von Kindern mit UEMF im Alter von fünf bis acht Jahren mit denen einer Kontrollgruppe verglichen. Die Kinder mit UEMF wiesen defizitäre Leistungen in der visuo-motorischen Integration auf, während sie in den motorik-reduzierten Leistungen im Durchschnitt altersgemäße Leistungen erzielten (Büttner, Dacheneder, Schneider, Weyer, 2008). Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt auch eine Studie von Bonifacci (2004), in der Kinder mit geringen grobmotorischen Leistungen signifikant schlechter in Aufgaben zur visuo-motorischen Integration abschnitten als Kinder mit überdurchschnittlichen grobmotorischen Leistungen; es waren jedoch keine Gruppenunterschiede in den motorik-reduzierten visuellen Wahrnehmungsaufgaben nachweisbar. Eine andere Studie von Schoemaker et al. (2001), bei der die visuellen Wahrnehmungsleistungen von Sechs- bis Zwölfjährigen mit UEMF mit denen einer gleichaltrigen Kontrollgruppe verglichen wurden, ergab hingegen nicht nur signifikante Unterschiede in der Subskala „Visuo-motorischen Integration“, sondern auch in den motorik-reduzierten Untertests „Gestaltschließen“ und „Lage im Raum“ im Developmental Test of Visual Perception (DTVP-2; Hammill, Pearson, Voress, 1993), was auf eine zusätzliche Störung des ventralen Verarbeitungspfades hinweist. Bei einer weiteren Studie mit Neun- und Zehnjährigen schnitten die motorisch gestörten Kinder in der Gesamtskala und in allen Untertests eines motorik-freien visuellen Wahrnehmungstests, der unter anderem Aufgaben zur Erfassung der Formkonstanz, des Gestaltschließens und der Figur-Hintergrund-Unterscheidung enthält, signifikant schlechter ab als die Kontrollgruppe (Tsai, Wilson, Wu, 2008). In anderen Studien erzielten Kinder mit entwicklungsbedingter Koordinationsstörung signifikant schwächere Leistungen beim Abzeichnen geometrischer Figuren als motorisch unauffällige Gleichaltrige (Dewey u. Wilson, 2001; Van Waelvelde, de Weerdt, de Cock, SmitsEngelsman, 2004). 2 Fragestellungen Basierend auf der Annahme, dass die motorik-reduzierte visuelle Wahrnehmung und die motorische Koordination zwei getrennte neuropsychologische Systeme darstellen, würden schwache Leistungen in Tests zur Erfassung visuo-motorischen Integration keinen Hinweis darauf geben, ob die Defizite im Bereich der Motorik oder der visuellen Wahr- 606 L. Werpup-Stüwe, F. Petermann nehmung bestehen oder ob sogar in beiden Bereichen Schwierigkeiten vorliegen (vgl. Büttner et al., 2008). Davon lässt sich ableiten, dass bei auffälligen Leistungen in der visuomotorischen Integration immer die motorik-reduzierten visuellen Wahrnehmungs- und die motorischen Leistungen untersucht werden müssen. So würde ein niedriger Testwert in der visuo-motorischen Integration in Kombination mit einem durchschnittlichen Testergebnis in einem motorik-reduzierten visuellen Wahrnehmungstest auf eine Beeinträchtigung des dorsalen Verarbeitungspfades hinweisen. In anderen Studien zeigen motorisch auffällige Kinder jedoch ebenfalls defizitäre Leistungen in motorik-reduzierten visuellen Wahrnehmungstests, was ein Hinweis auf zusätzliche Funktionsstörungen im ventralen Verarbeitungspfad wäre. Aus diesem Grund soll die vorliegende Studie prüfen, ob sich neben den Leistungen von motorisch auffälligen Kindern in Aufgaben zur Erfassung der visuo-motorischen Integration auch ihre motorik-reduzierten Leistungen von denen einer motorisch unauffälligen Kontrollgruppe unterscheiden. Unter klinisch-kinderpsychologischen Gesichtspunkten soll zudem gezeigt werden, wie viele motorisch auffällige Kinder im späten Kindesalter Defizite in den unterschiedlichen visuellen Wahrnehmungsleistungen aufweisen. Hierbei soll der Anteil der auffälligen Kinder bezogen auf die visuelle Gesamtleistung angegeben werden; zudem der Anteil der in den einzelnen Teilbereichen auffälligen Kinder. In diesem Zusammenhang soll ebenfalls verdeutlicht werden, wie viele Kinder leichte, mittlere und schwere Wahrnehmungsdefizite zeigen. Außerdem sollen die Zusammenhänge zwischen verschiedenen motorischen Leistungen (Handgeschicklichkeit, Ballfertigkeiten und Balance) und motorik-reduzierten sowie motorik-abhängigen visuellen Wahrnehmungsleistungen ermittelt werden, um zu überprüfen, ob die motorischen Fähigkeiten nur mit den visuo-motorischen Leistungen oder auch mit den motorik-reduzierten visuellen Wahrnehmungsleistungen zusammenhängen. 3 Methodik 3.1 Stichprobe Von Dezember 2012 bis August 2014 wurden die Daten von insgesamt 41 Schulkindern im Alter von 9 bis 14 Jahren erhoben. Wesentliche Stichprobenmerkmale sind Tabelle 1 zu entnehmen. Zum Großteil erfolgte die Datenerhebung in einer universitären Forschungseinrichtung. Einige Kinder wurden auch an kooperierenden Schulen in Norddeutschland untersucht. Die Akquise erfolgte über Pressemitteilungen und in Kooperationen mit Förderstellen. Die untersuchten Kinder wurden anhand ihrer Leistungen im Motoriktest in zwei Gruppen aufgeteilt. Die Kinder, deren Leistungen im Motoriktest als kritisch oder therapiebedürftig (Prozentrang < 15) eingestuft wurden, bilden die Gruppe der motorisch auffälligen Kinder (n = 20); die Kinder, die keine Defizite im Motoriktest aufwiesen, werden der Kontrollgruppe (KG, n = 21) zugeordnet. Anhand der Durchfüh- ipabo_66.249.78.20 ����������������������������������������������������������������������� Visuelle Wahrnehmungsleistungen bei motorisch auffälligen Kindern������ 607 rung eines Wortschatz- und eines Matrizentests wurde ausgeschlossen, dass die Ergebnisse von Kindern mit Intelligenzminderung in die Analysen einbezogen wurden. Hierzu wurde festgelegt, dass die Kinder im Wortschatz- oder Matrizentest in der Wechsler Intelligence Scale for Childen – Fourth Edition (WISC-IV; Petermann u. Petermann, 2014) ein Ergebnis von mindestens vier Wertpunkten (entspricht einem IQ-Wert von mindestens 70) erzielen müssen. Nach ICD-10 kann für die motorisch auffälligen Kinder die Diagnose UEMF gestellt werden. Da nach EACD-Richtlinien zur Diagnostik einer UEMF immer auch eine vollständige Familien-, Patienten- und Krankheitsanamnese notwendig ist (vgl. Blank et al., 2012), die im Rahmen der vorliegende Studie allerdings nur reduziert durch einen Elternfragebogen erfolgt ist, wird im Folgenden der Terminus „motorisch auffällige Kinder“ und nicht „Kindern mit UEMF“ verwendet. Laut Elternauskunft sind zwei Kinder Frühgeborene (vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren). Bei sechs Kinder (29 %) gab es Geburtskomplikationen. Bei vier Kindern (19 %) wurde eine Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert, bei zwei Kindern frühkindlicher Autismus (10 %) und bei einem Kind (5 %) eine Asperger-Problematik. Keines der Kinder weist eine Lese-Rechtschreibstörung oder Rechenstörung auf. Den Angaben der Eltern ist zudem zu entnehmen, dass acht Kinder (38 %) verspätet (im Alter von mehr als 42 Wochen) begonnen haben oder gar nicht das „Krabbelstadium“ durchlaufen haben und, dass neun Kinder (43 %) verspätet (im Alter von mehr als 60 Wochen) ohne Hilfe Laufen konnten. Des Weiteren geben die Eltern an, dass ihre Kinder die folgenden Alltagsfertigkeiten nicht beherrschen: sechs Kinder (29 %) zeigen Auffälligkeiten beim Werfen, 13 (62 %) beim Fangen, zwölf (57 %) beim Balancieren, zehn (48 %) beim Rückwärts gehen, neun (43 %) beim Malen, zehn (48 %) beim Zeichnen und elf (52 %) beim Basteln. Tabelle 1: Ausgewählte Stichprobenmerkmale Alter in Monaten Geschlecht: Händigkeit Schultyp Muttersprache männlich weiblich links rechts Grundschule Real-/Gesamt-/Oberschule Gymnasium Förderschule Sonstige Deutsch Deutsch und andere andere KG (n = 20) 132 ± 17 13 (65 %) 7 (35 %) 1 (5 %) 19 (95 %) 10 (50 %) 4 (20 %) 5 (25 %) 0 (0 %) 1 (5 %) 17 (85 %) 3 (15 %) 0 (0 %) Anmerkungen: KG = Kontrollgruppe, MAK = motorisch auffällige Kinder MAK (n = 21) 132 ± 17 14 (67 %) 7 (33 %) 2 (9,5 %) 19 (91,5 %) 5 (24 %) 1 (5 %) 1 (5 %) 12 (57 %) 2 (10 %) 17 (81 %) 3 (14 %) 1 (5 %) 608 L. Werpup-Stüwe, F. Petermann 3.2 Instrumente Zur Erhebung der visuellen Wahrnehmungsleistungen wurde Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung – Jugendliche und Erwachsene (FEW-JE; Petermann et al., 2013) eingesetzt. Der FEW-JE ist für den Altersbereich von 9 bis 90 Jahren normiert. Der Gesamtindex „Allgemeine visuelle Wahrnehmung“ repräsentiert inhaltlich das, was im Rahmen dieser Studie als visuelle Wahrnehmung definiert wird. Der Indexwert wird aus den Leistungen in sechs Untertests gebildet, von denen jeder einen spezifischen Aspekt der visuellen Wahrnehmung erfasst. Im FEW-JE sind zwei grundlegende Formate zur Testung visueller Wahrnehmungsfähigkeiten integriert worden, die sich in den folgenden Skalen widerspiegeln: motorik-reduzierte Aufgaben und Aufgaben zur visuo-motorischen Integration. Der Index „Motorik-reduzierte visuelle Wahrnehmung“ erfasst die visuellen Wahrnehmungsleistungen in den Untertests „Figur-Grund“, „Gestaltschließen“ und „Formkonstanz“ ohne den Gebrauch von handmotorischen Fähigkeiten. Der Index „Visuo-motorische Integration“ setzt sich aus den Untertests „Abzeichnen“, „Visuomotorische Suche“ und „Visuo-motorische Geschwindigkeit“ zusammen. Die motorischen Fähigkeiten der Kinder wurden mit der deutschsprachigen Adaption der Movement Assessment Battery for Children – Second Edition (M-ABC-2; Petermann, 2009) erhoben. Die M-ABC-2 erfasst die motorischen Leistungen in den Bereichen Handgeschicklichkeit, Ballfertigkeiten und Balance. Je nach Altersgruppe kommen unterschiedliche Untertests zum Einsatz. Es werden jeweils acht Untertests durchgeführt, aus denen sich auch ein Gesamttestwert berechnen lässt. Die M-ABC-2 ist für den Altersbereich von 3 bis 16 Jahren normiert. Die kognitive Leistungsfähigkeit der Kinder wurde anhand der Untertests „Wortschatztest“ und „Matrizentest“ aus der Wechsler Intelligence Scale for Childen – Fourth Edition (WISC-IV; Petermann u. Petermann, 2014) geschätzt. 3.3 Statistik Die statistischen Berechnungen sind in drei Abschnitte unterteilt: Der erste Abschnitt enthält nonparametrische Gruppenvergleiche, die anhand des U-Tests nach MannWhitney berechnet werden. Das Signifikanzniveau wird auf α = 0.05 festgelegt. Die Vergleiche auf Untertestebene wurden indexweise nach Bonferroni-Holm gegen eine Inflation des α-Fehlers abgesichert. Zudem wird die Effektstärke d angegeben. Dann wird der prozentuale Anteil der Kinder dargestellt, die auffällige Werte (mindestens 1 SD unterhalb des mittleren Normwertes) im FEW-JE, das heißt Werte von klinischer Relevanz (mindestens -1.5 SD) und weit unterdurchschnittliche Werte (mindestens -2 SD) aufweisen. Im dritten Abschnitt folgt die Darstellung der korrelativen Zusammenhänge zwischen den visuellen Wahrnehmungs- und den motorischen Leistungen anhand der Produkt-Moment-Korrelation nach Pearson (r). ipabo_66.249.78.20 ����������������������������������������������������������������������� Visuelle Wahrnehmungsleistungen bei motorisch auffälligen Kindern������ 609 4 Ergebnisse 4.1 Gruppenunterschiede im FEW-JE Die visuellen Wahrnehmungsleistungen der beiden Gruppen unterscheiden sich signifikant im Gesamtindex des FEW-JE („Allgemeine visuelle Wahrnehmung“), in den beiden Indexwerten („Motorik-reduzierte visuelle Wahrnehmung“ und „Visuomotorische Integration“) sowie den Untertests „Gestaltschließen“, „Formkonstanz“, „Abzeichnen“ und „Visuo-motorische Suche“. Die Effekte sind als groß einzustufen. Die beiden Gruppen unterscheiden sich zudem tendenziell im Untertest „FigurGrund“. Die Kinder der Kontrollgruppe (KG) erzielen im Durchschnitt die besseren Leistungen. In der „Visuo-motorische Geschwindigkeit“ zeigen sich keine Gruppenunterschiede. Die Mittelwerte der KG liegen insgesamt im durchschnittlichen Bereich (Indexwerte: 85-114, Untertests Wertpunkte: 7-13), die Mittelwerte der Gruppe der motorisch auffälligen Kinder in der „Allgemeinen visuellen Wahrnehmung“ und im Untertest „Abzeichnen“ darunter (vgl. Tab. 2). Tabelle 2: Gruppenvergleich der visuellen Wahrnehmungsleistungen Allg. visuelle Wahrnehmung Motorik-reduzierte visuelle Wahrnehmung Figur-Grund Gestaltschließen Formkonstanz Visuo-motorische Integration Abzeichnen Visuo-motorische Suche Visuo-motorische Geschwindigkeit KG MAK (n = 20) (n = 21) M SD M SD Diff. 104,4 ±13,8 84,1 ±20,9 20,3 105,5 ±13,3 88,0 ±20,9 11,2 ±2,6 9,0 ±3,0 10,5 ±2,5 7,6 ±3,7 10,8 ±2,4 8,1 ±4,0 101,6 ±13,0 86,1 ±17,4 9,5 ±4,0 6,0 ±3,2 10,4 ±2,9 8,3 ±3,0 10,8 ±3,4 9,7 ±2,8 17,5 2,2 2,9 2,7 15,5 3,5 2,1 U 84,000 110,000 130,500 106,000 132,000 92,000 102,000 118,000 p α d 0,001 0,050 1,20 0,009 0,037 0,006 0,041 0,002 0,004 0,015 0,050 0,025 0,017 0,050 0,050 0,017 0,025 0,89 0,69 0,94 0,67 1,10 0,99 0,82 1,1 164,500 0,232 0,050 0,38 Anmerkungen: Diff. = Differenz, KG = Kontrollgruppe, M = Mittelwert, MAK = motorisch auffällige Kinder, SD = Standardabweichung, U = Mann-Whitney-U-Testwert, p = Signifikanz, α = indexweise nach Bonferroni-Holm korrigierter α-Fehlerwert, d = Effektstärke 4.2 Prozentuale Verteilungen der im FEW-JE auffälligen Kinder Ein Kind (5 %) aus der KG zeigt ein leichtes visuelles Wahrnehmungsdefizit (-1 SD vom Normmittelwert) im Gesamtindex des FEW-JE („Allgemeine visuelle Wahrnehmung“). Auf Subskalen- und Untertestebene zeigt ebenfalls je ein Kind (5 %) aus 610 L. Werpup-Stüwe, F. Petermann der KG auffällige Leistungen im Index „Visuo-motorische Integration“ sowie bei den Untertests „Gestaltschießen“ und „Visuo-motorische Suche“. Im Index „Motorik-reduzierte visuelle Wahrnehmung“ und in den Untertests „Formkonstanz“ und „Visuo-motorischen Geschwindigkeit“ weisen je zwei Kinder (10 %) der KG auffällige Leistungen auf; beim Untertest „Abzeichnen“ sind es vier Kinder (20 %). Kein Kind der KG ist auffällig im Untertest „Figur-Grund“. Die Wahrnehmungsdefizite sind als leicht (-1 SD vom Normmittelwert) bis mittelstark (-1,5 SD vom Normmittelwert) einzustufen. Neun der motorisch auffälligen Kinder (42,9 %) erzielen auffällige Werte (mindestens -1 SD vom Normmittelwert) in der „Allgemeinen visuellen Wahrnehmung“. Zwei Kinder (9,5 %) weisen leichte Wahrnehmungsdefizite und zwei (9,5 %) mittelschwere Defizite auf. Bei fünf Kindern (23,8 %) sind die visuellen Wahrnehmungsdefizite als schwer einzustufen. Zwölf Kinder (57, 1 %) zeigen auffällige Leistungen im Index „Motorik-reduzierte visuelle Wahrnehmung“ und neun Kinder im Index „Visuo-motorische Integration“ (42,9 %). Am häufigsten weisen die motorisch auffälligen Kinder defizitäre Leistungen im Untertest „Abzeichnen“ (11 Kinder = 52,4 %) auf, gefolgt von „Formkonstanz“ (7 Kinder = 33,3 %), „Gestaltschließen“ (6 Kinder = 28,6 %) und „Figur-Grund“ sowie „Visuo-motorische Suche“ (jeweils 4 Kinder = 19,0 %). Im Untertest „Visuo-motorische Geschwindigkeit“ erzielen zwei Kinder (9,5 %) ein auffälliges Ergebnis. Alle prozentualen Verteilungen sind Tabelle 3 zu entnehmen. Tabelle 3: Prozentuale Verteilung der im FEW-JE auffälligen Kinder Index/Untertest Allgemeine visuelle Wahrnehmung Motorik-reduzierte visuelle Wahrnehmung Figur-Grund Gestaltschließen Formkonstanz Visuo-motorische Integration Abzeichnen Visuo-motorische Suche Visuo-motorische Geschwindigkeit ges. 5,0 KG (n = 20) leicht mittel schwer 5,0 0,0 0,0 MAK (n = 21) ges. leicht mittel schwer 42,9 9,5 9,5 23,8 10,0 0,0 5,0 10,0 5,0 20,0 5,0 5,0 0,0 0,0 10,0 0,0 0,0 0,0 5,0 0,0 5,0 0,0 5,0 20,0 5,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 57,1 19,0 28,6 33,3 42,9 52,4 19,0 28,6 4,8 9,5 9,5 19,0 14,3 4,8 9,5 9,5 0,0 9,5 9,5 9,5 4,8 19,0 4,8 19,0 14,3 14,3 28,6 9,5 10,0 5,0 5,0 0,0 9,5 4,8 4,8 0,0 Anmerkungen: KG = Kontrollgruppe, leicht Kinder, die leichte visuelle Wahrnehmungsdefizite aufweisen (-1 SD, Indexwerte < 85, Wertpunkte in Untertests < 7 im FEW-JE), MAK = motorisch auffällige Kinder, mittel Kinder mit mittelschweren visuellen Wahrnehmungsdefiziten (-1,5 SD, Indexwerte < 78, Wertpunkte in Untertests < 6 im FEW-JE), SD = Standardabweichung, schwer Kinder, bei denen schwere visuelle Wahrnehmungsdefizite vorliegen (-2 SD, Indexwerte < 70, Wertpunkte in Untertests < 4 im FEW-JE) ipabo_66.249.78.20 ����������������������������������������������������������������������� Visuelle Wahrnehmungsleistungen bei motorisch auffälligen Kindern������ 611 4.3 Korrelationen Die Korrelationen zwischen den Indexwerten des FEW-JE und den Skalen der MABC-2 über den gesamten Datensatz sind in Tabelle 4 dargestellt. Die Indexwerte des FEW-JE korrelieren alle signifikant mit dem Gesamtwert und den Skalenwerten der M-ACB-2. Alle Korrelationen sind als mittelstark bis stark einzustufen. Der stärkste Zusammenhang besteht zwischen dem Index „Allgemeine visuelle Wahrnehmung“ und dem Gesamtwert der M-ABC-2 (r = .615, p = .000, N = 41). Der Index „Allgemeine visuelle Wahrnehmung“ korreliert am stärksten mit der M-ABC-2Skala „Balance“ (r = .588, p = .000, N = 41), gefolgt von „Handgeschicklichkeit“ (r = .541, p = .000, N = 41) und schließlich „Ballfertigkeiten“ (r = .428, p = .005, N = 41). Zwischen dem Index „Visuo-motorische Integration“ und dem Gesamtwert der M-ABC-2 besteht ein etwas stärkerer Zusammenhang (r = .584, p = .000, N = 41) als zwischen dem Indexwert „Motorik-reduzierte visuelle Wahrnehmung“ und dem M-ABC-2-Gesamtwert (r = .537, p = .000, N = 41). Am stärksten hängt der Index „Visuo-motorische Integration“ mit dem Skalenwert „Handgeschicklichkeit“ zusammen (r = .558 p = .000, N = 41). Etwas geringer ist der Zusammenhang mit der Skala „Balance“ (r = .482, p = .000, N = 41) und der Skala „Ballfertigkeiten“ (r = .439, p = .000, N = 41). Der Index „Motorik-reduzierte visuelle Wahrnehmung“ korreliert am stärksten mit der Skala „Balance“ (r = .578, p = .000, N = 41), etwas geringer mit der Skala „Handgeschicklichkeit“ (r = .432, p = .000, N = 41) und am geringsten mit der Skala „Ballfertigkeiten“. Tabelle 4: Korrelationen zwischen den Indexwerten des FEW-JE und den Skalen der M-ABC-2 (N = 41) AVW Gesamtwert Handgeschicklichkeit Ballfertigkeiten Balance r .615 .541 .428 .588 p .000 .000 .005 .000 MRVW r p .537 .000 .432 .005 .348 .026 .578 .000 VMI r .584 .558 .439 .482 p .000 .000 .004 .001 Anmerkungen: AVW = Allgemeine visuelle Wahrnehmung, MRVW = motorik-reduzierte visuelle Wahrnehmung, p = Signifikanz, r = Produkt-Moment-Korrelationskoeffizient nach Pearson, VMI = Visuo-motorische Integration 5 Diskussion Die vorliegende Studie sollte überprüfen, ob sich die Leistungen von motorisch auffälligen und motorisch unauffälligen Kindern nur in Aufgaben zur Erfassung der visuo-motorischen Integration oder auch in ihren motorik-reduzierten Leistungen unterscheiden. Die motorisch auffälligen Kinder erzielten sowohl im Gesamtindex des FEW-JE („Allgemeine visuelle Wahrnehmung“) als auch in den beiden Index- 612 L. Werpup-Stüwe, F. Petermann werten „Motorik-reduzierte visuelle Wahrnehmung“ und „Visuo-motorische Integration“ signifikant schwächere Leistungen als die motorisch unauffälligen Kinder. Dies spricht für das Vorliegen von Funktionsstörungen im dorsalen und ventralen Verarbeitungspfad. Auf Untertestebene zeigen sich zudem signifikante Unterschiede in den Untertests „Gestaltschließen“, „Formkonstanz“, „Abzeichnen“ und „Visuo-motorische Suche“. Die große Effektstärke spricht für eine klinische Relevanz der Ergebnisse. Die klinische Bedeutsamkeit der Ergebnisse wird dadurch unterstrichen, dass knapp die Hälfte der untersuchten motorisch auffälligen Kinder auffällige Werte (mindestens -1 SD vom Normmittelwert) im Gesamtindex des FEW-JE („Allgemeinen visuellen Wahrnehmung“) aufweist, von denen wiederum die Hälfte leichte bis mittelschwere und die andere Hälfte sogar schwere visuelle Wahrnehmungsdefizite zeigt. Hervorzuheben ist hierbei ebenfalls, dass etwas mehr Kinder (57,1 %) auffällige Leistungen im Index „Motorik-reduzierte visuelle Wahrnehmung“ als Index „Visuo-motorische Integration“ (42,9 %) erbringen. Im Kontrast hierzu stehen die Ergebnisse der Korrelationen: Der Indexwert „Visuo-motorische Integration“ korreliert höher mit dem Gesamtwert der M-ABC-2 als der Index „Motorik-reduzierte visuelle Wahrnehmung“. Während die Leistungen in der Handgeschicklichkeit und den Ballfertigkeiten stärker mit den Leistungen in der visuo-motorischen Integration zusammenhängen, korreliert die Skala „Balance“ stärker mit den motorik-reduzierten visuellen Wahrnehmungsleistungen. Dies wirft die Frage auf, ob es sich bei der visuellen Wahrnehmung und der motorischen Koordination tatsächlich um zwei getrennte neuropsychologische Systeme handelt, deren gemeinsamer Schnittpunkt die Visuomotorik darstellt. Aufgrund der vorliegenden Ergebnisse lässt sich schließen, dass sich beide Systeme nicht komplett voneinander abgrenzen lassen und dass der Zusammenhang zwischen unterschiedlichen motorischen Fertigkeiten und visuellen Wahrnehmungsleistungen in seiner Intensität variiert. So hängen die Balancefähigkeiten enger mit der motorik-reduzierten visuellen Wahrnehmung zusammen als mit der visuo-motorischen Integration, wobei dies vor dem Hintergrund plausibel erscheint, da es beim Halten des Gleichgewichts bei den Balanceaufgaben (z. B. auf einem Bein stehen) hilfreich ist, wenn man einen bestimmten Punkt mit den Augen fixiert. Es scheinen Verbindungen zwischen dem ventralen visuellen Verarbeitungspfad und dem motorischen System zu bestehen, die den beobachtbaren Zusammenhang zwischen der motorik-reduzierten visuellen Wahrnehmung und der Balancefähigkeit bewirken. Bei Aufgaben aus dem Bereich der visuo-motorischen Koordination ist eher der Abgleich von visuell Wahrgenommenem und Hand- bzw. Armbewegungen (Auge-Hand-Koordination) relevant, um gute Leistungen zu erbringen. Ein konstantes Halten und Manipulieren des visuell Wahrgenommenen ist bei den motorikreduzierten Aufgaben entscheidender. Insgesamt weisen die Ergebnisse darauf hin, dass es zwischen der visuellen Wahrnehmung und der motorischen Koordination mehr als nur eine Verknüpfung durch den Bereich der Visuomotorik gibt. ipabo_66.249.78.20 ����������������������������������������������������������������������� Visuelle Wahrnehmungsleistungen bei motorisch auffälligen Kindern������ 613 Die in der vorliegenden Studie untersuchten motorisch auffälligen Kinder weisen unterschiedliche Wahrnehmungsdefizite auf. Am häufigsten zeigen sie auffällige Leistungen im Untertest „Abzeichnen“ (52,4 %), gefolgt von „Formkonstanz“ (33,3 %) und „Gestaltschließen“ (28,6 %). Einige Kinder haben auch Schwierigkeiten in der Bewältigung der Aufgaben „Figur-Grund“ und „Visuo-motorische Suche“ (jeweils 19,0 %) sowie „Visuo-motorische Geschwindigkeit“ (9,5 %). Das häufige Auftreten und die Variabilität der visuellen Wahrnehmungsdefizite sprechen für die Notwendigkeit, die visuellen Wahrnehmungsleistungen bei auffälligen motorischen Leistungen (z. B. bei Verdacht auf UEMF) im diagnostischen Prozess zu untersuchen und die Förderung bei vorliegenden Defiziten in der Therapieplanung zu berücksichtigen. Auch Wilson (2005) fordert eine mehrere Ebenen umfassende Vorgehensweise bei der Diagnostik und Therapie von UEMF. Eine komplette Darstellung der motorischen Entwicklung muss die behaviorale, (neuro-)kognitive und emotionale Funktionsebene erfassen. Der standardmäßige Einsatz eines visuellen Wahrnehmungstests bei der Diagnostik von UEMF erscheint aufgrund der vorliegenden Ergebnisse eine sinnvolle Ergänzung zur Überprüfung der (neuro-)kognitiven Funktionsebene darzustellen. Zukünftige Studien sollten überprüfen, welcher Therapieansatz bei Kindern mit motorischen Störungen, die parallel visuelle Wahrnehmungsdefizite aufweisen, angemessen ist. Nach Jaščenoka und Petermann (2013) lassen sich die Therapieansätze in der Physio- und Ergotherapie grob in zwei Methoden unterscheiden: prozessorientiert (Bottom-up) und aufgabenorientiert (Top-down). Aufgabenorientierte Methoden wie z. B. das Cognitive Orientation to daily Occupational Performance (CO-OP; vgl. Polatajko u. Mandich, 2008) scheinen prozessorientierten Programmen wie z. B. der Sensorischen Integrationstherapie (SIT) nach Ayres (2002) in ihrer Wirksamkeit überlegen zu sein (Mostered-van der Meijs, van der Kaay, Vlugt-van den Brand, Smits-Engelsman, 2010). Für die Perceptual-Motor Therapie (PMT), ebenfalls einem prozessorientierten Ansatz, konnten Bumin und Kayihan (2001) einen moderaten Wirksamkeitseffekt nachweisen. Nach Wilson (2005) sollte die therapeutische Förderung zwar theoriegeleitet erfolgen, jedoch in der Praxis den individuellen Unterschieden der Kinder in der Ausprägung der Defizite sowie ihrem Lernstil und Therapiefortschritt angepasst werden. Insbesondere bei Kindern mit komorbiden Störungen (wie beispielsweise Lern- und Aufmerksamkeitsstörungen) empfiehlt die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF, 2011) die Kombination verschiedener Therapieansätze. Solange die Wirksamkeit der verschiedenen Therapieformen für Kinder mit motorischen Störungen und visuellen Wahrnehmungsdefiziten nicht umfassend überprüft wurde (vgl. Taubner, Munder, Unger, Wolter, 2013), sollten Therapeuten den Therapiefortschritt durch regelmäßige Leistungskontrolle der Fähigkeiten der Kinder überwachen und die verschiedenen Therapieansätze kombinieren. 614 L. Werpup-Stüwe, F. Petermann Fazit für die Praxis Ein Großteil der untersuchten motorisch auffälligen Kinder weist visuelle Wahrnehmungsdefizite auf. Aus diesem Grund sollten bei der Diagnostik von UEMF und anderen motorischen Störungen die visuellen Wahrnehmungsleistungen überprüft werden. Der Einsatz eines Testverfahrens, bei dem sich die motorikreduzierten visuellen Wahrnehmungsleistungen gezielt mit den Leistungen im Bereich der visuo-motorischen Integration vergleichen lassen, erscheint besonders sinnvoll. Der FEW-JE erfüllt diesen Anspruch und bietet zudem die Möglichkeit, die visuellen Wahrnehmungsdefizite als leicht, mittelschwer oder schwer zu klassifizieren. In der Therapieplanung und -durchführung ist das Vorliegen visueller Defizite zu berücksichtigen. Visuelle Wahrnehmungsstörungen sollten zumindest parallel zu den motorischen Störungen stärker beachtet werden, um sekundär auftretende Schulprobleme zur reduzieren und eine Teilhabe an Alltagsaktivitäten zu ermöglichen. Literatur Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (2009). Visuelle Wahrnehmungsstörungen. Verfügbar unter: http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/022-020_S1_Visuelle_Wahrnehmungsstoerungen_2009_abgelaufen. pdf [14.04.2015]. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (2011). Deutsch-Schweizerische Versorgungsrichtlinie Umschriebene Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen (UEMF) – Langfassung. Verfügbar unter: http://www. awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/022-0171_S3_Unschriebene_Entwicklungsstörungen_ motorischer_Funktionen_2011_08.pdf [14.04.2015]. Ayres, A. J. (2002). Bausteine der kindlichen Entwicklung (4. Aufl.). Berlin: Springer. Blank, R., Smits-Engelsman, B., Polatajko, H., Wilson, P. (2012). European Academy for Childhood Disability (EACD): Recommendations on the definition, diagnosis and intervention of developmental coordination disorder (long version). Developmental Medicine & Child Neurology, 54, 54-93. Bonifacci, P. (2004). Children with low motor ability have lower visual-motor integration ability but unaffected perceptual skills. Human Movement Science, 23, 157-168. Braddick, O., Atkinson, J. (2013). Visual control of manual actions: brain mechanisms in typical development and developmental disorders. Developmental Medicine & Child Neurology, 55 (Suppl. 4), 13-18. Braddick, O., Atkinson, J., Wattam-Bell, J. (2003). Normal and anomalous developmet of visual motion processing: motion coherence and ‚dorsaml-stream vulnerability‘. 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Practitioner review: Approaches to assessment and treatment of children with DCD: An evaluative review. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 46, 806-823. Korrespondenzanschrift: Dipl.-Psych. Lina Werpup-Stüwe, Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen, Grazer Straße 6, 28359 Bremen; E-Mail: [email protected] Lina Werpup-Stüwe und Franz Petermann, Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen ipabo_66.249.78.20 Häufigkeit und Art traumatischer Ereignisse bei Kindern und Jugendlichen mit Posttraumatischer Belastungsstörung1 Sabine Loos, Saskia Wolf, Dunja Tutus und Lutz Goldbeck Summary Frequency and Type of Traumatic Events in Children and Adolescents with a Posttraumatic Stress Disorder The risk for children and adolescents to be exposed to a potentially traumatic event (PTE) is high. The present study examines the frequency of PTEs in children and adolescents with Posttraumatic Stress Disorder (PTSD), the type of index trauma, and its relation to PTSD symptom severity and gender. A clinical sample of 159 children and adolescents between 7-16 years was assessed using the Clinician-Administered PTSD Scale for Children and Adolescents (CAPS-CA). All reported PTEs from the checklist were analyzed according to frequency. The index events were categorized according to the following categories: cause (random vs. intentional), relation to offender (intrafamilial vs. extrafamilial), patient’s role (victim, witness or vicarious traumatization), and type of PTE (physical or sexual violence). Relation between categories and PTSD symptom severity and sex were analyzed with inferential statistics. On average participants reported five PTEs, most frequently physical violence without weapons (57.9 %), loss of loved person through death (45.9 %), and sexual abuse/assaults (44 %). The most frequent index traumata were intentional (76.7 %). Regarding trauma type, there was a significant difference concerning higher symptom severity in children and adolescents who experienced sexual abuse/assault compared to physical violence (t = -1.913(109), p = 0.05). A significantly higher symptom severity was found for girls compared to boys for the trauma categories extrafamilial offender (z = -2,27, p = 0.02), victim (z = -2,11, p = 0,04), and sexual abuse/assault (z = -2,43, p = 0,01). Clinical and diagnostic implications are discussed in relation to the amendments of PTSD diagnostic criteria in DSM-5. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64/2015, 617-633 Keywords traumatic events – symptom severity – Posttraumatic Stress Disorder (PTSD) – gender – Clinician-Administered PTSD Scale for Children and Adolescents (CAPS-CA) 1 Die Studie TreatChildTrauma (TCT) wird gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Förderschwerpunkt „Studien in der Versorgungsforschung“ (Förderkennzeichen: 01GY1141) Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 617 – 633 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 618 S. Loos et al. Zusammenfassung Über die klinische Bedeutsamkeit unterschiedlicher traumatischer Ereignisse bei Kindern und Jugendlichen ist wenig bekannt. Die vorliegende Studie untersucht Art und Häufigkeit potenziell traumatischer Ereignisse bei Kindern und Jugendlichen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die Art der traumatischen Indexereignisse und deren Zusammenhang mit Symptombelastung und Geschlecht. In einer klinischen Stichprobe von 159 Kindern und Jugendlichen zwischen 7 und 16 Jahren wurden die im Interview zu Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen berichteten belastenden Lebensereignisse nach Häufigkeit ausgewertet. Die traumatischen Indexereignisse wurden nach Ursache (zufällig vs. intentional), Beziehung zum Täter (intrafamiliär vs. extrafamiliär), Rolle des Patienten (Opfer, Zeuge, stellvertretende Traumatisierung) sowie Art des traumatischen Ereignisses (körperliche Gewalt oder sexuelle Gewalt) kategorisiert. Zusammenhänge der Kategorienzuordnung mit der Belastungssymptomatik und dem Geschlecht wurden inferenzstatistisch untersucht. Durchschnittlich wurden fünf potenziell traumatische Ereignisse berichtet, am häufigsten körperliche Gewalt ohne Waffen (57,9 %), Verlust nahestehender Personen durch Tod (45,9 %) und sexuelle Übergriffe bzw. Missbrauch (44 %). Die traumatischen Indexereignisse wurden am häufigsten als intentional (76,7 %) eingeordnet. Im Vergleich der Indexereignisarten fand sich eine signifikant ausgeprägtere Symptomatik bei Opfern sexueller Gewalt im Vergleich zu körperlicher Gewalt (t = -1,913(109), p = 0,05). Eine signifikant höhere Symptombelastung findet sich bei Mädchen in den Traumakategorien „extrafamiliärer Täter“ (z = -2,27, p = 0,02) „Opfer“ (z = -2,11, p = 0,04) und „sexuelle Gewalt“ (z = -2,43, p = 0,01). Klinische Implikationen werden vor dem Hintergrund der Revision der Diagnosekriterien im DSM-5 diskutiert. Schlagwörter traumatisches Ereignis – Symptombelastung – Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) – Geschlecht – Interview zu Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (IBS-KJ) 1 Hintergrund Eine große Anzahl von Kindern und Jugendlichen ist potenziell traumatischen Ereignissen (PTE) ausgesetzt, wobei die Mehrzahl diese Ereignisse adaptiv bewältigt. Die Prävalenz, ein potenziell traumatisches Ereignis zu erleben, liegt in den USA bei Kindern und Jugendlichen je nach Stichprobe und Erhebungsinstrument zwischen 0,25 und knapp 62 % (Costello, Erkanli, Fairbank, Angold, 2002; McLaughlin et al., 2013). In einer Schweizer nationalen Stichprobe Jugendlicher der neunten Klasse haben 56 % mindestens von einem traumatischen Ereignis berichtet (Landolt, Schnyder, Maier, Schoenbucher, Mohler-Kuo, 2013). In Deutschland liegt die Prävalenz nach einer Studie mit Jugendlichen bei 21,4 % (angelehnt an das A1-Kriterium des DSM-IV) bzw. 17 % (angelehnt an das A2-Kriterium; Perkonigg, Kessler, Storz, Wittchen, 2000). Die möglichen negativen Folgen traumatischer Ereignisse in Kindheit und Jugend sind mittlerweile gut belegt (Carrion, Weems, Ray, Reiss, 2002; ipabo_66.249.78.20 ���������������������������������������������������������� Häufigkeit und Art traumatischer Ereignisse bei PTBS������ 619 Copeland, Keeler, Angold, Costello, 2007; Sachsse, 2013) und betreffen eine ganze Bandbreite von Traumafolgestörungen, darunter insbesondere Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS). Die Inzidenzrate für PTBS nach Traumaexposition bei Kindern und Jugendlichen liegt nach einer aktuellen Metaanalyse bei 15.9 % (95 % CI 11.5-21.5) und ist bei Mädchen nach interpersonellem Trauma am höchsten (32.9 %, 95 % CI 19.8-49.3, Alisic et al., 2014). Weniger Beachtung in der Forschung fand bisher die Frage, welche Ereignisse Kinder und Jugendliche als potenziell traumatisch benennen und ob es Unterschiede im Stressorpotenzial zwischen verschiedenen Ereignissen gibt. Dies ist jedoch sowohl für das theoretische Verständnis der Entstehung von Psychotraumata als auch für die klinische Versorgung von Bedeutung. In einer Arbeit von Taylor und Weems (2009) wurde eine städtische Stichprobe von 200 amerikanischen Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 17 Jahren mit der Child PTSD Checklist (Amaya-Jackson, McCarthy, Newman, Cherney, 1995) nach PTE und posttraumatischen Stresssymptomen befragt. Die Ereignisse wurden anhand eines selbst entwickelten Kodierschemas mit zwölf Kategorien klassifiziert. Die am häufigsten berichteten traumatischen Ereignisse waren hier das Erleben von Gewalt in Medien, in der Öffentlichkeit und Trennung und Verlust von bedeutsamen Personen. In einer Befragung repräsentativer Stichproben von Jugendlichen der 8. und 9. Klasse aus Dänemark, Island, den Färöer-Inseln und Litauen wurden am häufigsten Tod eines Familienmitglieds, Gewaltandrohung, Mobbing, beinahe Ertrinken und Verkehrsunfälle genannt (Elklit u. Petersen, 2008). Die als subjektiv am schlimmsten erlebten Ereignisse in einer dänischen repräsentativen Stichprobe waren Vergewaltigung, Suizidversuch, Tod eines Familienmitglieds und ernsthafte Erkrankung (Elklit, 2002). Jedoch gilt es, potenziell traumatische Ereignisse, die das A-Kriterium einer PTBS erfüllen, von belastenden oder lebensverändernden Ereignissen unterhalb der Traumaschwelle (sog. life events) zu unterscheiden. Empfehlungen zur Zusammenfassung traumatischer Ereignisse in Kategorien finden sich häufig in Stichproben traumatisierter Erwachsener, werden jedoch selten einheitlich oder systematisch definiert oder verwendet. Der von der amerikanischen Kinderpsychiaterin Terr (1991) erstellte Vorschlag einer Einteilung traumatischer Ereignisse im Kindesalter in Typ I (einmaliges Ereignis wie z. B. Unfälle oder Naturkatastrophen) und Typ II-Traumata (länger andauerndes oder wiederholtes Geschehen, teilweise unvorhersehbar) wird häufig genutzt und hat auch die Diskussion um die sogenannte Entwicklungstraumastörung beeinflusst (van der Kolk, 2009; D‘Andrea, Ford, Stolbach, Spinazzola, van der Kolk, 2012; Schmid, Petermann, Fegert, 2013). Diese Typologie ist allerdings bisher nicht hinreichend empirisch fundiert und wurde auch nicht in die Neuauflage des Diagnostischen Statistischen Manuals (DSM) aufgenommen (Bremness u. Polzin, 2014). Landolt und Hensel (2014) unterscheiden menschenverursachte Ereignisse (z. B. Krieg, Vergewaltigung) von Naturkatastrophen (z. B. Flutkatastrophen) und zufälligen Ereignissen (z. B. Verkehrsunfällen). Die Häufigkeit von PTBS ist nach von Menschen zugefügten traumatischen Ereignissen deutlich 620 S. Loos et al. höher als nach zufälligen Ereignissen (Tagay, Repic, Senf, 2013). Auch die Debatte um die Aufnahme einer neuen Diagnosekategorie der komplexen PTBS in das ICD11 (z. B. Maercker et al., 2013) als Folge langanhaltender Traumatisierung durch z. B. körperliche oder emotionale Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch in der Kindheit unterstreicht die Aktualität der Thematik (Bryant, 2015). Hinsichtlich der Beziehung zum Täter zeigen sich folgende Befunde: Opfer sexuellen Missbrauchs durch intrafamiliäre Täter weisen gegenüber extrafamiliären Tätern einen früheren Beginn, längere Erkrankungsdauer, mehr Intrusionen und stärkere körperliche und emotionale Verletzung auf (Fischer u. McDonald, 1998). Familien von Jugendlichen, die intrafamiliär missbraucht wurden, zeigten mehr Scheidungen, einen höheren Drogenkonsum durch den Vater und einen allgemein niedrigeren sozioökonomischen Status. Jedoch zeigte sich kein Unterschied im Funktionsniveau der Familien insgesamt im Vergleich zu extrafamiliären Tätern (Bal, De Bourdeaudhuij, Crombez, Van Oost, 2004). Afroamerikanische Frauen, die einen sexuellen Missbrauch durch einen intrafamilären Täter in der Kindheit erlebt haben, zeigten ein höheres sexuelles Risikoverhalten im Erwachsenenalter als Frauen, die von einem sexuellen Missbrauch durch einen extrafamiliären Täter berichten (Lestrade, Talbot, Ward, Cort, 2013). Einem traumatischen Ereignis direkt oder indirekt ausgesetzt zu sein, hängt ebenfalls mit der Symptomschwere zusammen. Es konnte ein Dosis-Wirkungs-Effekt gezeigt werden mit höheren Raten von PTBS bei direkt erlebten Ereignissen im Vergleich zu nur als Zeuge erlebten Ereignissen (Petersen, Elklit, Olesen, 2010) und für Ereignisse, die in der näheren Umgebung erlebt werden verglichen mit solchen in weiterer Entfernung (z. B. Goenjian et al., 2005). Gleichzeitig gibt es jedoch Befunde, die das Dosis-Wirkungs-Modell infrage stellen. So erklären in Untersuchungen von jungen Opfern von traumatischen Ereignissen andere Faktoren wie etwa Merkmale des Kindes (Geschlecht, Bewertung und Coping) und umweltbedingte Faktoren (soziale Unterstützung) mehr Varianz in der Entwicklung einer Traumasymptomatik als die Schwere des Ereignisses (Bal, Crombez, De Bourdeaudhuij, Van Oost, 2009; Olofsson, Bunketorp, Andersson, 2009). Geschlecht als prädiktiver Faktor für die Entwicklung einer PTBS wird schon lange diskutiert. Männer erleben mehr traumatische Ereignisse, Frauen entwickeln jedoch zweimal so häufig eine PTBS wie Männer nach traumatischen Ereignissen und beide Geschlechter unterschieden sich in der Art traumatischer Ereignisse, die sie erleben (Pratchett, Pelcovitz, Yehuda, 2010; Gavranidou u. Rosner, 2003). Als Gründe dafür werden eine weibliche intrinsische Vulnerabilität auf der einen und das erhöhte Risiko sexueller Gewalt über die Lebensspanne hinweg auf der anderen Seite diskutiert (Cortina u. Kubiak, 2006). Auch in untersuchten Stichproben von Jugendlichen zeigen sich Geschlechterunterschiede bezogen auf die Anzahl und den Typ traumatischer Ereignisse: Es besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit von Mädchen, über sexuellen Missbrauch und häuslicher Gewalt zu berichten, Jungen hingegen berichten mehr Unfälle, nichthäusliche Gewalt und Katastrophen (Landolt et al., 2013; Elklit, 2002). ipabo_66.249.78.20 ���������������������������������������������������������� Häufigkeit und Art traumatischer Ereignisse bei PTBS������ 621 Da die Literatur noch wenig Hinweise sowohl zu Art und Häufigkeit potenziell traumatischer Ereignisse bei klinisch auffälligen Kindern und Jugendlichen als auch zum Zusammenhang mit ihrer Belastungssymptomatik gibt, sind die Ziele der vorliegenden explorativen Studie: 1. die Untersuchung der Häufigkeit potenziell traumatischer Ereignisse in einer Stichprobe von Kindern und Jugendlichen mit PTBS, 2. die Kategorisierung und Beschreibung der Häufigkeit der von den Patienten identifizierten schlimmsten Ereignisse (Indexereignisse), 3. die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem Schweregrad der posttraumatischen Stresssymptome und den Kategorien der traumatischen Indexereignisse, auch getrennt nach Geschlechtern. 2 Methode und Rekrutierung Die Daten für die vorliegende Untersuchung stammen aus der Basiserhebung einer laufenden, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten multizentrischen, randomisiert-kontrollierten Therapiestudie. Ein Ethikvotum der zuständigen Ethikkommissionen liegt vor. Die Zuweisung der Probanden zur Studie erfolgte aus den beteiligten acht Studienzentren, die sowohl aus universitären Einrichtungen als auch aus Versorgungskliniken zusammengesetzt sind: 1. Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie; Universitätsklinikum Ulm 2. Zentrum für Psychiatrie Die Weissenau, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Ravensburg 3. Zentralinstitut für seelische Gesundheit, Mannheim 4. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters; Psychiatrische Klinik Lüneburg gGmbH 5. Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie; Vestische Kinderund Jugendklinik Datteln 6. Saarland Heilstätten GmbH, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der SHG, Kleinblittersdorf 7. Abteilung für klinische Psychologie; Ludwig-Maximilians-Universität München, 8. Vivantes Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Berlin Die Rekrutierung erfolgte aus dem klinischen stationären wie ambulanten Versorgungsalltag. Ein systematisches Screening der in der Routineversorgung gesehenen Patienten in den Studienzentren auf die Eignung für die Studie wurde etabliert. Für das Screening wurde der UCLA PTSD-Reaction Index verwendet, welcher in Kinder-, Jugendlichen- und Elternversion vorliegt. 622 S. Loos et al. In die Studie eingeschlossen wurden nach ausführlicher Baseline-Diagnostik Patienten mit mindestens moderater posttraumatischer Stresssymptomatik (RW ≥ 35 in der Gesamtsymptomskala des Interviews zu Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen, IBS-KJ, Steil u. Füchsel, 2006) und mindestens einem Symptom in den Bereichen Wiedererleben, Vermeidung/Affektverflachung und Übererregbarkeit, sofern das traumatische Ereignis mindestens drei Monate zurücklag und nach dem dritten Lebensjahr stattgefunden hatte. 2.1 Instrumente Der oben genannte UCLA PTSD Reaction Index for DSM-IV (Pynoos, Rodriguez, Steinberg, Stauber, Frederick, 1998; dt. Version: Arbeitsgruppe Psychotraumatologie Kinder- und Jugendpsychiatrie/-Psychotherapie Ulm, 2010) ist ein Screeningfragebogen zur Erfassung der Symptome und des Schweregrads einer Posttraumatischen Belastungsstörung bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 7-18 Jahren nach den Kriterien des DSM-IV. Verfügbar sind eine Kinderversion (7-12 Jahre), eine Jugendlichenversion (ab 13 Jahre) und eine Elternversion. Das Interview zu Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (IBS-KJ; Steil u. Füchsel, 2006) ist ein semistrukturiertes Interview, in dem anhand einer Checkliste von 16 potenziell traumatischen Ereignissen zunächst erfragt wird, welche Erfahrungen das Kind oder der/die Jugendliche jemals gemacht hat. In dieser Liste nicht enthaltene Ereignisse können in einer zusätzlichen offenen Frage berichtet werden. Mehrfachnennungen sind zulässig. Werden vom Kind oder der/dem Jugendlichen mehrere Ereignisse bejaht, wird das subjektiv schlimmste Ereignis als Indexereignis definiert. Dauer, Art und Umstände werden genauer erfragt und verbatim protokolliert. Die 17 nach DSM-IV definierten Belastungssymptome werden auf einer Skala von 0 (niemals) bis 4 (meistens) hinsichtlich Häufigkeit und 0 (kein Problem) bis 4 (extreme Belastung) hinsichtlich Intensität im vergangenen Monat eingeschätzt. Aus der Summe der Einzelwerte werden Gesamthäufigkeit und -intensität der Stresssymptome ermittelt. Die Summe dieser beiden Werte ist der Gesamtbelastungsrohwert. Die interne Konsistenz für diesen Parameter ist mit Cronbach’s α = .91 hoch. Die Durchführung der Interviews erfolgte durch trainierte und supervidierte Interviewer. Komorbide Störungen wurden mit der Kiddie-Schedule for Affective Disorders and Schizophrenia – Present and Lifetime Version erfasst (K-SADS-PL; Delmo, Weifenbach, Gabriel, Marchia, Poustka, 1998). Dies ist ein halbstrukturiertes, diagnostisches Interview zur Erfassung der Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters und der Vorgeschichte psychischer Störungen. Mit der Children Global Assessment Scale (CGAS; Schaffer et al., 1983) wird eine allgemeine Beurteilung des Funktionsniveaus des Kindes/Jugendlichen vorgenommen. Die Skala der CGAS reicht von 1 bis 100 und verfügt über Beschreibungen von Ankerpunkten, um verschiedene Lebenssituationen zu bewerten. Sie verfügt über eine hohe Interrater-Reliablität und hohe diskriminante Validität. ipabo_66.249.78.20 ���������������������������������������������������������� Häufigkeit und Art traumatischer Ereignisse bei PTBS������ 623 Der Child Behavior Checklist/4-18 Elternfragebogen zum Verhalten von Kindern und Jugendlichen (CBCL; Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist, 1998 ) erfasst die Einschätzung von Eltern zu Problemen ihrer Kinder im Alter von 4 bis 18 Jahren. Der Fragebogen umfasst acht übergreifende Syndrome: Sozialer Rückzug, Körperliche Beschwerden, Angst/Depressivität, Soziale Probleme, Schizoid/Zwanghaft, Aufmerksamkeitsstörung, Delinquentes Verhalten, Aggressives Verhalten. 2.2 Auswertung Die Häufigkeit der in der Checkliste erfassten Ereignisse wurde ausgezählt. Als bejaht wurde ein Ereignis gewertet, wenn der/die Proband/in entweder Opfer oder Zeuge des Ereignisses war oder davon gehört hatte. Die als verbatim protokollierten Beschreibungen des als am schwerwiegendsten benannten Ereignisses (Indexereignis) wurden mittels eines Kodierschemas einer Oberkategorie bzw. Unterkategorie zugeordnet. Vier Rater (Autoren) kodierten zunächst unabhängig voneinander die Texte aus den Interviews getrennt nach folgenden, aus der Literatur entnommenen vier Kategorien: • Ursache: intentionale vs. zufällige Ereignisse (Landolt u. Hensel, 2014), • Beziehung zum Täter (nur bei intentionalen Ereignissen): intrafamiliärer vs. extrafamiliärer Täter, • Rolle des Befragten: Beteiligung am traumatischen Ereignis entweder als Opfer, Zeuge oder durch stellvertretende Traumatisierung (Ereignis betrifft eine nahestehende Person, Patient hat davon erfahren, ohne es miterlebt zu haben), • Traumatyp (Art des traumatischen Ereignisses): körperliche Gewalt (sowohl mit als auch ohne Waffen) vs. sexuelle Gewalt. Die Interrater-Reliabilität ergab sehr gute Werte für die Kategorie Ursache (κ = 0,92) und Beziehung zum Täter (κ = 0,91) und gute Werte für die Kategorien Rolle der Beteiligten (κ = 0,76) und Traumatyp (κ = 0,70). Die Mittelwertsvergleiche innerhalb der Kategorien der Indexereignisse bezüglich der PTBS-Symptomschwere und des Geschlechts wurden mittels t-Tests für unabhängige Stichproben, einfaktorieller ANOVA und bei Nichterfüllen der Voraussetzungen für parametrische Teststverfahren mittels Mann-Whitney-U-Test inferenzstatistich geprüft. Die statistischen Analysen erfolgten mittels IBM SPSS Statistics für Windows, Version 20.0. 3 Ergebnisse 3.1 Stichprobenmerkmale In die Auswertung wurden Daten von 159 Probanden (w = 114, 71,7 %) im Alter von 7-16 Jahren (M = 13,0; SD = 2,8) einbezogen. 91 (58,3 %) Teilnehmer hatten min- 624 S. Loos et al. destens eine komorbide psychische Störung, am häufigsten depressive Störungen oder hyperkinetische Störungen. Insgesamt 75,0 % (117) der Stichprobe lebte bei mindestens einem leiblichen Elternteil. Tabelle 1: Soziodemografische und klinische Stichprobenmerkmale (N = 159) Merkmal Geschlecht, weiblich Wohnsituation mit beiden leiblichen Eltern nur ein Elternteil bei Adoptiv-/Pflegeeltern andere Verwandte Jugendhilfeeinrichtung Wohngemeinschaft Komorbide Störungen F32.xx F90.xx F40.xx F91.xx N (%) 114 (71,7) 156 37 (23,7) 80 (51,3) 9 (5,8) 4 (2,6) 25 (16,0) 1 (0,6) Merkmal Alter IBS-KJ-Gesamtrohwert1 CGAS2 UCLA Selbsturteil gesamt3 UCLA-Fremdurteil gesamt3 CBCL-Fremdurteil gesamt4 MW (SD) 13,0 (2,8) 57,4 (16,7) 57,5 (11,3) 36,5 (10,3) 33,3 (11,1) 56,3 (26,6) 43 (27,1) 19 (11,9) 14 (8,8) 13 (8,2) 1 Interview zu Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (Gesamtrohwert: Häufigkeit und Intensität aus 17 Belastungssymptomen, Range: 0-136) ; 2Children Global Assessment Scale; 3UCLA PTSD Reaction Index for DSM-IV (Gesamtrohwert aus Häufigkeit von Belastungssymptomen, Range: 0-76 im Selbsturteil, 0-72 im Fremdurteil); 4Child Behavior Checklist (Gesamtwert Problemverhalten, Range: 0-246) 3.2 Häufigkeit potenziell traumatischer Ereignisse Von zehn Probanden lagen keine Ergebnisse der Checkliste potenziell traumatischer Ereignisse, aufgeteilt nach gradueller Exponiertheit, vor. Die übrigen in die Auszählung eingegangenen 149 Probanden bejahten zwischen einer und 15 Ereignisklassen (M = 5,0; SD = 2,9, Tab. 2, folgende Seite). Am häufigsten als „ist mir passiert“ genannt wurden körperliche Gewalt ohne Waffen (57,9 %), Verlust nahestehender Personen durch Tod (45,9 %) und sexuelle Übergriffe bzw. Missbrauch (44,0 %). 3.3 Klassifikation der Indexereignisse Tabelle 3 (folgende Seite) zeigt die genaue Zuordnung der Indexereignisse am Beispiel der Kategorie „Rolle des Beteiligten“. Am häufigsten kamen die Ereignisse Opfer sexueller (35,8 %) und körperlicher Gewalt (25,2 %), Zeuge intrafamiliärer Misshandlung (6,3 %) und stellvertretende Traumatisierung durch das Erfahren über den Tod einer anderen Person (6,3 %) vor. ipabo_66.249.78.20 ���������������������������������������������������������� Häufigkeit und Art traumatischer Ereignisse bei PTBS������ 625 Tabelle 2: Häufigkeiten potentiell traumatischer Ereignisse aus der Checkliste des Interviews zu Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (IBS-KJ), N = 149 Ereignis (Mehrfachnennungen) Körperliche Gewalt ohne Waffen Tod einer nahestehenden Person Sexuelle Übergriffe bzw. Missbrauch Anderes schlimmes Ereignis Körperliche Gewalt mit Waffen Schlimmer Unfall in Schule, zu Hause oder beim Spielen Verkehrsunfälle Jemand absichtlich oder versehentlich schwer verletzt Naturkatastrophe Vernachlässigung Lebensgefährliche Krankheit oder Verletzung Nahe bei Hungernden, Sterbenden oder Obdachlosen Gewaltsamer Tod oder Leichen Entführung Feuer oder Explosion Vergiftung In Gegend gelebt, in der gekämpft wurde oder Krieg war selbst passiert n (%) 92 (57,9) 73 (45,9) 70 (44,0) 54 (34,0) 50 (31,4) 39 (24,5) 30 (18,9) 29 (18,2) 19 (11,9) 18 (11,3) 18 (11,3) 18 (11,3) 17 (10,7) 14 (8,8) 9 (5,7) 5 (3,1) 4 (2,5) gesehen davon erfahren n (%) n (%) 32 (20,1) 12 (7,5) 4 (2,5) 14 (8,8) 6 (3,8) 7 (4,4) 5 (3,1) 2 (1,3) 15 (9,4) 8 (5,0) 8 (5,0) 8 (5,0) 23 (14,5) 34 (21,4) 10 (6,3) 4 (2,5) 2 (1,3) 18 (11,4) 1 (0,6) 7 (4,4) 16 (10,1) 16 (10,1) 8 (5,0) 1 (0,6) 14 (8,8) 10 (6,3) 1 (0,6) 5 (3,1) 21 (13,2) 14 (8,8) 4 (2,5) 3 (1,9) 8 (5,0) Tabelle 3: Häufigkeiten der Indexereignisse nach Rolle der Beteiligten (N = 159) Kategorien Opfer Körperliche Gewalt Sexuelle Gewalt Unfall Medizinisches Trauma Kriegsereignisse Gesamt n (%) 40 (25,2) 57 (35,8) 6 (3,8) 3 (1,9) 3 (1,9) Gesamt n (%) Zeuge Zeuge intrafamiliärer Misshandlung Natürlicher Tod Unnatürlicher Tod Drohende/ernsthafte Verletzung anderer Zeuge extrafamiliärer Misshandlung Unfall anderer 10 (6,3) 7 (4,4) 5 (3,1) 4 (2,5) 2 (1,3) 2 (1,3) Stellvertretende Traumatisierung Von Tod anderer gehört 10 (6,3) Sonstige 10 (6,3) Die häufigste Zuordnung der Indexereignisse zu den weiteren Kategorien (Tab. 4, folgende Seite) waren intentional (76,7 %), wobei der Täter in der Mehrzahl der Fälle aus der eigenen Familie kam (42,1 %), am häufigsten war der Vater Täter (40,3 %), gefolgt von Mutter und Stiefvater (jeweils 19,4 %). Anhand der konkreten Beschreibungen wurden über 70 % der Indexereignisse als körperliche oder sexuelle Gewalt klassifiziert. 626 S. Loos et al. Vergleiche der Angaben in der Checkliste und der Identifikation des schlimmsten Ereignisses zeigen, dass 75,0 % der Befragten, die sexuelle Gewalt oder Missbrauch in der Checkliste bejahten, dies auch als Indexereignis benannten. Demgegenüber gaben nur 28,2 % der Kinder und Jugendlichen, die körperliche Gewalt mit und/oder ohne Waffen in der Checkliste bejaht hatten, ein solches Ereignis auch als schlimmstes Ereignis an. Der Tod einer nahestehenden Person war in 26,2 % der Fälle auch das Indextrauma. Tabelle 4: Klassifikation der Indexereignisse und statistische Kennwerte zum Mittelwertsvergleich der PTBS-Symptomschwere (N = 159) Kategorien Ursache zufällig intentional Beziehung zum Täter Intrafamiliärer Täter Extrafamiliärer Täter Rolle des Befragten Opfer Zeuge Stellvertretende Traumatisierung Traumatyp Körperliche Gewalt Sexuelle Gewalt N % PTBS-Symptomschwere M (SD) 36 122 22,6 76,7 56,19 (17,72) 57,74 (16,63) 67 46 42,1 28,9 55,27 (14,76) 61,17 (19,33) 109 30 10 68,6 18,9 6,3 59,15 (17,11) 55,33 (15,88) 49,60 (21,17) 56 57 35,2 35,8 54,72 (15,28) 61,00 (18,99) t F p -0,48 - 0,64 -1,75 - 0,08 - 1,79 0,17 -1,92 - 0,057 3.4 Zusammenhänge der kategorisierten Indexereignisse mit Symptombelastung und Geschlecht Die Mittelwertsunterschiede bezüglich der Symptombelastung innerhalb der vier Kategorien (Ursache, Beziehung zum Täter, Rolle des Befragten und Traumatyp) sind ebenfalls in Tabelle 4 dargestellt. Es zeigte sich, dass die Gruppe der Patienten, die durch einen extrafamiliären Täter geschädigt wurde, tendenziell eine ausgeprägtere Symptomatik aufwies als die durch einen intrafamiliären Täter (t = -1,751(111), p = 0,08) geschädigte. Beim Gruppenvergleich nach Traumatyp fand sich ein signifikanter Unterschied in Richtung einer höheren Symptombelastung bei Opfern sexueller Gewalt im Vergleich zu körperlicher Gewalt (t = -1,922(111), p = 0,05). Betrachtet man die Unterschiede nach Geschlecht (Tab. 5, folgende Seite), erleben in unserer Stichprobe Mädchen mehr sexuelle Gewalt (43,86 %), Jungen hingegen mehr körperliche Gewalt (51,12 %). Darüber hinaus ergibt sich eine allgemein höhere Symptombelastung der Mädchen im Vergleich zu den Jungen. Signifikante Unterschiede finden sich in den Traumakategorien „extrafamiliärer Täter“ (z = -2,27, p = 0,02) „Opfer“ (z = -2,11, p = 0,04) und „sexuelle Gewalt“ (z = -2,43, p = 0,01). ipabo_66.249.78.20 ���������������������������������������������������������� Häufigkeit und Art traumatischer Ereignisse bei PTBS������ 627 Tabelle 5: Klassifikation der Indexereignisse und statistische Kennwerte zum Mittelwertsvergleich nach PTBS-Symptomschwere und Geschlecht (N = 159) Kategorien Ursache zufällig intentional Beziehung zum Täter Intrafam. Täter Extrafam. Täter Rolle des Befragten Opfer Zeuge Stellvertretende Traumatisierung Traumatyp Körperliche Gewalt Sexuelle Gewalt 4 Mädchen (N = 114) PTBSSymptomschwere N (%) M (SD) Jungen (N = 45) PTBSSymptomschwere N (%) M (SD) z p 28 (24,56) 86 (75,44) 56,14 (15,31) 59,92 (17,65) 8 (17,78) 36 (80,0) 56,38 (25,78) 52,53 (13,94) -0,31 -1,88 0,78 0,06 45 (39,47) 34 (29,82) 55,87 (15,85) 64,94 (18,74) 22 (48,89) 12 (26,67) 54,05 (12,05) 50,50 (17,53) -0,24 -2,27 0,81 0,02 80 (70,18) 19 (16,67) 61,43 (17,43) 55,47 (14,49) 29 (64,45) 11 (24,45) 53,86 (15,13) 55,09 (18,81) -2,11 -0,37 0,04 0,73 8 (7,02) 54,13 (21,23) 2 (4,45) 31,50 (7,78) -1,45 0,20 33 (28,95) 50 (43,86) 55,06 (16,11) 63,44 (18,37) 23 (51,12) 7 (17,78) 54,43 (13,64) 43,30 (14,31) -0,03 -2,43 0,97 0,01 Diskussion Die Auswertung der Checkliste belastender Lebensereignisse zeigt, dass die Kinder und Jugendlichen in unserer deutlich belasteten klinischen Stichprobe im Durchschnitt fünf verschiedene potenziell traumatische Ereignisse berichteten. Vor allem das Erleben oder Beobachten körperlicher Gewalt wurde von einer Mehrheit der Studienteilnehmer bejaht. Es folgen der Verlust nahestehender Personen und sexuelle Gewalt bzw. Missbrauch. Wie bereits aus früheren Studien bekannt, erleben Kinder und Jugendliche häufig mehrere unterschiedliche traumatische Ereignisse, bis sie eine PTBS entwickeln oder deswegen in Behandlung kommen (Cyr et al., 2013; Gustafsson, Nilsson, Svedin, 2009; Hodges et al., 2013). Unser Befund steht auch im Einklang mit einer Studie von Suliman et al. (2009), die einen kumulativen Effekt durch multiple Traumaexposition feststellt, der einhergeht mit einer schwereren Ausprägung von PTSS bei Jugendlichen im Vergleich zum Erleben eines traumatischen Einzelereignisses. Die am häufigsten bejahten belastenden Lebensereignisse der Checkliste finden sich auch in den berichteten Indexereignissen wieder. Mit knapp 70 % betrafen diese meist körperliche und sexuelle Gewalt. Sexuelle Gewalt bzw. Missbrauch wurden von unseren Studienteilnehmern häufiger als schlimmstes Ereignis eingeordnet als körperliche Gewalt oder der Tod einer nahestehenden Person. Körperliche Gewalt, auch wenn eine Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen mir ihr in Kontakt kommt, wird nicht so häufig als schlimmstes Ereignis bewertet wie sexuelle Gewalt. Auch der Verlust nahestehender Personen wird nicht so häufig als traumatisch eingeordnet wie 628 S. Loos et al. sexuelle Gewalt. Dieser Befund kann auch damit erklärt werden, dass die Abgrenzung eines natürlichen Todes von traumatischen Verlusten in der Ereignisliste unscharf bleibt. Die Ereigniskategorien in der IBS-KJ-Checkliste gehen teilweise fließend in den Bereich kritischer Lebensereignisse über. Die Prüfung der klinischen Bedeutsamkeit der Ereignisse im Sinne des A-Kriteriums einer PTBS-Diagnose erfolgt erst durch eine genauere Exploration der Qualität des schlimmsten Erlebnisses. 31 % der erwachsenen Befragten zwischen 18-45 Jahren in einer amerikanischen repräsentativen Stichprobe geben als auslösendes Ereignis für eine PTBS auch den plötzlichen, unerwarteten Tod einer nahestehenden Bezugsperson an (Breslau et al., 1998), den insgesamt 60 % der Stichprobe als traumatisches Ereignis angeben. Dieses Ergebnis deckt sich mit unserer Stichprobe von Kindern und Jugendlichen, in der 26,2 % den Tod einer nahestehenden Person angeben. Der Verlust nahestehender Bezugspersonen kann insbesondere für Kinder und Jugendliche von besonderer Bedeutung sein, da sie, je jünger sie sind, umso mehr den Schutz und die Fürsorge einer erwachsenen Bezugsperson brauchen. Nach den revidierten Diagnosekriterien des DSM-5 wird in den Fällen von natürlichen Todesursachen wie Krankheit jedoch das A-Kriterium nicht mehr erfüllt, nur noch bei Verlust durch gewalttätige Tode (Suizide oder Morde) oder Unfalltode. Immerhin erlebte in unserer klinischen Stichprobe ein beträchtlicher Anteil der symptomatischen Kinder und Jugendlichen den plötzlichen oder nach qualvollem Siechtum eingetretenen Tod einer nahestehenden Person, z. B. eines Elternteils, als wesentliches belastendes Ereignis. Der Tod eines Elternteils ist für Kinder und Jugendliche nicht zuletzt aufgrund ihrer Abhängigkeit von ihnen und entsprechender existenzieller Ängste ein mit hohem Stress verbundenes Lebensereignis. Eine verlängerte Trauerreaktion ist nicht nur mit traumatischem Stress verbunden, sondern erhöht das Risiko für funktionelle Beeinträchtigungen und Depressionen (Suliman et al., 2009). Die in das DSM-5 aufgenommenen Kriterien für die Diagnose einer persistierenden komplizierten Trauerreaktion führt ein alternatives Störungsmodell für solche Fälle ein, das allerdings noch weiter empirisch gestützt werden muss (Kaplow, Layne, Pynoos, Cohen, Lieberman, 2012; Rask, Kaunonen, Paunonen-Ilmonen, 2002). Es gilt auch zu berücksichtigen, dass ein traumatischer Verlust im Sinne einer PTBS und eine verlängerte Trauerreaktion unterschiedliche Behandlungsansätze implizieren (Spuij et al., 2012). Immerhin konnte gezeigt werden, dass die traumafokussierte kognitive Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit traumatischen Verlusten wirksam ist (Cohen, Mannarino, Knudsen, 2004). Entsprechende Studien zu einer eher trauerfokussierten Behandlung dieser Gruppe fehlen dagegen bislang. Unsere Vergleiche zwischen den Ereignistypen zeigten einen stärkeren „traumatogenen“ Effekt von sexueller Gewalt bzw. Missbrauch verglichen mit körperlicher Gewalt. Dieser Befund ist konsistent mit der Literatur, die bei sexuellen Traumata im Vergleich zu anderen Traumatypen bei betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen eine stärkere Belastung und ein niedrigeres Funktionsniveau gezeigt hat (Krupnick et al., 2004; Shakespeare-Finch u. Armstrong, 2010; Trickett, Noll, Putnam, 2011). ipabo_66.249.78.20 ���������������������������������������������������������� Häufigkeit und Art traumatischer Ereignisse bei PTBS������ 629 Hingegen überraschend zeigte sich in unserer Studie eine tendenziell stärkere Symptombelastung bei Opfern von extrafamiliären Tätern im Vergleich zu intrafamiliären Tätern, was in der Literatur eher als umgekehrter Effekt beschrieben wird (z. B. Fischer u. McDonald, 1998). Die Kategorie „extrafamiliärer Täter“ in unserer Stichprobe beinhaltet in der Mehrzahl traumatische Ereignisse von Gewalt oder Missbrauch durch Mitschüler, Bekannte oder intime Partner, somit keine Fremden. Dieser Befund konnte auch in einer Studie zur Prävalenz von intra- und extrafamiliärem Missbrauch von Mädchen gezeigt werden, hier waren auch nur 15 % der extrafamiliären Täter unbekannte Personen (Russell, 1983). Wenn der Täter aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis stammt, kann dies durchaus eine starke psychische Belastung insbesondere für betroffene Jugendliche sein, die soziale Nachteile bei Offenlegung erleben oder fürchten (Sylaska u. Edwards, 2014). Der Geschlechtervergleich innerhalb der Traumakategorien bezogen auf die Symptombelastung zeigt eine grundlegend höhere Ausprägung von PTBS-Symptomen bei Mädchen, signifikant bei extrafamiliären Tätern, wenn Mädchen selbst Opfer von traumatischen Ereignissen sind und wenn sie sexuelle Gewalt erleben. Dieser Befund bestätigte sich auch in einer Übersichtsarbeit, in der innerhalb desselben PTEs weibliche Teilnehmer einen höheren Schweregrad einer PTBS zeigten (Tolin u. Foa, 2006). Zu den Limitationen unserer Studie ist zu sagen, dass die Grundlage für die vorliegende Auswertung eine knappe deskriptive Erfassung des schlimmsten Ereignisses darstellte. Eine umfassende Traumaanamnese mit der Exploration sämtlicher eventuell auch wiederholter Ereignisse desselben Typs oder anderer traumatischer Ereignisse wurde zum Zeitpunkt der Basisdiagnostik und vor Therapiebeginn nicht erhoben. Somit konnte die Kategorisierung nach Typ I (Einzelereignis) und Typ II (wiederholte traumatische Erlebnisse desselben Typs oder unterschiedlicher Typen) nach Terr (1991) nicht valide durchgeführt werden. Es muss also weiteren differenzierteren Untersuchungen vorbehalten bleiben, Effekte von singulären traumatischen Ereignissen von Effekten wiederholter oder über einen längeren Zeitraum anhaltender traumatischer Erlebnisse abzugrenzen. Die Rekrutierung erfolgte aus dem klinischen Alltag von sowohl universitären Einrichtungen als auch aus Versorgungskliniken der Kinder- und Jugendpsychiatrie im städtischen und ländlichen Raum. Somit ist eine bestimmte Selektion gegeben, die von möglichen anderen Rekrutierungswegen abweicht (z. B. von Flüchtlingsunterkünften, pädiatrischen Kliniken oder Beratungsstellen), bildet jedoch einen guten Querschnitt ab. Die Subgruppenanalysen, insbesondere der Geschlechterdifferenzen, müssen mit Vorsicht interpretiert werden, da die Stichprobenumfänge klein sind. 630 S. Loos et al. Fazit für die Praxis Körperliche und sexuelle Gewalt durch Täter aus ihrer Familie werden von betroffenen Kindern und Jugendlichen mit manifester PTBS am häufigsten als schlimmstes Erlebnis benannt. Sexuelle Gewalt bzw. sexueller Missbrauch geht mit einer besonders stark ausgeprägten Symptomatik einher. Allerdings kann auch der krankheitsbedingte traumatische Verlust nahestehender Personen zu einer PTBS führen, nicht nur der Verlust aufgrund gewaltsamer oder unfallbedingter Todesfälle von Angehörigen. Aufgrund der kumulativen Wirkung von potenziell traumatischen Erlebnissen ist in der klinischen Praxis eine ausführliche und möglichst vollständige Traumaanamnese zu empfehlen. Literatur Alisic, E., Zalta, A. K., van Wesen, F., Larsen, S. E., Hafstad, G. S., Hassanpour, K., Smid, G. E. (2014). Rates of post-traumatic stress disorder in trauma-exposed children and adolescents: meta-analysis. Br J Psychiatry, 204, 335-340. Amaya-Jackson, L., McCarthy, G., Newman, E., Cherney, M. S. (1995). The Child PTSD Checklist. Durham, North Carolina: Duke University, Medical Center. Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist (1998). Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen; deutsche Bearbeitung der Child Behavior Checklist (CBCL/4-18). 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Entwicklungstrauma-Störung: Auf dem Weg zu einer sinnvollen Diagnostik für chronisch traumatisierte Kinder. Prax Kinderpsychol Kinderpsychiatr, 58, 572-586. Korrespondenzanschrift: Sabine Loos, Universitätsklinik Ulm, Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie, Steinhövelstraße 1, 89073 Ulm; E-Mail: [email protected] Sabine Loos, Saskia Wolf, Dunja Tutus und Lutz Goldbeck, Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie/Psychotherapie AUTOREN UND AUTORINNEN Marc Birkhölzer, Assistenzarzt, Jugendforensische Ambulanz der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel, zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel. Lutz Goldbeck, Dipl.-Psych., Dr. phil., Prof., Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie. Leiter der Sektion Psychotherapieforschung und Verhaltensmedizin mit Ausbildungszentrum für Verhaltenstherapie. Kirstin Goth, Dr. phil. nat. Dipl.-Psych., wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel, Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik. Sabine Loos, Dr. biol. hum,, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin (VT), derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) in der Sektion Psychotherapieforschung und Verhaltensmedizin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm. Franz Petermann, Prof. Dr. phil., seit 1991 Professor für Klinische Psychologie, Universität Bremen, Direktor des Zentrums für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen. Susanne Schlüter-Müller, Dr. med., Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in eigener Praxis in Frankfurt a. M., Oberärztin in der Forschungsabteilung für Kinderund Jugendpsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel/Schweiz. Klaus Schmeck, Prof. Dr. med., Dipl.-Psych., Ordinarius, Klinikdirektor der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, Arzt für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Christian Schrobildgen, M. Sc., Psychologe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel. Dunja Tutus, Dipl.-Psych. und M. Sc. Klinische Psychologie, Psychotherapie und Gesundheit, derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sektion Psychotherapieforschung und Verhaltensmedizin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm. Lina Werpup-Stüwe, Dipl.-Psych., seit 2010 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen. Saskia M. K. Wolff, M. Sc. in Gesundheits- und Sozialpsychologie, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sektion Psychotherapieforschung und Verhaltensmedizin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 634 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 ipabo_66.249.78.20 NEUERE TEST VERFAHREN Kaufman, A. S., Kaufman, N. L. (2015). KABC-II. Kaufman Assessment Battery for Children – II. Deutschsprachige Fassung von P. Melchers und M. Melchers. Frankfurt: Pearson. Test komplett 1.389,- €, Auswertungsprogramm 273,70, Verbrauchsmaterial pro Durchführung 3,64 €. Theoretische Grundlagen und Testaufbau Vor knapp 25 Jahren erschien die deutsche Ausgabe der Kaufman-Assessment Battery for Children (K-ABC; Melchers u. Preuss, 1991), deren neuropsychologische Fundierung den Anspruch erhob, neue Wege in der kulturfairen Intelligenzdiagnostik von Kindern zu eröffnen. In den letzten Jahren geriet die K-ABC gegenüber zwischenzeitlich erschienenen Neuauflagen anderer Verfahren ins Hintertreffen. Jetzt stellt sich für viele Testanwender wiederum die Frage, ob die KABC-II wiederum innovative Akzente in der Kinderdiagnostik setzen kann, wobei das amerikanische Original der K-ABC-II bereits seit elf Jahren in Gebrauch ist (Kaufman u. Kaufman, 2004). Die KABC-II besteht nunmehr aus insgesamt 18 Untertests. Bis auf die Dreijährigen, bei denen lediglich ein Gesamtwert ermittelt wird, lassen sich aus je zwei bis vier Untertests Skalenwerte bilden, die nun wahlweise auf der Grundlage der neuropsychologischen Konzeption Lurias oder der CHC-Theorie nach Cattell, Horn und Carroll (Schneider u. McGrew, 2012) interpretiert werden können. Ursprünglich basiert die K-ABC auf Lurias neuropsychologischen Überlegungen zur Einteilung und Rolle verschiedener Hirnfunktionen, die bei der Bewältigung komplexer intellektueller Leistungen zusammenwirken (Luria, 1970). Grundlegend bei der Testkonstruktion war die Unterscheidung zwischen sequentieller und simultaner Verarbeitung, wobei es den Testautoren nicht darauf ankam, einzelne Intelligenzfaktoren möglichst unabhängig voneinander zu erfassen. KABC-II erweitert nun den Bezug zu Lurias Überlegungen um Aufgaben zur Lernfähigkeit und, ab 7;0 Jahre, auch zur Planungsfähigkeit. Aus den nunmehr vier Skalen, die verschiedenen Funktionen des neuropsychologischen Modells Lurias zugeordnet werden, ergibt sich ein Gesamtmaß, das als Intellektueller Verarbeitungsindex (IVI) bezeichnet wird. Separat davon kann auch ein Kennwert für Wissen, bestehend aus zwei Untertests, ermittelt werden, der die Fertigkeitenskala der K-ABC ablöst, allerdings keine Aufgaben zum Lesen und Rechnen enthält. Den zweiten theoretischen Bezugsrahmen bildet die Cattell-Horn-Carroll-Theorie der Intelligenzmessung. Dazu werden mit der KABC-II bis zu fünf breite Fähigkeiten gemessen, nämlich Kurzzeitgedächtnis Gsm, visuelle Verarbeitung Gv, fluide Intelligenz Gf, Langzeitspeicherung und -erinnerung Glr sowie Kristalline Intelligenz Gc, die zu einem Gesamtindex namens Fluid-Kristallin-Index (FKI) zusammengefasst werden. Dieser ist in der Durchführung identisch mit dem IVI, bePrax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 635 – 648 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 636 Neuere Testverfahren inhaltet aber zusätzlich den Kennwert für Wissen, der im Rahmen der CHC-Theorie Kristalline Fähigkeiten Gc genannt wird (vgl. Tab. 1). Generell empfehlen die Autoren, bei der Testinterpretation den FKI zu benutzen, es sei denn, sprachliche Defizite und kulturelle Abweichungen (z. B. bei Kindern mit Migrationshintergrund) lassen es wichtig erscheinen, einen kulturfairen Gesamtwert zu bilden, der die kristallinen Fähigkeiten von der Intelligenzberechnung ausschließt. Für Kinder, die der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sind, gibt es zusätzlich die Möglichkeit, einen sprachfreien Index (SFI) als Globalmaß der Intelligenz zu bilden, der sich aus Aufgaben zusammensetzt, die sprachfrei durchgeführt werden können. Der SFI empfiehlt sich vor allem bei Kindern mit gravierenden Sprach- und Hörproblemen. Tabelle 1: Gegenüberstellung der Funktionen nach Luria und der Faktoren nach der CHC-Theorie, die mit der KABC-II erfasst werden können Alter 4;0-18;11 4;0-18;11 7;0-18;11 4;0-18;11 Bezeichnung Luria-Modell Sequentielle Verarbeitung Simultane Verarbeitung Planung Lernfähigkeit 4;0-18;11 (Wissen) 3;0-18;11 Intellektueller Verarbeitungsindex (IVI) Bezeichnung CHC-Modell Kurzzeitgedächtnis Gsm Visuelle Verarbeitung Gv Fluide Intelligenz Gf Langzeitspeicher und -erinnerung Glr Kristalline Fähigkeiten Gc Fluid-Kristallin-Index (FKI) Bezeichnung KABC-II Sequentiell/Kurzzeitged. Gsm Simultan/Visuelle Verarbeitung Gv Planung/Fluide Fähigkeiten Gf Lernen/Langzeitspeicher und -erinnerung Glr Wissen/Kristalline Fähigkeiten Gc Je nach Alter des Kindes und zugrunde gelegtem Modell werden zwischen fünf und zehn Untertests zur Berechnung des Gesamtwerts herangezogen. Hinzu kommen eine Reihe von Ergänzungsuntertests. Diese dienen der Erweiterung der diagnostischen Möglichkeiten, können aber auch Kernuntertests ersetzen, wenn aufgrund von Verweigerung oder anderer besonderer Umstände ein Kernuntertest entfallen muss. Das Zusammenstellen von Untertests nach Gutdünken zu einer eigenen Kerntestbatterie und deren Auswertung anhand der vorhandenen Normwerttabellen ist nicht zulässig. Einige Untertests sind in bestimmten Altersabschnitten Kernuntertests, während sie zu anderen Zeitpunkten als Ergänzungsuntertests fungieren. Zwei Untertests werden je nach Alter des Kindes verschiedenen Skalen zugeordnet (s. Tab. 2, folgende Seite). Die Namen der Skalen beinhalten sowohl die Bezeichnung nach dem Luria-Modell als auch den Namen des jeweiligen CHC-Faktors (s. Tab. 1). Acht Untertests wurden mit geringfügiger Modifikation aus der K-ABC übernommen. Meist wurden Aufgaben niedriger und hoher Itemschwierigkeit hinzugefügt. Acht Untertests der K-ABC sind weggefallen, wofür zehn Untertests neu hinzu kamen. Nicht mehr enthalten sind die Untertests Zauberfenster, Räumliches Gedächtnis, Fotoserie (wurde durch Geschichten ergänzen abgelöst), Gesichter & Orte (ersetzt durch Wort- und Sachwissen), Rechnen, Lesen/Buchstabieren sowie Lesen/Verstehen. Den Wegfall der Aufgaben zum Lesen und Rechnen begründen die Autoren damit, ipabo_66.249.78.20 Neuere Testverfahren 637 dass diese Fertigkeiten mithilfe eigens dafür entwickelter Schulleistungstests überprüft werden können. Tabelle 2: Testaufbau und Durchführungsdauer der KABC-II Alter in Jahren 3a Zahlen nachsprechen Wortreihe Handbewegungen ºb • +d Bausteine zählen Konzeptbildung Wiedererkennen von Gesichtern Muster ergänzene Rover Geschichten ergänzene Dreiecke Gestaltschließen •+ •+ 4 5 6 7-12 Sequentiell/Kurzzeitgedächtnis (Gsm) •c • • • • • • • º+ º+ º+ º+ Simultan/visuelle Verarbeitung (Gv) º+ º+ º+ •+ •+ •+ •+ º+ • • • • º+ •+ • •+ º º º º º º Planung/fluide Fähigkeiten (Gf) + + •+ •+ + •+ •+ Lernen/Langzeitspeicher und -erinnerung (Glr) • • • • • • • • • • Atlantis Symbole Atlantis – Abruf nach Intervall Symbole – Abruf nach Intervall • Wortschatz Rätsel Wort- und Sachwissen • • º Testdauer in Minuten (lt. Manual) Luria-Modell (IVI) 25-30 CHC-Modell (FKI) 30-35 Sprachfreie Skala (SFI) 20 •+ • • •+ Muster ergänzene Geschichten ergänzene •+ º •+ 13-18 •+ º º º º º º º º Wissen/kristalline Fähigkeiten (Gc) (nur FKI) • • • º º • • • • • • • º º º 30-35 40-45 20 35-40 45-50 30 45-50 55-60 30 55-60 70-75 40 50-55 65-70 40 Anmerkungen: a) Bei den Dreijährigen werden keine Skalenwerte ermittelt, sondern es wir nur ein Gesamtindex gebildet; b) º Ergänzungsuntertest; c) • Kernuntertest; d) + Untertest der sprachfreien Skala SFI; e) Die Untertests Muster ergänzen und Geschichten ergänzen sind bei den Kindern bis 6;11 Jahren der Skala Simultan/Gv zugeordnet, ab 7;0 Jahren der Skala Planung/Gf Im Folgenden werden die einzelnen Untertests beschrieben. Hinweise zu den Altersbereichen der Skalen siehe Tabelle 1. Der sprachfreie Index setzt sich je nach Altersgruppe aus vier oder fünf Untertests zusammen, wobei dazu teilweise Untertests 638 Neuere Testverfahren herangezogen werden, die in der normalen Durchführung nur als Ergänzungsuntertests zum Einsatz kommen. In eckigen Klammern sind jeweils die CHC-Einzelfaktoren (Stratum-I) aufgeführt, die laut deutschem Manual mithilfe der Aufgaben erfasst werden können. Andere Autoren finden teilweise auch andere Zuordnung (vgl. Flanagan, Alfonso, Ortiz, 2012). Zahlen nachsprechen: Vorgesprochene Zahlenreihen müssen in derselben Reihenfolge wiederholt werden [Gedächtnisspanne]. Wortreihe: Es werden Wortreihen vorgesprochen. Auf die zugehörigen Symbole muss anschließend auf einer Vorlage in der richtigen Reihenfolge getippt werden. Bei Aufgaben mit höherem Schwierigkeitsgrad ist zwischen Hören und Zeigen eine Interferenzaufgabe (Farben benennen) zu absolvieren [Arbeitsgedächtnis]. Handbewegungen: Vorgemachte einfache Handpositionen müssen vom Kind in der richtigen Sequenz wiederholt werden [Gedächtnisspanne, visuelles Gedächtnis]. Bausteine zählen: Auf Abbildungen sind Bausteine in verschiedener Anordnung zu sehen, wobei in der perspektivischen Darstellung Steine zum Teil verdeckt sind. Diese müssen demnach beim Zählen erschlossen werden. Es ist jeweils die richtige Anzahl von Bausteinen anzugeben [Visualisierung, mathematische Leistungen]. Konzeptbildung: Aus einem Satz von vier oder fünf Bildern soll dasjenige herausgefunden werden, das nicht zu den übrigen passt [Visualisierung, induktives Denken]. Wiedererkennen von Gesichtern: Zunächst wird das Gesicht einer oder mehrerer Personen gezeigt. Dieselben Personen sollen dann anschließend auf Gruppenfotos herausgefunden werden [visuelles Gedächtnis]. Rover: Auf einer schachbrettartig gegliederten Fläche mit Hindernissen soll der kürzeste Weg vom Start- zum Zielpunkt gefunden werden. Die Aufgaben sind in die Rahmenhandlung eines Hundes eingebettet, der auf dem kürzesten Weg zu seinem Knochen gelangen möchte [räumliche Erfassung, generelles sequenzielles Denken, mathematische Leistungen]. Dreiecke: Bei den einfacheren Aufgaben dieses Untertests müssten aus verschieden geformten und gefärbten Plastikteilen vorgegebene Muster nachgelegt werden. Bei den schwierigeren Aufgaben stehen als Material zweifarbige Dreiecke aus Moosgummi zur Verfügung [räumliche Zusammenhänge, Visualisierung] Gestaltschließen: aus unvollständigen Abbildungen soll erschlossen werden, welches Objekt dargestellt ist. Das Kind soll sagen, welches Objekt es erkannt hat [Schnelligkeit visueller Erkennung]. Muster ergänzen: Eine Reihe von Mustern soll um ein fehlendes Muster ergänzt werden, das aus vier oder sechs Alternativen auszuwählen ist. Zur Lösung der Aufgaben ist es erforderlich, die Logik zu erkennen, die der jeweiligen Serie inhärent ist [induktives Denken, Visualisierung]. Geschichten ergänzen: Eine Abfolge von Bildern stellt eine unvollständige Handlungssequenz dar. Aus einer Reihe von Bildkarten müssen dann diejenigen Bilder ausgewählt und eingefügt werden, die die Geschichte richtig vervollständigen [induktives Denken, Visualisierung, generelles sequentielles Denken, Allgemeinwissen]. ipabo_66.249.78.20 Neuere Testverfahren 639 Atlantis: Sukzessive werden dem Kind die Phantasienamen von 12 Wasserlebewesen vermittelt. Diese müssen anschließend nach Nennung durch den Untersucher aus einer größeren Ansammlung von Abbildungen herausgefunden werden [assoziatives Gedächtnis]. Atlantis – Abruf nach Intervall: 20 bis 25 Minuten nach der Durchführung von Atlantis wird ohne weiteren Lerndurchgang erneut abgefragt, welche Namen-Objekt-Zuordnungen das Kind sich aus der Erstdarbietung behalten hat [assoziatives Gedächtnis, Lernfähigkeit]. Symbole: Das Kind bekommt eine Art Symbolschrift präsentiert und lernt nach und nach die Wortbedeutung der einzelnen Zeichen, mit denen dann Sätze mit zunehmender Anzahl von Symbolen „gelesen“ werden sollen [assoziatives Gedächtnis]. Symbole – Abruf nach Intervall: Auch zum Untertest Symbole gibt es eine zeitverzögerte Abfrage der behaltenen Symbolnamen, ohne dass zuvor eine Auffrischung des Gelernten erfolgt [assoziatives Gedächtnis, Lernfähigkeit]. Wortschatz: Abgebildete lebensweltbezogene Objekte sollen benannt werden [lexikalisches Wissen]. Rätsel: Anhand mehrerer vom Untersucher in Frageform genannter Merkmale soll ein Begriff erraten werden [lexikalisches Wissen, generelles sequentielles Denken, Sprachentwicklung]. Wort- und Sachwissen: Aus jeweils sechs dargebotenen Bildern soll dasjenige ausgewählt werden, das zu einem genannten Begriff (Objekt, Eigenschaft etc.) passt [lexikalisches Wissen, Allgemeinwissen]. Die Subskalen werden jeweils aus zwei Kernuntertests gebildet. Eine Ausnahme stellt Simultan/Gv dar, wo in manchen Altersgruppen bis zu vier Untertests zur Indexbildung beitragen. Zusätzlich zu den genannten Subskalen gibt es die Möglichkeit, aus den beiden Ergänzungsuntertests Atlantis – Abruf nach Intervall und Symbole – Abruf nach Intervall einen separaten Index „Abruf nach Intervall“ zu errechnen, für den eigene Normen vorliegen. Das Material umfasst vier Aufstellordner und zwei Spiralblöcke mit Testaufgaben und Instruktionen sowie Bildkarten und Legeplättchen. Es gibt ein Protokollheft für alle Altersgruppen sowie ein PC-Auswerteprogramm. Das Manual ist umfangreich (338 Seiten) und detailliert. Es enthält im Anhang die Normtabellen. Anfangs wurde der Test in einer Stofftasche geliefert, die den Inhalt nicht ausreichend schützte. Nach Kritik aus dem Kreis der Testbenutzer wurde diese zwischenzeitlich durch einen Pilotenkoffer ersetzt. Testdurchführung, Auswertung und Interpretation Die Durchführungsregeln unterscheiden sich in vielen Details von der Vorgängerversion, sodass auch Testleiter, die die K-ABC kennen, um eine sorgfältige Einarbeitung nicht umhin kommen. Außer einem geeigneten Arbeitsplatz sind keine besonderen räumlichen Anforderungen zu erfüllen. Der Test wird im Einzelsetting durchgeführt. Die Reihenfolge der Aufgaben ist festgelegt. Die Ergebnisse werden im Protokollheft 640 Neuere Testverfahren festgehalten, wo auch die Verrechnungen vorgenommen und die Ergebnisse dargestellt werden. Außerdem besteht dort die Möglichkeit, Verhaltensbeobachtungen einzutragen. Zu vielen Untertests gibt es Einführungs- und Lernaufgaben, die gewährleisten sollen, dass das Kind die Aufgabenstellung verstanden hat. Altersdifferenzierte Einstiegspunkte und Abbruchkriterien sowie Regeln für den Fall, dass die Einstiegs- und Lernaufgaben nicht bewältigt wurden, gewährleisten eine ökonomische Testdurchführung. Verrechnungshinweise gibt es auch für den Fall, dass in Untertests null Rohwertpunkte erreicht werden. Bei einigen Aufgaben ist exakte Zeitnahme erforderlich, um Darbietungs- und Bearbeitungszeiten zu kontrollieren. Ab 7;0 Jahren gibt es bei einigen Untertests Bonuspunkte für rasche Bearbeitung. Für Personen mit motorischen Handicaps liegen separate Normen ohne diese Bonusbepunktung vor. Bei einigen Aufgaben ist eine abgestufte Bewertung vorzunehmen, je nachdem; ob sie im ersten oder zweiten Lösungsversuch richtig bewältigt wurden. Die Normwerte der Untertests werden in Wertpunkten (M = 10, SD = 3), die der Skalen als IQ-Werte (M = 100, SD = 15) angegeben. Zur Profilinterpretation werden ausschließlich die Subskalenindices herangezogen, wenn die Untertestergebnisse nicht zu große Unterschiede aufweisen. Es können sowohl normbezogene als auch individuelle Stärken und Schwächen unter Berücksichtigung von Signifikanzniveaus und kritischen Grundraten ermittelt werden. Testentwicklung, Normierung und Testgütekriterien Aufbauend auf die sorgfältige Entwicklung der amerikanischen Originalversion erfolgte eine Übersetzung und teilweise kulturelle Adaptierung des Verfahrens auf deutschsprachige Verhältnisse. Die Testnormierung erfolgte von April 2013 bis Februar 2014 an 1.745 Kindern in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz, wobei Repräsentativität bezüglich Geschlecht, regionaler Verteilung, Siedlungsform, Migrationsanteil und Bildungsstand der Eltern angestrebt und weitgehend eingehalten wurde. Lediglich der Anteil von Probanden mit Eltern aus niedrigen Bildungsschichten war unterrepräsentiert. Zur Normierungsstudie selbst sind die Auskünfte eher spärlich. So erfährt man lediglich, dass die Durchführung in den Händen eines Marktforschungsunternehmens lag, das seinerseits Untersucher anlernte, deren beruflicher Hintergrund ungenannt bleibt. 1.628 Probanden wurden in Regelkindertagesstätten und Regelschulen gewonnen. Hinzu kam ein Anteil von 117 Kindern und Jugendlichen, die als klinische Stichprobe bezeichnet werden. Diese macht 6,7 % der Gesamtstichprobe aus und beinhaltet Kinder mit Entwicklungsstörungen und diversen psychischen Störungen, die sich nicht gleichmäßig über die Altersgruppen verteilen. Auch zur Gewinnung dieser Probandengruppen fehlen nähere Angaben. Für die Gesamtstichprobe ergaben sich vielfach schlechtere Testleistungen bei niedrigem Bildungsniveau der Eltern und Migrationshintergrund, wobei das letztgenannte Merkmal im Manual zwar problematisiert, aber letztlich nicht definiert wird. Die Effekte fallen für die verschiedenen Skalen unterschiedlich groß aus (s. Tab. 3). ipabo_66.249.78.20 Neuere Testverfahren 641 Tabelle 3: Effekte des elterlichen Bildungsgrads und des Migrationsstatus auf KABC-II-Ergebnisse KABC-II Skalen Sequentiell/Gsm Simultan/Gv Lernen/Glr Planung Gf Wissen/Gc IVI FKI SFI Bildungsstand der Eltern Differenz SA – HSa 3-6 Jahre 7-18 Jahre 10,8 15,6 13,9 14,2 10,2 13,7 --13,9 18,5 19,4 14,5 18,2 17,2 19,4 11,5 13,7 Migrationb Differenz Nein – Ja 3-6 Jahre 7-18 Jahre 5,6** 4,2*** 1,4 5,1*** 1,6 3,4*** --3,4*** 12,4*** 8,5*** 3,4* 5,0*** 6,6*** 6,1*** 4,2*** - 0,9c Anmerkungen: a) SA = Studienabschluss, HS = Hauptschule mindestens 8 Jahre; b) Migrationshintergrund ja/nein unter Berücksichtigung des elterlichen Bildungsgrads c) hier schnitten die Kinder mit Migrationshintergrund geringfügig besser ab als die ohne * p ≤ .05 ** p ≤ .01 *** p ≤ .001 Bei den Skalen sind Akademikerkinder den Kindern aus niedrigen Bildungsschichten im Schnitt um 1 bis 1,3 SD überlegen. Selbst wenn der Bildungsstand der Eltern kontrolliert wird, wirkt sich Migrationshintergrund ungünstig auf die Testergebnisse aus. Kulturfairness lässt sich demnach allenfalls für die sprachfreie Skala reklamieren. Es wurden 47 Altersgruppen gebildet, bei den Drei- bis Fünfjährigen Gruppen à drei Monate pro Jahrgang, bei den Sechs- bis Vierzehnjährigen je drei Gruppen à vier Monate pro Jahrgang, und bei den Fünfzehn- bis Achtzehnjährigen erfolgte die Gruppeneinteilung in Halbjahresschritten. Die Normen gelten für Jungen und Mädchen gleichermaßen, auch wenn in der Normierungsstichprobe signifikante, aber geringfügige Geschlechtsunterschiede, zumeist zugunsten der Jungen (Simultan/Gv, Wissen/Gc und FKI), gefunden wurden. Für die amerikanische Fassung waren leichte, teilweise aber signifikante Unterschiede berichtet worden (Singer et al., 2012), wobei je nach Alter und Skala mal die Jungen und mal die Mädchen besser abschnitten. Bei den Kindern im Alter von 3;0 bis 3;2 Jahren weisen drei der sieben Kernuntertests leichte Bodeneffekte auf, sodass bei einem Rohwert (RW) von 1 in allen Untertests minimal ein Gesamtwert von 57 (mehr als 3 SD) erreicht werden kann. Bei den Vierjährigen sind alle Kernuntertests frei von Bodeneffekten und es werden Skalenwerte bis in den untersten Messbereich hinein ausgewiesen. Leichte Bodeneffekte bestehen außerdem beim Untertest Muster ergänzen bei den Fünf- und Sechsjährigen sowie im Untertest Rover im Alter von 6;0 bis 6;2 Jahren. Ansonsten sind Kernuntertests und Skalen frei von Bodeneffekten. Bis zu einem Alter von 13 Jahren treten keine Deckeneffekte auf, ab dann zunehmend bei Ergänzungsuntertests. Kernuntertests sind nur in den höchsten Altersgruppen betroffen. Die Anstiege der Normwerte zwischen benachbarten Rohwertpunkten sind stetig, gelegentlich kommt es dabei zu Normwertsprüngen von 2/3 SD. Anstiege zwischen Altersgruppen betragen selten mehr als 1/3 SD. 642 Neuere Testverfahren Tabelle 4: Reliabilitäten der Testskalen Sequentiell/Gsm Simultan/Gv Lernen/Glr Planung/Gf Wissen/Gc IVI FKI SFI 3-6 Jahre 7-18 Jahre .88 (.85 - .89) .93 (.88 - .95) .97 (.96 - .97) --.94 (.92 - .95) .95 (.94 - .96) .97 (.96 - .97) .92 (.90 - .92) .90 (.87 - .93) .95 (.94 - .97) .97 (.96 - .97) .89 (.84 - .92) .95 (.94 - .96) .97 (.96 - .98) .98 (.97 - .98) .95 (.93 - .96) Anmerkung: Durchschnittswerte über alle Altersgruppen (in Klammern Range) berechnet mit Fisher’s z-Transformation. Die Angaben im Manual beziehen sich auf gemittelte Werte der Altersnormgruppen. Bei den Untertests erfolgte die Reliabilitätsberechnung anhand einer etwas unklar beschriebenen Prozedur, die der Split-Half-Methode angenähert ist. Die somit gewonnenen Kennwerte fallen überwiegend zufriedenstellend (>.70) bis hoch (>.80), teilweise sogar sehr hoch (>.90) aus. Bei den Kernuntertests treten keine Reliabilitätskoeffizienten < .70 auf, bei den Ergänzungsuntertests ist dies in einzelnen Altersgruppen der Fall. Für die Untertests Atlantis – Abruf nach Intervall und Symbole – Abruf nach Intervall wird ein gemeinsamer Reliabilitätskoeffizient angegeben, der in allen Altersgruppen Mittelwerte > .90 ergibt (s. Tab. 4). Zur Retestreliabilität verweisen die Autoren auf die amerikanische Originalversion, von der eine zufriedenstellende bis hohe Mess-Stabilität über einen Zeitraum von durchschnittlich vier Wochen (12 bis 56 Tage) berichtet wird. Auf eine Überprüfung bei der deutschen Version haben die Autoren aus methodischen Gründen verzichtet. Sie nehmen an, dass die für die amerikanische Fassung berichteten Übungseffekte von 11,5 Standardwertpunkten für Lernen/ Glr und 7-10 Standardwertpunkten für Simultan/Gv und Planung/Gf vermutlich auch für die deutsche Fassung zutreffen, ebenso wie die geringeren Zuwächse bei Wissen/Gc (3-4 Punkte) und Sequentiell/Gsm (-0,8-2,2 Punkte). Zuwächse bei den Gesamtskalen IVI, FKI und SFI werden im Manual nicht referiert. In Anbetracht der teilweise deutlichen Übungseffekte empfehlen die Autoren, die KABC-II nicht häufiger als im Abstand von 12 Monaten zu wiederholen. Viele Aufgabenformate der KABC-II sind in der Intelligenzdiagnostik etabliert und können als inhaltsvalide gelten. Für neu aufgenommene Untertests ist der Zusammenhang mit den zugrunde gelegten Intelligenzmodellen plausibel dargelegt. Die Subskala Planung/Gf wurde eher aus statistischen denn aus inhaltlichen Gründen zusammengestellt. Jede Subskala wird aus mindestens zwei verschiedenen Untertests gebildet, was im Rahmen der CHC-Theorie für ausreichend gehalten wird, um Stratum-II Faktoren angemessen zu erfassen (Flanagan et al., 2012). Die Interkorrelationen der Kernuntertests fallen in den niedrigen bis mittleren Bereich und sind innerhalb der jeweiligen Subskalen durchweg gleich hoch oder höher ipabo_66.249.78.20 Neuere Testverfahren 643 als die Zusammenhänge zwischen Aufgaben, die verschiedenen Skalen angehören. Alle Untertests korrelieren in mittlerer bis sehr hoher Ausprägung mit den jeweiligen Skalen, die ihrerseits auch hohe Zusammenhänge untereinander aufweisen. Planung/ Gf hat von allen Skalen den höchsten Zusammenhang mit den Gesamtindices IVI und FKI. Die referierten konfirmatorischen Faktorenanalysen scheinen die Skalenstruktur der KABC-II für alle Altersgruppen zu bestätigen. Am höchsten laden Planung/Gf und Simultan/Gv auf dem Gesamtwert (IVI) mit Werten von .88 bis .99. Auch die Ladungen der Untertests auf den Fähigkeitsfaktoren, die die Subskalen repräsentieren, beträgt .50 und mehr. Allerdings lassen die im Manual enthaltenen Angaben keine umfassende Beurteilung der Faktorenanalysen zu. Zur konkurrenten Validität werden Vergleichsuntersuchungen referiert, die mit Teilen der Normierungsstichprobe in verschiedenen Altersgruppen durchgeführt wurden und die überwiegend deutliche Zusammenhänge mit den Skalenwerten von WISC-IV (Petermann u. Petermann, 2011); IDS (Grob, Meyer, Hagmann-von-Arx, 2009); WPPSIIII (Petermann, 2009); SON-R 5½-17 (Tellegen u. Laros, 2005) und K-TIM (Melchers, Schürmann, Scholten, 2006) aufweisen. So beträgt beispielsweise der Zusammenhang zwischen FKI und dem WISC-IV-Gesamtwert .88. Ein Vergleich zwischen KABC-II und K-ABC bei Kindern im Alter von 8 bis 11 Jahren liefert ebenfalls deutliche statistische Zusammenhänge bei nur geringen Mittelwertdifferenzen im Gesamtwert. Die Korrelationen zwischen inhaltlich ähnlichen Untertests der beiden Verfahren fallen jedoch teilweise erstaunlich niedrig aus. Zur diskriminativen Validität wird lediglich von einer Studie mit der Kaseler Konzentrationsaufgabe (Krampen, 2007) berichtet, die für statistische Unabhängigkeit zwischen KABC-II und selektiver Aufmerksamkeit spricht. Zu Profilen klinischer Stichproben einschließlich Hochbegabung werden lediglich Ergebnisse genannt, die für die amerikanische Version vorliegen. Zur Kriteriums- und prognostischen Validität fehlen Angaben bzw. es wird kursorisch auf Befunde zur amerikanischen Version verwiesen. Praktische Erprobung Aufgrund der Vielzahl an Durchführungsregeln und zahlreicher Modifikationen gegenüber der K-ABC ist für alle Testanwender eine sorgfältige Einarbeitung erforderlich. Die Aufbewahrungs- und Transporttasche ermöglicht keine übersichtliche Anordnung des Materials und keinen materialschonenden Transport. Die Umstellung auf ein anderes Behältnis, die der Verlag zwischenzeitlich vorgenommen hat, ist daher prinzipiell zu begrüßen. Allerdings vermag der nunmehr zum Einsatz kommende Pilotenkoffer im praktischen Einsatz nicht zu überzeugen. Er gewährleistet zwar einen sicheren und rückenschonenden Transport, ist aber platzintensiv und sollte von der Inneneinteilung her verbessert werden. Die meisten Aufgaben werden anhand der Aufstellordner dargeboten, was eine Sitzordnung „über Eck“ erfordert, damit die Zeigebewegungen des Kindes vom Untersucher auch gut beobachtet werden können. Die Skizze im Manual, die diese Sitzposition veranschaulichen soll, erscheint dem Rezensenten dazu allerdings ungeeignet. 644 Neuere Testverfahren Die Spiralheftungen der Aufstellordner biegen sich im Gebrauch auf, sodass ein reibungsloses Umblättern nicht durchgehend gewährleistet ist. Das erfordert häufiges Nachbiegen oder, falls man das versäumt hat, umständliches Wiedereinfädeln der Aufstellpappen. Während einer Testung kann es dadurch zu erheblicher Behinderung kommen. Die Registerblätter nutzen sich an den Griffstellen rasch ab und die Pappen, die statt des bisherigen Plastikeinbands die Aufstellordner stützen sollen, sind für Kinder, die kraftvoll auf die Abbildungen tippen, nicht stabil genug. Eine fehlerhafte Abbildung im Untertest Gestaltschließen wurde inzwischen ausgetauscht. Die Handlungsanweisungen für den Testleiter sind klar beschrieben und die Instruktionen sind sprachlich einfach gehalten. Warum auf den Instruktionsseiten der Aufstellordner auch ausführliche Hintergrundinformationen zu den einzelnen Untertests abgedruckt sind, ist nicht nachvollziehbar. Dadurch wird unnötiges Blättern bei jeder Testdurchführung erforderlich, was sich insbesondere bei Kindern, die konstante Aufmerksamkeit verlangen, ungünstig auswirkt. Die wichtigsten Durchführungsanweisungen hätten etwas prägnanter hervorgehoben werden können. Die Vorlage zum Untertest Wortreihe ist weder kratzfest noch abwaschbar oder praktisch in ihrer Handhabung. Bei regem Gebrauch bekommt der Softcover-Einband des Manuals auch bei vorsichtiger Handhabung rasch Gebrauchsspuren. Ein Hardcover-Einband oder ein separates spiralgebundenes Heft mit Testnormen wären bessere Alternativen. Im Allgemeinen lässt sich das Verfahren mit Kindern aller Altersstufen gut durchführen, lediglich bei den Sechsjährigen gab es teilweise Durchhalteprobleme. Die Angaben zur Durchführungsdauer im Manual erwiesen sich in der eigenen Erprobung als realistisch. Atlantis ist als Einstiegsaufgabe und „Eisbrecher“ meist gut gewählt. Lediglich sehr schüchterne Kinder, die der Aufforderung auf die Abbildungen zu zeigen nicht nachkommen, lassen sich auf andere Untertests wie Wortschatz oder Dreiecke am Anfang unter Umständen besser ein. Die Aufgabenreihenfolge ermöglicht eine durchaus abwechslungsreiche Darbietung. Durch Zeitnahme, gestaffelte Bepunktung, Durchführungsunterschiede bei verschiedenen Altersgruppen und nicht zuletzt die differenzierten Kriterien für die Verhaltensbeobachtung stellt das Verfahren hohe, aber mit der nötigen Testroutine durchaus zu bewältigende Anforderungen an den Testleiter. Die Hinzunahme einfacher Aufgaben ermöglicht nun einen problemlosen Einstieg in den Untertest Dreiecke. Das Bildmaterial ist optisch klar gestaltet, aktualisiert und weist im Untertest Wort- und Sachwissen (Nachfolger von Gesichte & Orte) auch keine „Märchenlastigkeit“ mehr auf, erfordert allerdings intaktes Sehvermögen und gute Ausleuchtung des Arbeitsplatzes. Für die Anwendung bei sehbehinderten Kindern bietet KABC-II sich nicht unbedingt an. Die Anforderungen an die Handmotorik der Kinder sind bis auf Dreiecke und Rover gering. Bei entsprechenden motorischen Handicaps können, wo erforderlich, Normen ohne Bonuspunkte für rasche Bearbeitung herangezogen werden, die allerdings bei den älteren Probanden ausgeprägte Deckeneffekte aufweisen. Sprachlichen Problemen der Probanden wird generell durch sprachlich einfache und kurze Anweisungen und geringe Anforderungen an den sprachlichen Output Rechnung ipabo_66.249.78.20 Neuere Testverfahren 645 getragen. Zusätzlich gibt es die sprachfreie Skala, jedoch ohne spezifische Instruktionen zur nonverbalen Durchführung. Die Bewertung ist zumeist einfach. Der Protokollbogen bietet reichlich Platz für Eintragungen, ist vom Layout her aber gewöhnungsbedürftig. Die Auswertung anhand der Tabellen bereitet keine Schwierigkeiten. Alternativ liegt ein unkompliziert zu installierendes und handzuhabendes Auswertungsprogramm vor. Die Vorgaben, die bezüglich der Profilinterpretation gemacht werden, sind methodisch angemessen. Die Ergebnisinterpretation setzt Kenntnis der theoretischen Grundlagen voraus. Dies trifft im Prinzip für alle (intelligenzdiagnostischen) Verfahren zu, ist aber wegen des expliziten Bezugs auf die neuropsychologische Theorie Lurias und das CHC-Modell hier besonders augenfällig. Bewertung Die KABC-II stellt eine gründliche Überarbeitung und Erweiterung der K-ABC dar. Das Verfahren basiert weiterhin auf dem Luria-Modell und fügt der simultanen und sukzessiven Verarbeitung noch Lernen und Planung als weitere Leistungsbereiche hinzu. Zugleich besteht die Möglichkeit, Befunde nach der CHC-Theorie zu interpretieren, auch wenn die Untertests in der Regel mehr als einem Intelligenzfaktor zuzuordnen sind. Dem Benutzer eröffnen sich damit zeitgemäße Interpretationsmöglichkeiten, und die Verknüpfung mit anderen Verfahren im Sinne eines CrossBattery-Assessments (Flanagan et al., 2012) wird merklich erleichtert. Begrüßenswert ist auch die Berücksichtigung von Lernen als spezifischer kognitiver Leistung und des verzögerten Abrufs, zwei Komponenten, die bislang trotz ihrer praktischen Relevanz in Intelligenztests kaum Berücksichtigung fanden. Kritisch anzumerken ist, dass im Untertest Symbole etliche Abbildungen die Symbolbedeutung anschaulich wiedergeben, sodass die Testleistung nicht nur das Lernen in der Testsituation wiedergibt, sondern auch durch bildungsabhängiges Vorwissen beeinflusst wird. Außerdem findet der verzögere Abruf bei der Berechnung des Index Lernen/Glr keine Berücksichtigung, obwohl der Recall als wesentlicher Bestandteil des CHC-Faktors Glr gilt. Die Unterscheidung zwischen simultaner/visueller Verarbeitung einerseits und Planung/ fluider Intelligenz andererseits ist von den Aufgabeninhalten her wenig eingängig und die Zuordnung der Aufgaben zu den beiden Indices erfolgte eher aus teststatistischen denn aus inhaltlichen Gründen. Wissen/Kristalline Fähigkeiten Gc enthält vornehmlich Aufgaben zum Passivwortschatz und zur sprachlichen Konzeptbildung und kann damit inhaltlich nur bedingt mit dem Index Sprachverständnis der WISV-IV gleichgesetzt werden. Der Wegfall von Rechnen und Leseverständnis bei KABC-II ist zu bedauern, da es sich hierbei um orientierende Aufgaben handelte, die eingesetzt werden konnten, um eingehenderen Abklärungsbedarf zu ermitteln. Laut Manual erfassen zwar Rover und Bausteine zählen auch quantitative Fähigkeiten Gq, doch beschränken sich diese auf reine Zählfertigkeiten, die ab einem Alter von 6 bzw. 13 Jahren für die Beurteilung der Rechenfertigkeiten weitgehend ungeeignet sind. 646 Neuere Testverfahren Zu begrüßen ist, dass nunmehr normiertes Testen mit der KABC-II bis zum 19. Lebensjahr möglich ist. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist allerdings zu berücksichtigen, dass Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren im Durchschnitt circa acht IQ-Punkte besser abschneiden als im K-TIM (Melchers et al., 2006), wobei sich die Differenz vornehmlich bei den kristallinen Leistungen ergibt. Für die Diagnostik von Kindern und Jugendlichen mit (leichter) Intelligenzminderung bietet sich die KABC-II mit ihren vielfältigen individuellen Adaptierungsmöglichkeiten und geringen Bodeneffekten an. Die Leistungsdifferenzierung im oberen Intelligenzbereich basiert bei den älteren Kindern nicht unwesentlich auf den Bonuspunkten für rasche Bearbeitung, vor allem bei Planung/Fluide Fähigkeiten Gf. Die Bonuspunkte machen am Gesamtergebnis bis zu 1½ SD aus, bei Planung/fluider Intelligenz Gf bis zu 4½ SD und auch bei Simultan/visuelle Fähigkeiten Gv kann es zu erheblichen Unterschieden je nach Arbeitstempo kommen. Längst nicht alle hochleistenden Jugendlichen weisen hohes Arbeitstempo auf. Daher ist in diesen Fällen bei der Testinterpretation Vorsicht angesagt. Irreführend könnte außerdem sein, dass Probanden einerseits durch die Testinstruktionen aufgefordert werden, sich bei der Bearbeitung nicht zu beeilen und andererseits der Lösungszeit bei der Bewertung ein so hoher Stellenwert beigemessen wird. Der Wegfall der Altersgruppe 2;6 bis 2;11 Jahre fällt nicht ins Gewicht, da sich die K-ABC wegen großer Bodeneffekte und unausgewogener Aufgabenzusammenstellung für die Untersuchung dieser Altersgruppe ohnehin nicht empfahl. Im Manual wird die K-ABC-II als kulturfaires Verfahren bezeichnet. Allerdings wirken sich niedriger Sozialstatus und Migrationshintergrund bei der deutschen Normierung erheblich stärker auf die Testergebnisse aus als in amerikanischen Studien (Singer et al., 2012), wo nur halb so große Unterschiede berichtet werden. Dies sollte nicht vorschnell der deutschen Version des Tests angelastet werden, da die Ursachen auch in der Stichprobenauswahl oder in anderen gesellschaftlichen Bedingungen liegen können und in dieser Hinsicht Vergleiche mit anderen deutschsprachigen Verfahren fehlen. Die genannten Leistungsunterschiede sind jedoch so groß, dass Kulturfairness kaum glaubwürdig für das Verfahren als Ganzes reklamiert werden kann. Der Test lässt sich im vorgesehenen Altersbereich im Allgemeinen gut durchführen. Die Instruktionen sind knapp gehalten, die Anleitungen für den Testleiter sind präzise und ermöglichen eine objektive Durchführung. Das Material weist einige gravierende Unzulänglichkeiten auf. Man wünscht sich, der Verlag hätte den Qualitätsstandard der alten K-ABC-Materialien beibehalten. Hier sollte im Interesse einer störungsfreien Testdurchführung dringend nachgebessert werden. Das Protokollheft ist ausführlich und bis auf einige gewöhnungsbedürftige Besonderheiten gut zu benutzen. Es enthält alle Verrechnungsoptionen. Die manuelle Testauswertung dauert circa zehn Minuten, die Auswertung mittels der empfehlenswerten Auswertungssoftware geht etwas rascher und minimiert Ablese- und Berechnungsfehler. Positiv hervorzuheben sind die methodisch klaren und fundierten Regeln zum Umgang mit Testergebnissen bei einem Rohwert von Null und zur Profilinterpretation. Bezüglich der Validität von Testprofilen fehlen noch die empirischen Belege. ipabo_66.249.78.20 Neuere Testverfahren 647 Die Normtabellen im Anhang des Manuals sind einigermaßen übersichtlich gestaltet und lassen sich zufriedenstellend ablesen. Das ansonsten ausführliche Handbuch liefert kaum Informationen zum Procedere der Testnormierung und auch die Angaben zur Konstruktvalidität sind nicht umfassend genug. Die Skalen sind weitgehend frei von Boden- und Deckeneffekten, die Normen sind stetig und liegen in ausreichend feiner Altersabstufung vor. Die Reliabilität der Gesamtskalen ist gut bis sehr gut. Zu den Untertests werden insbesondere bei den Kernuntertests hohe bis sehr hohe Konsistenzmaße berichtet, die aber wegen verschiedener Berechnungsweisen mit den Reliabilitätswerten anderer Verfahren nur bedingt vergleichbar sind. Für die deutsche Fassung wären Retestergebnisse und Befunde zu Übungseffekten insbesondere für klinische Gruppen wünschenswert. Die Menge an Vergleichsstudien mit anderen Intelligenztestverfahren ist geradezu als vorbildlich zu bezeichnen. Dafür fehlen Befunde zur diskriminativen und Kriteriumsvalidität der Skalen und des Testprofils noch weitgehend. Insgesamt kann KABC-II als gelungene Neufassung und Normierung dieses weit verbreiteten Intelligenztests angesehen werden. Inhaltliche und teststatistische Schwächen der Vorläuferversion wurden systematisch beseitigt, sodass dieses Verfahren nunmehr eine methodisch fundierte Intelligenzdiagnostik auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand ermöglicht. Unbefriedigend ist die Materialqualität, die zumindest teilweise für den täglichen Gebrauch unzulänglich und dem hohen Anschaffungspreis unwürdig ist. Falls es zu weiteren verlagsseitigen Nachbesserungen beim Material kommt, sollten davon auch diejenigen profitieren können, die das Verfahren bereits angeschafft haben und zum Teil durch ihre Kritik dem Verlag wichtige Hinweise zu dessen Verbesserung geliefert haben. Andernfalls ist Interessenten zu raten, mit der Anschaffung zu warten, bis die Materialqualität ausgereift ist. Die theoretische Fundierung ist einerseits eine Stärke des Verfahrens, die in der Praxis allerdings nur dann zum Tragen kommen kann, wenn Testanwender über das erforderliche Grundwissen verfügen, um die Ergebnisse angemessen interpretieren zu können. Daher ist mit Nachdruck auf die Empfehlung der deutschen Testautoren im Manual hinzuweisen, dass nur diejenigen das Verfahren anwenden sollten, die sich im Rahmen eines Psychologiestudiums und/oder einer Weiterbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten das dazu erforderliche testtheoretische Wissen angeeignet und sich mit den theoretischen Grundlagen des Verfahrens hinreichend vertraut gemacht haben. Es ist zu hoffen, dass der Verlag beim Verkauf mithilft, diese in anderen Ländern selbstverständlichen Standards psychologischer Testung im Interesse der Klienten auch im deutschsprachigen Vertrieb zu beherzigen. 648 Neuere Testverfahren Literatur Flanagan, D. P., Alfonso, V. C., Ortiz, S. O. (2012). The Cross-Battery Assessment Approach. An overview, historic perspective and current directions. In D. P. Flanagan, P. L. Harrison (Hrsg.), Contemporary intellectual assessment (S. 459-483). New York: Guilford. Grob, A., Meyer, C. S., Hagmann-von-Arx, P. (2009). Intelligence and Development Scales (IDS). Bern: Huber. Kaufman, A. S., Kaufman, N. L. (2004). Kaufman Assessment Battery for Children – Second Edition. Minneapolis: NCS Pearson. Krampen, G. (2007). KKA: Kaseler Konzentrationsaufgabe für 3- bis 8-Jährige. Göttingen: Hogrefe. Luria, A. R. (1970). The functional organization of the brain. Scientific American, 222, 66-78. Melchers, P., Preuß, U. (1991). Kaufman Assessment Battery for Children (K-ABC). Deutsche Bearbeitung. Lisse: Swets & Zeitlinger. Melchers, P., Schürmann, S., Scholten S. (2006). Kaufman Test zur Intelligenzmessung für Jugendliche und Erwachsene (K-TIM). Leiden: PITS. Petermann, F. (Hrsg.) (2009). Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence – III, deutsche Version (WPPSI-III). Frankfurt a. M.: Pearson Assessment. Petermann, F., Petermann, U. (2011). Wechsler Intelligence Scale for Children – Fourth Edition (WISC-IV). Deutsche Bearbeitung. Frankfurt a. M.: Pearson Assessment. Schneider, W. J., McGrew, K. S. (2012). The Cattell-Horn-Carrol Model of Intelligence. In D. P. Flanagan, P. L. Harrison (Hrsg.), Contemporary intellectual assessment (S. 99-144). New York: Guilford. Singer, J. K., Lichtenberger, E. O., Kaufman, J. C., Kaufman, A. S., Kaufman, N. L. (2012). The Kaufman Assessment Battery for Children – Second Edition and the Kaufman Test of Educational Achievement – Second Edition. In D. P. Flanagan, P. L. Harrison (Hrsg.), Contemporary intellectual assessment (S. 269-296). New York: Guilford. Tellegen, P. J., Laros, J. A. (2005). SON-R 5½-17. Non-verbaler Intelligenztest (3. korr. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Dieter Irblich, Auel ipabo_66.249.78.20 BUCHBESPRECHUNGEN Baierl, M., Frey, K. (Hrsg.) (2014). Praxishandbuch Traumapädagogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 296 Seiten, 29,99 €. Es ist davon auszugehen, dass bei fremdplatzierten Kindern fast immer eine Traumatisierung vorliegt. Daher sollten alle, die beruflich oder privat mit solchen Kindern zu tun haben, über gutes Handwerkszeug verfügen. Dazu kann dieses Buch entscheidend beitragen. Baierl gibt im ersten Teil einen Überblick über das aktuelle Wissen über Traumata, Symptome, Risiken und Resilienzfaktoren. Dabei geht es neben der Weitergabe von Fachwissen besonders um die Vermittlung einer Haltung voller Wertschätzung und Respekt und der grundsätzlichen Annahme, dass jedes Verhalten aus gutem Grund gezeigt wird, den es zu verstehen gilt. Kinder, traumatisierte ganz besonders, brauchen sichere Orte: äußere, personale durch professionelle Nähe, im Selbst, durch Spiritualität und einen inneren sicheren Ort, der sich durch Imagination lernen lässt. Diese Orte brauchen auch die Mitarbeiter für sich, um die herausfordernde Arbeit gesund bewältigen zu können. Voraussetzung für professionelle, die Kinder erreichende Arbeit ist eine gute Diagnostik, Vermittlung von Techniken zur Stabilisierung, zum Ziele erarbeiten, Verhinderung von Kontrollverlusten. Eltern wird mit dem gleichen Respekt und Unterstützung begegnet, wobei das Kindeswohl an erster Stelle steht. Das kann gelingen, wenn auch gut für die Mitarbeiter gesorgt wird beziehungsweise Selbstfürsorge möglich ist. Im zweiten Teil gibt es theoretisch fundierte Anleitungen zur Umsetzung von Bewährtem in der Praxis – immer mit Bezugnahme auf den ersten Teil. Es wird gezeigt, wie die notwendige Lebensfreude in Wohngruppenarbeit Einzug hält, unter anderem durch geeignete Sportangebote (oder eine Farbrutschbahn!). Auch wie mit Grenzverletzungen der Bewohner prophylaktisch und akut umgegangen werden kann, wird sehr überzeugend dargestellt, wie sich Regeln etabliert und gleichzeitig flexibel handhaben lassen, wie körperlich stabilisiert werden kann und wie ressourcenorientierte Angebote aussehen können, wie sich Erlebnispädagogik gestaltet, welche Hilfen es bei Schlafstörungen gibt oder welcher Umgang mit Kontrollverlusten der Kinder und Jugendlichen ratsam ist. Es folgen Darstellungen von speziellen Angeboten: therapeutisches Puppenspiel, Reitpädagogik oder spezielle Angebote für junge werdende Mütter, die sichere Bindung an ihre Kinder und Feinfühligkeit lernen können. Die Wichtigkeit der Selbstfürsorgemöglichkeiten für Mitarbeiter wird betont, auch, was die Einrichtung dafür zur Verfügung stellen sollte. Das Buch endet mit einem Kapitel über die Implementierung von Traumapädagogik in einer Einrichtung einschließlich Fortbildungskonzepte auch für Entscheidungsträger. Aufgrund der Vielfalt der behandelten Themen lässt sich das Buch auch als Nachschlagewerk bei einzelnen Fragen nutzen. Es ist sehr systematisch aufgebaut und gut Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 649 – 652 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 650 Buchbesprechungen lesbar. Jedes Kapitel hat eine eigene Literaturliste, was die Orientierung erleichtert für die, die Themen gern vertiefen möchten. Trotz der unterschiedlichen Autoren ist eine Einheitlichkeit erkennbar, weil alle die gleiche Grundhaltung vertreten. Fachkompetenz und Erfahrungen machen Mut, die Arbeit mit Traumatisierten zu wagen, weil es tatsächlich mit den richtigen Methoden und Einstellungen Veränderungs- und Heilungsmöglichkeiten gibt. Charlotte von Bülow-Faerber, Ilsede BundesArbeitsGemeinschaft (Hrsg.) (2014). Blickpunkt Gruppenangebote und Projekte des Pflege- und Erziehungsdienstes in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Norderstedt: Books on Demand, 323 Seiten, 19,90 €. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es eine große Bandbreite therapeutischer sowie pädagogisch-pflegerischer Angebote für Kinder und Jugendliche. Viele dieser Angebote werden als Gruppenaktivitäten durchgeführt. Gruppensettings haben unabhängig von ihrer inhaltlichen Ausrichtung gemeinsame positive Auswirkungen. Sie bieten den teilnehmenden Kindern und Jugendlichen eine soziale Orientierung und fördern die Fremd- und Eigenwahrnehmung. In der Gruppe erfahren sie Rückmeldungen über ihr Verhalten, und lernen am Modell der Gleichaltrigen. Dadurch erhöht sich die Chance, dass sie ihre Stärken besser erkennen, angemessenes Sozialverhalten einüben und soziale Kompetenzen erwerben. Weitere Vorteile von Gruppensettings sind, dass die Kinder und die Jugendlichen durch die Gruppe ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln, hilfreiche neue Erfahrungen machen und Kontakte zu Gleichaltrigen gestalten. Im Austausch mit anderen erleben sie, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine stehen. In dem hier vorliegenden fünften Band der Schriftenreihe der „Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Mitarbeiter/innen kinder- und jugendpsychiatrischer Kliniken und Abteilungen e.V.“ (BAG) werden die unterschiedlichen Ansätze von Gruppenangeboten des Pflege- und Erziehungsdienstes präsentiert. Diesem Überblick vorangestellt ist ein Beitrag, der die Systemkompetenz in der (An-)Leitung von Gruppen beschreibt. Es wird darin ausgeführt, in welcher Art und Weise die zentralen systemtheoretischen Grundannahmen auf die pflegerisch-pädagogische Gruppenarbeit übertragen werden können. In seinen Schlussfolgerungen gibt dieser Beitrag konkrete und hilfreiche Antworten auf die Fragen, worauf pädagogische Fachkräfte achten sollen, damit die gesetzten Impulse von den Gruppenmitgliedern als unterstützend wahrgenommen werden. In den folgenden Beiträgen lernen die Leser das breite Spektrum von Gruppenangeboten kennen, das von den Pflege- und Erziehungsdiensten in den einzelnen Kinderund Jugendpsychiatrien durchgeführt wird. Das Fachbuch ist so aufgebaut, dass in zwölf Kapiteln jeweils ein spezifisches Gruppenangebot aus einer Klinik beschrieben wird. Inhaltlich handelt es sich um Gruppenangebote zur Gesundheitsförderung, zum ipabo_66.249.78.20 Buchbesprechungen 651 erlebnispädagogischem Klettern, zur Interaktionspädagogik, zum Improvisationstraining, zum sozialem Kompetenztraining, zur Tagesstruktur, zum geschlechtshomogenen Arbeit mit Jungen, zum Präventionsprogramm gegen sexuellen Missbrauch („Starke Kinder“), zur pädagogischen Medienkompetenz, zu Entspannungsverfahren und zu Yoga. Die Autoren und Autorinnen gewähren einen sehr praxisnahen Einblick in die Planung, in die Anwendung sowie in die gemachten Erfahrungen ihres speziellen Gruppenangebots. Wie ein roter Faden finden sich in allen Beiträgen viele Fallbeispiele, die die Umsetzung des Angebots konkretisieren und veranschaulichen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es der BAG auch mit diesem Band wieder gelungen ist, ein sehr lesenswertes Fachbuch zusammenzustellen. Es bietet den Lesern viele praxisnahe Anregungen und konkrete Informationen zu den Gruppenangeboten, die aktuell in den Kinder- und Jugendpsychiatrien präsent sind. Davon können nicht nur Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von klinischen Einrichtungen profitieren. Auch die Fachkräfte, die in der Jugendhilfe Gruppenangebote durchführen oder planen, können von der Lektüre für ihr eigenes Praxisfeld sehr viel gewinnen. Silvia Denner, Dortmund Hasselhorn, M., Ehm, J.-H., Wagner, H., Schneider, W., Schöler, H. (2015). Zusatzförderung von Risikokindern. Handreichung für pädagogische Fachkräfte im Übergang vom Elementar- zum Primarbereich. Göttingen: Hogrefe, 85 Seiten + CD, 19,95 €. Die Vermittlung sogenannter Vorläuferfertigkeiten vor der Einschulung gehört mittlerweile zum Standardprogramm in Kindertagesstätten. Insbesondere Übungen zur Verbesserung der phonologischen Bewusstheit, die mit allen Kindern durchgeführt werden, nehmen dabei eine zentrale Rolle ein. Einen etwas anderen, nämlich sekundär präventiven Ansatz verfolgt das hier beschriebene Konzept einer Zusatzförderung von Kindern mit Entwicklungsrisiken. Es basiert auf einem in Baden-Württemberg durchgeführten und wissenschaftlich begleiteten Modellprojekt, das mit dem Einsatz diagnostischer Instrumente beginnt, um Risikokinder hinsichtlich verschiedener Entwicklungsaspekte am Ende des vorletzten Kindergartenjahres zu identifizieren. An einem „runden Tisch“ sollen dann Eltern und Pädagoginnen darüber beraten, welche Kinder bis zur Einschulung Zusatzförderung erhalten sollen. Diese wird in Kleingruppen mit bis zu sechs Kindern angeboten, wobei die Autoren empfehlen, sich auf empirisch bewährte Konzepte zu stützen, die von Erzieherinnen, Grundschulpädagoginnen und anderen Förderkräften durchgeführt werden können. Die Begleitforschung bestätigt die Wirksamkeit dieser Vorgehensweise, die sich insbesondere durch ihre systematische manualisierte Vorgehensweise auszeichnet. Das Buch wendet sich in erster Linie an Pädagogen im Elementarbereich, erläutert das Konzept der Schulbereitschaft, das die kognitiven, motorischen, sozial- 652 Buchbesprechungen emotionalen und motivationalen Voraussetzungen umfasst, die bis zur Einschulung vorhanden sein sollten. Nicht alle Aspekte werden im Rahmen der Zusatzförderung aufgegriffen, z. B. die Sprachförderung mehrsprachig aufwachsender Kinder, deren Unterstützung wesentlich früher und in Alltagsabläufe integriert erfolgen muss. Diagnostische Instrumente, die im Rahmen der Kita eingesetzt werden können, werden im vorliegenden Band kurz beschrieben. Es folgen einige Hinweise zur Durchführung eines runden Tisches und zu empfehlenswerten Förderprogrammen. Abschließend werden verschiedene Aspekte in einem Frage- und Antwortformat erörtert. Dabei wird insbesondere auf mögliche Einwände eingegangen, die Pädagogen gegen dieses Förderkonzept erheben könnten. Der Text ist ohne psychologisches Vorwissen lesbar, verzichtet aber auch weitgehend darauf, die zum Teil thesenartig vorgetragenen Aussagen zur Förderung von Kindern anhand von Quellenangaben zu belegen. Die Vorgehensweise wird im Allgemeinen beschrieben, ohne auf die Förderinhalte im Einzelnen einzugehen. Im Anhang finden sich einige Arbeitsmaterialien, die zusätzlich auf der mitgelieferten CD als ausdruckbare PDF-Dateien zur Verfügung stehen. Der Leser gewinnt somit einen guten Eindruck von dem Konzept. Es werden allerdings nicht alle Gesichtspunkte ausreichend gewürdigt. So fehlt es an Hinweisen inwieweit Kinder mit Behinderungen von dem Programm profitieren können oder auch nicht. Wahrscheinlich werden die inhaltlichen Verbindungen, die im Text zwischen diesem Förderkonzept und der Inklusionsdebatte hergestellt werden, kontrovers aufgenommen. Schließlich wird nicht diskutiert, inwieweit eine Kleingruppenförderung ausgewählter Problemkinder mit aktuellen Kindergartenkonzepten kompatibel ist. Dennoch ist dem Buch und dem darin beschriebenen Konzept eine rege Aufmerksamkeit im Bereich der Kindergartenpädagogik zu wünschen. Dieter Irblich, Auel Die folgenden Neuerscheinungen können zur Besprechung bei der Redaktion angefordert werden: –– Borg-Laufs, M. (Hrsg.) (2015). Soziale Online-Netzwerke in Beratung und Therapie. Tübingen: dgvt-Verlag, 496 Seiten, 38,- €. –– Klar, S., Trinkl, L. (Hrsg.) (2015). Diagnose: Besonderheit. Systemische Psychotherapie an den Rändern der Norm. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 234 Seiten, 29,99 €. –– Kraft, H. (2015). Die Lust am Tabubruch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 244 Seiten, 19,99 €. –– Nazarkiewicz, K., Kuschik, K. (Hrsg.) (2015). Handbuch Qualität in der Aufstellungsleitung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 416 Seiten, 34,99 €. ipabo_66.249.78.20 TAGUNGSKALENDER 14.11.2015 in Berlin: Workshop: Migration – Soziales Trauma – Identität Auskunft: IPU Berlin, Stromstr. 1, 10555 Berlin; Tel.: 030-300117500, Fax: 030-300117509, E-Mail: [email protected], Internet: www.ipu-berlin.de 24./25.11.2015 in Essen: Workshop: Akute Trauma-Nachsorge und Arbeit mit traumatisierten Familien Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560, E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de 28.11.2015 in München: Interdisziplinäres Symposium: Familienentwicklung und Stärkung der elterlichen Kompetenz Auskuft: Internationale Akademie für Entwicklungs-Rehabilitation und Theodor-HellbrüggeStiftung, Heiglhofstr. 63/II, 81377 München; Fax: 089-7193610, E-Mail: [email protected], Internet: www.theodor-hellbruegge-stiftung.de 30.11.2015 in Essen Beginn der Seminarreihe Marte Meo Grundkurs (Practitioner) Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560, E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de 07.12.2015 in Essen Beginn der Seminarreihe Systemisch Kompakt – für Jugendhilfekontexte Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560, E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de 21.01.2016 in Essen Beginn der Seminarreihe Systemische Traumapädagogik Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560, E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de 29./30.1.2016 in Innsbruck/Österreich: 2. Kinder- und Jugendpsychiatriekongress: (Selbst-)Aggression und Persönlichkeit im Kindes- und Jugendalter Auskunft: Frau Juliane Steiner, Tel.: +43(0)512 504 23679, FAX: +43(0)512 504 23676, E-Mail: [email protected], Internet: http://psychiatrie.tirol-kliniken.at Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 64: 653 – 654 (2015), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2015 654 Tagungskalender 12.02.2016 in Essen Beginn der Seminarreihe Hypno-Systemisches Arbeiten in Beratung und Therapie Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560, E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de 24.-28.2.2016 in Berlin: 29. Kongress für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Beratung. The Dark Side of the Moon. Krisen, Traumata ... - verlorene Sicherheit zurückgewinnen Auskunft: DGVT, Postfach 1343, 72003 Tübingen; Tel.: 070-71943494, Fax: 070-71943435, E-Mail: [email protected], Internet: www.dgvt.de 3.-5.3.2016 in Leipzig: 6. Kinderanalytisches Symposium: Sprache in der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern und Adoleszenten zusammen mit der gleichzeitig stattfindenden 21. Jahrestagung der Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der frühen Kindheit (GAIMH): Wege ins Leben, Lebenswege Auskunft: E-Mail: [email protected], Internet: www.kinderanalyse-tagung.org oder www.gaimh.org 4./5.3.2016 in München: Münchner Symposion Frühförderung 2016: Kultur pur! Bedeutung kultureller Aspekte für das System Interdisziplinäre Frühförderung Auskunft: Arbeitsstelle Frühförderung Bayern, Pädagogische Abteilung, Frau Agnes Winzker, Seidlstraße 18 a, 80335 München; Fax: 089-545898-29, E-Mail an: [email protected] 11./12.3.2016 in Wien/Österreich: 8. Wiener Fortbildungstagung: Essstörungen und assoziierte Krankheitsbilder Auskunft: Internet: www.ess-stoerung.eu/index-Dateien/Page13064.htm Aus dem Inhalt des nächsten Heftes K. Wagner et al.: Psychometrische Erfassung des Elternverhaltens in einer nicht-standardisierten Eltern-Kind-Interaktion – H. M. Weber et al.: Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und schulbezogene Anstrengungsvermeidung – A. Ramberg und S. Feldkötter: Bindungsverhalten von Kleinstkindern psychisch kranker Eltern ipabo_66.249.78.20 Psychosozial-Verlag Günter Mey (Hg.) Von Generation zu Generation 269 Seiten • Broschur • € 29,90 ISBN 978-3-8379-2429-9 Inés Brock (Hg.) Bruderheld und Schwesterherz ca. 300 Seiten • Broschur • € 32,90 ISBN 978-3-8379-2457-2 Susanne Walz-Pawlita et al. (Hg.) Identitäten 325 Seiten • Gebunden • € 36,90 ISBN 978-3-8379-2399-5 Katharina Gröning Sozialwissenschaftlich fundierte Beratung in Pädagogik, Supervision und Sozialer Arbeit ca. 190 Seiten • Broschur • € 22,90 ISBN 978-3-8379-2508-1 Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de Weil jedes Kind es wert ist! Die Mutterliebe und das Böse NEU Martin Baierl / Kurt Frey (Hg.) Praxishandbuch Traumapädagogik Irrtum und Preisänderungen vorbehalten. Abb.: © www.fotolia.de Ulrich Sachsse (Hrsg.) Proxy – dunkle Seite der Mütterlichkeit Lebensfreude, Sicherheit und Geborgenheit für Kinder und Jugendliche Mütter, die unter dem sogenannten „Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom“ leiden, fügen ihren gesunden Kindern heimlich, aber gezielt Schaden zu. So erzwingen sie eine medizinische Behandlung und erlangen die Aufmerksamkeit der Ärzte. 2014. 294 Seiten, mit 23 Abb. und 1 Tab., kart. € 29,99 D ISBN 978-3-525-40245-0 •Schonungslosundaufrüttelnd: Erster Erfahrungsbericht einer MBPS-Mutter •Expertenperspektive: MBPS unter moralischen, kriminellen, strafrechtlichen, feministischen, psychoanalytischen, Trauma-spezifischen, pädiatrischen und psychiatrischen Gesichtspunkten Lebensfreude ist Grundhaltung, Transportmittel und pädagogisches Ziel in der Traumapädagogik. Wie traumatisierte Kinder und Jugendliche das Leben wieder lieben lernen, zeigt dieses Buch aus der stationären Jugendhilfe-Praxis. 2015. 152 Seiten, kart. € 24,99 (D) / € 25,70 (A) ISBN 978-3-7945-3153-0 www.schattauer.de Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht ipabo_66.249.78.20 Be- und Ausgrenzungen von Klienten begegnen Sabine Klar / Lika Trinkl (Hg.) Diagnose: Besonderheit Systemische Psychotherapie an den Rändern der Norm Mit einem Vorwort von Tom Levold. 2015. 234 Seiten, Paperback € 29,99 D ISBN 978-3-525-40465-2 eBook: € 23,99 D ISBN 978-3-647-40465-3 Die Diagnose »Besonderheit« meint Unübliches, möglicherweise Unerwünschtes. Von Menschen, die sich nicht einordnen lassen, berichten die im Buch versammelten systemischen Beiträge aus der Praxis. Was sind die Vorstellungen davon, wie Menschen zu funktionieren haben? Was ist zu tun, wenn sich diese Vorstellungen nicht umsetzen lassen? Und welche Rolle spielt Psychotherapie dabei? Psychotherapeutische Begegnungen mit Asylsuchenden, Obdachlosen, Drogenabhängigen, Arbeitslosen, kleinen Kindern und alten Menschen erfordern mitunter mutige Abweichungen von beruflichen Grundsätzen. Manchmal gilt es, Normen und Werte in Frage zu stellen, um therapeutisch auf die Be- oder Ausgrenzungen von Klienten eingehen zu können. Neue Regelungen und Kontexte müssen gefunden werden, um den Menschen, die sich nicht einordnen lassen, respektvoll und hilfreich gegenüberzutreten. Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht www.v-r.de Anne Alvarez Helmut Junker Das denkende Herz ELLEN – das Mädchen aus der Babyklappe Drei Ebenen psychoanalytischer Therapie mit gestörten Kindern »Minutiös diagnostiziert Alvarez den psychischen Zustand ihrer Patienten, unterscheidet beispielsweise sehr genau, ob ein Kind auf psychopathische Weise von Gewalt fasziniert ist oder einfach voller Gewalt ist, die es nicht verarbeiten kann (...). Anne Alvarez hat wirklich etwas zu sagen.« (Herbert Kley, Psyche) 304 S., geb. Großoktav, € 34,90 ISBN 978-3-95558-066-7 Peter Bründl Carl E. Scheidt (Hrsg.) Bericht über eine magersüchtige Jugendliche Was bewegt magersüchtige junge Frauen, wie sieht ihre Sicht auf die Welt aus? Der Psychoanalytiker findet mit seinem Bericht über die Patientin Ellen Schall eine Form, diese unheimliche Krankheit und ihre Hintergründe zu erläutern und verständlich zu machen. Es ist die Geschichte einer Nachreifung, die die frühen Mangelerfahrungen durchgearbeitet und überwunden hat und jetzt vorsichtig hinaus ins Leben will. 168 S., Pb. Großoktav, € 19,90 ISBN 978-3-95558-150-3 Spätadoleszenz: Annemarie Laimböck Die Szene verstehen Identitätsprozesse und kultureller Wandel Die psychoanalytische Methode in verschiedenen Settings Jahrbuch d. Kinderu. JugendlichenPsychoanalyse, Bd. 4 Die in dieser Entwicklungsphase auftauchenden Krisen bedürfen einer spezifischen Sensibilität im intersubjektiven Prozess einer psychoanalytischen Behandlung. Beitr. v. Paula G. Atkeson, Mareike Birrcheneder, Peter Bründl, Mario Erdheim, James M. Herzog, Jack Novick, Kerry K. Novick, Aydan Özdaglar, Barbara Saegesser, Carl E. Scheidt, Anita G. Schmukler, Angelika Staehle, Karin Trübel, Elisabeth Vogel-Urban 248 S., geb. Großoktav, € 29,90 ISBN 978-3-95558-154-1 Das »Szenische Verstehen« ist zu einem unverzichtbaren Instrument der Reflexion psychoanalytischer Praxis geworden. Spiegeln sich doch in der Szene die pathologischen Konflikte und das Zusammenspiel von Patient und Analytiker. Laimböck gibt einen lebendigen Einblick in das Verstehen von Szenen in verschiedenen Psychotherapie-Settings und entwirft zudem eine praxisorientierte Theorie des »Szenischen Verstehens«. 164 S., Pb. Großoktav, € 19,90 ISBN 978-3-95558-153-4 Bitte fordern Sie auch unseren kostenlosen Psychoanalysekatalog an: [email protected] • www.brandes-apsel-verlag.de Gerne senden wir Ihnen auch unseren kostenlosen Newsletter zu: [email protected] ipabo_66.249.78.20 Das erste systemisch-pädagogische Betreuungskonzept für Jugendwohngruppen Ulrich Gehrmann Ressource Jugendhilfe Systemische Sozialpädagogik in stationären Jugendwohngruppen Unter Mitarbeit von Barbara Gehrmann, Nicole Kalipke, Anne Pusch, Fried Kirsch und Katrin Kemper. 2015. 216 Seiten, mit 21 Abb., kartoniert € 24,99 D ISBN 978-3-525-40466-9 eBook: € 19,99 D ISBN 978-3-647-40466-0 Wie kann ein pädagogisches Betreuungskonzept aussehen, das der großen Anzahl von Jugendlichen, die außerhalb ihrer Herkunftsfamilie in Wohngruppen leben, fachlich fundiert und menschlich zugewandt begegnet? Jugendliche, die in stationären Wohngruppen leben, gelten vielfach als verlorene Kinder. Das Buch zeigt, wie es gelingen kann, ihnen eine tragfähige und konstruktiv-annehmende pädagogische Begleitung zu sein, die dabei hohen professionellen Ansprüchen genügt. Es beschreibt die theoretischen Grundlagen und Verbindungen des systemisch-pädagogischen Betreuungskonzepts, illustriert die wesentlichen Aspekte anhand ausführlicher Beispiele aus der Betreuungspraxis und stellt schließlich das Konzept als Modell einer straffreien, systemisch fundierten Sozialpädagogik in der Jugendwohngruppe vor. Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht www.v-r.de