Bulevar Sv. Kliment Ohridski 21/1 Postfach 423 MK - 1000 Skopje Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas FRIEDRICH EBERT STIFTUNG Büro Skopje - Makedonien [email protected] www.fes.org.mk Stefan Dehnert Alfred Diebold WERTE UND POLITIK Die EU und der Südosten Europas Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Stefan Dehnert / Alfred Diebold Herausgeber: Friedrich-Ebert-Stiftung Büro Skopje - Makedonien www.fes.org.mk Cover design und pre-press Promo DSGN, Skopje Auflage: 500 CIP – Каталогизација во публикација Национална и универзитетска библиотека “Св. Климент Охридски”, Скопје 316.64 (4-672:4-12) (062) 341.171.071.51 (4-672:4-12) (062) DEHNERT, Stefan Werte und Politik : die EU und der Südosten Europas / Stefan Dehnert, Alfred Diebold. – Skopje : Fondacija Fridrih-Ebert Kancelarija – Skopje, 2006. – 120 стр. ; 20 см Фусноти кон текстот ISBN 9989-109-34-6 1. Diebold, Alfred а) Европска Унија – Проширување – Југоисточна Европа – Собири б) Вредносни системи – Европска унија – Југоисточна Европа – Собири COBISS.MK – ID 67775242 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Inhalt Vorwort............................................................................................................................7 Alfred Diebold: Werte und Politik – die EU und der Südosten Europas: Eine Einführung.................8 Mein Menschenbild ist das des Grundgesetzes: Gespräch mit Hans-Jochen Vogel ........................13 Konferenzbeiträge .........................................................................................................19 Stefan Dehnert: Das nach Südosten erweiterte Europa – eine Wertegemeinschaft? .....................19 Hannes Swoboda, MdEP: Gemeinsame Werte der Europäischen Union in der politischen Praxis ...22 Gordana Siljanovska Davkova: Leitbild Mensch – Forderungen nach Ethos, Pathos und Logos......28 Holm Sundhaussen: Rückkehr nach Europa? Südosteuropa zwischen Westen und Osten .............36 Interviews .....................................................................................................................42 Albanien .................................................................................................................................42 Rexhep Mejdani, ehem. Staatspräsident der Republik Albanien ..................................................42 Ilir Meta, ehem. Ministerpräsident der Republik Albanien ...........................................................54 Dritero Agolli, Schriftsteller ......................................................................................................57 Bulgarien ................................................................................................................................66 Sergej Stanischew, Ministerpräsident der Republik Bulgarien......................................................66 Meglena Kuneva, Ministerin für Europäische Angelegenheiten ....................................................75 Jeliasko Hristov, Vorsitzender der KNSB ....................................................................................80 Mazedonien ............................................................................................................................88 Radmila Šekerinska, ehem. Stellvertretende Premierministerin der Republik Makedonien .............88 Teuta Arifi, stellv. Vorsitzende der Partei DUI und Parlamentarierin ............................................94 Mirjana Borota-Popovska, St.-Cyril-Methodius-Universität ........................................................ 101 Sašo Ordanoski, Journalist ..................................................................................................... 107 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Vorwort Die Länder des Balkans sehen in einer Mitgliedschaft zur EU die Möglichkeit, wirtschaftlich schneller zu den reichen Ländern Mitteleuropas aufzuschließen. Zugleich sind viele Politiker aus den EU-Mitgliedsstaaten überzeugt, dass eine Annäherung dieser Länder an die EU und eine spätere Mitgliedschaft den Frieden dort nachhaltig sichern können. Eine Vielzahl von Ländern strebt die Integration in die EU an. Zugleich zeigen sich die Menschen, beispielsweise in Frankreich und den Niederlanden, dem Erweiterungsprozess gegenüber misstrauisch und lehnen die vorgeschlagene Europäische Verfassung ab. Visionen, verstanden als eine Vorstellung für einen künftigen Zustand, basieren auf einer Beschreibung und Analyse des Ist-Zustands, Erfahrungen aus der Vergangenheit und begründeten Annahmen, Hoffnungen und Vorstellungen wie und wohin es gehen soll. Auf Europa bezogen, sind nicht nur Politiker aufgerufen, Visionen zu entwickeln, sondern auch alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen. Es ist Hauptaufgabe der Politik, im Rahmen von politischen Prozessen Bedingungen zu schaffen und Richtungen zu weisen, die von einer überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung getragen werden. Der Kampf um die besten Ideen und Visionen, als auch die Kunst diese umzusetzen, basieren auf Werten, Grundüberzeugungen, Menschenbildern und bei nicht wenigen auch auf dem Glauben an Gott. Das Projekt „Werte und Politik“ möchte den Fragen nachgehen, welche Werte, welche Überzeugungen, welche Menschenbilder heute relevant sind und Europa verbinden. Gedankt wird an dieser Stelle Dr. Hans-Jochen Vogel, Bundesminister a.D. und früherer Parteivorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der durch seine Veröffentlichungen und das anschließend abgedruckte Interview Ideengeber war und wesentlich zu dieser Publikation beigetragen hat. Die Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, vertreten durch Arnold Wehmhörner und Hans Schumacher, Bulgarien, Stefan Dehnert, Mazedonien und Alexander Dhima, Albanien ebenso wie die vielen lokalen Mitarbeiter in den Büros haben einen großen Beitrag zum Gelingen der internationalen Konferenz „Das nach Südosten erweiterte Europa – eine Wertegemeinschaft?“ in Struga am OhridSee am 17. Juni 2006 geleistet. Dem Sekretariat für Europäische Angelegenheiten der Regierung der Republik Mazedonien danken wir für die Schirmherrschaft der Konferenz. Dank sei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Südosteuropa ebenfalls ausgesprochen für den Beitrag zur Publikation der Interviews, den Übersetzungen und dem Tagungsbericht. Zu erwähnen ist auch Dr. Volker Manz, der die Interviews aus Bulgarien, Mazedonien und Albanien sprachlich hervorragend überarbeitet hat. Zu danken ist ebenfalls allen Persönlichkeiten, die sich den Fragen gestellt haben und durch ihre Beiträge die Staaten des südlichen und westlichen Balkans in die Europäische Union begleiten wollen. Zu danken ist an dieser Stelle auch Dr. Reinhold Sohns, Referatsleiter für Mittel- und Osteuropa in der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, der von Beginn an dieses Projekt unterstützt hat. Dr. Alfred Diebold 7 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Alfred Diebold: Werte und Politik – die EU und der Südosten Europas: Eine Einführung Mit der Annäherung des westlichen Balkans an die Europäische Union machen sich dessen multiethnische Gesellschaften auf den Weg zu mehr Demokratie, Frieden und eine Kultur interethnischer Zusammenarbeit. Wie weit ist dieser Weg noch? – Wie werden die Länder diesen Weg gehen? – Und werden sie dabei auch Europa verändern? Diese Fragen sucht das vorliegende Buch zu beantworten. Zugleich soll ein Beitrag zur derzeitigen Wertediskussion geleistet werden. Politiker, Künstler, Wissenschaftler, Gewerkschafter und Publizisten kommen zu Wort. Diskussionsbeiträge werden gegenüber gestellt, Vorstellungen von freien, gerechten und solidarischen Gesellschaften artikuliert und Handlungsempfehlungen für die Politik abgeleitet. Bevor aber die Interviews vorgestellt werden, soll an dieser Stelle der Frage nachgegangen werden, was unter Werten im politischen Prozess überhaupt zu verstehen ist, und welche Bedeutung Werte haben und haben sollten, insbesondere für uns als Europäer. Erst wenn wir uns hier unser selbst gewiss sind, können wir uns dem Dialog mit anderen stellen. Versucht man nun, sich dieser Frage analytisch zu nähern, ist zunächst eine doppelte Klärung erforderlich. Zum einen ist abzugrenzen, welche Werte es sind, die Gegenstand der hier diskutierten Fragestellung sein sollten. Zum anderen allerdings – und zuvor – ist zu bestimmen, was genau hier unter einem „Wert“ verstanden werden soll – also worum es in den folgenden Überlegungen eigentlich geht. Als moralphilosophischer Begriff sind Werte zunächst Kriterien zur näheren Bestimmung des „Guten“: ein Handeln, das den Forderungen des zugrundegelegten Wertesystems entspricht, ist im Sinne dieses Systems besser als eines, das seinen Zielen zuwiderläuft. Damit unterscheiden sich Werte grundlegend von bloßen Gewohnheiten oder Mentalitäten, die ebenso veränderliche wie wertfreie Gegebenheiten der empirischen Gestalt der Gesellschaft sind. Werte dagegen mögen zwar empirisch in einer Gesellschaft verankert sein, sie sind aber nicht zu trennen von der ihnen innewohnenden Forderung. In Frage steht damit nicht nur ihre Wirkmächtigkeit zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, ihre (positive) Faktizität, sondern daneben immer auch ihre (normative) Geltung. Will man sich nun nicht dem Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses aussetzen, ist es also unabdingbar, die metaphysische - und damit einer logischen „Beweisführung“ letztendlich nicht zugängliche - Grundlage jeglicher Werte anzuerkennen und offen zu legen: Werte sind letztendlich Glaubenssache. Auch wenn man diesen metaphysischen Kern anerkennt, sind sie aber damit nicht der Beliebigkeit unterworfen. Werte werden von Menschen geglaubt, entdeckt, als richtig erkannt – aber sie werden nicht von Menschen gemacht. 8 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Gleichzeitig aber liegen bekanntlich die Auffassungen, was denn nun die rechten, vielleicht sogar allgemein verbindlichen, Werte seien, häufig weit auseinander – nicht nur zwischen den Kulturen, sondern oft auch zwischen einzelnen Menschen. Ein funktionierendes Zusammenleben wiederum setzt aber auch in Wertfragen gewisse Einigungen und Entscheidungen in die eine oder andere Richtung voraus. Dass sich über Werte also nicht streiten lässt, dieser Streit aber sachlich und ergebnisorientiert ausgetragen werden sollte, ist somit ein Dilemma jeder Gesellschaft – zumindest, will sie sich nicht auf die gewaltsame Durchsetzung eines bestimmten Wertekanons auf Kosten aller anderen stützen. Einen – wenigstens teilweisen – Ausweg aus diesem Dilemma bietet die Einsicht, dass unsere Werte zwar für uns, vielleicht sogar für alle, unverrückbare Geltung beanspruchen mögen, unsere Erkenntnis derselben, unser „normatives Wissen“ aber beschränkt und unvollkommen ist. Wo immer wir den Wertediskurs somit als gemeinsame Suche nach einer Wahrheit verstehen , der wir uns als Menschen immer nur nähern, die wir aber nicht, schon gar nicht allein, besitzen können, dann liegt es auf einmal nicht nur nahe, sondern sogar in unserem eigenen Interesse, andere in diesem Diskurs ebenfalls und gleichberechtigt zu Wort kommen zu lassen. Gemeinsame Wertsuche erfordert also Respekt und Toleranz – und wieder stehen wir vor einem Dilemma. Denn gerade Respekt und Toleranz sind ja Werte, die bestens geeignet sind, sich sozusagen selbst wieder abzuschaffen, indem sie nämlich Respekt und Toleranz auch gegenüber ihren eigenen Feinden fordern. Die Grenzen der Toleranz müssen also dort liegen, wo es um den Bestand des Wertediskurses selbst geht. Wer dessen Grundregeln in Frage stellt, stellt sich selbst außerhalb der Debatte. Das heißt aber auch: wo über diese Grundregeln kein Konsens herzustellen ist, bleibt als Ausweg nur eine friedliche Trennung (bzw. „Koexistenz“) oder die Anwendung von Gewalt. Eine gemeinsame Auffassung über die Grundregeln der Verständigung ist somit eine notwendige Bedingung für das Funktionieren von Gesellschaft – aber sie ist noch nicht hinreichend. Denn im gesellschaftlichen Zusammenleben dient der Wertediskurs nicht nur der Suche nach der Wahrheit: In vielen Bereichen dient er auch der Ordnung des Zusammenlebens, konkret der Aufstellung von Regeln. Zu unterscheiden ist also zwischen individuellen, privaten Werten, die vom Diskurs profitieren, aber keine Einigung erfordern, und kollektiven, öffentlichen Werten, die in sich die Forderung nach allgemeiner, gesellschaftlicher Durchsetzung tragen. Während die Selbstachtung, der Umgang der Individuen mit sich selbst (um ein zugespitztes Beispiel zu wählen), dem gesellschaftlichen Zugriff entzogen ist und der ersteren Kategorie zugehört, muss beispielsweise das Recht auf Leben durchgesetzt werden und gehört zur letzteren Kategorie: Die Selbstachtung fordert nur den Einzelnen, das Recht auf Leben fordert die Gesellschaft. Oft allerdings ist die Zuordnung von Werten zur privaten bzw. zur politischen Sphäre weitaus weniger eindeutig als in den genannten Beispielen. Und auch, wenn ein gemeinsames Interesse an der Existenz verbindlicher Regeln besteht, ist damit noch nicht gesichert, dass sich alle einig sind, auf welche Bereiche sich diese Regeln beziehen sollten. Eine Verständigung auf gemeinsame Regeln setzt aber eine Verständigung über 9 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas die zu regelnde Materie voraus; wo diese nicht existiert, ist ein ergebnisorientierter Regeldiskurs nicht zu erwarten. Diese Verständigung wiederum ist insbesondere da erforderlich, wo es um im engeren Sinne politische Gemeinschaften geht. Diese zeichnen sich nämlich gegenüber anderen Gruppen (Parteien, Vereinen, Interessenverbänden und vielen anderen) dadurch aus, dass sie einen Austritt üblicherweise nicht oder nur um den Preis der Emigration zulassen, so dass der Einzelne sich den von ihnen durchgesetzten Wertvorstellungen nicht entziehen kann. Eine zweite Bedingung für den Umgang mit Werten, die für ein Miteinander als Gesellschaft erfüllt sein muss, ist somit ein zumindest weitgehender Konsens über die Abgrenzung der Sphäre des Politischen gegenüber dem privat oder in freiwilliger Übereinkunft zu Regelnden. Anders als der Konsens über die Verfahrensregeln kann diese Abgrenzung zwar im Diskurs entwickelt (und auch immer wieder weiterentwickelt) werden, sie muss aber doch regelmäßig auch zu einem allgemein akzeptierten Ergebnis führen. Eine Gesellschaft, der dies nicht gelingt, die sich also uneins ist, auf was sie sich überhaupt einigen will, steht vor der neuerlichen Alternative, über alles, was über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinausgeht, zu schweigen – oder zu Gewalt zu greifen. Indem diese Abgrenzung sich im Diskurs vollzieht, kann sie natürlich auch in unterschiedlichen Gemeinschaften zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Dabei unterscheidet sich nun der Bereich der politischen Gemeinschaft und ihres Wertesystems auch von dem religiöser, standes- oder klassengebundener Werte: Da sich politische Gemeinschaften, also Staaten, Staatsverbände, Teilstaaten, Städte und Landgemeinden gewöhnlich territorial definieren, muss der geforderte Konsens über die Abgrenzung der politischen Moral ebenfalls territorial definiert sein. Die Frage, der sich die im folgenden vorgelegten Texte nähern wollen, ist also die, wie weit sich der europäische Werteraum erstreckt, insbesondere, inwiefern Südosteuropa an ihm teil hat – oder auf dem Weg ist, an ihm teilzunehmen. Mit Blick auf die mit dem Jahr 2007 beginnende Erweiterung der Europäischen Union um die Länder an ihrer südöstlichen Flanke ist dies gleichzeitig die Frage, ob Europa sich durch diesen Schritt selbst fragmentieren und möglicherweise zum kleinsten gemeinsamen Interesse einer Freihandelszone zurückentwickeln, oder aber sich als Wertegemeinschaft festigen und so an politischer Stärke gewinnen wird. Damit sind zunächst Ausdehnung und Inhalt eines europäischen Konsenses über Regeln und Zugriffsbereich des politischen Diskurses zu klären. Was also qualifiziert „Europa“ als politische Einheit gegenüber anderen Staaten und Staatenbünden? Offenkundig erschwert zweierlei eine Klärung dieser Frage. Zum einen ist dies die nach wie vor große Heterogenität der europäischen Staaten und ihrer politischen Kultur zwischen Monarchie und Republik, Präsidialsystem und direkter Demokratie, Konkurrenz und Konkordanz oder Gottesbezug und Laizismus. Zum anderen ist dies aber auch die weite Ausbreitung vieler über lange Zeit europäischer Charakteristika. So bleiben jüdisch-christliche Tradition, aufgeklärtes Bürgertum, römisches Recht und Code Napoléon, Menschenrechte oder auch die Säkularisierung zwar Teil der europäischen 10 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Wertewelt, sie sind heute aber kein Alleinstellungsmerkmal Europas mehr. Sie sind zum einen Teil dessen, was weltweit als die Kultur des „Westens“ wahrgenommen wird, zum anderen aber auch wesentlich für das Selbstverständnis der bürgerlichen (gewöhnlich „westlich geprägt“ wahrgenommenen) Bildungselite in fast allen Ländern der Welt. Dennoch existiert im Umgang des heutigen Europa mit diesem kulturellen Fundament ein wesentlicher Unterschied zu anderen Regionen: Anders als in den „nicht westlichen“ Gesellschaften sind diese Elemente in der Bevölkerung insgesamt verankert oder zumindest angelegt. Der clash of civilizations, der in vielen Ländern Asiens oder Afrikas Teil des gesellschaftlichen Alltags ist, findet in Europa so nicht statt. Und anders als die „westlichen“ Länder Amerikas oder Australiens sind wir Europäer die Nachkommen der „Daheimgebliebenen“. Unser Erbe ist nicht die Mentalität der Auswanderer, sondern wir stammen von denen ab, die Europa bei aller Kritik immer noch so viel abgewinnen konnten, dass sie auch in Zeiten großer Wanderungsbewegungen hier blieben, um so weniger Neues aufzubauen als das Bestehende fortzuentwickeln. Damit fehlt unseren Gesellschaften auch das einigende Band einer gemeinsamen Idee. Kein großer Entwurf, kein Freiheitsversprechen hat die Bürger Europas zusammengeführt, sondern die Geschichte mit all ihrer Heterogenität und ihren Brüchen, bis hin zur in den meisten europäischen Ländern präsenten Erfahrung des Totalitarismus. Diese besondere Akzentuierung, die die Werte des Westens in der Alten Welt erfahren, könnte ein Erklärungsansatz sein für manches Missverständnis zwischen den beiden Seiten des Atlantischen Ozeans, das uns gerade in der gegenwärtigen Zeit auch die Unterschiede innerhalb unserer gemeinsamen Zivilisation wieder vor Augen führt. Dennoch sind es zunächst natürlich die gemeinsamen Werte des Westens, die auch das prägen, was wir heute Europa nennen – und womit wir oft genug zuvörderst West- und Mitteleuropa meinen. Konsensfähig ist hier zunächst ein liberales Ideal der politischen Auseinandersetzung, das die Freiheit und Gleichberechtigung der einzelnen Bürger und eine breite Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen ins Zentrum stellt. Beschränkungen des Zugangs zum politischen Diskurs dagegen, sei es aus Gründen der Religion, der Herkunft, Abstammung, Klasse oder des Geschlechts, werden strikt abgelehnt. Damit korrespondiert ein hoher Stellenwert der Freiheit des Einzelnen, wie er sich auch in der von diesem Verständnis geprägten Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen findet. Wer diese Prinzipien nicht anerkennt, stellt sich in der ganzen westlichen Welt, und damit auch in der Europäischen Union, außerhalb des politischen Prozesses. Er muss damit rechnen, als Gegner wahrgenommen und gegebenenfalls auch als Feind bekämpft zu werden. Während der Rahmen des Diskurses also den Westen, und nicht nur diesen, einigen mag, gilt dies nur zum Teil für dessen Inhalte. So sind wir Europäer beispielsweise viel stärker bereit, den Staat in die Pflicht zu nehmen, um das Wirtschaftsleben oder die materielle Stellung der Bürger mit zu gestalten, als dies in den USA der Fall ist. Wer also bereit ist, unter den Bedingungen der liberalen, offenen Gesellschaft Politik zu gestalten, der ist in Europa willkommen, um über Rolle und Aussehen eines starken, aktiven Staates zu diskutieren – so in etwa mag eine vereinfachte, stilisierende 11 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Arbeitsdefinition dessen aussehen, was heute Europa als politische Wertegemeinschaft ausmacht. Doch inwiefern schließt diese Definition von „Europa“ auch die Länder ein, um die es in den folgenden Texten geht, die Länder des westlichen Balkans? Die Europäische Union stellt diese Frage ebenfalls, indem der EU-Vertrag zwar jedem europäischen Staat die Möglichkeit offeriert, die Mitgliedschaft zu beantragen, dies allerdings an die Bedingung knüpft, dass in diesem Staat Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geachtet werden, wie sie als Grundsätze „allen Mitgliedsstaaten gemeinsam“ sind. In dieser Bedingung, die in den Kopenhagener Kriterien für die Bewertung der Beitrittsgesuche potentieller neuer Mitglieder konkretisiert ist, drückt sich der Stellenwert aus, den die Union ihrem Wertefundament beimisst. Und es ist für ihren Bestand als politische Einheit wesentlich, dass die Regeln, die sich aus diesem Fundament ableiten – und die die Verfahrensregeln unseres politischen Diskurses darstellen – auch nicht verhandelbar sein können. Gleichzeitig aber hat die EU spätestens seit dem Gipfel von Thessaloniki im Jahr 2003 deutlich gemacht, dass sie den gesamten Balkan als integralen Teil Europas versteht, dessen Zukunft sie innerhalb ihrer Grenzen sieht. Damit ist nicht gesagt, dass ein gesellschaftlicher Konsens über das, was wir die „europäischen Werte“ nennen, in diesen Ländern heute bereits bestehen muss. Wäre aber nicht die Hoffnung begründet, dass ein solcher Konsens auch dort in den nächsten Jahren heranreifen kann, wäre die Eröffnung einer Beitrittsperspektive nicht nur verfehlt, sondern auch gefährlich für den inneren Bestand der Union. Diese Hoffnung bedeutet konkret, dass sich angesichts des Gegensatzes zwischen modernen, westlich orientierten und stärker traditionalistisch und national ausgerichteten Bevölkerungsteilen, die diese Gesellschaften heute noch prägen, sich die Kräfte durchsetzen mögen, die unsere Werte, insbesondere unser Ideal eines politischen Diskurses teilen. . Es kommt also auf den gesellschaftlichen Prozess in den Ländern des westlichen Balkans an – ein Prozess, dessen „europäischer“ Ausgang auch im unmittelbaren Eigeninteresse der EU-Staaten liegt: Die Chance, dass sich in nächster Nähe unserer Grenzen Frieden und Stabilität entwickeln, steht gegen die Gefahr, dass sich diese Nachbarn von Europa abwenden und sich in einem Raum, der von 2007 an von der EU geographisch komplett umschlossen ist, potentiell aggressive Nationalismen und Fundamentalismen fest etablieren könnten. . Es besteht, dies machen auch die hier zusammengestellten Texte deutlich, eine gute Chance, dass sich diese innergesellschaftliche Auseinandersetzung gerade durch die europäische Perspektive schließlich zugunsten der europäischen Werte entscheiden könnte – allerdings nur, wenn die EU beides aufrechterhält: die Beitrittsperspektive einerseits, und andererseits die Anforderung an jedes einzelne Land, die Kopenhagener Kriterien tatsächlich und kompromisslos zu erfüllen. Dann und nur dann kann der westliche Balkan die Entwicklung nehmen, die die EU sich in ihrem eigenen Interesse für ihn erhofft, um so als Raum von Frieden, Freiheit und Stabilität zu wachsen und stärker zu werden. Jürgen Ehrke Dr. Alfred Diebold 12 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Mein Menschenbild ist das des Grundgesetzes: Gespräch mit Hans-Jochen Vogel Dr. Hans-Jochen Vogel ist Jurist. Von 1960 bis 1972 war er Oberbürgermeister von München, von 1972 bis 1974 Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, dann bis 1981 Bundesminister der Justiz und schließlich im Jahr 1981 Regierender Bürgermeister von Berlin. Von 1987 bis 1991 war er Bundesvorsitzender der SPD und von 1983 bis 1991 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Das Gespräch mit Dr. Hans-Jochen Vogel führte Dr. Alfred Diebold. Sie haben gerade ein Buch über Politik und Anstand veröffentlicht. Darin definieren Sie Politik als Einflussnahme auf die Ordnung und die Gestaltung des Gemeinwesens aufgrund bestimmter Wertvorstellungen und eines konkreten Menschenbildes. Wie würden Sie Ihre Wertvorstellungen, Ihr Menschenbild beschreiben? Mein Menschenbild ist das des Grundgesetzes, das insbesondere seinen Niederschlag im erstes Artikel gefunden hat: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jeder Mensch ist ein Zweck in sich. Kein Mensch darf instrumentalisiert werden. Und die wichtigen Werte sind in diesem Zusammenhang Kriterien für die Gestaltung des Gemeinwesens, aber auch für das Leben des Einzelnen: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Bei mir kommt zur Begründung dieses Menschenbildes noch meine christliche Überzeugung hinzu; also die Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, die Vorstellung, dass es mit dem Tode nicht ein endgültiges Ende dieses menschlichen Individuums gibt, sondern dass es - in welcher Form auch immer - weitergeht, und die Einsicht, dass der Mensch Gut und Böse voneinander zu unterscheiden vermag. Willy Brandt sagte: Es wird sich als geschichtlicher Irrtum erweisen, das dem demokratischen Sozialismus der Sozialdemokratie zugrunde liegende Ideal der Zusammenfügung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als überholt abzutun. Wie denken Sie darüber? Ich rufe mir diesen Satz gerne in Erinnerung. Ich ziehe daraus übrigens den Schluss, dass sich Willy Brandt kurz vor seinem Tod nicht nur für die drei Grundwerte, sondern dass er sich auch gegen die Preisgabe des Begriffes „demokratischer Sozialismus“ ausgesprochen hat. Er wollte offenbar diesen Begriff als ein Element sozialdemokratischer Tradition beibehalten wissen. Natürlich hat sich der Inhalt dieses Begriffes im Laufe der letzten Jahrzehnte geändert. Ursprünglich war es die Beschreibung eines gesellschaftlichen Endzustandes, der eines Tages eintreten werde. Wobei es für die Sozialdemokratie immer ein demokratischer Sozialismus war. Heute gilt die Definition, die Willy Brandt gegeben hat. Genau so steht es auch im „Berlin Programm“. Und dabei sollten wir es belassen. 13 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Ihre Wertvorstellungen legen den Schluss nahe, dass für Sie Überzeugungen wichtig sind. Wie würden Sie Überzeugungen von Ideologien abgrenzen und welche Rolle spielen Überzeugungen in Ihrem Leben? Ideologien sind Gesamtvorstellungen: Wie die Gesellschaft beschaffen sein sollte und wie dieser Zustand erreicht werden kann. Schwierig wird es, wenn diese Ideologie mit einem Wahrheitsanspruch auftritt. Und es wird noch schwieriger, wenn diese Ideologie für sich das Recht in Anspruch nimmt, ihre Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen. Letzteres kann man am Beispiel des Kommunismus sehen, aber auch in früheren Phasen des Christentums. Das gab es bei der Sozialdemokratie nie. Aber es gab im „Erfurter Programm“ von 1891 ideologische Vorstellungen, die mit einem Wahrheitsanspruch einhergingen. Einem Anspruch, der sich auf die vermeintliche Gesetzmäßigkeit des Geschichtsablaufs stützte. Eine Gesetzmäßigkeit, die dann eben im Sozialismus enden würde. Wir sind mittlerweile aus guten Gründen gegenüber Ideologien sensibler geworden. Als Sozialdemokraten erkennen wir unterschiedliche Begründungen für unsere Grundwerte an. Das „Godesberger“ und noch stärker das „Berliner Programm“ sagen: Hinsichtlich der Frage, aus welchen Erwägungen jemand die drei Grundwerte anerkennt, hat die Partei die Entscheidung des einzelnen zu respektieren. Überzeugungen sind mehr eine Sache des einzelnen Individuums. Was hast du für Vorstellungen über dich und über dein Dasein? Warum bist du da? Was solltest du tun, um ein gutes und gelingendes Leben zu führen? Das sind dann subjektive Vorstellungen, die um so beachtlicher sind, wenn sie auf Nachdenken, auf Meinungsaustausch und auf Erfahrungen beruhen. Überzeugung ist das Gegenteil von Beliebigkeit. Sie darf sich nur nicht so verfestigen, daß sie auf Einwände und auf neue Einsichten nicht mehr reagiert. Als Politiker waren Sie auch vor allem für Ihre Ordnungsliebe bekannt. Wenn Sie an Tugenden denken, welche sollte ein guter Politiker unbedingt mit sich bringen? Es ist in der Philosophie und auch in der Ethik insgesamt gefestigt, dass man immer die vier sogenannten Kardinaltugenden im Auge hat, nämlich: Klugheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Ich sehe nicht, dass es da eine größere Variation von Tugendvorstellungen gibt. Und dann gibt es die sogenannten Sekundärtugenden, wobei das Wort >sekundär< leider gelegentlich als Herabsetzung oder sogar fast Verächtlichmachung ausgesprochen wird, was allerdings nicht der Sinn des Wortes >sekundär< ist. Darunter nimmt man dann: Ordnungsliebe, Fleiß, Pünktlichkeit, Sorgfalt. Vermissen Sie diese Tugenden dieser Tage etwas oder hat sich da nichts geändert? Ich bin da in meinem Urteil zurückhaltend. Es ist bei Älteren immer die Gefahr, dass sie finden, früher sei alles besser gewesen und jetzt sei alles weniger gut geworden. Vor einem solchen Pauschalurteil hüte ich mich. Allerdings sehe ich zwei Trends, die sowohl die Kardinaltugenden als auch die Sekundärtugenden aus den Augen verlieren könnten. Das ist einmal der Trend, das ökonomische Prinzip als das höchste Kriterium zu sehen, das heißt, dass also alles am materiellen Ergebnis, am materiellen Erfolg gemessen 14 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas wird; und der Trend, dass das ökonomische Prinzip auf Lebensbereiche übergreift, in denen es, jedenfalls nach meiner festen Überzeugung, nichts zu suchen hat. Im Unterhaltungsbereich ist es weit fortgeschritten und neuerdings sehen wir in mitunter erschreckender Weise, dass es auch im Sport immer mehr die Herrschaft antritt, so dass nicht mehr der Sport als Pflege und Betätigung körperlicher Kräfte und Leistungsmöglichkeiten gesehen wird, sondern als Mittel für große ökonomische Operationen und für große Gewinnerzielungen. Der Schiedsrichter-Skandal deutet ja in diese Richtung. Und das zweite ist ein Trend zur Beliebigkeit. Anything goes, auf nichts kommt es an – wenn es nur Spaß macht. Da muss man dagegenhalten. Diese Trends sind wohl in den letzten zehn, fünfzehn Jahren stärker geworden. Dennoch bin ich weit davon entfernt zu sagen: Alles ist schlechter geworden und alles ist verloren. Es war auch früher nicht alles so, dass es 100 Prozent meinen Vorstellungen entsprochen hätte. Wie war Ihr Einstieg in die Politik? Der Einstieg war eben zunächst mal mein Beitritt. Es war ja nicht so selbstverständlich, dass ein Akademiker, der zudem noch im Examen Glück gehabt hatte, der SPD beitritt und außerdem auch noch kein Hehl daraus macht, dass er ein Christ ist. Das hat zunächst großes Erstaunen hervorgerufen. Aber das Entscheidende war wohl, dass ich in diesem Arbeitervorort Freimann, Reichsbahnausbesserungswerk hieß das damals noch, das Vertrauen dieser zunächst sehr abwartenden Männer - überwiegend, Frauen gab es kaum - erworben habe, und dass sie mich zum Nachfolger des schwer erkrankten bisherigen Vorsitzenden wählten. Das war eine Probe, die, wenn sie nicht bestanden worden wäre, auch für die weitere Entwicklung eine Rolle gespielt hätte. Aber sie ist bestanden worden und ich bin heute noch ein bisschen stolz darauf, dass mir diese Menschen ihr Vertrauen gegeben haben. Willy Brandt war wohl Ihr Förderer, der Ihr politisches Talent schon frühzeitig erkannt und Sie von München nach Bonn geholt hat. Willy Brandt ist das erste Mal 1953 in mein Leben getreten. Da war ich Ortsvereinsvorsitzender im Münchner Norden, in einem Arbeiterviertel. Es waren dort Flüchtlinge des 17. Juni in großer Zahl in einer Kaserne untergebracht. Die waren außerordentlich kritisch gegenüber der Sozialdemokratie. Ich habe in Bonn beim Parteivorstand angefragt, ob sie uns nicht jemanden schicken könnten, der mit diesen Leuten umgehen kann. Sie sagten: Ja, da gibt es einen gewissen Brandt. - Ich sagte: Wer ist das? Dann sagten die, er sei Bundestagsabgeordneter und sei in Berlin. Er kam dann mit der Bahn. Ich habe ihn am Bahnhof abgeholt. Das war meine erste Berührung mit ihm. Und er hat es wirklich geschafft, dass diese Leute ihm zugehört haben. Er hat sie nicht umgedreht. Ich glaube, sie haben auch weiterhin Adenauer gewählt. Aber er hat diese fast hasserfüllte Feindlichkeit gegenüber der Sozialdemokratie ausräumen können. 15 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Würden Sie heute jungen Menschen empfehlen, in die Politik zu gehen? Ja, das würde ich tun. Man muss nicht nur für sich selber sorgen, sondern man muss sich auch für das Gemeinwesen engagieren. Politik heißt nichts anderes als Engagement für den Zustand des Gemeinwesens. Das, was gut ist, bewahren; das, was nicht gut ist, verändern. Ich bin wirklich ein bisschen in Sorge, weil die Zahl derer der jungen Generation, die einem solchen Rat folgen, eher abgenommen, jedenfalls nicht zugenommen hat. Ich habe große Bedenken gegen die so genannten Insider-Karrieren, in deren Verlauf jemand politische Wissenschaften studiert, einer Partei beitritt, dann erst Mitarbeiter eines Abgeordneten, dann einer Fraktion und dann selbst Abgeordneter wird. Schließlich ist er sogar Parlamentarischer Staatssekretär oder gar Minister, ohne dass er außerhalb des politischen Bereichs wenigstens eine Zeitlang ein „normales“ Leben geführt und erfahren hätte, wie es der großen Mehrheit seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger ergeht. Deshalb halte ich es auch für weniger empfehlenswert, dass jemand schon mit 19 Jahren ins Parlament kommt. Es ist ja auch häufig so, daß Menschen erst dann reif wären, ein Mandat zu übernehmen, wenn sie schon etwas älter sind, meinetwegen 40, 50, und mehr Lebenserfahrung haben. Aber dann sind die Chancen nicht mehr so gut, sich in diesem Sinne noch einzubringen. Ich weiß nicht, ob uns genügend bewusst ist, dass die über 60-Jährigen jetzt etwa 24 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Dies sind 32 Prozent der Wahlberechtigten, weil die unter 18-Jährigen und die nichtdeutschen Staatsangehörigen ja nicht wählen dürfen. Da sie außerdem fleißiger wählen, stellen sie über ein Drittel der Wählerinnen und Wähler. Im Bundestag ist diese Ein-Drittel-Gruppe gegenwärtig nur mit wenigen Abgeordneten vertreten. Das sollte so auf Dauer nicht bleiben. Dabei denke ich nicht daran, dass Abgeordnete, die schon im Parlament sind, dann noch eine oder zwei Perioden länger mitmachen. Sondern ich denke daran, dass Leute, die mit 60, 62 oder 65 ein volles Arbeitsleben hinter sich haben, für eine oder zwei Perioden in das Parlament gehen. Sie hätten übrigens nicht nur mehr Erfahrung, sondern auch ein höheres Maß an Unabhängigkeit. Wird das in der SPD schon so gesehen? Überall, wo ich das vorbringe, stoße ich auf Nachdenklichkeit und neuerdings sogar auf Zustimmung. Jedenfalls macht das Argument, dass es sich hier um ein Drittel der Wählerschaft handelt, einen gewissen Eindruck. Was zeichnet einen guten Politiker aus und welche Eigenschaften sollte er haben? Er braucht eine stabile und belastbare Gesundheit, und zwar physisch wie psychisch. Er muss glaubwürdig bleiben. Sein Reden und Handeln müssen übereinstimmen. Er muss mit Macht umgehen können, und zwar Macht nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Durchsetzung dessen, was er für richtig hält. Sonst ist er ein Beifahrer oder ein 16 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas freundlicher Beobachter, aber kein Gestalter. Außerdem muss er sich ausdrücken können. Er muss so sprechen können, dass die jeweiligen Zuhörer zu ihm Kontakt gewinnen. Gesellschaftliche Entscheidungen werden aber zunehmend durch demokratisch nicht legitimierte Institutionen getroffen. Dadurch hat der Politikerberuf an Attraktivität eingebüßt. Ja, auf wirtschaftlichem Gebiet ist der Einfluss der Kapitalseite deutlich größer geworden. Die Argumentation „Wenn ihr nicht das und das macht, dann gehen wir da und dort hin“ ist ja ein Zeichen dafür, dass das demokratisch legitimierte Organ Bundestag in viel stärkerer Weise als früher, als die nationalen Rahmenbedingungen maßgebend waren, diesem Einfluss, man kann auch sagen: Druck, ausgesetzt ist. das gilt ja auch für die Weltebene. Ich meine: Warum lehnt denn die amerikanische Administration das Kyoto-Protokoll ab? Doch unter dem Druck der amerikanischen Großindustrie! Oder auch bestimmte Entwicklungen in der Welthandelsorganisation. Warum? Nicht weil es die Erkenntnis der demokratisch legitimierten Kräfte ist, sondern weil sie massivem Druck ausgesetzt sind. Warum sind Gewerkschaften heute notwendig? Die einfachste Begründung ist: Gewerkschaften sind notwendig, damit der einzelne Arbeitnehmer nicht allein der Macht der Arbeitgeber und der Macht des Kapitals gegenübersteht. Ich meine, es wäre ein Rückfall in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als man auch von Staats wegen die Gewerkschaften sehr zurückgedrängt und überhaupt nicht akzeptiert hat, weil man wollte, dass der Einzelne dem Unternehmer allein gegenübersteht. Ich glaube, es wird allmählich wieder die Erkenntnis wachsen, dass es nicht im Sinne von Klassenkampf, aber im Sinne einer gewissen Machtbalance auch auf der Seite der Arbeitnehmer einer gemeinsamen Organisation und Vertretung bedarf. Ein weiterer Grund ist, dass die Gewerkschaften aufgrund ihrer Tradition, aber auch aufgrund ihrer Arbeit in die Entwicklung unseres Gemeinwesens sehr spezielle Erfahrungen einbringen können. Und dass auch der Grundwert der Solidarität durch die Existenz und die Tätigkeit der Gewerkschaften gepflegt werden kann Angesichts der Massenarbeitslosigkeit kann man aber den Eindruck gewinnen, dass das Kapital den Kampf gegen die Arbeit gewonnen hat. So weit würde ich nicht gehen. Das würde Hoffnungslosigkeit und Kapitulation bedeuten. Das habe ich in meinem Leben zu vermeiden gelernt. Ich gebe auch zu, dass ich im Grunde ein eher optimistischer Mensch bin. Nein, nein. Die Dinge sind viel schwieriger geworden infolge der Globalisierung, infolge der Tatsache, dass Produkte derselben Güte ohne große Komplikationen mit der Hälfte der Lohnkosten verfügbar gemacht werden können. Das ist ein Faktum. Und niemand, selbst der Saarländer, dessen Namen ich ungern erwähne aufgrund der Geschehnisse, hat eine Vorstellung, dass wir in Deutschland die Grenzen wieder zumachen könnten. Es sind veränderte 17 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Verhältnisse. Die europäische Kooperation oder auch die Weltkooperation der Gewerkschaften wird wichtiger, weil Rahmenbedingungen, die man früher auf nationaler Ebene kannte, jetzt erst auf europäischer und wahrscheinlich endgültig erst auf Weltebene wieder greifen. Nein, verloren ist der Kampf nicht; aber er bedarf erheblicher Anstrengungen. Und die Überlegung, dass man halt auch Abnehmer für seine Erzeugnisse braucht, nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland, ist ja bei vernünftigen Unternehmern durchaus auch präsent. Ein Kapitel Ihres Buches „Anstand und Politik“ handelt von Ihrem Verhältnis zu Gott. Das ist für Sie etwas ganz Wichtiges, ganz Zentrales, was Ihnen auch sehr viel Kraft gegeben hat. Können Sie Ihre Vorstellungen von Gott - Sie nennen ihn „Herrgott“ erläutern? Ich habe einen Augenblick überlegt, ob man bei einer solchen Gelegenheit überhaupt darüber sprechen soll. Es gibt ja eine gewisse Neigung zu sagen: Das ist Privatsache und darüber rede ich nicht. Aber warum eigentlich nicht? Das ist doch für viele Menschen, ob sie nun anders oder gleich denken, ein interessanter Gegenstand. Warum soll also einer wie ich nicht dazu offene Antworten geben? Mein Verhältnis zu Gott ist im Laufe meines Lebens erst ab den 70er Jahren wieder stärker geworden. Da wurde die Vorstellung von einem persönlichen Gott für mich mehr und mehr zu einem archimedischen Punkt, der mir Halt gibt. Mit dieser Vorstellung verbindet sich für mich, dass der Mensch nicht allmächtig ist und dass man einer höheren Instanz Rechenschaft schuldig ist. So steht es übrigens auch in der Präambel des Grundgesetzes, in der von der Verantwortung vor Gott und den Menschen die Rede ist. Der Begriff „Herrgott“ ist eine bayrische Eigentümlichkeit, weniger abstrakt als ein Gottes-Begriff rein philosophisch-theologischer Natur. Ich verweise etwa auf die „Heilige Nacht“ von Ludwig Thoma, in der einem der Herrgott sehr menschlich begegnet. Wenn man über Ihr politisches Vermächtnis spricht, an was denken Sie? Was möchten Sie weitergeben? Ich möchte weitergeben, dass es notwendig, aber auch sinnvoll und auch für den Einzelnen wichtig ist, dass er sich nicht nur um sich selbst kümmert, sondern auch für das Gemeinwesen engagiert. Ich möchte auch gerne weitergeben, dass wir Deutschen keinen Anlass haben in der Rückschau auf unsere Geschichte nach 1945 mit heruntergezogenen Mundwinkeln herumzulaufen, sondern dass wir Anlass zu Dankbarkeit haben. Ich schreibe ja: Wenn uns einer im Krieg, in der Gefangenschaft vielmehr, gesagt hätte, wie sich Deutschland in den nächsten fünfzig Jahren entwickelt, hätten wir den für wahnsinnig gehalten, hätten gesagt: Du spinnst! Ich würde mir manchmal wünschen, dass ein bisschen mehr Freude oder auch Dankbarkeit erkennbar würde, dem Schicksal oder dem Herrgott gegenüber. 18 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Konferenzbeiträge Stefan Dehnert: Das nach Südosten erweiterte Europa – eine Wertegemeinschaft? Die Idee zur Konferenz „Werte und Politik – Das nach Südosten erweiterte Europa – eine Wertegemeinschaft?“ am 17. Juni 2006 entstand aus den Ergebnissen der Interviews, die in diesem Band zusammengefaßt wurden. Die Interviews waren zu interessant, um sie einfach nur zu drucken und in privaten und öffentlichen Bibliotheken verstauben zu lassen. Die Fragen damals wie heute waren die folgenden: Welche Werte bestimmen derzeit die Situation in den Gesellschaften der Länder Südosteuropas? Sind diese mit denjenigen kompatibel, die innerhalb der EU gemeinhin als europäischer Standard angesehen werden? Und daraus folgend eine weitere Frage: Gibt es denn überhaupt einen gemeinsamen Nenner europäischer Werte, gibt es darüber Konsens innerhalb der 25 Mitgliedsstaaten der EU? Diese und noch mehr Fragen haben wir uns auf der Konferenz „Politik und Werte“ gestellt und bei der Beantwortung Vertreter aus Politik und Wissenschaft aus Albanien, Bulgarien, Mazedonien als auch aus Brüssel und Berlin zu Wort kommen lassen. „Werte und Politik“ – eine Sinngemeinschaft, die in jüngerer Zeit unzeitgemäß erscheint. Zu sehr glaubt man die Politik von ökonomischen Grundsätzen dominiert zu sehen, als daß man sie noch mit Werten in Verbindung bringen würde. Und doch – in Europa hat die Debatte politischer Werte neuen Auftrieb erhalten – nicht zuletzt durch die Verunsicherungen und Herausforderungen, mit denen scheinbar Selbstverständliches innerhalb Westeuropa in Frage gestellt wird. Dazu gehören die geplante Erweiterung der EU nach Osten bis über den europäischen Kontinent hinaus – zu nennen ist hier die Türkei-Debatte. Dazu gehören aber auch die Herausforderungen für das Europäische Sozialmodell durch die Globalisierung, die demographische Entwicklung – Bevölkerungsrückgang und Alterung der Gesellschaft - und die Immigration, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen. Ihren klarsten Ausdruck hat die Suche nach den Werten der Europäischen Union in der Formulierung für den Verfassungsvertrag gefunden: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Daneben wurde die Debatte um ein gemeinsames europäisches Bewußtsein durch Jürgen Habermas angeregt, das seiner Ansicht nach auf gemeinsamen Erfahrungen in der europäischen Geschichte gründet. Dazu gehöre die Privatisierung des Glaubens und die reflexive Distanz der Menschen zu sich selbst, die Domestizierung staatlicher Gewalt und die Sensibilität der Bürger für die Verletzung der persönlichen und körperlichen Integrität, die kritische Einschätzung des Marktes und der Ethos des Kampfes um mehr soziale Gerechtigkeit sowie die Sensibilität der Menschen für die Paradoxien des Fortschritts. 19 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Wie steht es nun um die Wertorientierung in SOE? Die Staaten Südosteuropas haben sich ähnlich denen der mittelosteuropäischen postsozialistischen Staaten nach dem Zusammenbruch des Ostblocks auf die Suche nach ihrer spezifischen Identität begeben. Das Werte- und Identifikationsvakuum, das durch den Zusammenbruch des einen, lange Jahrzehnte vorherrschenden Gesellschaftsmodells entstand, musste gefüllt werden. Meist geschah dies im Rückgriff auf nationale Unabhängigkeitsmythen und auf eine sich ebenfalls als national gebunden verstehende Religion der Bevölkerungsmehrheit. Werte sind identitätsprägend – und umgekehrt beeinflußt Identität Wertbilder. Insofern ist es von großem Interesse, ob die in den vergangenen 15 – 20 Jahren wiedergefundenen oder redefinierten Identitäten in Südosteuropa sich unter dem Dach der Werte der EU einfügen können und wollen. Oder ob es Widerstände gegen diese Werte gibt, die es zumindest Teilen der Bevölkerung schwer machen wird, die Vorgaben der EU nicht nur zu akzeptieren, sondern sie auch mit Leben zu erfüllen. Weiter oben wurde aus dem Verfassungsvertrag der EU zitiert, in dem die Wertorientierung der EU betont wird. Es handelt sich dabei offensichtlich nicht um eurozentristische Grundüberzeugungen, man erkennt darin eher universelle Werte, die gemeinhin als „westliche Werte“ bezeichnet werden. In dem Versuch Habermas’, ein europäisches Bewußtsein zu definieren, sieht man eher etwas spezifisch europäisches – allerdings dürfte seine Beschreibung noch stärker auf die EU-15 zutreffen als auf die heutige EU-25. Wie lassen sich aber die im Verfassungsvertrag formulierten universellen gesellschaftlichen Werte erfassen und definieren, gar in konkrete Politik umsetzen, ohne der Versuchung zu verfallen, sie in globaler Allgemeingültigkeit aufzulösen? Die Europäische Union hat ihre eigene Antwort auf diese Frage im Laufe ihrer nunmehr fast 50-jährigen Geschichte entwickelt. Die EU ist eine Rechts- und Wertegemeinschaft, deren Funktionieren durch die EU-Institutionen garantiert wird. Die Regeln sind in den Verträgen der Gemeinschaft und dem „aquis communautaire“ in mitunter verwirrender Detailliertheit definiert und werden kontrolliert und durchgesetzt. Die EU wiederum erwartet von denjenigen Staaten, die Teil der Rechtsgemeinschaft der Europäischen Union werden wollen, daß sich dieser Beitrittswille in der Übernahme der sogenannten „Kopenhagener Kriterien“ widerspiegelt. Sie verlangen unter anderem: "...Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben; Neben den nüchternen, eher technischen Kriterien, welche ein Kandidatenland für die EU qualifizieren, spielen also in Form von Werten auch scheinbar „weiche“ Faktoren eine Rolle, die sich aber in der institutionellen Ausgestaltung des Staates und deren Funktionsfähigkeit auswirken müssen – und somit zu „harten“ Faktoren werden, deren Umsetzung nicht von heute auf morgen gelingen kann. Nichtsdestotrotz gehören sie zum Grundgerüst der EU. Es ist eben gerade die institutionelle Umsetzung dieser Kriterien, die innerhalb der Mitgliedsstaaten der EU dafür sorgt, daß der Staat und das 20 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas politische System ein hohes Maß an Legitimität und damit Vertrauen bei den Bürgern erzeugen. Nun stellt sich die Frage, inwieweit dies für die Region Südosteuropa bereits zutrifft. Zur Illustration dieser Frage sei auf die Erfahrungen aus Mittelosteuropa verwiesen, die Andras Bozoki folgendermaßen skizziert: „Der Erfahrungshorizont der Bürger aus den postsozialistischen Transformationsstaaten mit den Institutionen ihrer Staaten ist häufig ein anderer. Sie mussten lernen, dass Institutionen mitunter keine Rolle spielen. Informelle Praktiken beherrschten meist das politische Geschehen ihres Landes.“ Die hinter dieser Beschreibung stehende Situation ist auch der Bevölkerung in SOE nicht vollkommen fremd. Bozoki führt weiter aus: „In den EU-Beitrittsstaaten von 2004 zeigte sich ein Phänomen, das mit der Wahrnehmung der politischen Eliten durch die Bevölkerung, der Art und Weise, wie diese den Transformationsprozess nach 1990 gemanagt hatten und wie sie die EU-Heranführung ihres Landes für sich vereinnahmten, zusammenhing. Während die Unterstützung für den EU-Beitritt höher lag, als dies in westeuropäischen Staaten der Fall gewesen war, lag die Beteiligung an den Referenden meist unter 50%. Das Vertrauen in demokratische Prozesse und eine funktionierende politische Streitkultur waren offensichtlich Wegmarken, die noch nicht erreicht waren. Beobachter sprachen deshalb auch von einer „simulierten Unterstützung des Beitritts“. Folge ist eine „Mitgliedschaft ohne Zugehörigkeit“. 1 Wenn die Staaten Südosteuropas ein vergleichbares Szenario verhindern wollen, dann gehört mehr dazu, als Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu proklamieren. Dann müssen die zentralen Werte der EU auch ihren institutionellen und praktischen Wiederhall in der alltäglichen Erfahrung ihrer Bürger finden. Dies ist beileibe keine einfache Aufgabe, aber eine lohnende. Das Ziel der Konferenz war die kritische Bestandsaufnahme von den Veränderungsprozessen, welche die Gesellschaften Albaniens, Bulgariens und Mazedoniens in den vergangenen 20 Jahren durchlaufen haben, auf welche Muster und Identitäten zurückgegriffen wurde, aus welchem Mix von Altem und Neuem sich die heutige Wertorientierung der jeweiligen Gesellschaften zusammensetzt, wie weit die Institutionelle Absicherung der von der EU proklamierten Werte vorangeschritten ist, welche Herausforderungen sich durch anti-westliche Diskurse ergeben und wie es um die Kenntnis und Akzeptanz der Werte der EU bestellt ist. 1 Andras Bozoki. „Mitgliedschaft ohne Zugehörigkeit?“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 56/2004, S. 3-4. 21 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Hannes Swoboda, MdEP: Gemeinsame Werte der Europäischen Union in der politischen Praxis Hannes Swoboda ist Mitglied des Europäischen Parlaments, Stellv. Vorsitzender der Delegation für die Beziehungen zu den Ländern Südosteuropas Zuerst möchte ich mich herzlich für die Einladung durch die Friedrich-Ebert-Stiftung bedanken. Wann immer mich die Friedrich-Ebert-Stiftung einlädt, komme ich gerne, wenn es meine Zeit erlaubt. Und besonders gerne komme ich an derart schöne Orte, mit denen ich ebenso schöne Erinnerungen verbinde. Wir hatten einmal auf der anderen Seite des Sees, in der Nähe von Ohrid, eine Tagung des Gemischten Ausschusses des Europäischen und des Mazedonischen Parlaments hatten. Beginnen möchte ich mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen, um dann am Beispiel von Entscheidungen und Diskussionen aktueller Natur zu belegen, dass die Europäische Union sehr stark eine Wertegemeinschaft ist, auch wenn vielleicht ihr Image ein anderes ist. Lassen Sie mich zuerst zurückkehren zur Gründung der Europäischen Union. Die Europäische Union ist als Wertegemeinschaft gegründet worden, um Krieg, Rassismus und Nationalismus zu überwinden und die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Es kommt nicht von ungefähr, dass der Kern der Europäischen Union – mit Nachwirkungen bis heute – aus einem Brückenschlag zwischen Frankreich und Deutschland entstanden ist, zwischen den beiden Erbfeinden, die über Jahrhunderte miteinander Krieg geführt haben. Und es kommt nicht von ungefähr, dass man jene Ressourcen vergemeinschaftet hat, das heißt, einer gemeinsamen Behörde untergeordnet hat, die für Aufrüstung und Krieg ausschlaggebend sind und waren: Kohle, Eisen und Stahl. Das war der Anfang und Ursprung der Europäischen Union. Das Instrument war ein wirtschaftliches. Aber der Zweck, die Ursache, die Zielrichtung, war die Friedenschaffung. Es sollte nie wieder Krieg geben. Und dem Faschismus, der im Zweiten Weltkrieg diese ungeheure Verwüstung über Europa gebracht hat, wurde der Kampf angesagt. Es ging um eine Abwehr des Nationalismus und des Rassismus, im Sinne der pangermanischen Überheblichkeit mit den Millionen von Opfern, insbesondere, aber nicht nur bei der jüdischen – denken wir an die Roma, an Homosexuelle, etc. An diesen Ursprung der Europäischen Union muss man immer wieder erinnern. Im Laufe der Zeit hat sich diese Wertegemeinschaft allerdings in Richtung einer vorwiegend ökonomischen Wirtschaftsgemeinschaft entwickelt. Zuletzt ist die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft jedoch in eine Europäische Union umgewandelt worden, weil man wieder reelle Werte in den Vordergrund rücken wollte. Höhepunkt war der so genannte „Grundrechtskatalog“, der erarbeitet und auch von den Regierungschefs akzeptiert worden ist und in der Folge in die Europäische Verfassung eingebaut wurde. Allerdings wurde diese – noch – nicht ratifiziert, so dass der Europäische Grundrechtskatalog zwar ein Zielkatalog ist, aber keine rechtliche Durchsetzungsfähigkeit hat. 22 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Dennoch hat der Europäische Gerichtshof bei seinen Erkenntnissen in vielen Fällen bereits auf diesen Europäischen Grundrechtskatalog zurückgegriffen, ihn also de facto als eine Wertgrundlage der Europäischen Union angesehen. Es gibt somit zwei aktuelle Grunddokumente der Europäischen Union. Das eine Grunddokument definiert den so genannten „Lissabon-Prozess“, also die wirtschaftliche Seite. Europa möchte in einer globalen Welt der wettbewerbsfähigste Kontinent werden. Das andere ist der Grundrechtskatalog. Er definiert, dass die Europäische Union auch eine Wertegemeinschaft ist. Diese Parallelität halte ich für absolut richtig. Beide Seiten sind wichtig: die ökonomische, aber auch die Wertegemeinschaft. Ich möchte einige Beispiele anführen, die das belegen. 1. Bei der Erweiterung der Europäischen Union spielen Werte und die Einhaltung von Werten eine zentrale Rolle. Das ist nicht nur in den so genannten „Kriterien von Kopenhagen“ festgelegt, bei denen es zum Beispiel um die Rechtsstaatlichkeit und den Schutz von Minderheiten geht. Gerade auch in den letzten Verhandlungsrunden und den Gesprächen, die wir nach dem Ende der Verhandlungen mit Bulgarien und Rumänien führen, spielen fast ausschließlich Werte eine Rolle. Es geht weniger um die wirtschaftliche Situation und politische Fragen, sondern vielmehr um Unabhängigkeit der Justiz, um den Kampf gegen Korruption und grenzüberschreitende Kriminalität und um Minderheitenrechte – wenn ich insbesondere an Rumänien denke. Das sind die Werte, die zur Debatte stehen. Und wenn es zum Beispiel bei Bulgarien noch eine offene Frage gibt, dann ist es die Unabhängigkeit der Justiz. Und es war auch der Druck der Europäischen Union, die Verfassung zu ändern, einen neuen Generalstaatsanwalt, zu ernennen etc. Gerade an diesen Verhandlungen ist ziemlich deutlich, wie wichtig die Einhaltung von Werten ist. Auch der Minderheitenschutz spielt immer eine große Rolle – etwa in der Slowakei. Auch dieses Land ist ein gutes Beispiel. Solange wir dort eine Regierung mit Meciar an der Spitze hatten und ein mangelnder Respekt der ungarischen Minderheit und der Roma bestand, solange haben wir nicht einmal begonnen, mit der Slowakei zu verhandeln. Erst nach den politischen Änderungen, die auch die Voraussetzungen für eine neue Gesetzgebung geschafft haben, wurden die Gespräche aufgenommen. Bei der Frage der Minderheiten gibt es allerdings ein Problem: Der Minderheitenschutz ist nicht genau definiert. Wir verweisen auf das, was der Europarat beschlossen hat. Es gibt in der Europäischen Union deshalb keine genaue Definition, weil manche Länder, die sehr zentralistisch aufgebaut sind, keine regionale oder Minderheitenautonomie kennen – ich denke zum Beispiel an Frankreich. Andere Länder sind föderal strukturiert. Aber dass Minderheiten nicht nur respektiert werden müssen, wie das in der Grundrechts-Charta festgehalten ist, sondern auch einen besonderen Schutz, einen Schutz ihrer Entfaltungsmöglichkeit haben müssen, ist gemeinsame Ansicht. Inwieweit hier Autonomieregelungen sinnvoll sind, wie weit die Sprachenentfaltungsmöglichkeit geht, wird diskutiert. 23 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas 2. Die Europäische Union hat den Grundwert der Solidarität, wenn man so will, in Richtung einer Sozialunion sehr hochgestellt. Man findet daher auch im Grundrechtskatalog über das, was in vielen Verfassungen hinausgeht, viel zur Frage der Solidarität, zu den Rechten der ArbeitnehmerInnen, zu Kollektivvertragsrechten, etc. Aber auch das Recht auf gemeinwirtschaftliche Leistungen ist angeführt. Das heißt, die Union ist – und das stört manche Leute, wenn ich zum Beispiel an Vaclav Klaus, den Präsidenten der Tschechischen Republik denke – auch im wirtschaftlichen Bereich mehr als eine kapitalorientierte Wirtschaftsgemeinschaft, weil sie die sozialen Rechte sehr stark betont. Die vergangenen Monate waren insbesondere im Europäischen Parlament stark durch die Debatte über die so genannte „Dienstleistungsrichtlinie“ gekennzeichnet. Es geht dabei um eine Gesetzgebung, die regelt, wie europaweit grenzüberschreitend soziale Dienstleistungen, Dienstleistungen im Bausektor etc., angeboten werden können. Es gab eine lange Debatte darüber, ob das Heimatrecht, das Ursprungslandprinzip, gültig ist. Dieses besagt, dass alles, was bei mir zu Hause gilt, auch anderswo gilt, wenn ich eine Dienstleistung anbiete. Einige der neuen Mitgliedsländer setzten sich für dieses Prinzip ein. Das andere Modell ist das Ziellandprinzip, nach dem das Recht und Grundprinzip jenes Landes gültig ist, in dem ich die Dienstleistung anbiete. Nach längeren Diskussionen hat sich im Europäischen Parlament und letztendlich auch im Rat eine sehr große Mehrheit gebildet, die feststellt, dass es nicht sinnvoll ist, soziale Standards zu unterbieten. Zwar müssen die Märkte geöffnet und Diskriminierungen vermieden werden. Es gibt einen gemeinsamen europäischen Dienstleistungsmarkt. Aber soziale Rechte und soziale Standards, die in einzelnen Ländern erarbeitet worden sind, müssen akzeptiert werden. Auch das ist ein klarer Beweis dafür, dass es nicht nur um wirtschaftliche Faktoren, sondern auch um Wertefaktoren geht. 3. Die europäischen Grundwerte drücken klar das Prinzip der Nichtdiskriminierung aus. Das heißt: Niemand darf aufgrund seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, seiner ethnischen Herkunft, seiner geschlechtlichen Einstellung, etc. diskriminiert werden. Auch zu diesem Punkt gab es immer wieder Debatten. So führten wir im Europäischen Parlament bei einem neuen Mitgliedsland in der Europäischen Union, Polen, eine sehr intensive Diskussion darüber. Wir haben mit großer Mehrheit eine Resolution verfasst, die sich gegen jede Art von neuen rassistischen Gewaltakten, die innerhalb der Europäischen Union stattfinden – in Frankreich, in Großbritannien –, aber auch gegen so genannte „homophobe“ Gewaltakte ausspricht: gegen Gewaltandrohung gegenüber Menschen, die sich zur Homosexualität bekennen. Die sehr weit rechts stehende Regierung in Polen, unter Einschluss von Parteien, die nicht nur antieuropäisch sind und sich antieuropäisch äußern, sondern auch bis zur Einsetzung von Skinheads Drohungen gegen Minderheiten aussprechen, bereitet uns große Sorgen. 4. Wir hatten diese Woche eine intensive Debatte über das „Forschungsrahmenprogramm“. Innerhalb dieses Forschungsrahmenprogramms stoßen mehrere Grundwerte aufeinander. Der Grundwert, der auch im Grundrechtskatalog verankert ist: 24 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Freiheit der Forschung. Ebenso wie die gesundheitspolitischen Zielsetzungen und der Schutz des Lebens. In diesem Zusammenhang haben wir heftig über die „embryonale Stammzellenforschung“ geführt, also über die Verwendung von Stammzellen aus Embryonen, um Gesundheitsforschung zur Bekämpfung von schwerwiegenden Krankheiten, die derzeit nicht über einen anderen Weg heilbar sind, zu betreiben. Auf der einen Seite wollten Manche – vor allem jene, die in sehr starker Verbindung mit der katholischen Kirche stehen – jegliche Art der embryonalen Stammzellenforschung verbieten, auf der anderen Seite traten Viele für die Freiheit der Forschung und das Primat der Gesundheit ein. Es gab schließlich einen Kompromiss, den man im Europäischen Parlament beschlossen hat: Aus EU-Forschungsmitteln darf embryonale Stammzellenforschung in jenen Ländern gefördert werden, in denen dies grundsätzlich erlaubt ist – mit der klaren Zielrichtung der Gesundheitsforschung. Selbstverständlich ist das Klonen zu Forschungszwecken verboten, wie das ja auch im Grundrechtskatalog klar verankert ist. 5. Wir sind gerade dabei, einen Zwischenbericht über den „CIA-Sonderausschuss“ zu erarbeiten. Wie Sie wissen, hat es eine Reihe von Verbringungen auch europäischer Staatsbürger durch die CIA gegeben – aus unserer Sicht und wie auch der Bericht des Europarats festgestellt hat, unter Verletzung europäischer Grundsätze, aber auch nationaler Rechte. Viele sehen das nicht als schwerwiegend an, weil sie es als Teil des Kampfes gegen den Terrorismus verstehen. Der Kampf gegen Terrorismus ist eine entscheidende Aufgabe. Für uns aber muss dieser Kampf vereinbar gemacht werden mit der Wahrung der Grund- und Freiheitsrechte. Daher haben wir immer wieder Resolutionen mit sehr breiter Basis gegen Guantanamo verfasst und die Vereinigten Staaten von Amerika aufgefordert, Guantanamo zu schließen und die Gefangenen in ein normales Rechtssystem zu überführen. Mit knapper Zustimmung haben wir im Ausschuss die Frage der CIA-Verfrachtungen von Bürgern verhandelt. Im Grundrechtskatalog ist zum Beispiel auch festgehalten, dass Niemand aus Europa in ein Land ausgewiesen werden darf, das Folter anwendet – trotzdem ist das passiert. Es gab eine Reihe von Verletzungen, bei denen wir im Europäischen Parlament klar sagen: Ja zum Kampf gegen den Terrorismus, aber Nein zum Missbrauch der Grund- und Freiheitsrechte und Nein zur Unterordnung der europäischen Werte unter die konkreten Ziele der CIA oder anderer amerikanischer Institutionen. Die letzten Punkte, die ich noch erwähnen möchte, stehen im Zusammenhang mit der Region Südosteuropa. In der Erklärung von Saloniki 2003 wurde unmißverständlich festgelegt, dass nicht nur die Kopenhagener Kriterien gelten. Für den Beitritt zur Europäischen Union ist die Zusammenarbeit mit dem Den Haager Tribunal eine notwendige Voraussetzung. Das ist ganz klar auch eine Frage der Menschen- und der Minderheitenrechte und beweist eindeutig, dass es in der Europäischen Union um Werte geht und nicht nur um eine Wirtschaftsgemeinschaft. So haben beispielsweise die Verhandlungen mit Kroatien erst begonnen, als diese Zusammenarbeit gegeben war. 25 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Und so gibt es derzeit mit Serbien diesbezüglich ein großes Problem, weil Mladic noch immer nicht ausgeliefert wurde, das aber eine der Voraussetzungen ist, um das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen abzuschließen. Ein letzter Punkt, den ich nur noch kurz erwähnen möchte, ist der gesamte Bereich der Außenpolitik. Ob wir mit Russland diskutieren oder mit dem Iran verhandeln – in all diesen Fragen ist klar, dass Europa auch im Bereich der Außenpolitik nicht nur eine wirtschaftliche Außenpolitik oder eine Außenpolitik im politischen Sinn betreibt, sondern dass Werte immer eine Rolle spielen: Zum Beispiel bei unserer Kritik an Russland hinsichtlich Tschetschenien, bei der Frage, wie sich Russland gegenüber Georgien im Zusammenhang mit Südossetien, Abchasien oder gegenüber Moldowa hinsichtlich Transnistrien verhält. Zweifellos gibt es auch innerhalb der europäischen Institutionen Unterschiede bei der Umsetzung der Werte. Die Kommission und der Rat sind mehr pragmatischwirtschaftlich orientiert, das Parlament ist mehr minderheitenund menschenrechtsorientiert. Aber klar ist, dass die Europäische Union nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft ist. Sie ist nicht mehr die EWG, sondern die Europäische Union. Werte spielen eine große Rolle. Daher ist für alle Länder, die sich auf dem Weg zur Europäischen Union befinden, die Wertediskussion und die Umsetzung einer Werteordnung ein wichtiger Aspekt für die Vorbereitung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Teil 2 Diskussion Zum Verhältnis EU und USA. Der bekannte österreichische Schriftsteller Karl Kraus hat einmal über das Verhältnis Deutschland-Österreich gesagt: „Nichts trennt uns mehr als die gemeinsame Sprache.“ Diesen Widerspruch kann man vermutlich auch auf das Verhältnis USA-Europa anwenden: „Nichts trennt uns so sehr, wie die gemeinsamen Werte.“ Oberflächlich betrachtet sind die Werthaltungen ziemlich – wenn auch nicht völlig – gleich. Und dennoch bestehen in der Interpretation dieser Wertehaltungen zahlreiche Unterschiede. Es gibt zum Beispiel den Unterschied, dass die religiösen Werte in den USA einen höheren Stellenwert haben als in Europa. Wenn man von „Demokratie, Freiheit, Menschenrechte, Minderheitenrechte“ spricht, wird man auf der abstrakten Ebene keinen Unterschied erkennen. Bei der konkreten Umsetzung allerdings, etwa im Kampf gegen den Terrorismus – Stichwort Guantanamo – oder im Verhalten Amerikas gegenüber Entwicklungen in Lateinamerika, im Irak oder im Iran, gibt es zum Teil große Unterschiede. Darüber ist im Zusammenhang mit der Erweiterung auch eine Debatte innerhalb der EU gewachsen. Die Einstellung zu den USA ist in einem Großteil – nicht in allen – der neuen Mitgliedsländer eine viel positivere ist als in den alten Mitgliedsländern. Dasselbe gilt auch für Bulgarien und Rumänien. Amerika hat für den Fall des Kommunismus de facto nicht viel mehr unternommen als Europa. Aber es hat anders agiert, es hat sich 26 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas deutlicher artikuliert und die Wertedebatte klarer vorgetragen. Mehr umgesetzt hat Amerika aber nicht. Wenn ich heute beobachte, was Amerika beispielsweise gegenüber Russland bei Tschetschenien sagt, dann agiert Europa zweifellos deutlicher als Amerika. Auch bezüglich der Türkei hat Amerika immer zu den Menschenrechten geschwiegen, Europa hat sich dazu geäußert. Und trotzdem hat es Amerika de facto geschafft, eine größere Akzeptanz in den neuen Mitgliedsstaaten zu bekommen. Was die Balkan-Region betrifft: Viele in Westeuropa haben nicht begriffen, dass das Konzept von Europa – auch das geographische und damit das inhaltliche Konzept – sich verändert. Für die Gründungsmitglieder – insbesondere für Frankreich – besteht Europa eigentlich nur aus dem Westen unseres Kontinents. Alles andere ist schon ein Kompromiss. Angesichts der Erweiterung von sechs auf 12 mit der Süderweiterung, dann auf 15 und nun mit der Erweiterung um 10 neue Länder fragen sich Viele, ob das überhaupt Europa ist. Ja, das ist Europa. Aber es ist ein anderes Europa mit einer anderen geschichtlichen Entwicklung, und das gilt natürlich insbesondere für den Balkan. Man hat noch akzeptiert, dass Europa nicht nur an den Atlantik und das Mittelmeer grenzt. Aber dass Europa in wenigen Monaten auch an das Schwarze Meer grenzt und sich eine ganz neue Dimension entfaltet, können Viele nicht nachvollziehen. Zudem gibt es Einige, insbesondere bei der Europäischen Volkspartei, die Europa prinzipiell als christlichen Club sehen. Für die katholische Seite ist es schon ein schwierig, die orthodoxe Gemeinschaft in die EU mit einzubeziehen. Und wenn schon viele Muslime in Europa leben, ist das umso schwieriger. Aus diesem Umfeld hört man: „Erweiterung um Kroatien: Ja! Kroatien ist tiefkatholisch, religiös und gehört zu uns. Aber an diesem Punkt sollte man zumindest eine Pause machen.“ Es gibt also durchaus Kräfte, die einfach quer durch den Balkan eine Grenze ziehen möchten. Eine Grenze, zu der das Katholische noch dazugehört. Alles andere, vor allem wenn es dann in Richtung nicht nur Orthodoxie, sondern vor allem in Richtung Islam geht, soll draußen bleiben. Ich bin da ganz anderer Meinung. Europa ist kein christlicher Club, war kein christlicher Club und darf kein christlicher Club werden! 27 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Gordana Siljanovska Davkova: Leitbild Mensch – Forderungen nach Ethos, Pathos und Logos Prof. Dr. Gordana Siljanovska Davkova ist Professorin für Verfassungsrecht und Politische Systeme an der St. Cyril und Methodius Universität in Skopje, Mazedonien. Wir leben in einer widersprüchlichen Zeit, in einer postindustriellen Gesellschaft, in einer Informationsgesellschaft, in einer Ära der Globalisierung, einer Ära des technologischen Fortschritts. Unser Leben ist jedoch gleichzeitig erfüllt von Erschütterungen und Angst vor einer ungewissen Zukunft. Besteht das Risiko, dass wir auf der Suche nach einer fortschrittlicheren Gesellschaft unsere Existenz gefährden? Es besteht, wenn man die Kriterien des Guten, der Moral, der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit und der Solidarität vernachlässigt. Diese Gefahr besteht objektiv, wenn man einerseits die Entwicklung als Möglichkeit für die Lösung der gesellschaftlichen Probleme und die Verbesserung der Lebensqualität sieht und andererseits Entscheidungen über die zukünftige Entwicklung getroffen werden, ohne ethischen Fragen Rechnung zu tragen und ohne die Wertedimension in der Politik zu berücksichtigen. Wir befinden uns an einem Kreuzungspunkt. Nun müssen wir zurückschauen, die Lektionen aus der Vergangenheit lernen und uns an das Ziel der Renaissance erinnern: “Rückkehr zur Natur und Rückbesinnung auf unsere menschlichen Natur”. Wir müssen die Wirklichkeit aus einer ethischen Perspektive sehen, uns mit der Krise der Moral und der Heuchelei auseinandersetzten und eine Entwicklung mit einem ethischen Antlitz in die Wege leiten, eine für den Menschen maßgeschneiderte Entwicklung. Bei diesem Vorhaben stehen folgende Herausforderungen vor uns: erstens der Aufbau einer Gesellschaft, in der die Menschen frei sind und ihre Lebensqualität in materieller und kultureller Hinsicht gut ist, zweitens der Aufbau einer Gesellschaft, in der die Menschen Herrscher über die Zivilisation sind und alle menschlichen Errungenschaften ihnen dienen, drittens die Abkehr vom exklusiven Nationalismus und die Schaffung von regionalen kooperativen Gemeinschaften zur Stabilisierung von regionalem Frieden und Fortschritt, und viertens die Schaffung einer globalen, kooperativen, “interkulturellen” Gemeinschaft “ohne Grenzen”, die auf universalen ethischen Prinzipien und Werten der Solidarität, der Partnerschaft, der Gemeinschaft, der Toleranz und der Zusammenarbeit basiert. Die Politik ist ein ambivalentes Phänomen. Sie ist eine Tätigkeit, mit welcher die Menschen allgemeine Verhaltensregeln gestalten, bewahren und ändern. Im Grunde handelt es sich um eine gesellschaftliche Aktivität die einerseits untrennbar mit dem Bestehen von Unterschieden und Konflikten verbunden ist und andererseits mit dem Bedarf an Zusammenarbeit und kollektiver Aktion. Verschiedene Philosophen und verschiedene Traditionen verstehen sie unterschiedlich. Für die einen ist sie die “Kunst des Herrschens” bzw. “die sich auf die Polis beziehende” (die klassische, antikgriechische Variante) oder “die sich auf den Staat beziehende” (die moderne Variante, D. Easton). Manche verstehen sie als “das Leiten und Steuern der öffentlichen Angelegenheiten” (Aristoteles, J.J. Rousseau, J. S. Mill, H. Arendt), manche als die 28 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Lösung von Konflikten durch Auseinandersetzung und Einigung (B. Crick) und manche als Kampf um begrenzte Ressourcen (H. Lasswell, K. Millett, K. Marx, V. Lenin). Eine ständige Polemik wird auch um die Sphäre des “Politischen” geführt. Traditionell wird sie auf die Institutionen und die Akteure, die in der “öffentlichen Sphäre” wirken reduziert, sie wirkt jedoch aufgrund der Machtverhältnisse auch in die “private” Sphäre hinein. In der Politikforschung gibt es mehrere Ansätze: den politisch-philosophischen, der sich mehr auf “das was sein soll” fokussiert und weniger auf “das was ist”; den empirischen, der sich mit den Institutionen und den Strukturen befasst; den behavioristischen, der versucht, wissenschaftliche Strenge einzuführen und eine Vielzahl von modernen Ansätzen, unter denen einen besonderen Stellenwert die Theorie der rationalen Auswahl hat. Die Politikforschung ist wissenschaftlich, wenn sie auf objektivem Wissen über die Welt der Politik basiert bzw. auf der Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten. Hierbei handelt es sich um eine schwierige Aufgabe, weil der Zugang zu den Daten schwer ist, die Werte in den politischen Modellen und Theorien verborgen sind und die Gefahr der Voreingenommenheit in der Politikforschung besteht. Die heutige Europäische Union ist eine andere als die, mit welcher der europäische Traum in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts begann. Sie ist eine weitere, demokratischere und integriertere Einheit. Die Europäische Union ist einer der angesehensten und begehrtesten Clubs der Welt. Für die Nachbarn, die ihr beitreten möchten, klingen die Worte Robert Schumans verführerisch “Es ist notwendig, dass jeder fest davon überzeugt ist, dass wir einander brauchen, ungeachtet der Lage und der Macht, die wir haben” 2 . Diese Botschaft des damaligen Außenministers von Frankreich wurde zuerst vom deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer aufgegriffen. Er beendete die jahrhundertealten Feindseligkeiten zwischen den Mitgliedern der Europäischen Gemeinschaft… "Europe is turning away from power, or to put it a little differently, it is moving beyond power into a self-contained world of laws and rules and transnational negotiation and cooperation. It is entering a post-historical world of paradise of peace and relative prosperity, the realization of Immanuel Kant's "perpetual peace". 3 Der jahrzehntelange Frieden führte die Europäer zu neuen Prioritäten: mehr Arbeitsplätze, eine bessere finanzielle Lage, bessere Lebensqualität, aber auch größere Sicherheit nach den Anschlägen in New York, Madrid und London. Den Bürgern Europas ist klar, dass es ohne Sicherheit keine Freiheit geben kann und deshalb geben 60% der 4 Deutschen der Sicherheit den Vorrang vor der Freiheit . Natürlich sind Freiheit und Sicherheit komplementäre Kategorien. Es gibt keine Sicherheit ohne die Bürgerfreiheit und umgekehrt gibt es ohne die Bürgerfreiheit keine Demokratie. Der Rechtsstaat bzw. Hobbes Leviathan ist eine Garantie für das Ende des "bellum omnium contra omnes" bzw. für die Überwindung des vorbürgerlichen Urzustands. Im Geiste des Naturrechts 2 3 4 Šuman, R.: Za Evropa, Delegacija na Evropskata komisija, Skopje, 2004. Kagan, R./Knopf: A. "Of Paradise and Power", New York 2003, S. 3. Focus, 45/ 2001, www.focus.de/emnid . 29 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas hat für John Locke der Mensch natürliche Rechte: das Recht auf Leben, auf Freiheit und auf Eigentum. Sie sind prä-existentieller Natur, d.h. sie sind dem Zugriff des Staates entzogen. Trotz der permanenten Säkularisation ist der moderne Europäers ein homo religiosus. Für Schumann, Adenauer und de Gaspari waren das Christentum bzw. die “Christdemokratie” eine politische Orientierung, eine Grundlage für die Gleichheit der Menschen, die Würde des Menschen und den Frieden zwischen den Völkern. Europa hat eine lange und tiefe Tradition von Sozialstaaten und der Zusammenarbeit von Kapital und Arbeit. Aus solch einer Tradition wachsen Solidarität und Gleichheit. Der Neoliberalismus untergräbt diese Werte. Die Familie ist immer noch ein wesentliches Segment im Leben der meisten Europäer und stellt die Hauptzelle des Staates dar. Vorrangiges Ziel der europäischen Eltern ist es, einen verantwortungsbewussten, kultivierten und gebildeten Nachwuchs großzuziehen, für den sie sich zu opfern bereit sind. Der Prozess der europäischen Einigung ist an die Kernfrage geknüpft: Was sind die Ziele der Einigung? Warum sind die Nationalstaaten bereit, einen Teil ihrer Souveränität abzugeben? Was sind die Vorteile für Sicherheit und Wohlfahrt? Die nationalstaatlichen Strategien sind an konsistenten bzw. EU-kompatiblen Lösungen orientiert, also an Lösungen, die zur Europäisierung der nationalen Systeme führen. Die Umsetzung der Kopenhagener Kriterien ist eng verknüpft mit dem Werte-Rahmen der nationalen Systeme bzw. mit den Werten, auf denen das System basiert. Natürlich ist die Wertefrage nicht vom Modell der politischen Kultur zu trennen bzw. von der Tradition und der Sozialisierung als ihre Determinanten. Die EU ist keine homogene Gesellschaft, mansche sprechen von “alter” und “neuer” EU. Es gibt Anhänger einer vertieften Integration (vertreten durch die Gründungsmitglieder Deutschland, Frankreich, Italien und den Beneluxstaaten) und Vertreter einer Beibehaltung weitgehender nationaler Souveränität (Polen, Tschechien, Großbritannien, Dänemark, Schweden). Es wird davon ausgegangen, dass es unter den neuen Mitgliedstaaten eine Mehrheit gibt, die einer weiteren Integration skeptisch gegenübersteht. Dabei ist wichtig hervorzuheben, dass laut Eurobarometer 2003 die Bürger in den neuen Mitgliedsstaaten der Integration freundlicher zugeneigt waren als der Durchschnitt der EU-15. Außerdem sind die kleinen Staaten generell EU-freundlicher. Sie erwarten durch sie eine schnellere Lösung der akuten Probleme. Der EU-Betritt hat für sie eine starke affektive Bedeutung im Sinne der Reintegration nach Europa. Die Unterstützung für die EU in den Mitgliedstaaten sank jedoch nach 2004 in der Folge des Irak-Kriegs, der Debatte über die Verfassung und der gescheiterten Referenden in Frankreich und in den Niederlanden, aber auch aus Gründen, die in den Mitgliedstaaten selbst liegen. Der EUSkeptizismus bei den Bürgern ist nicht generell gegen die europäische Integration gerichtet, sondern gegen die vermeintliche Bürokratisierung und die Zentralisierung der EU. 30 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Warum hat die EU ihre Türen für die Staaten aus Mittel- und Osteuropa geöffnet? Erstens entstand nach jahrzehntelangen Aufrufen, vom Kommunismus als autoritärem Modell abzukehren, eine Situation, in der die westeuropäischen Staaten eine moralische Pflicht verspürten, ihre Solidarität mit den sich demokratisierten Ländern aus Mittel- und Osteuropa zu zeigen. Zweitens sind die wirtschaftlichen Möglichkeiten eines erweiterten Europas wesentlich größer. Die Märkte für die westeuropäischen Produkte sind in Mittel- und Osteuropa nicht zu unterschätzen, die billigen Arbeitskräfte und die niedrigen Abgaben sind für die Profitlogik der westlichen Wirtschaft attraktiv. Drittens, hängt die Stabilität des Kontinents nicht nur vom Westen ab, sondern auch vom Osten. Die Heranführung der Staaten Mittel- und Osteuropas bedeutete auch die Verschiebung der Grenze der EU zu Russland. Wären diese Staaten außerhalb der europäischen Integrationsprozesse geblieben, wäre die Möglichkeit einer neuerlichen Beeinflussung durch Russland und auch die Fragwürdigkeit ihrer Demokratisierung und der Öffnung ihrer Wirtschaft geblieben. Die wirtschaftliche Unterstützung der Union ist außerordentlich wichtig für die wirtschaftliche Transformation der Staaten Mittel- und Osteuropas. Südosteuropa ist ein Gemisch von Kulturen und Religionen, das sich an einem Kreuzungspunkt zwischen Europa und Nahost befindet, eine potentielle ethische Konfliktzone. Auf dem Balkanforum in Thessaloniki 2002 erklärte EU-Kommissar Patten: “Die Wahl ist für uns eindeutig: entweder werden wir Stabilität in den Balkan einführen oder der Balkan wird Instabilität nach Europa ausführen” 5 . Welches sind die Argumente für die Akzeptanz des Balkans als Teil der EU? Erstens ist der Balkan ein Teil Europas – geographisch, historisch, politisch und insbesondere kulturell. Zweitens wird die Idee einer einheitlichen Politik von allen politischen Akteuren und von der ganzen Öffentlichkeit befürwortet. Drittens ist die EUPerspektive der wichtigste Motor und das Motiv für positive Entwicklungen in der Region. Sie wird es den nationalistischen Parteien unmöglich machen, die Region zu destabilisieren und den Frieden in der Nachkriegszeit und in den vom Krieg betroffenen Gebieten zu gefährden. Viertens ist die Stabilität Europas ohne einen stabilen Balkan nicht vollständig gewährleistet. Die Heranführung des Balkans an die EU wird die vollständige Einigung der Region bedeuten. Anstelle von Verschiebungen von Grenzen auf dem Balkan ist es notwendig sie aufzuheben – durch den Beitritt in die EU. Romano Prodi erklärte 2003, als Kroatien den Beitrittsantrag stellte: “Erst wenn der Balkan Teil der EU ist, können wir von einer vollständigen EU sprechen. Auf ihren Weg zur EU werden wir die Balkanstaaten nicht alleine lassen. Der europäische Erweiterungskommissar Olli Rehn sagte über das Verhältnis zwischen der Aufnahmefähigkeit der EU und dem Westbalkan: “Der Westbalkan ist überhaupt kein Problem für die Aufnahmefähigkeit der EU”. Der österreichische Kanzler Wolfgang Schüssel meinte: ”Die Versprechen der EU gegenüber Bulgarien, Rumänien und den 5 Speech by Chris Patten, Western Balkans Democracy Forum - Thessaloniki, 11 April 2002. 31 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Balkanstaaten müssen eingehalten werden und die Türkei sollte als Sonderfall betrachtet werden” 6 Die Friedrich Ebert Stiftung und das Sekretariat für europäische Angelegenheiten der Regierung der Republik Mazedonien haben außerordentlichen sinnvoll entschieden, indem sie die Regionalkonferenz zum Thema “Die Werte und die Politik: ein nach Südosten erweitertes Europa – eine Wertegemeinschaft” am 17.06.2006 in Struga veranstaltet haben. An der Konferenz nahmen Politiker, Fachleute aus dem Bereich der Wissenschaft, der Verwaltung und der Medien, Vertreter des NGO-Sektors und der Zivilgesellschaft teil. Davor hatte Herr Dr. Alfred Diebold zwölf Interviews mit herausragenden Persönlichkeiten aus der Welt der Politik, der Wissenschaft, der Kultur, des Journalismus geführt und ihnen Schlüsselfragen über die Werte und die Politik gestellt. Sein Interesse galt der Einstellung seiner Gesprächspartner zu den Grundwerten, zur Frage, welche Persönlichkeiten sie personifizieren, zu den Wertesystemen in der Vergangenheit und der Gegenwart, zur europäischen Idee, zur Bewertung der nationalen Situationen unter dem Aspekt des Charakters und der Qualität des politischen Ideen und Visionen, zur Fähigkeit der Gestaltung und der Entwicklung eines europäischen Wertemodells und zu den Prozessen und den Tendenzen in der EU gegenüber den Anrainerstaaten unter dem Gesichtspunkt der Werte. Die Antworten zeichnen den Werte-Rahmen Südosteuropas. Im Interview mit Herrn Holm Sundhaussen beschreibt dieser die Phänomenologie der EU als einer Gemeinschaft von Staaten und Völkern, die durch gemeinsame Werte integriert sind. Das Gespräch mit Herrn Hans-Jochen Vogel spiegelt den “deutschen” Werterahmen, die sozialdemokratische Ideologie und den individuellen Wertehabitus wider. Die Dimension der Werte ist in der Politik ein vernachlässigter Untersuchungs- und Debattegegenstand, nicht nur in der Region SOE, sondern auch darüber hinaus. Das ist kein Zufall, sondern ist mit der aktuellen politischen Praxis verbunden. Eine Politik ohne Werteessenz ist kein Dialog, sondern ein Monolog. Eine Politik ohne werthaltigen Kern ist keine Tätigkeit, mit welcher sich die Menschen bemühen, ihr Leben zu verbessern und eine gute Gesellschaft zu schaffen. In einer Politik ohne Werteorientierung wird es immer schwieriger sein, Kants Menschen als oberstes Ziel zu erkennen, immer öfter jedoch stoßen wir auf Hobbes Menschen als Wolf. Im Jesuitismus und Machiavellismus kann der zoon politicon nicht zum “ewigen Frieden” sondern zum Zerfall der Zivilisationen führen und zum bellum omnium contra omnes. Die moderne Politik ist eher Macht als Autorität. In Bedingungen eines unendlichen Bedarfs und Wünschen einerseits und begrenzten Ressourcen andererseits manifestiert sie sich als Kampf um die begrenzten Ressourcen, in dem die Macht als Instrument dient (Lasswell) 7 . Erwünscht ist eine Politik als “Kunst des Möglichen”, eine Politik als 6 "Future Enlargement: 'absorption capacity' coming to the fore", 23 March 2006. www.euractive.com. 7 Lasswell, H.: “Politics: Who gets, what, when, How?” New York, McGraw-Hill, 1936. 32 , Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas “ausgeglichenes Handeln”, eine Politik als Ausgleichsinstrument und nicht als Gefahr und als Anwendung von bloßer Gewalt. Die Konferenz war eine seltene Gelegenheit für den Austausch von Meinungen und Standpunkten, die Gegenüberstellung von Argumenten, den Erfahrungsaustausch und eine gemeinsame Suche nach Antworten. Die Gesprächpartner erreichten einen Konsens über zwei Schlüsselfragen. Erstens ist die Qualität der politischen Ideen und Visionen und die Weise ihrer Umsetzung in den politischen Prozeß untrennbar vom Wertesystem, den Einstellungen und Grundüberzeugungen (einschließlich des Glaubens), von den Grundvorstellungen über den Menschen, sein generisches Wesen und seine Rolle. Zweitens ist die EU nicht nur eine politische Gemeinschaft, sondern auch eine Wertegemeinschaft. Demnach können sich die Länder Südosteuropas eine EU-Mitgliedschaft erhoffen, wenn sie ein Wertesystem haben und entwickeln, dass dem europäischen gleicht. Für alle Interviewten, Moderatoren und Diskutanten, aber auch für alle Bürger in der Region ist die europäische Idee ein oberster Wert, “eine Leitidee”, eine Idee die wie keine andere alle politischen Parteien, Ethnien und Religionen vereint. Die EUPerspektive ist eine Motivation für die Schaffung einer Kultur des Friedens, der Toleranz und der Stabilität. In ihr sehen die Menschen aus der Region einen “modus vivendi”. Die Schaffung und die Vitalisierung der europäischen Idee und Vision ist nicht nur Recht und Pflicht der Politiker, sondern aller gesellschaftlichen Gruppen und Subjekte. Die Menschen aus Südosteuropa sehen sich als ehemalige, jetzige und künftige Europäer im geographischen, historischen, politischen und kulturellen Sinne. Der Homo Balkanicus ist ein Homo Europaeus. Die Reintegration der Bürger des Balkans beinhaltet einen Symbolismus: Sie bedeutet die Rückkehr zu den gemeinsamen europäischen Wurzeln, die auch auf ihrem Boden entstanden sind. Das antike Kulturerbe, das Römische Reich, das Christentum, die Aufklärung und die beiden Weltkriege sind die Hauptpunkte und Bindeglieder der Wertesynergie zwischen dem Westen und dem Osten. Das Osmanische Reich und der Kommunismus waren die Ursachen von ihrer Abkehr. Die Grundwerte in der Gesellschaft, aber auch für den Einzelnen sind nach Meinung der Interviewten und der Teilnehmer an der Debatte die Freiheit, der Mut, die Justiz und die Gerechtigkeit, die Solidarität, die Treue und die Orientierung zur Familie, die Menschlichkeit, der Patriotismus, die Gleichberechtigung und der Glaube an Gott. Auf diesen Werten basiert auch die westliche Zivilisation. In Anbetracht des heterogenen ethnischen und religiösen Ambientes hat die Fähigkeit zum Miteinander leben und die friedliche Konfliktlösung eine besondere Bedeutung. Wenn es sich um die nahe Vergangenheit bzw. die Zeit des Realsozialismus und des Kommunismus handelt bestanden trotz der Gemeinsamkeiten wesentliche Unterschiede zwischen Albanien als dem geschlossensten und isoliertesten Staatssystem auf europäischem Boden, Bulgarien als Mitglied des Warschauer Paktes und sowjetischen Satelliten und Mazedonien als Teilrepublik der SFRJ mit einem Modell der Selbstverwaltung in den Binnenbeziehungen, Blockfreiheit in den Außenbeziehungen, 33 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas sowie der „freien“ Kommunikation mit dem Westen. Alle kommunistischen Regimes haben die Freiheit eingeschränkt und die Gleichheit und die Solidarität als Fundamente des Systems hervorgehoben. In den Interviews und in der Diskussion wurde offen und kritisch über die Krise des Wertesystems und die Gefahr eines Wertevakuums in der Übergangsphase gesprochen, was in direktem Zusammenhang steht mit dem Zerfall der Ethik in der Politik, der Präsenz des oligarchischen Elements in der Staatsgewalt, mit dem partitokratischen Modell der Staatsgewalt, mit dem “brain drain”, mit dem Mangel an wirtschaftlicher Demokratie bzw. dem Mangel an Partnerschaft zwischen Kapital und Arbeit, mit der Entideologisierung der Parteien, die sich in den Entscheidungsprozessen auf einen engen Personenkreis konzentrieren, die an den Interessen der Bürger vorbeigehen, mit der Krise des „Leaderships“ und der Delegitimierung der Politiker, mit der politisierten und parteiabhängigen Verwaltung, die auf der Basis von “relations” und nicht aufgrund von “merit” rekrutiert wird, mit einem politisch abhängigen Gerichtswesen, einem nicht authentischen und fragmentierten Nichtregierungssektor, mit bestehendem Druck auf die Medien … Die Öffentlichkeit fordert immer lauter die Bekämpfung des Klientelismus, der Vetternwirtschaft und der organisierten Kriminalität, sie möchte Reformen, wünscht die Europäisierung der wirtschaftlichen, politischen und allgemeinen Prozesse, sie möchte einen “Rechtsstaat” und eine werteorientierte Politik. Gebraucht werden wirkliche Reformatoren, deren politische Aktivität vom “Allgemeinwohl und nicht durch persönliche Interessen” inspiriert ist. Es besteht Bedarf nach einer neuen Generation von Politikern, die vom Ethos, Pathos und Logos geleitet werden. Die realistische Einschätzung der inneren Situation und die Entschlossenheit für Reformen werden die Region europäisieren. Die EU wiederum muss der Gettoisierung der Region und der “Gestaltung” von besonderen, speziellen Kriterien und Formeln für ihre Eurointegration vom Typus der sogenannten “privilegierten Partnerschaft” 8 ein Ende setzen, weil sie dadurch Frustrationen, Apathie, ja sogar Autarkie hervorruft und Relikte der parochialen, patriarchalen und untertänigen Kultur der Politik wiederbelebt und die partizipative untergräbt, wodurch neue Möglichkeiten für Demagogen und Radikale geschaffen werden. In der Region besteht kein EU-Skeptizismus, es gibt auch keine EU-Euphorie, aber es gibt die Wahrnehmung, dass in der EU Balkanophobie und Balkanskeptizismus herrscht. Zusammenfassend kann man sagen, dass es sich in den internationalen Beziehungen bewährt hat, wenn die EU eine starke Motivation für innere Veränderungen in den Ländern hat. Indem sie sich erweiterte, brachte die Union Frieden und Prosperität. Die Welt erinnert sich an die Worte Kennedys: “Ich bin ein Berliner”, die er 1963 8 Für die Idee der Privilegierten Partnerschaft warb die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Erklärung nach dem Treffen mit dem slowenischen Premier, Janez Jansa, auf die Frage nach der europäischen Perspektive des Westbalkans. ( Merkel moots "privileged partnership" for Balkans", 17.03.2006, EUObserver, http://euobserver.com ). 34 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas ausgesprochen hat. Der trotzige Idealismus gegenüber der brutalen Wirklichkeit bedeutete Glauben an die Freiheit, die Demokratie, die Offenheit. Es musste über ein Viertel eines Jahrhunderts nach der Rede Kennedys vergehen, bis die Berliner Mauer fiel. Sie wurde von den Menschen, die sie teilte, niedergerissen. Ihr Fall vereinte eine Stadt, eine Nation, einen Kontinent. Die Grundwerte werden den europäischen Demos tatsächlich vereinen und er besteht auch aus den Menschen Südosteuropas. Aus dem Mosaik der Grundwerte braucht Südosteuropa insbesondere die regionale Solidarität und die Solidarität der EU zur Region. 35 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Holm Sundhaussen: Rückkehr nach Europa? Südosteuropa zwischen Westen und Osten Prof. Dr. Holm Sundhaussen ist Professor für Südosteuropäische Geschichte am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Er ist u.a. Herausgeber der "Forschungen zur osteuropäischen Geschichte", Mitherausgeber der "SüdostForschungen", der "Balkanologischen Veröffentlichungen", der "Österreichischen Osthefte". Das Interview mit Prof. Dr. Holm Sundhaussen führte Dr. Alfred Diebold. Im Europäischen Verfassungsvertrag von 2003 heißt es: Die Werte, auf die sich die Europäische Union gründet, sind: die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet. – Wie sind diese Werte im geschichtlichen Zusammenhang einzuordnen? Sie sind das Ergebnis eines langen historischen Prozesses, der sich über mehrere Epochen – vom Humanismus und der Aufklärung über die Französische Revolution und die 1848er Revolution – erstreckte. Dieser Prozess war verbunden mit einer schrittweisen Aufwertung des Individuums gegenüber der Gemeinschaft und der Trennung von Kirche und Staat. In westlichen Gesellschaften wurden die erwähnten Werte als grundlegende Zielvorstellung akzeptiert und haben während der letzten Jahrzehnte auch in internationale Vereinbarungen (z.B. in die Charta der Vereinten Nationen) Eingang gefunden. Die Tatsache, dass es sich zunächst genuin „westliche“ Werte handelte, dass sie auch im „Westen“ nicht immer realisiert werden und dass sie zum Teil im einem Spannungsverhältnis zu anderen Werten stehen (indem z.B. die Gemeinschaft höher gewertet als das Individuum), hat vielfältige Wertkonflikte ausgelöst, die noch nicht überwunden sind. Es heißt bei Ihnen: ‚Westen’ und ‚Osten’ als Chiffren. Was meinen Sie damit? Ich meine damit, dass ‚Westen’ und ‚Osten’ nicht oder nur sehr bedingt in einem geografischen Sinn zu verstehen sind, sondern dass es sich um mentale Räume handelt, die mit bestimmten (unterschiedlichen) Wertvorstellungen verbunden sind. Es sind schon insofern keine geografischen Begriffe, als wir sowohl im „Westen“ Phänomene oder Strömungen beobachten können, die dezidiert antiwestlich sind (denken Sie etwa an den Nationalsozialismus in Deutschland), wie wir umgekehrt auch im Osten Gruppen und Strömungen finden, die pro-westlich orientiert sind, neben solchen, die sich dezidiert vom „Westen“ absetzen wollen. Kritik am „Westen“ bzw. an seinen Werten und Gesellschaftssystemen tritt in zweierlei Gestalt auf. Einmal als Kritik an der Diskrepanz zwischen Zielvorstellungen und Realität. Dies ist die pro-westliche Variante der Kritik am „Westen“, die auch im „Westen“ als Selbstkritik weit verbreitet ist. Und 36 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas zum anderen als Kritik an den Zielvorstellungen (unabhängig von der Realität). Das ist die anti-westliche Variante der Kritik am „Westen“. Mit der geografischen Zuordnung ist es also nicht getan. Der „Westen“ steht für einen Katalog von Werten, wie sie auch in der Europäischen Konvention und in anderen internationalen Dokumenten ihren Niederschlag gefunden haben, die aber gleichwohl nicht unumstritten sind. Meinen Sie, dass die Werte auf dem Balkan andere sind als zum Beispiel in Großbritannien, Deutschland, Frankreich? Zumindest bis ins 19. Jahrhundert hinein gab es deutliche Unterschiede in den Prioritätssetzungen. In den Balkangesellschaften besaß z.B. die Gemeinschaft – im Unterschied zum „Westen“ - einen deutlichen höheren Stellenwert als das Individuum. Die Aufwertung des Individuums begann mit der Rezeption des Römischen Rechts im Verlauf des 19. Jahrhunderts. In Westeuropa zog sich die juristische Entdeckung des Ichs über mehrere Jahrhunderte hin. In den post-osmanischen Balkanländern dagegen wurde das Römische Recht mit einer Art Schocktherapie eingeführt. Und wie nicht anders zu erwarten war, löste dieser Vorgang heftige Konflikte aus. Deshalb verwundert es nicht, dass es innerhalb des Balkanraums (ähnlich wie auch in Russland) ganz unterschiedliche Lager gab und gibt. Etwa seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind die Eliten in zwei Lager gespalten, die ich grob vereinfacht und etwas plakativ als „Westler“ bzw. „Europäer“ und „Populisten“ bezeichnen möchte. Die „Westler“ strebten eine Modernisierung ihrer Gesellschaften nach westeuropäischem Muster an und sprachen von einer „Rückkehr nach Europa“. Dieses Europaverständnis ist abermals kein geographisches. Denn geographisch haben die Balkanländer immer zu Europa gehört und konnten deshalb nicht nach Europa zurückkehren. Auch in diesem Fall haben wir es also mit einem mentalen Gebilde zu tun. Die „Populisten“ standen den westeuropäischen Mustern skeptisch bis ablehnend gegenüber und beriefen sich auf die „traditionellen“ Werte. Sie empfanden z.B. die Einführung des Römischen Rechts als Angriff auf ihre Vorstellung von Gerechtigkeit und bewerteten den Individualismus als Todesstoß für die Gemeinschaft. Die Rezeption des Römischen Rechts gestaltete sich daher als ein schwieriger und konfliktreicher Prozess, weil sich mentale Strukturen wesentlich langsamer ändern als äußere Umstände, die etwa durch eine Institutionenbildung herbeigeführt werden. Mentale Strukturen und Denkweisen verändern sich nur langsam. In den Verlautbarungen vieler orthodoxer Geistlicher (sei es im Balkanraum, sei es in Russland) wird deutlich, dass sie andere Prioritäten setzen und andere Werte anstreben als der „Westen“. Nach wie vor steht die Gemeinschaft deutlich über dem Individuum. Das Individuum ist nur dann etwas wert, wenn es Teil der Gemeinschaft ist. Es besitzt (fast) keinen Eigenwert. Wird dem Eisernen Vorhang ein religiös-kultureller Vorhang folgen? Da ist im Augenblick noch nicht zu beantworten. Es muss keineswegs so sein, ist allerdings auch nicht ausgeschlossen. Selbst wenn es einen solchen Vorhang geben sollte, was ich nicht hoffe, würden sich die geographischen Abgrenzungen aus der Zeit des Ost-West-Gegensatzes mit den neuen Abgrenzungen nicht decken. Bis 1989 war ja ‚Osteuropa’ eine Art Sammelbegriff für die sozialistischen Länder Osteuropas. Mit dem 37 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Kollaps der realsozialistischen Systeme ist auch die Vielfalt innerhalb Osteuropas wieder deutlich geworden. Die Historiker haben schon früher zwischen drei Teilräumen Osteuropas unterschieden: dem ostmitteleuropäischen Raum (vom Baltikum bis Ungarn und Kroatien), dem engeren Osteuropa (Russland, Weißrussland und die östliche Ukraine) und dem Balkanraum zuzüglich Rumäniens. Ostmitteleuropa war seit dem Mittelalter kulturell und religiös am Westen orientiert. Wirtschaftlich-sozial hat es dagegen andere Wege beschritten als der Westteil Europas. Das engere Osteuropa hat ein anderes Kulturmodell hervorgebracht als West- und Ostmitteleuropa: ein ostkirchliches mit starken byzantinischen Elementen. Der Balkanraum weist insofern noch einmal Besonderheiten auf, als er vier- bis fünfhundert Jahre unter osmanischer Herrschaft stand. Falls es jetzt zu einem kulturellen Vorhang kommt, stellt sich die Frage: Wo würde er verlaufen? Ich denke, der „Westen“ würde sich weiter in den früheren „Osten“ verschieben, während diejenigen Gesellschaften, die stark orthodox geprägt sind und diese Prägung als wichtiges identitätsstiftendes Merkmal betrachten, eventuell einen anderen Weg als der „Westen“ gehen wollen. Sie verstehen die Entwicklung, die in West- und Mitteleuropa seit der Französischen Revolution eingetreten ist, als Irrweg. So wird es ja auch von einigen orthodoxen Theologen formuliert. Ich denke an den serbischen Bischof Nikolaj Velimirović, der – bei einigen – als der größte serbische Theologe des 20. Jahrhunderts gilt und im Jahre 2003 von der serbischen Kirche heilig gesprochen wurde. Er hat in unzähligen Schriften immer wieder gesagt: Der Westen ist einen falschen Weg gegangen, einen Irrweg, den wir vermeiden wollen. Er hat das, was wir als Ziele formulieren und akzeptieren, dezidiert zurückgewiesen: nicht die Praxis oder die Realität, sondern die Ziele selbst! Hat die Kirche dort einen großen Einfluss auf den Staat, so dass sich das auch in der Politik äußert? Das ist sehr schwer zu beantworten. Es bestehen hier noch viele Forschungsdefizite. Nach 1989 haben viele gemeint, dass es überall zu einer Art religiösen „Renaissance“ gekommen sei. Selbst wenn das so ist, bleibt die Frage bestehen: Handelte es sich um eine temporäre Erscheinung, die bereits wieder rückläufig ist, oder um eine langfristige Weichenstellung. Und zum anderen: Wird Religion im Sinne von Frömmigkeit oder als kulturelles Referenzsystem verstanden. Die Religion war über Jahrhunderte hinweg als kultureller Faktor lebendig. Das Bekenntnis zu einer (religiös geprägten) Kultur muss nicht mit Frömmigkeit identisch sein. Auch Atheisten können sich dazu bekennen. In westlichen Gesellschaften gibt es sehr, sehr viele Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass sie auch aus der Kultur, die über Jahrhunderte hinweg religiös konnotiert war, ausgetreten sind. Ähnliche Phänomene gibt es sicher auch in anderen Gesellschaften. Gerade wenn ich an den Balkanraum denke: Dort fungiert die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft in vielen Fällen als eine Art nationaler Ausweis. Ein slawischer Makedonier sagt: Orthodoxie ist untrennbarer Bestandteil der nationalen makedonischen Identität, auch wenn die betreffende Person nie in die Kirche geht und überhaupt nichts mit Religion im Sinn hat. Deshalb muss man trennen zwischen einem Wiederaufleben der Religiosität nach 1989, die auch bedingt war durch die Orientierungsunsicherheit, die mit dem 38 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Systemzusammenbruch eingetreten ist, und Religion als kulturstiftendem Merkmal, die nicht mit Frömmigkeit bzw. Religiosität verbunden sein muss. Das gilt sowohl für die christliche Bevölkerung wie für die muslimische. Von den Albanern z.B., die zu 70 Prozent Muslime sind, heisst es, dass sie nicht besonders fromm sind. Es geht um ihre Kultur, in der sie groß geworden sind. Auch wenn sie keinerlei religiöse Bräuche praktizieren, ist das kulturelle System für sie ein Identifizierungspunkt. Sie sprechen von Werten als Prozess und Projekte. Was genau meinen Sie damit? Ich meine damit, dass man nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt seine Werte erreicht hat und dann bleiben sie stabil. Anders als bei einem Autorennen gibt es in der Entwicklung von Gesellschaften keine Ziellinie, die einmal überschritten wird und danach steht der Sieger fest. Es kommt immer wieder zu Zielkonflikten zwischen verschiedenen Werten, beispielsweise zwischen Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, Rechten der Gemeinschaft und Rechten des Individuums, Privateigentum und sozialer Verantwortung etc. Gerade in den postsozialistischen Ländern ist das ein großes Problem. Aber es ist nicht auf die postsozialistischen Gesellschaften beschränkt. Eine ideale Gesellschaft gibt es nicht. Immer wieder kommt es zu Diskrepanzen zwischen Zielen und Alltagspraxis. Immer wieder muss man danach streben, diese Diskrepanz zu vermindern oder ganz aufzuheben. Und wenn man es an einem Punkt geschafft hat, kann man ziemlich sein, dass sich an einem anderen Punkt neue Diskrepanzen auftun. Das ist ein permanenter Prozess. Welche Rolle spielt dabei die Religion? Gibt es Unterschiede zwischen der östlichen und der westlichen Kirche in Bezug auf Werte? Die gibt es sicher. Ich habe sie vorhin schon kurz angesprochen. Wenn man sich die Schriften der Theologen anschaut, dann wird sehr deutlich, dass die Ostkirche andere Vorstellungen hat als die Westkirchen. In der Orthodoxie steht die Gemeinschaft, steht die Mystik, steht die Ablehnung von rationalen – auch schein-rationalen – Phänomenen im Vordergrund. Das Individuum hat nur eine untergeordnete Rolle. Was orthodoxe Theologen dem Westen vorhalten, ist, dass der Westen einen aus ihrer Sicht übertriebenen Individualismus praktiziert, dass er zu materialistisch ist. Auch die Trennung von Kirche und Staat wird abgelehnt ebenso wie ein gesellschaftlicher Pluralismus etc. Es gibt also deutliche Unterschiede. Sie sagen: Südosteuropa bzw. dem Balkanraum fehle der historische Stallgeruch des Westens. Daraus ergeben sich Identitätsprobleme in der Gegenwart. Wie werden diese sich äußern? Wo gibt es die Unterschiede? Die Unterschiede beruhen einfach auf den unterschiedlichen Entwicklungspfaden, die die Gesellschaften im Westen und die Gesellschaften in Südosteuropa gegangen sind. Uns sind, im Bösen wie im Guten, die Epochen der Reformation, der Gegenreformation, der Aufklärung etc. mehr oder minder vertraut. Es ist etwas, womit wir uns und unsere Vergangenheit identifizieren können. Das fehlt in im Balkanraum. Eine Reformation und Gegenreformation hat es nicht gegeben. Bei der Aufklärung ist es insofern 39 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas problematisch, als wir zwar einzelne, sehr renommierte Aufklärer aus dem Balkanraum kennen, aber sie lassen sich an einer Hand aufzählen. Es war keine breitenwirksame Bewegung, so dass auch in diesem Punkt Unterschiede in den historischen Erfahrungen bestehen. Das, was wir heute als Ideale vertreten, sind Ideale, die im Laufe eines langen Reifungsprozesses in Westeuropa ausgehandelt wurden. Gibt es eine Kontroverse zwischen Slawophilen und Westlern? Ist es ein ‚clash of civilizations’? Kontroversen dieser Art gibt es auf jeden Fall. Wir kennen z.B. die Auseinandersetzung zwischen Slawophilen und Westlern in Russland während des 19. Jahrhunderts ziemlich gut. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion und Russland sind im Verlauf der 90er Jahre wieder ganz ähnliche Lager entstanden, die - natürlich etwas modifiziert - mit den gleichen Argumentationsmustern arbeiten wie die Slawophilen und Westler im 19. Jahrhundert. Was weniger erforscht ist, ist die Tatsache, dass wir vergleichbare Erscheinungen auch im Balkanraum finden. Auch dort sind die Eliten seit Mitte oder spätestens seit dem letzten Drittel/Viertel des 19. Jahrhunderts in zwei Lager gespalten. Und diese Spaltung dauert bis zur Gegenwart an und ist nach 1989 wieder sehr deutlich in die Öffentlichkeit getreten. Wenn ich etwa an die vielen Diskussionen in den 90er Jahren im ehemaligen Jugoslawien denke – das war mit Händen zu greifen. Oder wenn ich an an Belgrad denke: Eine Stadt, deren Elite sehr gespalten ist. Auf der einen Seite Leute, die weltoffen sind, die sich für die Rechte von Einzelnen und von Minderheiten (ethnischen, religiösen, sexuellen Minderheiten) einsetzen, und auf der anderen Seite Leute, die Individualismus, Pluralismus, Toleranz, Säkularisierung etc. als frontalen Angriff und Bedrohung ihrer Gemeinschaft interpretieren und die Verbindung mit der – westlich geprägten – Außenwelt um jeden Preis vermeiden möchten. Die EU-Erweiterung ist eine politische Herausforderung. Kulturen treffen aufeinander. Wie können sich die Staaten diesen Herausforderungen stellen? Wir brauchen einen sehr viel intensiveren Dialog, und zwar auf beiden Seiten, als wir ihn bisher hatten. Das heißt, dass bei der Südost-Erweiterung der EU nicht allein nur auf die politischen Systeme, die Wirtschaftsysteme und die Rechtssysteme zu achten ist, sondern auch auf die Aspekte der kulturellen Identität und auf Unterschiede in den Wertsystemen. Man hat das in der EU lange Zeit eher vernachlässigt. Vielleicht war es bisher auch nicht so notwendig, denn bis vor kurzem gab es nur einen Balkanstaat in der EU (Griechenland), zu dem jetzt noch Zypern gekommen ist. Aber mit dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens sind es schon vier Staaten. Und auch die Länder, die man jetzt unter dem Begriff „Westbalkan“ zusammenfasst, streben den Beitritt an. Diese Entwicklung kann und soll man nicht aufhalten. Nach dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien ist der restliche Balkan praktisch umzingelt von EU-Staaten; das kann kein sinnvoller Zustand sein. Ein Land wie die Schweiz kann damit wunderbar leben, weil es ein wohlhabender, ein reicher Staat ist, der sich denselben Werten verpflichtet fühlt wie die EU-Mitglieder. Die verbleibenden Staaten im Westbalkanraum können mit einer solchen Situation dagegen nicht sinnvoll leben. Es muss deshalb auch in unserem Interesse sein, diesen Erweiterungsprozess zu Ende zu führen und die jetzt noch nicht 40 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas beitretenden Staaten im Balkanraum möglichst bald aufzunehmen. Aber damit ist auch die Notwendigkeit verbunden, dass wir viel intensiver nicht nur über unsere Gemeinsamkeiten und die Implementierung der Kopenhagener Kriterien diskutieren, sondern auch über unsere Unterschiede, gerade im kulturellen Bereich. Neben den Kopenhagener Kriterien müssen wir auch einen wechselseitigen Lernprozess implementieren und uns darüber verständigen, was eigentlich „europäische“ Werte sind und wie die EU als Gemeinschaft zusammengehalten werden kann. Die Mehrheit der Balkanbevölkerung ist orthodox. Daneben gibt es 8 Millionen Muslime auf dem Balkan. Sind die Werte der orthodoxen und muslimischen Gesellschaften kompatibel mit den europäischen Werten, so wie sie im Verfassungsvertrag beschrieben sind? Das kann man nicht generell beantworten. Es gibt sowohl in den orthodoxen wie auch in den muslimischen Glaubensgemeinschaften einen großen Teil von Menschen, die kein Problem mit den „europäischen Werten“ haben, die mit diesen westlichen Werten nicht nur leben können, sondern sie auch aus eigener Überzeugung akzeptieren. Es gibt andere Gruppen, die sich damit schwer tun oder diese Werte dezidiert ablehnen. Solche „fundamentalistischen“ Gruppierungen gibt es ja auch im Westen. Wenn ich z.B. an die Vereinigten Staaten denke, - auch da gibt es einen christlichen Fundamentalismus, der nicht jedermanns Sache ist. Und umgekehrt finden wir natürlich auch bei den orthodoxen und muslimischen Glaubensgemeinschaften Gruppierungen, deren Vorstellungen mit den Werten, die wir hier vertreten, nicht ohne weiteres kompatibel sind. Interessant ist der Balkan-Islam. Die Frage, ob er etwas Besonderes ist, ob er eine Variante des Islams ist, die sich sowohl vom Islam in anderen europäischen Ländern unterscheidet als auch vom Islam in der außereuropäischen Welt, lässt sich im Augenblick noch nicht eindeutig beantworten. Es gibt eine ganz Reihe von Indizien dafür, dass es tatsächlich einen spezifischen Balkan-Islam gibt. Die Balkan-Muslime unterscheiden sich zum einen von den relativ rezenten muslimischen Einwanderern in Westeuropa dadurch, dass sie bereits seit Generationen in der Region leben, dass sie sehr lange Kontakte mit der christlichen Nachbarbevölkerung hatten, dass sie teilweise selber oder ihre Vorfahren aus dieser Bevölkerung stammen, mitunter dieselbe Sprache sprechen und sich auch in ihrem Brauchtum oft nur wenig von den christlichen Nachbarn unterscheiden. Das könnte dafür sprechen, dass sich der Islam im Balkanraum in vielerlei Hinsicht vom Islam der rezenten muslimischen Einwanderer in Westeuropa auf der einen Seite oder vom Islam in den arabischen Ländern oder in Südostasien auf der anderen Seite unterscheidet und dass die Bezeichnung „EuroIslam“ vielleicht besser zu den Muslimen im Balkanraum als zu denen in Westeuropa passt. Wie das Christentum ist jedenfalls auch der Islam keine Einheit. Und erst rechte keine statische Einheit. Vielen herzlichen Dank. 41 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Interviews Die Interviews in Albanien führten Dr. Alexander Dhima und Dr. Alfred Diebold, die Interviews in Bulgarien Arnold Wehmhörner und Dr. Alfred Diebold und die Interviews in Mazedonien Stefan Dehnert und Dr. Alfred Diebold. Albanien Rexhep Mejdani, ehem. Staatspräsident der Republik Albanien Rexhep Kemal Mejdani war von 1997 bis 2002 Staatspräsident Albaniens. Nach seinem Studium der Physik und Mathematik in Tirana und Paris, wo er 1976 promovierte, war er bis 1996 Professor an der Universität Tirana. 1991 Vorsitzender der staatlichen Wahlkommission und seit 1992 für die Menschenrechte engagiert, wurde Mejdani auf dem Reformparteitag der Sozialistischen Partei Albaniens im August 1996 zu deren Generalsekretär ernannt. 1997 kam er bei Neuwahlen ins Parlament und wurde von diesem zum Staatspräsidenten gewählt. Bei seiner Kandidatur für den Vorsitz der Sozialistischen Partei 2003 unterlag er dem bisherigen Vorsitzenden und Premierminister Fatos Nano. Herr Mejdani, können Sie als ehemaliger Präsident der Republik Albanien und als Wissenschaftler beschreiben, welche Werte für Sie wichtig sind? Wie sehen Sie sich selbst, was macht Ihre Persönlichkeit aus? Wichtig ist mir, bescheiden und ruhig zu sein und den anderen mit einem gewissen Wohlwollen entgegenzutreten. Ich würde mich als bürgerlich und intellektuell bezeichnen, als jemanden, der daran arbeitet, für die Lösung von Problemen institutionell und gesetzlich verankerte Wege zu bahnen und eine neue „Philosophie“ zu etablieren, deren Fundament die Achtung der Freiheits- und Menschenrechte und die Solidarität zwischen den Menschen ist. Hinsichtlich meines konkreten Beitrags als Politiker und ehemaliger Präsident der Republik Albanien könnte ich auf Prof. Dr. Nino Boccara verweisen, der mein Doktorvater in Frankreich war. Als ich ihn Jahre später traf und fragte, wie er seine eigene wichtige Arbeit als Wissenschaftler und Pädagoge einschätze, antwortete er ohne Zögern: „Ich habe nur einige Lücken gefüllt. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte sie zweifelsohne ein anderer ergänzt ...“ Diese Antwort hat mir immer gefallen, sie zeugt von einem bescheidenen, aber freien Geist und von großer Schaffenskraft. Ich möchte daher auf ihre Frage hin nicht länger in Selbstbeschreibungen verfallen, sondern eben diese Antwort geben. Sie haben ja, bevor Sie in die Politik gegangen sind, lange Jahre als Wissenschaftler gearbeitet. Welche Ideale waren für Sie prägend? Hat Sie bei der Entwicklung Ihrer Person und Ihrer Werte eine historische Persönlichkeit oder ein einheimischer oder ausländischer Politiker besonders beeinflusst? 42 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Wie Sie schon sagten, bin ich in der Politik erst spät präsent gewesen, obwohl ich als Intellektueller schon seit meiner Jugendzeit durch die Teilnahme an zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen indirekt einen Beitrag geleistet habe. Mein erstes politisches Amt, der Vorsitz der Zentralen Wahlkommission bei den ersten freien Wahlen 1991, wurde mir gerade als neutrale Person aus dem Bereich der Hochschule angetragen. Und fünf Jahre später nach der manipulierten Wahl vom 26. Mai 1996, wurde ich – erstmals in meinem Leben – Mitglied einer Partei, der Sozialistischen Partei, die damals die größte Oppositionspartei war. Mein Leben war also lange Zeit dasjenige eines Akademikers, und es waren entsprechend dieses akademische Milieu und seine Geistesgrößen und Vorbilder wie etwa Aristoteles, Galilei, Newton oder Einstein, die mich, meine Interessen und meine intellektuell-humanitären Wertvorstellungen prägten. Hier verbindet sich Idealismus mit solidarischer Zusammenarbeit, mit Internationalismus und mit dem Wunsch, die Welt kennen zu lernen und der Menschheit zu dienen, indem man Wissen produziert und zu ihrer Formung und Emanzipation beiträgt. Aber gab es nicht bestimmte politische Persönlichkeiten, die Sie gerade als albanischen Politiker beeinflusst haben? Natürlich habe ich auch viel über große politische Führer gelesen, auch über politischphilosophische Größen wie Sartre oder Havel. Als Politiker bin ich vielen wichtigen Gestalten der Gegenwart persönlich begegnet, und mit anderen arbeite ich noch heute im Rahmen des Madrider Clubs, einer Organisation ehemaliger Staats- und Regierungschefs, zusammen. Sie alle haben während ihrer Regierungszeit eine klare demokratische Haltung demonstriert. Clinton schätze ich besonders, ich habe geradezu eine Schwäche für ihn und die Art, wie er Politik macht. Das hat wahrscheinlich auch damit zu tun, das Clinton und die USAdministration in herausragender Weise zur Zerschlagung der blutrünstigen Kriegsmaschinerie Milošević’ beigetragen haben, indem sie seine Politik der ethnischen Säuberung und des Genozids am albanischen Volk im Kosovo und anderer Völker des ehemaligen Jugoslawien gestoppt haben. Von den albanischen Persönlichkeiten schätze ich besonders Gjergj Kastriota Skanderbeg 9 als unbeugsamen Verteidiger der albanischen Gebiete und des Christentums gegen die osmanischen Streitkräfte. Hohen Respekt habe ich vor dem „Patriarchen“ der Unabhängigkeit, dem Patrioten Ismail Qemali 10 , oder vor dem 9 Skanderbeg, eigentlich Gjergj Kastriota (1405-1468), albanischer Feldherr und Nationalheld, der, obwohl er zunächst am Hof des Sultans in Adrianopel zum Islam übertrat und dort seine militärische Ausbildung erhielt, die Einigung Albaniens und den Widerstand gegen die Osmanen organisierte. 10 Ismail Qemali (1844-1919), albanischer Politiker; spielte eine maßgebliche Rolle bei der Ausrufung der Unabhängigkeit Albaniens vom Osmanischen Reich 1912 und war Vorsitzender der provisorischen ersten Regierung des Landes; nach seinem Rücktritt 1914 verließ er Albanien und lebte bis zu seinem Tod in Italien. 43 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Ministerpräsidenten Fan Noli 11 . Einen seltenen Stolz ruft in mir auch die bedeutende Humanistin weltweiten Ausmaßes, die große Albanerin Mutter Teresa 12 hervor. Aber sie ist so einzigartig, so ideal wie unerreichbar. Das waren nun ganz verschiedene Persönlichkeiten. Sonst jemanden als mein politisches Vorbild zu benennen, fällt mir schwer – wohl auch deshalb, weil Ideale in der Politik heutzutage oft als naiv oder als jeglichem Erfolg abträglich angesehen werden. Sie haben Freiheit und Solidarität erwähnt. Wenn Sie nun die Gesellschaft Ihres Landes ansehen – haben Sie da nicht das Gefühl, dass jeder zumindest in erster Linie nur an sich selbst denkt? Ist dies eine Erscheinung des umfassenden Wandels und hat damit zu tun, dass es im Kommunismus an Freiheit fehlte, oder haben wir hier ein spezifisches Charakteristikum der Bevölkerung des Balkans, der Bevölkerung Albaniens? Wie die anderen Balkanvölker auch, hat das albanische Volk unter ständiger Besatzung oder inneren Auseinandersetzungen gelitten, die von ausländischen Mächten und den großen Clans Albaniens angefacht wurden. Auch die Zeit der kommunistischen Diktatur hat zu einer beträchtlichen Erschöpfung geführt, wenngleich neben den ideologischen und geistigen Deformierungen auch große, heute noch genutzte Projekte etwa in der Energiebranche realisiert wurden – all dies dank der Arbeit und der Opfer des ganzen albanischen Volkes. Blickt man in die Geschichte der Albaner, so sieht man sofort, dass das Gefühl der Freiheit und der Solidarität auch in schwierigen und von Armut geprägten Zeiten von Bedeutung war. Seinen Höhepunkt erreichte es während der Kosovokrise, als die albanische Bevölkerung sich innerhalb von zwei Wochen um 600.000 albanische Flüchtlinge vergrößerte, die mit Waffengewalt, Massenmord und Zerstörungen aus ihren angestammten Gebieten im Kosovo vertrieben wurden. Die albanischen Familien, welche die Brüder und Schwestern aus dem Kosovo bereitwillig bei sich in ihrem eigenen Heim aufnahmen, haben die Ehre und Würde des albanischen Staates bewahrt. Auf eine solche Solidarität stoßen wir aber auch während des Zweiten Weltkriegs, als kein Jude, der in Albanien lebte, den Nazis übergeben wurde. Obwohl sie ihren Kopf riskierten, versteckten viele albanische Familien Juden, die damals in Albanien lebten, in ihrem Haus. Damit ist Albanien einmalig in der Weltgeschichte. Diese beiden Beispiele beweisen, dass Freiheit und Solidarität dem albanischen Geist in seinen tieferen Schichten inhärent sind. Auf den ersten Blick scheint es, als wären sie vergessen worden oder in tiefen Schlaf versunken. Aber wenn eine Situation 11 Teophan (Fan) Stylian Noli (1882-1965), orthodoxer albanischer Bischof und Politiker; für die albanische Unabhängigkeit und deren Anerkennung u.a. in den USA engagiert; nach dem Sturz Ahmed Zogus 1924 Ministerpräsident, wurde aber im selben Jahr wieder gestürzt und opponierte aus dem Exil dem sich 1928 zum König erklärenden Zogu. Während des Zweiten Weltkriegs hatte Noli Kontakt zu den albanischen Kommunisten unter Enver Hoxha. 12 Mutter Teresa, eigentlich Agnes Gonxha Bojaxhio (1910-1997); die katholische Ordensgründerin in Indien war albanischer Herkunft und in Skopje geboren. 44 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas bedeutenden Ausmaßes wie die beiden erwähnten auftritt, werden diese Elemente in ihrer ganzen historischen Vitalität wieder auftauchen. Gegenwärtig kann man sich aber nicht des Eindrucks erwehren, dass jeder in erster Linie nur an sich selbst denkt. Hat dies mit den politischen und gesellschaftlichen Umständen unserer Zeit zu tun? Man kann nicht leugnen, dass dieses Verhalten in der ein oder anderen Form jetzt während dieser politischen Übergangsphase zutage tritt. Genauso wenig kann man leugnen, dass auch die westliche Welt an einer Armut an Liebe, wie Mutter Teresa betonte, leidet. Für das postkommunistische Albanien gibt es dafür jedoch einige Gründe. Zum einen haben die in Isolation lebenden Albaner die westliche Welt, die sie nur von schönen Ansichtskarten oder Fernsehbildern kannten, nicht wenig idealisiert. Der Westen galt ihnen als ein Paradies aus Wohlstand, Glück und Geld. Hungrig nach diesem Wohlstand und den westlichen Lebensstandards wollten sie ihre eigene arme Welt quasi über Nacht verändern. Dabei vergaßen sie die Nachbarn, die Freunde oder in manchen Fällen auch die Familie. Aber dies lässt sich nicht verallgemeinern. So sind viele ernste soziale Probleme dank der 600 bis 700 Millionen Dollar im Jahr, die albanische Emigranten aus den westlichen Ländern ihren Familien in Albanien zukommen lassen, weniger schmerzhaft. Um die Bedeutung dieses Betrags für Albanien zu verdeutlichen: unser Staatshaushalt beträgt wenig mehr als das Doppelte. Zweitens wurde die Umgestaltung der albanischen Wirtschaft von einer völlig zentralisierten zu einer freien Wirtschaft anfangs wild und ohne Regeln, allerdings mit einem ausgeprägt populistischen Geist in Angriff genommen. Die unmittelbare Folge war, dass die vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen auseinander brachen und menschliche und humanitäre Werte entleert wurden, da alle kopflos dem schnellen Gewinn hinterherrannten. Privatisierungen waren notwendig, wurden aber ohne feste Strategie und ohne Perspektiven nach manchmal rein politischen Kriterien durchgeführt, was viele Tausende von Menschen arbeitslos machte. In diesem „grausamen“ Kapitalismus tauchten Menschen auf der gesellschaftlichen Bühne auf, die nicht die nötigen Fähigkeiten, aber einen abenteuerlichen Mut besaßen und sich oft mit rein spekulierender Absicht in die Welt von Kapital und Gewinn stürzten. Steuerflucht und Korruption sind nach und nach zu festen Begleitumständen des Reformprozesses geworden, was den Konzepten von Freiheit und Solidarität schwere Schläge versetzt. Drittens haben auf diese „Gefühlsentwicklung“ auch Migrationsprozesse eingewirkt, die für eine rasche und solidarische Harmonisierung der albanischen Gesellschaft eine zusätzliche Schwierigkeit bedeuten. In einigen Fällen wie Tirana oder Durrës reichten die städtischen Kapazitäten nicht aus, um die plötzliche Zuwanderung aus ländlichen Regionen zu bewältigen. Wir dürfen nicht vergessen, dass am Ende der kommunistischen Periode die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten doppelt so groß war wie die in den Städten, während sie heute etwa gleich ist. Beides zeigt, dass die Migration kein ausgeglichener Prozess war, und die Verhältnisse sind weit von denjenigen in den entwickeltsten europäischen Ländern entfernt. Die konzeptionelle 45 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Frage nach Freiheit und Solidarität hängt eng mit der möglichst raschen Anpassung der Städte und mit der richtigen „Absorbierung“ des Migrationsprozesses zusammen. Sie haben eine Reihe struktureller und mentaler Umstände genannt, die zu dem Phänomen führen, dass sich zunehmend eine egoistische Verhaltensweise und ein Rückgang der Solidarität in der albanischen Gesellschaft ausbreiten. Inwiefern steht dies mit dem Verhältnis Albaniens zu anderen Ländern in Zusammenhang? Welche Rolle spielt dieses Verhältnis? Tatsächlich lässt sich hier eine Einwirkung beobachten, und sie hat mit dem zu tun, was man als Minderwertigkeitskomplex bezeichnen könnte. Unsere Geschichte und die Entwicklung unserer Nationalität ist von alters her bis heute gleichsam durch eine Spirale heroischer wie ungerechterweise tragischer Ereignisse hindurchgegangen. Aus dieser Geschichte mit ihren ständigen Besatzungen und Revolten, mit opferbereiten Aufständen und Kriegen für Freiheit und Unabhängigkeit ließe sich vieles herausgreifen, um in der freiheits- und friedliebenden, tapferen und stolzen albanischen Bevölkerung ihren Minderwertigkeitskomplex schon im Ansatz zu verdrängen. Leider gibt es dieses Minderwertigkeitsgefühl auch heute noch nach den vielen Jahren unserer Anstrengungen, eine freie und demokratische Entwicklung in einem völlig neuen und offenen System herbeizuführen. Es gibt ihn als Ausdruck verschiedenster Interessen, und besonders ausgeprägt ist er gegenüber Ausländern im Bereich der Politik, der Machterhaltung und der Machtübernahme. Aber immer mehr taucht ein freier albanischer Bürger auf. Trotz unserer derzeitigen Schwierigkeiten der Übergangsphase sind diese Bürger und auch gerade die albanischen Jugendlichen, die häufig im Ausland studieren, die Künstler, Sportler, Wissenschaftler und Intellektuellen, die Experten jeglichen Fachbereichs und die erfolgreichen albanischen Geschäftsleute mit ihren vielfältigeren und dynamischeren internationalen Kontakten nunmehr Partner und seriöse Konkurrenz bis hin zur Überlegenheit. Dank ihrer Fähigkeiten, Kapazitäten, ihres Talents, ihrer Arbeit, ihres Mutes, ihrer Moral und Ehrlichkeit haben sie den „historischen“ Minderwertigkeitskomplex gegenüber Fremden weitgehend abgelegt und erscheinen immer selbständiger und beruflich gleichberechtigt und damit auch als freie und solidarische Bürger. In einem offenen System sind solche Möglichkeiten auch im politischen Bereich und in vielen der von ihm abhängigen Institutionen vorhanden. Man muss sich nur auch hier von diesem Minderwertigkeitsgefühl endgültig trennen, um im Rahmen eines würdigen Miteinanders und einer wechselseitig anerkannten Souveränität als echter und freier Partner zu handeln. Sonst wird es nicht gelingen, unter den neuen Bedingungen auch im „Schoß des Volkes“ jene positiven historischen Werte wiederherzustellen, für die Freiheit und Solidarität wesentliche Bestandteile waren und sind. Sie gehören der Sozialistischen Partei und damit einer postkommunistischen Partei an. Gibt es aus der kommunistischen Zeit auch positive Werte, die bei der Veränderung der Partei und der Entwicklung ihres Programms geholfen haben? 46 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Wie bereits gesagt, bin ich 1996 zum ersten Mal in meinem Leben Parteimitglied geworden. Ich trat der damals oppositionellen Sozialistischen Partei bei, um einen eigenen bescheidenen Beitrag zu leisten, dem albanischen Demokratisierungsprozess in die richtige Richtung und zu einer gewissen Normalisierung zu verhelfen. Die Sozialistische Partei hat in den Anfängen der Transition tatsächlich mehr als die anderen, neu gegründeten Parteien die politische Struktur der Partei der Arbeit geerbt. Aber ehemalige, darunter auch führende Mitglieder der Partei der Arbeit sind ebenso in allen anderen Parteien zu finden. Trotz der gemeinsamen Herkunft aus der „Mutterpartei“ wollen sich viele dieser Exkommunisten über Nacht in „Antikommunisten“ verwandelt haben. Zum Glück blieb mir dies erspart, weil ich vorher kein Parteimitglied gewesen war. Es ist schwierig, heute über die Werte einer früheren Staatspartei rein ideologischer Natur, wie sie die Partei der Arbeit war, zu sprechen. Aber auf der individuellen Ebene muss man den ausgeprägten Idealismus und die Ergebenheit zahlreicher Kommunisten der Basis für ihre Aufgaben im Gegensatz zur Spitze der Partei hervorheben. Aber dennoch sind Sie bei der Sozialistischen Partei gelandet. Warum gerade bei dieser? Welche Umstände führten dazu, dass Sie sich nicht einer anderen politischen Formation anschlossen? Nun, gemessen an meiner Familienherkunft sollte meine politische Zugehörigkeit mehr rechts als links sein. Andererseits wuchs ich im Universitätsmilieu auf, das sich in der Regel durch eine klare soziale Neigung auszeichnet. All dies lag meiner Weltanschauung näher, und so fühle ich mich eher zu einer modernen sozialistischen oder genauer sozialdemokratischen Partei hingezogen. Als ich beitrat, gab es zudem innerhalb kurzer Zeit Veränderungen hinsichtlich des Programms, der Organisations- und der Führungsstruktur der Partei. Hier wehte ein frischer Wind, der die Partei mit Reformen allmählich dem Ziel einer sozialdemokratischen Partei europäischen Typs näher brachte. Rückblickend kann ich sagen, dass sich vieles zum Positiven entwickelt hat, aber es gibt immer noch viele Dinge, die verändert werden sollten. Die Sozialistische Partei hat sich also noch nicht weit genug verändert? Wo sehen Sie Probleme, wo weiteren Handlungsbedarf, damit sie zu einer modernen sozialdemokratische Partei wird? Für eine Vertiefung dieser Umwandlung muss der Blick auf die Veränderungen in der Wählerschaft der Partei gerichtet werden. Ich bin der Überzeugung, dass angesichts der aktuellen Situation als Oppositionspartei nach acht Jahren Regierungszeit die Reformierung nur vorangebracht werden kann, wenn es gelingt, die Kommunikation zwischen Parteimitgliedern und Sympathisanten zu normalisieren und ein gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, in der Partei und ihren Leitungsstrukturen wieder einen moralischen Standpunkt zu beleben und für eine Rückkehr des „sozialistischen Geistes“ zu sorgen. Wenn wir nicht einige Personen, die als korrumpiert angesehen werden oder über die es zumindest solche Gerüchte gibt, für eine gewisse Zeit der Reflexion und der Selbstüberprüfung von den Parteistrukturen fernhalten, werden wir unser Image nur 47 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas langsam verändern und die Unterstützung und das Vertrauen im Volk nicht mehr wiedergewinnen können. Dadurch würden wir die Bereicherung durch den Beitritt ehrlicher und idealistischer Menschen, fähiger Intellektueller oder talentierter Jugendlicher hemmen. Deshalb muss im Moment der Kampf gegen die Korruption in Theorie und Praxis, als Mittel der Bereicherung, der Einflussnahme und der Durchsetzung eigener Interessen, an erster Stelle stehen und zum tragenden Element werden; es gilt, die Parteireihen zu säubern. Auf dem Parteitag der Sozialistischen Partei im Dezember 2003 wie auch im Oktober 2005 war einer meiner wichtigsten Vorschläge, innerhalb der Partei Fraktionen zuzulassen – nicht im klassischen Sinne, sondern als Vertretung von Alternativen, indem Kandidaten gemäß den Listen ihrer Unterstützer Zugang zu den Leitungsgremien der Partei bekämen. Leider wurde dieser Vorschlag 2003 nicht zuletzt wegen der schwierigen Situation, in der sich die Partei befand, nicht verstanden, und er wurde erst auf dem Wahlparteitag im Mai 2005, jetzt unter Friedensbedingungen, angenommen. Freilich konnte er nun nicht mehr im selben Maße zur Rettung der Partei beitragen wie noch 2003, aber trotzdem handelte es sich um einen konzeptionellen Fortschritt, der die demokratische Reformierung der Sozialistischen Partei, die Repräsentation von Alternativen in ihrer Führungsstruktur, ja letztlich überhaupt erst den Zusammenhalt einer großen Partei ermöglicht. Aber mit Erstaunen muss ich beobachten, wie diese Alternativvertretung auch heute noch nicht praktisch umgesetzt ist und man sie nicht als einen Faktor von Kohäsion und Pluralität, sondern der Spaltung darstellt. Hier taucht das veraltete, einst von der Partei der Arbeit kultivierte Konzept der „absoluten Uniformität“ wieder auf. Ich glaube weiterhin, dass durch gewählte Repräsentanten auf allen Parteiebenen weniger eine Machtausübung, sondern ein Kräfteausgleich, eine Institutionalisierung der Pluralität ohne theoretische oder metaphysische Vorbedingungen stattfinden wird, gleichgültig, ob die Partei sich in der Regierung oder der Opposition befindet. Um die derzeitige Schwäche der Partei zu überwinden, halte ich inzwischen zwei andere, eng miteinander verbundene Prinzipien für unverzichtbar: Konsens und Kollegialität. Gelingt es, diese beiden hervorzuheben und die Beschlussfassung auf sie zu gründen, werden wir „zur richtigen Zeit und am richtigen Ort“ zu wertvollen politischen Lösungen gelangen. Dies ist, wie ich schon 2003 gesagt habe, genauso wichtig wie die Annahme der Alternativvertretung. Dies bedeutet, dass die Sozialistische Partei sich noch nicht weit genug von der kommunistischen Partei der Arbeit entfernt, von ihrem Erbe getrennt hat, und Sie scheinen hierin große Probleme zu sehen. Ich meine, eine falsche und der Demokratie abträgliche Reminiszenz an die Idee der absoluten Einheit in der Führung der Partei zu erkennen. Wird diese Idee erneut zum politischen Prinzip erhoben, so wird dies größere Fehler und Schwierigkeiten, ja Gefahren für die Zukunft nach sich ziehen. Absolute Uniformität läuft der Kollegialität, dem Kardinalprinzip demokratischer Parteien und ihres Zusammenhalts, zuwider. Die aktuelle und auch andere Situationen können nur bewältigt werden, wenn Kollegialität 48 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas in die gesamte Parteistruktur eingeführt wird und dem theoretischen wie praktischen Unitarismus der Parteispitze Widerstand leistet. Angesichts der heutigen gesellschaftlichen Entwicklung muss das einst auf eine autokratische Einförmigkeit hinauslaufende Argument der inneren Einheit der Partei über Bord geworfen werden. Einheit muss sich aus der Debatte zwischen den unterschiedlichen Alternativen und der Konvergenz ihrer Lösung ergeben. Freiheit und Solidarität in der Partei müssen als Solidarität in der Diversität und nicht als Solidarität in Uniformität, als Freiheit der Öffnung, nicht als Freiheit der Abschließung konzipiert werden. Sie sind ein ethisches Prinzip und umfassen gegenseitiges Vertrauen, gegenseitige Achtung, eine Verständigung in Würde, Toleranz und den Kompromiss. Befehlsstrukturen dürfen nicht mehr dafür herhalten, abweichende Meinungen in der Partei, die für den inneren Demokratisierungsprozess wesentlich sind, auszuschalten. Dies entspricht auch dem Konzept einer Partei, die sich nicht auf Ideologie, sondern auf Wähler stützt und daher eine freie Vereinigung gesellschaftlicher Gruppen und freier und gleichberechtigter Menschen ist. Sonst gewinnen wir keine ehrlichen und idealistischen Menschen, keine der für die Entwicklung des Denkens in der Partei so wichtigen Intellektuellen. Ebenso muss die Vertretung der Frauen und besonders der Jugend gestärkt werden, sind es doch die Jugendlichen, welche die zukünftigen Mitglieder jeder demokratischen Partei stellen. Sie haben viel über alte Parteistrukturen gesprochen, die Ihnen als Hindernis für eine demokratische Entwicklung erscheinen. Aber gibt es auch etwas aus der Zeit des Kommunismus, das Ihnen heute fehlt? Im Kommunismus als politischem System und als politischer Praxis – nicht als Theorie und Idee – lässt sich nur schwer so etwas finden, vor allem dann, wenn man die orthodoxe Variante des Kommunismus in Albanien betrachtet. Aber während meiner Zeit an der Universität, als Student wie als Wissenschaftler, waren wir mit Eifer bei unserer gemeinsamen Arbeit. Wir waren nicht wirklich frei, aber wir wurden von der Gesellschaft geschätzt und geachtet, und untereinander waren wir solidarisch und halfen uns gegenseitig. Ohne Zweifel leisteten wir damals, auch unter jenen schwierigen Bedingungen, eine würdige Arbeit, es gab eine sehr qualifizierte Ausbildung in beruflicher und technischer Hinsicht, die viele Leitungs- und Fachkräfte, die Pädagogen und Wissenschaftler hervorbrachte, die nicht nur in Albanien, sondern in der ganzen Welt arbeiten und sich durch ein hohes Niveau auszeichnen, auf das wir heute stolz sind. Leider sind viele dieser positiven Aspekte, wie ich aus Kontakten mit Universitätskollegen weiß, untergegangen. Ihr Land wünscht, Mitglied der EU zu werden. Haben Sie das Gefühl, dass die „alten“ Staaten der EU während des Beitrittprozesses Ihr Land durch Beschlüsse zurückgesetzt haben? Gab es Beschlüsse, die sich schlecht auf Ihr Land ausgewirkt haben? Der Beitritt ist die einzige Lösung, um in unserer globalen Welt zu überleben und voranzukommen. Gewiss gibt es auch nachteilige Auswirkungen, es werden rasch ernsthafte Probleme für die einheimische Produktion und Geschäftstätigkeit entstehen, 49 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas und dies nicht nur für uns, sondern auch für viele mächtige Staaten Europas. Aber durch die Integration in die EU verwirklichen alle Albaner, sei es in Albanien, im Kosovo, in Mazedonien oder in Montenegro, ihren Traum der eigenen Integration. Ungeachtet der Probleme, die bei der Zustimmung zur Europäischen Verfassung zutage gekommen sind, zeigt sich doch, dass sich das neue Europa von heute von Lissabon bis zu den baltischen Ländern erstreckt, was eine Errungenschaft von außergewöhnlichem politischen Wert ist. Aber dies trifft natürlich nicht auf die Länder zu, die außerhalb der Europäischen Union geblieben sind. Wenn die 25 Mitgliedsländer sich abschließen, werden sich die konkreten Sorgen der anderen Länder einschließlich Albaniens weiter vermehren. Beispielsweise wird für diese Länder außerhalb der Union die Bewegungsfreiheit noch problematischer, diskriminierender und eingeschränkter, besonders für die Bewohner des westlichen Balkans. Große Probleme werden aber auch auf die neuen Mitglieder zukommen. Dieser gewaltige Erweiterungsprozess mit seinem gemeinsamen Markt von nun etwa 450 Millionen Einwohnern erfordert zwangsläufig eine bestimmtes Niveau an wirtschaftlicher und institutioneller Homogenisierung. Es wird zu Auseinandersetzungen sowohl in den „alten“ wie in den neuen Mitgliedsländern kommen, und auch zwischen diesen beiden werden sie stattfinden. Damit bleibt als dringende Frage, wie dieser mächtige Block für die Völker fassbar und zu einer für sie günstigen Realität werden kann, wie ein Vorbild für die anderen Völker. Wie wird die Union zu einem Akteur, der auf der globalen Bühne mit starker politischer wie ökonomischer Stimme spricht? Es ist nur natürlich, dass der Weg hin zur notwendigen Konvergenz ein schwieriger Weg ist, denn je größer die Union wird, umso größer sind die administrativen Herausforderungen, umso schwieriger wird die Ausbalancierung und die Homogenisierung. Das bedeutet, dass die Europäische Union selbst ein Prozess ist, und zwar ein komplexer Prozess, der Verschiedenheit und Einheitlichkeit zugleich erreichen will und muss. Wie soll dies funktionieren, und welche Bedeutung hat dies für Albanien? Debatten über Diversität, unterschiedliche Reaktionen auf die Homogenisierung und Möglichkeiten einer Ausbalancierung gab es früher auch schon. Die EU hat deshalb schon lange ein hohes Maß an Flexibilität gepflegt. Nicht umsonst spricht man in Brüssel von einer „variablen Geometrie“. Diese elastische Logik hat sich auf fast alle großen Projekte der vergangenen Jahre ausgewirkt, in dem sie zunächst einen Teil der Mitglieder, einen „Kern“, betrafen und sich dann allmählich auf andere Mitglieder erstreckten. Das war mit dem Euro ebenso der Fall wie mit dem Schengener Abkommen. Nunmehr zeichnen sich Schwierigkeiten auch auf der Ebene der kollektiven Entscheidungen ab. Die Sozialpolitik ist in Europa nur schwach koordiniert, und die Außen- und Sicherheitspolitik stützt sich immer noch eher auf eine „Theorie der Koalition des guten Willens“ denn auf ein reguliertes System institutionalisierter politisch-administrativer Verpflichtungen. Aber mit diesem hohen Maß an Flexibilität erreicht die EU ein Maximum an Toleranz gegenüber der Diversität der Mitgliedsländer. 50 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Die Gesetze der EU werden nicht mehr nur in Brüssel, sondern gerade von den nationalen Regierungen der Mitgliedsländer angewandt. Dies macht eine höhere gegenseitige Glaubwürdigkeit der unterschiedlichen politisch-ökonomischen Systeme erforderlich. Zum Beispiel muss ein irischer Verbraucher, der bulgarische, rumänische oder türkische Lebensmittel kauft, nicht nur den Bauern und Produzenten dieser Länder vertrauen, sondern auch den Administrationen hinsichtlich der Kontrollen, der Zollabfertigung, der Grenzsicherung. Er muss den entsprechenden Justizsystemen vertrauen als rechtliche Garantie der Herkunft der Nahrungsmittel. Kann jedes neue oder zukünftige Mitgliedsland wie Bulgarien, Rumänien und Kroatien oder auch Albanien als Kandidat von morgen dieses Vertrauen wecken? In dieser Hinsicht scheinen die Herausforderungen unüberwindlich. Und doch will die EU weiter voranschreiten und auch diese Barrieren und Zögerlichkeiten überwinden. Sie mildert durch eine Strategie der Handelsliberalisierung, der Hilfsfonds und eines vielseitigen Engagements die bestehende Diversität, und sie kann hier als Modell für die künftige Weltpolitik dienen. Aber scheint es derzeit nicht so, dass für künftige Mitglieder oder Kandidaten wie Albanien die Zugangsbedingungen angesichts der inneren Schwierigkeiten der EU erschwert zu werden drohen? Wann wird Albanien zur EU gehören? Tatsächlich werden heute im Rahmen der Verhandlungen über das Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen nach dem europäischen „Big Bang“ mit zehn neuen Ländern und dem euroatlantischen Bündnis mit sieben Ländern schärfere Fragen gestellt. Wird man einen gewissen Grad der Homogenisierung der heutigen Mitgliedsländer abwarten, bis man sich ernsthaft den weiteren Kandidaten zuwendet, oder wird dies schneller vonstatten gehen? Wie wird man mit dem geplanten Beitritt Bulgariens und Rumäniens 2007 umgehen? Wird man die Verhandlungen mit der Türkei mit seiner überwiegend moslemischen Bevölkerung „verfeinern“ und in die Länge ziehen und dagegen den Beitritt des katholischen Kroatien beschleunigen? Wird Mazedonien weiterhin als Land des Westbalkans oder als Teil Südosteuropas angesehen? Besorgniserregend ist, dass in diesem Zusammenhang der Begriff „Südosteuropa“, der alle Länder der Balkanhalbinsel umfasst, durch den Begriff „Westbalkan“ ersetzt wurde, der sich auf genau jene Länder erstreckt, die vor der Tür der EU bleiben. Wird die Theorie der „drei Integrationsgeschwindigkeiten“, das langfristige Konzept des „Cordon sanitaire“, dasjenige der „rosafarbenen (moslemischen) Karten“ oder gemäß der Terminologie des Big Bang die „Theorie der schwarzen Löcher“ angewandt, welche die Integration Albaniens und einiger anderer Länder des westlichen Balkans auf den SanktNimmerleins-Tag verschiebt? Dies alles muss von den zuständigen albanischen und europäischen Einrichtungen analysiert und den Albanern transparent gemacht werden. Liegen die Schwierigkeiten im Hinblick auf eine Aufnahme Albaniens nun eher auf der albanischen oder auf der europäischen Seite? Was steckt dahinter, dass der Erweiterungsprozess nun eher ins Stocken zu geraten scheint? Ich habe die öffentliche Debatte, die in Frankreich über die Europäische Verfassung geführt wurde, aufmerksam verfolgt, und ich komme nicht umhin, hier meine Sorge auszudrücken. Sowohl auf Seiten der Befürworter als auch der Gegner spielte das 51 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Konzept des Nationalstaats eine große Rolle, ein Konzept, das im Kern eine ernsthaftes Hindernis für den Bau eines soliden und gesunden europäischen Gebäudes darstellt. Meiner Ansicht nach handelt es sich dabei um eine Falle angesichts des Globalisierungsprozesses mit seiner zunehmenden Vervollkommnung der Informationsund Kommunikationstechnologie. Ich persönlich sehe mich als ein Verteidiger des „revolutionären“ Standpunktes, der die wesentlichen Veränderungen im heutigen Konzept von Raum und Zeit mit einbezieht. Wir sind Zeuge einer Komprimierung oder gar Vernichtung von Distanz und Raum im menschlichen Erleben, und dies spiegelt sich zwangsläufig in der zeitlichen Struktur der menschlichen Tätigkeit wider. Dieses Phänomen erleben wir täglich und mit wachsender Intensität. Unabhängig von Meinungsverschiedenheiten über dieses Raum-Zeit-Problem führt dies zu einer Erosion der alten Konzepte lokaler und nationaler Grenzen, über ihren Wert und ihre Bedeutung, die sich auf viele Bereiche des menschlichen Denkens und Handelns auswirken. Das durch den Westfälischen Frieden konstituierte Konzept der Souveränität ist ein solches Konzept, das zwangsläufig einer wesentlichen Reform bedarf. Aber auch die räumlich-zeitlichen Verhältnisse der verschiedenen Kulturen, ethnischen Gruppen, Nationen und Territorien müssen neu eingeschätzt werden. Anders gesagt kann man beim Bau des europäischen Gebäudes nicht das nationalstaatliche Konzept als Fundament nehmen, und dies schon gar nicht, indem man sein „archaisches Gerüst“ fanatisch verteidigt. Was hat der EU-Beitrittsprozess angesichts all dieser inter- oder supranationalen Schwierigkeiten denn nun für Ihr Land gebracht? In erster Linie hat er bei der Veränderung und Konsolidierung des politisch-rechtlichen und institutionell-administrativen Systems und der Mentalität der albanischen Gesellschaft geholfen. Natürlich darf man auch nicht die beträchtliche Hilfe verschweigen, die zur Entwicklung der materiellen Strukturen in vielen lebenswichtigen Bereichen, zur Verbesserung der Lebensbedingungen und zu einer beachtlichen Dynamik beigetragen hat. Heute wären wir ohne die wertvolle Hilfe der europäischen Steuerzahler nicht da, wo wir sind. Und was sind Ihrer Meinung nach die Werte Albaniens, die umgekehrt einen positiven Einfluss auf die anderen EU-Ländern ausüben können? Ohne in leere Rhetorik zu verfallen, bin ich doch überzeugt, dass auch die Albaner als eines der ältesten Völker Europas ungeachtet ihrer bescheidenen Zahl eigene Werte anbieten können. Immerhin ist die Institution der Familie als Grundzelle der Gesellschaft in Albanien von weit größerer Bedeutung als in den anderen Ländern der Europäischen Union. Zur Familie gehört auch die Jugend, die Zukunft einer Gesellschaft. Aber, um wieder zurück zur Politik zu kommen, die Parteien in Südosteuropa haben große 52 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Schwierigkeiten, Jugendliche in nennenswerter Zahl in die Politik einzubeziehen. Was muss geschehen, damit sich diese Lage ändert? Es stimmt, dass bei uns ein Teil der Jugend verglichen mit dem älteren Teil der Bevölkerung gegenüber der Politik recht gleichgültig ist. Das lässt sich manchmal auch bei der Wahlbeteiligung feststellen. Wahrscheinlich hängt dies nicht zuletzt mit den Enttäuschungen nach der Euphorie zu Beginn der Transition zusammen. Aber ich glaube nicht, dass wir in Albanien verglichen mit den anderen demokratischen Ländern Westeuropas eine sehr viel niedrigere Wahlbeteiligung der Jugend haben. Betrachtet man das durchschnittliche Alter derjenigen, die in der Politik aktiv sind oder die in den verschiedenen politischen Institutionen arbeiten – schauen Sie sich die Regierung, das Parlament, die Stadträte an – so handelt es sich um recht junge Menschen, ja sogar jüngere als in vielen anderen Ländern mit einer konsolidierten Demokratie. Ein besonderes Problem für eine gesunde und gleichberechtigte Entwicklung der albanischen Demokratie ist in meinen Augen dagegen die Einbeziehung der Frauen in die Politik, ihre würdige, quantitativ wie qualitativ angemessene Repräsentation in den wichtigsten Einrichtungen des albanischen Staates und der albanischen Gesellschaft. Ihre Partei wird als eine sozialdemokratische Partei bezeichnet. Haben in ihr angesichts der Globalisierung solche Werte wie Solidarität, Freiheit und Demokratie weiterhin eine Bedeutung? Die Sozialistische Partei Albaniens ist heute ein Mitglied der Sozialistischen Internationale. Sie ist also eine Partei, die sich der Werte der europäischen Sozialdemokratie annimmt und sie zu verkörpern sucht, was sich aus ihrem Programm ersehen lässt. Aber als eine Partei im Umbruch hat sie ihre Probleme, Werte wie Solidarität, Freiheit und Demokratie konzeptionell festzulegen. Einen Teil dieser Probleme habe ich darzulegen versucht. Persönlich glaube ich, dass der Globalisierungsprozess nicht erfolgreich sein kann, wenn den genannten Werten kein herausragender Platz eingeräumt wird – der Freiheit für alle, der Solidarität und dem Humanismus, einer echten Demokratie, die sich vor allem der Minderheit und den Schwächeren zuwenden muss. Zugleich bin ich überzeugt, dass es auch auf der globalen Ebene notwendig ist, die Vielfalt der Kulturen und der Sprachen zu bewahren. Auf der ideologischen Ebene ist der universelle Wert der Freiheits- und Menschenrechte – und zwar für jeden Menschen – der entscheidende Faktor für den notwendigen Zusammenhalt in einer globalisierten Welt. Ferner kann ich nicht abstreiten, dass ich auf der wirtschaftlichen Ebene anstelle der sozialen Marktwirtschaft, welche durch nationale Grenzen und innere Ambitionen bedingt ist, eine „moralische Marktwirtschaft“ bevorzugen würde, worunter man eine soziale Marktwirtschaft auf globaler Ebene verstehen könnte, also eine sozial grenzenlose Wirtschaft. Und zuletzt kann ich mir hinsichtlich der politischen Ebene nicht vorstellen, dass unter den Bedingungen der Globalisierung und Interdependenz eine neue Weltordnung entstehen wird, ohne das Konzept von Nationalstaat und klassischer Souveränität zu zerschlagen. 53 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Ilir Meta, ehem. Ministerpräsident der Republik Albanien Ilir Meta war von 1999 bis Anfang 2002 Ministerpräsident und vom Juli 2002 bis Juli 2003 Außenminister Albaniens. Als Studentenführer an der Universität Tirana am Sturz des kommunistischen Regimes beteiligt, trat der Wirtschaftswissenschaftler 1992 der Sozialistischen Partei bei und wurde bereits 1993 deren stellvertretender Vorsitzender. Seit 1992 Abgeordneter und 1996/97 stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, war Meta Staatssekretär im Außenministerium und später Stellvertreter des Ministerpräsidenten Pandeli Majko, nach dessen Rücktritt er auf Vorschlag Fatos Nanos 1999 Regierungschef wurde. Obwohl die Wahlen 2001 seine Regierung bestätigten, trat er nach Auseinandersetzungen mit Nano zurück, wurde aber 2002/2003 Außenminister in dessen Regierung. 2004 verließ Meta die Sozialistische Partei Albaniens und gründete eine eigene Partei. Herr Meta, können Sie uns zunächst etwas über die Werte sagen, die Ihnen persönlich und gerade als Mensch, der in der Öffentlichkeit steht, besonders wichtig sind? Wie würden Sie sich selbst charakterisieren? Ich finde es immer schwierig, über sich selbst und die Werte zu sprechen, die man als bedeutend erachtet, denn das sind ja diejenigen, die man bei anderen schätzt oder die man sich bei ihnen wünscht. Nun, ich hoffe, dass sie auch meine eigenen und bei mir zu finden sind. Diese Werte haben mit Solidarität, Dankbarkeit, Treue, gesellschaftlichem Zusammenhalt und Patriotismus zu tun, hängen also mit jenen Dingen zusammen, die, wie ich glaube, für die Integration eines Menschen, einer Gesellschaft und einer Nation wichtig sind. Gibt es für Sie in dieser Hinsicht, in ihrer politischen und moralischen Orientierung ein bestimmtes Vorbild, das Sie vor Augen haben? Ohne Zweifel gibt es jemanden, der eine sehr große Bedeutung hat und im tieferen Sinne die humanistische Seele meiner Nation ist, einer Nation, die in ihrer Geschichte für ihre Freiheit, für ein besseres Leben stark gelitten hat. Die Verkörperung dieses Humanismus findet sich in der Gestalt und dem Werk von Mutter Teresa. Haben Sie auch direkt politische Vorbilder – sei es im Ausland oder in Albanien? Es gibt sehr unterschiedliche und eine ganze Reihe von Politikern, die mich beeinflusst haben. Eine gewisse geistige Leitfigur war für mich Felipe González, eine Persönlichkeit, die viel dazu beigetragen hat, die Schwierigkeiten der Transition in Spanien zu überwinden. González ermöglichte eine ideale Lösung des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie und damit den Aufbau eines europäischen Landes. Später traf ich mit verschiedenen Politikern zusammen und lernte sie näher kennen. Den früheren österreichischen Bundeskanzler Vranitzky, der 1997 Sonderbeauftragter der OSZE für Albanien war, schätze ich sehr. Wir kamen oft zusammen, als er noch Bundeskanzler war, aber auch nach seinem Rücktritt trafen wir uns mehrfach. Ebenso 54 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas habe ich große Achtung vor dem griechischen Ministerpräsidenten Simitis, einem äußerst seriösen Menschen, der sehr konzentriert und loyal ist und ein hohes Maß an Integrität besitzt. Aber es gibt auch andere europäische Politiker, die auf mich gewirkt haben und mit denen ich grundlegende Wertvorstellungen zu teilen glaube. Was die einheimischen Politiker anbelangt, so finden sich auch unter ihnen interessante Persönlichkeiten, und es würde sich lohnen, sie einer genaueren Einschätzung zu unterziehen. Aber es ist sicher schwierig, in einer so kurzen Zeit der demokratischen Entwicklung und einer neuen politischen Kultur einen idealen Politiker zu finden. Sie erwähnten als einen Ihnen wichtigen Wert die Solidarität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Aber lässt sich derzeit nicht vielmehr beobachten, dass sich ein Egoismus in der albanischen Gesellschaft wie auch derjenigen anderer Balkanländer ausbreitet, dass jeder zunehmend nur oder zumindest zunächst einmal an sich selbst denkt? Wenn Sie mich fragen, dann leiden unsere Länder daran, dass sie von einem Extrem ins andere verfallen. Unsere Gesellschaften sind von der Kollektivierung des Eigentums, aber auch von den Ideen einer am Kollektiv orientierten Gesellschaft zu einem extremen Individualismus übergegangen. Dies ist sicher auch eine Folge der früher fehlenden Freiheit. Was wir jetzt haben, ist das Resultat einer harschen und grausamen Transition, eines Umsturzes, den allmählich und kontrollierter durchzuführen schwierig, wenn nicht unmöglich war. Aber unsere derzeitige Situation ist auch das Resultat der Korruption und der moralischen Entartung unserer Gesellschaft im Allgemeinen. Sie ist, wie ich glaube, im Grunde das Resultat einer rückständigen Entwicklung unserer Region. Deshalb ist Solidarität ohne Zweifel ein Wert, ja eine Notwendigkeit, um diese Gesellschaft zu humanisieren und um eine andere Perspektive zu schaffen, um zu einer Gesellschaft zu gelangen, in der alle mehr Verantwortung für eine gemeinsame Zukunft übernehmen. Sie haben als eines der Extremen, in das die albanische Gesellschaft verfallen ist, den Kollektivismus aus der Zeit des Kommunismus genannt. Gibt es für Sie aus dieser Zeit Werte, die Sie positiv einschätzen und die einen Beitrag zu den heutigen Problemen leisten könnten? Nun, ich bin heute kein Mitglied einer früheren kommunistischen Partei, aber ich war einst Mitglied der Sozialistischen Partei. Ob der Kommunismus, also ein überwundenes System, Werte oder bestimmte Vorteile besaß, die heute dabei helfen könnten, den Härten des raschen Wechsels in Wirtschaft und Gesellschaft zu trotzen – nun, hier möchte ich die allgemeine Schulbildung der Bevölkerung nennen. Trotz der Defekte des alten Bildungssystems ist unumstritten, dass die Schulbildung während der kommunistischen Zeit Priorität besaß, und diese Ausbildung der Massen erlaubte es doch, dass der Prozess der Transition im ganzen Land Unterstützung fand. Sie kommt außerdem nicht nur der Entwicklung des Landes und der Überwindung der Probleme der Transition selbst zugute, sondern auch der Integration der Albaner in Europa und über Europa hinaus. 55 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Damit ist das Verhältnis Albaniens zu Europa angesprochen. Albanien möchte der EU beitreten und muss entsprechend eine ganze Reihe von Anforderungen erfüllen, die gerade im laufenden gesellschaftlichen Formationsprozess mit nicht wenigen Problemen behaftet sind. Kann Albanien die Bedingungen für eine Aufnahme in die EU einlösen? Und bringen diese Vorgaben dem Land Nutzen oder auch Nachteile? Wenn Sie mich nach dem Verhältnis Albaniens zur Europäischen Union fragen, so bin ich der Ansicht, dass der Prozess der europäischen Integration in unserem Falle ein Prozess ist, der weitgehend von dem Willen und der Bereitschaft der albanischen Seite abhängt. Zum meinem Bedauern ist der Wunsch des albanischen Volkes hier zwar einheitlich auf eine Integration gerichtet, aber die Bemühungen reichen nicht aus. Die albanische Seite, also die Regierung und die entsprechenden Institutionen haben einen nur mangelhaften Willen demonstriert, die von der EU verlangten Reformen durchzuführen und die zum Standard erhobenen Normen zu erfüllen. Ich glaube nicht, dass die Beschlüsse, die unsere Regierung gemäß den Forderungen der EU fassen muss, gegen die Interessen des Landes, der Bürger oder bestimmter Gesellschaftsschichten gerichtet sind. Gewiss, die Standards, die Albanien erfüllen muss, verletzen die Interessen bestimmter politischer und wirtschaftlicher Gruppen, die davon profitieren, dass das Land ernsthafte Probleme hat, was das Funktionieren der Justiz, die unehrliche Konkurrenz auf dem Markt, die Verbindungen der Politik mit dem organisierten Verbrechen und der informellen Wirtschaft und andere Dinge betrifft. Aber Albanien hat mit der EU nicht jene grundlegenden Probleme, welche andere Länder wie etwa Polen hatten, mit dem es zu einer Konfrontation wegen der Landwirtschaftspolitik und anderer Dinge kam. Sie haben die mangelnde Rechtsstaatlichkeit in Albanien angesprochen, ebenso die Hindernisse, welche die starken Gruppeninteressen für ein Fortschreiten der Demokratisierung des Landes und für eine Erfüllung der Integrationskriterien bilden. Worin sehen Sie die hauptsächlichen Schwierigkeiten der heutigen albanischen Gesellschaft? Das größte Problem sind und bleiben ehrliche und freie Wahlen. Man weiß, dass die letzte Wahl ein echter Skandal war und ein regelrechter Handel mit Wählerstimmen betrieben wurde. Der Grund für diese mangelhafte Demokratie liegt darin, dass die beiden wichtigsten Parteien und ihre Satelliten den Willen der Menschen, der Bürger verdorben haben. Das ist das wichtigste Problem, denn ohne freie Wahlen werden wir keine wirklich legitimen Institutionen haben, die allein Stabilität und das Fortschreiten der Reformen garantieren und das Vertrauen der Öffentlichkeit hervorrufen können. Das ist meiner Meinung nach das hauptsächliche Problem, das Albanien heute hat. 56 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Dritero Agolli, Schriftsteller Als Schriftsteller wurde der 1931 geborene Dritero Agolli ab den späten 1950ern in Albanien bekannt. Aus einer Bauernfamilie stammend, besuchte er die Leningrader Universität und wandte sich nach seiner Rückkehr dem Journalismus und dem Schreiben zu. Zunächst veröffentlichte er hauptsächlich Lyrik, ab 1970 auch Prosa. In den 1960ern noch wegen sowjetischen Revisionismus angefeindet, war er 1972-1992 Vorsitzender des albanischen Schriftsteller- und Künstlerverbandes. Obwohl er somit der kommunistischen Nomenklatura angehörte, wurde er auch nach dem Fall des kommunistischen Regimes weiterhin als Autor und öffentliche Person respektiert. Als Schriftsteller in den 1990ern besonders produktiv, saß er zu Beginn der Transition für die Sozialistische Partei im Parlament. Herr Agolli, als Schriftsteller stehen Sie in der albanischen Öffentlichkeit, sind aber auch über Albanien hinaus bekannt. Zugleich haben Sie die sozialistischen Phase des Landes durchlebt wie auch die jüngsten, durch Umbrüche gekennzeichneten Jahre. Uns interessieren nun zunächst die Werte, die Ihnen wichtig sind. Wie sehen Sie sich selbst als Person? Es ist schwierig, über die eigene Person zu sprechen. Dies sollten besser andere tun, um ein möglichst objektives Bild zu bekommen. Wer von und über sich selbst spricht, schämt sich möglicherweise für manches und vermeidet es so, alles zu sagen, oder er könnte versucht sein zu prahlen. Ich als Schriftsteller wie auch meine ganze Generation sind in einer nunmehr zurückliegenden Zeit erzogen und geprägt worden, in der Zeit des Sozialismus. Wir alle tragen die positiven und die negativen Seiten jenes Systems in uns. Wir sind, könnte man sagen, wie jene Boote, die am Ufer liegen und von dem Seetang, der an ihnen klebt, gereinigt werden. Es war eine schwierige Zeit. Bekanntlich gab es eine starke Zensur, mittels derer die Literatur ebenso einer Kontrolle unterworfen war wie alle anderen Bereiche auch, wie die Institutionen und die Einrichtungen der Kultur und der Politik. Dennoch hat uns ohne Zweifel vieles aus jener Zeit, aus jenem System und jener Gesellschaft geprägt. Diese Dinge spiegeln sich in meinen Werken wider – und zwar als kritischer Überblick. Hier wird nicht einfach das System gelobt; vielmehr handelt es sich um systemkritische Werke. Dies ist auch der Grund, warum einige meiner Bücher verboten und eingestampft wurden. 1964 war dies der Fall, als mein erstes Buch mit Erzählungen, unter dem Titel „Lärm vom einstigen Wind“ erschienen, rasch verboten wurde, weil man ihm eine so genannte „Deheroisierung“ der Personen vorwarf. Das war ein Begriff, der damals häufig gebraucht wurde. Sowohl das Drama „Das weiße Alter“ wie der Roman „Glanz und Niedergang des Genossen Zylo“ verschwanden nach ihrer ersten Veröffentlichung einige Zeit von der Bildfläche, und der Roman wurde erst 1973 wieder herausgegeben. Man betrachtete ihn als eine kritische Sicht auf die Gesellschaft. Im Mittelpunkt stehen die Staatsmacht und das Individuum; es dreht sich darum, wie die Macht das Individuum verändert. Der Roman wurde in Europa recht gut aufgenommen. 57 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Sie haben mit der Zensur bereits die Verschränkung von Literatur und Politik im sozialistischen Albanien angesprochen. Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen und der Politik? Ich bin keine Berufspolitiker. Ich bin ein Schriftsteller, der sich mit Politik beschäftigt – wie jeder Bürger, der wählen geht. Als Wähler beschäftigt man sich mit Politik, als Nichtwähler eben nicht. Mit seiner Aussage, der Mensch sei ein zoon politikon, ein politisches Tier, hatte Aristoteles Recht. Ich bin ein solches politisches Tier, und weil ich Schriftsteller bin, bin ich es in höherem Maße, denn jeder Schriftsteller ist ein Spiegel seiner Gesellschaft. Deshalb war ich Mitglied der Partei der Arbeit, ich war ein Kommunist, ja sogar Mitglied des Zentralkomitees der Partei, für lange Zeit aber auch Vorsitzender des Schriftstellerund Künstlerverbandes. Damals konnte man viel machen, wie ich, Ismail Kadaré 13 und andere dies taten. Trotz der damaligen Bedingungen haben wir diese Realität widergespiegelt. Als die Zeit zum Regimewechsel kam, ging ich in die Sozialistische Partei, die aus der Partei der Arbeit entstanden war und nur den Namen geändert hatte. In den ersten Jahren trug sie noch mehr Elemente des Kommunismus in sich, doch allmählich entledigte man sich ihrer. Auch ich wurde von zahlreichen Sachen gereinigt, während anderes geblieben ist. Sie sprechen von einer Art Reinigung oder Säuberung, die Ihr Land, Ihre Partei, aber auch Sie selbst durchgemacht haben. Verlief sie problemlos? War der Umbruch nicht auch mit Schwierigkeiten behaftet, Schwierigkeiten, die noch heute virulent sind? Ich erinnere mich an ein Gedicht des griechischen Dichters Seferis 14 , das von einer Insel handelt, auf der es eine Kirche und einen Heiligen gab. Eines Tages tauchten auf der Insel zahlreiche Schlangen auf. Der Heilige sammelte Katzen, und die Katzen fraßen die Schlangen auf, so dass die Insel ganz von ihnen befreit wurde. Aber gleichzeitig starben auch die Katzen. Warum? Weil sie zu viel Gift gefressen hatten. Auch in unserer heutigen Gesellschaft haben die Menschen viel Gift geschluckt. Mit diesem Gift beseitigte man einen Gegner, manchmal auch einen früheren Freund, zu dessen Gegner man geworden war. Und dieses Gift hat auch einen selbst beschädigt. Aus einer solchen Gesellschaft stamme ich. Ich wurde in die Sozialistische Partei aufgenommen, war in ihren Leitungsgremien, am Anfang im Parteivorstand, dann im Zentralkomitee. Schließlich wollte ich sie verlassen. Sie war zu einer Partei des Übergangs geworden, das heißt, sie befreite sich von dem, was während der Zeit des Sozialismus Dogma gewesen war. Sie wurde zu einer Partei, die den europäischen Parteien nahe steht. Dabei kam es zu zahlreichen Polemiken und Diskussionen, und in meiner Beschäftigung mit der Politik zögerte ich nicht, über die Mängel dieser 13 Ismail Kadaré (*1936), der im Ausland wohl bekannteste albanische Schriftsteller. Kadaré lebte 1990-1999 in Paris, da ihm in Albanien Nähe zum gestürzten kommunistischen Regime vorgeworfen wurde, während er davor als jemand galt, der sich nicht an die vom Regime vorgegebenen Regeln hielt; seit 1999 wieder in Albanien, Tirana. 14 Giorgos Seferis (1900-1971), neugriechischer Lyriker, 1963 Nobelpreis für Literatur. 58 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Sozialistischen Partei zu sprechen. Ich habe sie in den letzten acht Jahren oft in Interviews und Artikeln kritisiert, wahrscheinlich mehr als ihre politischen Gegner, mehr als die Opposition selbst. Manche verstanden, manche wollten nicht verstehen. Trotzdem bin ich aus der Sozialistischen Partei nicht ausgetreten, und sie haben keinen Versuch unternommen, mich auszuschließen. Immerhin bin ich ein Schriftsteller und stand ihnen nahe. Das bedeutet, Sie haben auch in Ihrer eigenen, sich in einem Übergangsstadium befindlichen Partei – die Sie zeitweise auch verlassen wollten, wie Sie eben sagten – die Konfrontation gesucht. Unterscheidet sich dies von Ihrer Haltung in der kommunistischen Partei der Arbeit? Was ich damit verdeutlichen möchte, ist, dass man alles, die guten wie die schlechten Sachen, sagen muss, auch wenn es um eine Partei geht, der man selbst angehört. Ein zeitgenössischer französischer Philosoph, Bachelard 15 , hat gesagt: „Bevor du einen anderen kennst, musst du mit ihm streiten. Du musst dich den Dingen widersetzen, um die Wahrheit herauszufinden; ohne Streit und Diskussion kann man sie nicht kennen lernen. Denn die Wahrheit ist keine Tochter der Sympathie, sie ist die Tochter der Diskussion.“ Dies habe ich stets berücksichtigt. Als der Vorsitzende der Sozialistischen Partei sagte, diese sei einem Sumpf vergleichbar, erwiderte ich ihm, dass er ein Uhu des Sumpfes sei. Ich zögerte nicht, die Wahrheit auszusprechen, und habe im Rahmen meiner Möglichkeiten wahrscheinlich an vielem Kritik geübt. Trotzdem bin ich stets auf ihrer Seite geblieben. Wie wir alle bin ich ein komplexer Mensch; ich habe meine guten Seiten und meine Schwächen. Vielleicht hätte ich im vergangenen System einige Dinge schärfer kritisieren müssen, aber die Bedingungen waren nun einmal so. Und nicht nur dies – man hatte ja auch eine Familie und Angehörige und wollte nicht, dass diese zu Schaden kamen. In einem Gedicht heißt es, dass es in der Zeit von Galilei auch andere Galilei gab, die die Wahrheit hätten sagen können, doch sie hatten Familie. Sie wussten zwar, dass sich die Erde dreht, aber wenn sie dies gesagt hätten, wären sie auf dem Scheiterhaufen geendet. So verhält es sich auch mit den Schriftstellern, die in jenem System lebten: sie wussten viele Dinge, sie wussten, dass sich die Erde dreht, doch sie hatten Familie. Ein solcher Mensch bin ich. Auch wenn Sie sich selbst nicht als Politiker ansehen – gibt es ausländische oder einheimische Politiker, die einen besonderen Einfluss auf Sie hatten? Welche grundlegenden Werte halten Sie im Bereich der Politik für wesentlich? Ich wurde in der sozialistischen Gesellschaft geformt, und in jener Zeit hatten wir kommunistische Ideale. Wir hatten sie tatsächlich, wie viele Intellektuelle in der Welt, 15 Gaston Bachelard (1884-1962), französischer Philosoph und Kritiker, Professor in Dijon und Paris an der Sorbonne. 59 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas wie die hervorragenden kommunistischen Schriftsteller, wie Aragon 16 , Paul Éluard 17 , ja sogar Picasso und Majakowskji 18 , die sich dieses Ideal des Kommunismus zu Eigen gemacht hatten. Auch wir glaubten daran, dass die Welt verändert werden könne, dass es für die Menschen mehr Gleichberechtigung geben, die Armut vermieden werden, dass es eine größere Solidarität, eine vollständigere Freiheit geben könne. Das waren unsere Ideale, die wir in uns trugen und die Einfluss auf uns ausübten. Mich beeinflussten philosophische Größen wie Marx, aber auch politische wie Enver Hoxha. Das war unser Ideal, unsere Generation kann dies nicht leugnen. Eine bestimmte Zeit lang blieb dies so, doch allmählich begann die Begeisterung sich abzukühlen, weil wir viele Mängel in unserer Gesellschaft bemerkten. Als Schriftsteller hatte ich Naim Frashëri 19 als Ideal vor Augen, weil er ein vom Westen, insbesondere von der französischen Revolution inspirierter Dichter war. Er orientierte sich an der Humanität, wollte die Freiheit, wollte Gleichberechtigung unter den Menschen, aber auch Brüderlichkeit. In dieser Hinsicht, aber auch in anderen Dingen der Politik war er mein Ideal und für mein eigenes Schaffen von großer Bedeutung. All dies half mir, einen eigenen Standpunkt zur Entwicklung der Gesellschaft einzunehmen. Mein Vorbild war er nicht nur als Schriftsteller, er war auch ein hervorragender Politiker, insbesondere was das Vaterland, was den Zusammenschluss der albanischen Nation angesichts des Übels betraf, das die anderen unserem Volk antaten. Und trotzdem sagte er, dass wir den anderen Balkanvölkern Brüder sein müssten. Er schrieb auch auf Griechisch, und eines seiner berühmten Gedichte heißt „Die Albaner und die Griechen“. Somit hat sein Geist auch eine, wie ich es ausdrücken möchte, internationalistische Seite. Ebenso war Fan Noli 20 mein Vorbild, einer unserer besten Sozialisten. Ich nenne ihn so, weil er die Junirevolution durchführte. Obwohl er nur sechs Monate regieren konnte, hat er Albanien Europa sichtbar näher gebracht, und das war einer der Wünsche der Menschen, das war, was ich und mein Land wollten. Außerhalb meines Landes hatte ich in meiner Jugend Marx und Lenin, später als Erwachsener auch Willy Brandt vor Augen. Brandt gefiel mir als Sozialist, ein Mann mit Standpunkten, aber er hatte weiter keinen Einfluss auf mich. Immerhin war ich nun erwachsen und ließ mich nicht mehr so leicht beeinflussen, aber ich fand ihn 16 Louis Aragon (1897-1982), französischer Schriftsteller, Mitbegründer der Bewegung des Surrealismus, später Mitglied der Kommunistischen Partei. 17 Paul Eluard (1895-1952), französischer Lyriker; aktiv in der Résistance und ab 1942 Mitglied der Kommunistischen Partei. 18 Wladimir Majakowskji (1893-1930), russischer Schriftsteller; Mitbegründer und hauptsächlicher Repräsentant des russischen Futurismus; ab 1908 Mitglied der Bolschewiki. 19 Naim Frashëri (1846-1900), albanischer Schriftsteller, vor allem Lyriker; schrieb schon damals hauptsächlich in Albanisch; war früh am albanischen Befreiungskampf beteiligt. 20 Teophan (Fan) Stylian Noli (1882-1965), orthodoxer albanischer Bischof und Politiker; für die albanische Unabhängigkeit und deren Anerkennung u.a. in den USA engagiert; nach dem Sturz Ahmed Zogus 1924 Ministerpräsident, wurde aber im selben Jahr wieder gestürzt und opponierte aus dem Exil dem sich 1928 zum König erklärenden Zogu. Während des Zweiten Weltkriegs hatte Noli Kontakt zu den albanischen Kommunisten unter Enver Hoxha. 60 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas sympathisch. Dies trifft auch auf andere europäische Sozialisten wie etwa Mitterand zu. Beeinflusst wurde ich aber von Naim Frashëri, Fan Noli und Enver Hoxha. Eine Annäherung an Europa hat für Sie offensichtlich eine große Bedeutung. Europa ist heute ja kein rein geographischer oder kultureller Begriff mehr, sondern beinhaltet sozioökonomische wie auch politische Strukturen. Glauben Sie denn, dass Albanien für diese europäischen Strukturen reif genug ist? Nein, das glaube ich nicht. Zum einen müssen wir, um mit den fortgeschrittenen Ländern Europas gemeinsam bestehen zu können, eine entwickelte Wirtschaft haben. Das trifft auch für den sozialen Aspekt zu, ebenso für das kulturelle und das Bildungsniveau. Die Menschen müssen gegenseitig Toleranz üben, aber auch gegenüber der Politik. Eine politische Debatte darf nicht zum Streit, nicht zur Feindschaft führen, sonst wirkt jeder Regierungswechsel wie die Installation einer neuen Besatzungsmacht. Damit meine ich, dass uns noch eine demokratische politische Kultur fehlt. Wenn sich zusammen mit der wirtschaftlichen Entwicklung auch die demokratische Kultur verbessert, wenn also in der Diskussion der anstehenden Probleme Toleranz vorherrscht und gegen Intoleranz und Dogmatismus im Allgemeinen vorgegangen wird, wenn es innerhalb der Gesellschaft nicht mehr zu Rache kommt – dann sind wir reif für Europa. Wer isoliert in seinen eigenen vier Wänden lebt, der kann nicht zu Europa gehören. Diese große Wunde unserer Gesellschaft, die Rache, muss beseitigt werden. Halten Sie die Rache für einen mentalen und soziokulturellen Grundaspekt der albanischen Gesellschaft, zugleich etwas, das man als Zivilisationsrückstand bezeichnen könnte? Rache oder Selbstjustiz bedeuten nicht immer Blutrache; Rache kann man auch mit Worten, mit der Sprache üben, dazu benötigt man nicht immer ein Gewehr. Wenn jemand selbst schlecht ist und anderen nur Schlechtes antun möchte – dies ist Rache im weiteren Sinne des Wortes. Oder eine Art permanente Revolution, die darin besteht, dass eine Partei, die an die Macht kommt, die ganze Staatsverwaltung austauscht – eine Säuberung der Verwaltung, die dann alle vier Jahre stattfindet. So etwas gibt es in Europa nicht. All dies zeigt das Fehlen einer demokratischen Kultur und behindert uns auf dem Weg nach Europa. Während Norwegen, ein fortgeschrittenes Land, nicht in die EU eintreten möchte, wollen wir so schnell wie möglich aufgenommen werden, auch ohne diese Bedingungen erfüllt zu haben. Wir haben es eilig, einen Schengener Pass zu bekommen, glauben aber nicht, einen Ausweis wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung zu benötigen. Wie könnte die Weltgemeinschaft Albanien angesichts dieser Lage helfen? Was sollten die Albaner selbst tun, um Anschluss an den europäischen Einigungsprozess zu bekommen? Diejenigen, die von der EU nach Albanien kommen, müssen zuvor die Bedingungen Albaniens gut studiert haben. Sie dürfen nicht mit einer Einstellung kommen, wie sie dies bei anderen Ländern tun, sondern sollten wissen, wie die albanische Gesellschaft 61 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas beschaffen ist, welche Sitten und Bräuche, welche positiven Seiten die Albaner besitzen. Sie müssen die psychische Verfassung dieses Landes kennen. Es nützt nichts, wenn kluge Leute kommen, die ihre Arbeit besser in Bulgarien oder Rumänien tun könnten. Auch wenn wir mit den anderen Balkanvölkern viele Gemeinsamkeiten haben, unterscheiden wir uns doch sehr von ihnen. Worin besteht dieser Unterschied? Gibt es soziopsychologisch gesehen einen ganz eigenen albanischen Typ? Die Albaner sind sehr klug, sie sind Menschen mit großer Fantasie, aber sie sind auch ungeduldig und übersehen oft, wie viel Arbeit eine Sache verlangt. Wofür man zehn Jahre braucht, das wollen sie in einem Jahr erreicht haben, wofür man fünf Monate Arbeit benötigt, das möchten sie in einer Stunde erledigen. Wenn jemand die Psychologie des Landes kennt und hierher kommt, wird er Albanien gute Dienste erweisen. Aber in erster Linie müssen die Albaner selbst ihr Land gestalten. Wir haben es uns leider angewöhnt, dass die anderen unsere Arbeit verrichten – aber da haben wir eine schlechte Lehre durchlaufen. Es liegt in unserer Psychologie, dass wir dann, wenn andere uns anleiten, zu vielem fähig sind. Zum Beispiel gab es in der Türkei dreißig Ministerpräsidenten und wer weiß wie viele Kommandeure, gute Soldaten und hervorragende Staatsmänner albanischer Herkunft. Oder nehmen wir Griechenland – wie viele tapfere Helden der griechischen Revolution waren Albaner? Die Albaner besitzen große Fähigkeiten, wenn sie von anderen geführt werden; wenn sie dies jedoch selbst tun, kommt es zu Durcheinander und Streit. Dieses psychologische Moment müssen die Albaner selbst ändern. Sie müssen in erster Linie dafür kämpfen, ihre Arbeit selbst zu leisten und auf ihrem Weg nach Europa nicht noch die Anweisungen eines Kindermädchens zu benötigen. Gut, die Albaner müssen also selbst für den Beitritt zu Europa arbeiten. Zugleich sind sie sehr fähige Leute, die jedoch ungeduldig und schlecht koordiniert sind. Könnte man so das, was Sie gesagt haben, zusammenfassen? Die Albaner führen innerhalb einer kurzen Zeit große Veränderungen durch, insbesondere in den Städten. Sie sind Menschen mit viel Energie, mit einer unbegrenzten Fantasie in allen Bereichen des Denkens, aber auch fähige Mafiosi – darin übertreffen sie die Italiener oder die Russen. In Angelegenheiten der Mafia gelangen sie rascher in Führungspositionen als in sonstigen Positionen mit Befehlsgewalt. Ihre Fähigkeiten gehen nicht nur in eine Richtung, sondern sind umfassend und zerstreuen sich, weshalb sie selbst starke und fähige Führungskräfte brauchen, die sie anleiten. Eine Führungskraft darf nicht dem Arbeitsprozess hinterherhinken. Bei uns entwickelt sich das Volk rasch und gut, es versteht die Dinge leichter und schneller als seine Leitung, die nichts versteht oder so tut, als ob sie nicht verstanden hätte. Das bedeutet, das Volk ist schneller und kultivierter als die Führungskräfte. 62 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Politische Zukunft hat auch mit zukünftigen Politikern zu tun. Wie sehen Sie hier die heutige albanische Jugend? Sie scheint in den letzten Jahren die Politik eher gemieden zu haben, ihr politisches Engagement eher gering zu sein. Früher gab es Jugendliche, die in der Politik aktiv waren, junge Menschen, die Veränderungen wollten und für den Fortschritt eintraten. Aber dann machte sich eine Trägheit unter den Jugendlichen breit, weil die Funktionäre der Partei sich nicht darum kümmerten, dass neue, junge Kräfte nachkamen. Es blieben nur die alten Kader, welche die Jugend nicht richtig verstanden. Diese verfehlte Politik zeigt sich etwa daran, dass in dem Moment, als die Sozialistische Partei sich spaltete, alle Jugendliche in die Sozialistische Integrationsbewegung gingen. Nur dann, wenn die Parteiführung Jugendliche entsprechend ihren Fähigkeiten in leitende Positionen in der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Partei wie auch der Kultur und dem Bildungswesen bringt, können diese sich der Partei annähern und ihren Beitrag leisten. Schließlich handelt es sich um Menschen, die auf die Schule gegangen sind, die zu arbeiten und zu wirken verstehen. So können sie aktiv werden und brauchen nicht einfach nur abzuwarten. Handelt es sich also hauptsächlich um ein Problem der Sozialistischen Partei und ihrer Führungskräfte? Das klingt, als bestünde seitens der Jugend große Offenheit und Bereitschaft, als müsste man nur auf sie zugehen. Die Jugendlichen müssen auch selbst mehr für sich tun. Sie müssen aktiver werden und dauerhaft zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme beitragen. Sie sollten die Entwicklung der Gesellschaft nicht einfach als etwas Äußerliches ansehen und sich nur amüsieren und grenzenlose Freiheit verlangen. Gleichwohl sind die Führungskräfte der Parteien und der Verbände hier von großem Gewicht; sie sollten sich engagieren und mehr Seminare über die Rolle der Jugend in der Gesellschaft durchführen, über ihre Rolle bei der Entstehung einer freien Gesellschaft. Wir brauchen eine größere Zusammenarbeit mit den europäischen Vertretern, mit den hier niedergelassenen Stiftungen, mit der OSZE. Wir müssen die Jugendarbeit organisieren. Einige Länder sind hier meines Wissens sehr aktiv, vor allem Italien, aber auch Frankreich und Deutschland tun viel in dieser Richtung, obwohl sie unterschiedliche Ansätze haben. Es zeichnet sich ein Erwachen ab, eine wachsende Aktivität, hauptsächlich bei Demonstrationen, Streiks und Protestveranstaltungen, an denen die Teilnahme der Jugend groß ist. In der Zeit des antifaschistischen Kampfes zum Beispiel waren es in Albanien vor allem die Jugendlichen, die kämpften und das Land umgestalteten. 70.000 Partisanen kämpften, und wenn man die Gefallenen anschaut, lag ihr Geburtsjahr bei 1925, 1920, höchstens 1915. Die gefallenen Helden waren durchschnittlich 22 Jahre alt. Während des Kosovo-Krieges waren die Jugendlichen aktiv; sie kamen aus ihren Häusern und nahmen Flüchtlinge aus dem Kosovo bei sich auf. Sie beteiligten sich auch am Übergang vom sozialistischen System zur demokratischen Gesellschaft. Ohne die Jugendlichen gäbe es keinen Wechsel. Aber sie müssen nun auch aktiv am politischen Tagesgeschäft 63 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas teilnehmen. Es muss ihnen zur Lebensweise werden, sich an der Führung des Landes zu beteiligen. Um das bislang Gesagte noch einmal aufzugreifen und mit Blick auf den derzeitigen Stand der albanischen Gesellschaft zusammenzufassen: Sehen sie die Epoche des Kommunismus in Albanien als eine verlorene Zeit an? Nein, das glaube ich nicht. Denn neben den großen Mängeln, die es im ganzen sozialistischen Lager gab und die am System lagen, hatte dieses auch viele positive Seiten. Dazu zähle ich im politisch-moralischen Bereich eine Solidarität, die groß war, weil die Menschen in einer Gemeinschaft lebten. Auch leistete es einen wichtigen Beitrag zur Emanzipation der Frauen – gerade bei uns auf dem Balkan, wo die Frauen eher isoliert waren. Ebenso trug es zur Entwicklung der Schulen, der Kultur und ähnlicher Bereiche bei. In der Zeit Ahmed Zogus 21 und bis 1944 gab es in Albanien nur sieben Mittelschulen, während in der sozialistischen Zeit 370 Mittelschulen und 12 Universitäten errichtet wurden – vorher hatten wir gar keine Universität! Ebenso gab es nun das Opern- und Balletttheater, das Volkstheater, ein Filmstudio, das jährlich 14 Spielfilme produzierte, und viele andere Einrichtungen. Noch heute kommt unsere Elektrizität aus den damals entstandenen Wasserkraftwerken, während in den letzten 15 Jahren keine Kraftwerke mehr gebaut wurden. Von der kulturellen Entwicklung profitierte die Musik, vor allem aber die Literatur. Vor der Zeit des Sozialismus war keiner unserer Schriftsteller in eine andere Sprache übersetzt worden, so dass die Welt ihn kennen lernen konnte. Aber in dieser Zeit kam es zu Übersetzungen, und unsere Literatur fand in der Welt, fand in Deutschland Verbreitung und machte unsere Schriftsteller bekannt. Das zeugt von einem hohen Niveau. Übersetzt wurden nun auch Werke von den Anfängen der albanischen Literatur, von Autoren aus dem Mittelalter oder der Zeit Ahmed Zogus bis hin zu denjenigen aus der Epoche des Sozialismus. Dies hat eine bedeutende Rolle gespielt. Demnach ist die sozialistische Phase ein bedeutender Entwicklungsschritt für das Land in Richtung Modernisierung gewesen. Aber zugleich war sie doch eine Phase der Isolierung, und dies in höherem Maße als bei den anderen osteuropäischen Ländern. War die Möglichkeit der Albaner, mit der übrigen Welt zu kommunizieren, denn nicht sehr eingeschränkt – trotz der Bekanntschaft, die diese mit einigen albanischen Autoren nun machen konnte? Sie haben Recht, was das Albanien ab den 60er Jahren betrifft. Die Isolierung war tatsächlich sehr streng. Allerdings wurde immer noch Handel getrieben, und dies sowohl mit westlichen wie mit den sozialistischen Ländern. Obwohl nur vermittelt durch andere, gab es eine Kommunikation mit der Außenwelt. Unsere Kunstensembles, wie das 21 Ahmed Zogu (1895-1961), als Zogu I. von 1928-1939 bis zur italienischen Besetzung König der Albaner, 1946 formell abgesetzt; war 1923/24 Ministerpräsident und 1925-1928 Staatspräsident Albaniens, bevor er sich zum König ausrufen ließ. 64 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Staatsensemble für Volkslieder und Volkstänze, traten im Ausland auf, etwa in Frankreich, und in Paris und Rom wurde eine archäologische Ausstellung gezeigt. Es gab also eine gewisse Kommunikation. Wir sind leider zu sehr daran gewöhnt, nur in Schwarz-Weiß zu denken und eine Sache rundweg abzulehnen. Manche fragen sogar: Hat es in der Zeit des Sozialismus Liebe gegeben? Wenn man nicht liebt, zeugt man keine Kinder. Wir haben genug von solchen Fragen, und nur diese hat man noch nicht gestellt: Habt ihr in der Zeit des Sozialismus Kinder zur Welt gebracht? Sie plädieren also dafür, die Zeit des Sozialismus differenziert zu betrachten. Ist es so, dass es Werte aus dieser Zeit gibt, die für Sie von Bedeutung sind? Ja, der Sozialismus hatte auch gute Seiten. Rückständige und mittelalterliche Sitten wurden zurückgedrängt, es gab keine Blutrache mehr. Die Menschen mussten nicht versteckt in ihren vier Wänden leben, die Diktatur duldete eine solche Selbstisolation nicht. Die Familien waren gefestigter als heute. Die Menschen war eher gleichberechtigt, es gab keine großen Lohnunterschiede. Dies hat freilich zu einer gewissen Rückständigkeit angesichts der heutigen Welt geführt, denn in der kapitalistischen Gesellschaft sind die Lohnverhältnisse anders. Positiv war damals auch die Solidarität der Menschen untereinander, die sich darauf gründete, dass alle gemeinsam arbeiteten – und das taten sie. In der Zeit des Sozialismus bemühten sich die Kommunisten, gute traditionelle Seiten unseres Volkes zu nutzen wie diese Solidarität, die in bestimmten Momenten unserer Geschichte immer wieder auftauchte. Heute kritisieren wir jenes System wegen der Diktatur und anderer Dinge. Auf dem Gründungsparteitag der Sozialistischen Partei, auf dem sie sich den neuen Namen gab, war ich der erste, der aufstand, um das System, Enver Hoxha und die Diktatur zu kritisieren. Alle übrigen Delegierten sprangen mir an den Hals. Natürlich habe ich meine Kritik nicht freudig geäußert, vielmehr mit einem gewissen Schmerz. Warum hatte es so kommen müssen, warum war vieles umsonst, vergeblich gewesen? Aber nicht alles, nicht die ganze Zeit des Sozialismus war umsonst gewesen. Auch das Mittelalter war nicht umsonst. In jedem System lassen sich positive Elemente finden. Eigentlich hätte es im Mittelalter keinen Cervantes geben dürfen, aber es gab ihn tatsächlich, es gab den Don Quijote, es gab die deutschen Nibelungen, es gab große Maler, die eben aus jener Zeit stammten, nicht aus der modernen, heutigen Zeit. Der Sozialismus war ein System, das in der einen Hälfte Europas errichtet wurde. So etwas geschah auch in der Zeit Karls des Großen. Hat Karl der Große etwa ganz Europa durch den Krieg zu vereinigen gesucht? 65 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Bulgarien Sergej Stanischew, Ministerpräsident der Republik Bulgarien Sergej Stanischew ist seit August 2005 Ministerpräsident Bulgariens. Er studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Moskau und ist promovierter Historiker. Stanischew trat der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) bei und engagierte sich für deren Modernisierung und Westausrichtung. 2001 wurde er Vorsitzender und Fraktionschef der oppositionellen BSP im Parlament. Nach der Wahl 2005 gelang es den Sozialisten im Bündnis mit anderen Parteien ihren Spitzenkandidaten Stanischew zum Ministerpräsidenten zu machen. Während des Wahlkampfs hatte Stanischew auch die durch den EU-Beitritt notwendigen Reformen in den Mittelpunkt gestellt. Herr Ministerpräsident, Sie stammen aus einer kommunistischen Familie. Hat das Ihre Entscheidung für eine politische Karriere beeinträchtigt oder wurden Sie anderweitig beeinflusst? Sie haben sich ja erst recht spät für die Politik entschieden. Ja, erst nach der Wende in Bulgarien. Das hängt damit zusammen, dass ich Geschichte studierte und mit einem Thema über die Geschichte Russlands im 19. Jahrhundert promovierte. Nach der Promotion hat sich herausgestellt, dass in Bulgarien aufgrund der Veränderungen in den 90er Jahren und unter den chaotischen Bedingungen des Übergangs in der Anfangszeit keine großen Aussichten auf eine akademische Karriere bestanden. Zunächst war ich eine Zeit lang freiberuflich als Journalist für internationale Themen tätig und schrieb über die Situation in den Ländern des westlichen Balkans, über Russland und über einige andere Regionen, die zu jener Zeit gerade interessant waren. So gelangte ich in die Position eines Experten in der Abteilung Außenpolitik der Sozialistischen Partei. Was die Rolle meiner Familie anbelangt – nun, in Bulgarien ist die Familie für die politische Orientierung von großer Bedeutung. Es gibt Leute, die ihrer Familientradition gemäß kontinuierlich seit 1920 oder 1940 dem einen oder dem anderen politischem Flügel angehören. Diese Zugehörigkeit beeinflusst das Wahlverhalten der Kinder und Enkelkinder, weil es die Familie ist, die eine vertraute Atmosphäre schafft und die Werte einer jeden Persönlichkeit gestaltet. Als Historiker haben Sie ja einen – auch zeitlich – weiten Überblick über politisches Geschehen. War dies für Sie von Bedeutung? Gibt es eine historische Persönlichkeit oder einen Politiker, die oder den Sie als Ihr Vorbild ansehen? Ich würde nicht sagen, dass ich ein bestimmtes Vorbild habe. Historiker zu sein ist für einen Politiker aber gewiss von großem Vorteil. Man hat grundlegende Informationen und kennt die unterschiedlichen Geschehnisse, man weiß, was in verschiedenen Ländern und in verschiedenen Zeitabschnitten passiert ist. Dies schärft den Blick auf das, was heute passiert. 66 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Wenn wir nun doch eine bestimmte Person nennen wollen, so denke ich, dass Vasil Levski 22 als Apostel der nationalen Wiedergeburt und der nationalen Befreiungsbewegung ein wichtiges Vorbild für jeden Bulgaren sein kann. Er war auch ein sehr interessanter Politiker und Denker in der Zeit der Befreiungskämpfe gegen die osmanische Unterdrückung, als er seine Visionen für die Zukunft Bulgariens in der Öffentlichkeit bekannt machte. Interessant und wichtig ist doch, dass Levski sich genau in jener Zeit, in der sich in ganz Europa nationale Bewegungen ausbreiteten, Bulgarien als ein tolerantes Land vorstellte, in dem jeder Bürger, unabhängig von seiner Religion und ethnischen Zugehörigkeit, sich wohl fühlen und gleichberechtigt sein sollte. Hatten Sie denn keine politischen Ziehväter, die Sie in die Politik einführten und Ihr politisches Denken wesentlich mitgestalteten? Nein, die hatte ich nicht. Natürlich konnte ich in meiner Kindheit beobachten, wie Politik, wenn auch gleichsam hinter einem Vorhang verborgen, funktioniert, und ich denke, dass dadurch meine heutiger Blickwinkel eine gewisse Erweiterung erfährt. Auf diese Weise ist man bei Erfolgen weniger euphorisch, weil man weiß, dass es nach jedem Sieg wieder sehr viele Herausforderungen und viele neue Probleme gibt, die gelöst werden müssen. Sie hatten in der Bulgarischen Sozialistischen Partei die Position eines Experten für Außenpolitik inne. Danach haben Sie als Sekretär für Internationale Angelegenheiten in derselben Partei in hohem Maße dazu beigetragen, dass die BSP in die Sozialistische Internationale aufgenommen wurde. Sind für Sie, besonders in Ihrer Position als Ministerpräsident Bulgariens, die Werte der Sozialdemokratie in der heutigen Zeit noch von Bedeutung? Natürlich sind sie das. Sie haben eine Bedeutung in der modernen Welt, und sie haben eine Bedeutung für mich und meine Stellung als Ministerpräsident. Jede politische Partei beteiligt sich an Wahlen, um bestimmte Machtpositionen zu erlangen und ihre Visionen, ihre Prioritäten und ihre grundlegenden Werte einzubringen. Natürlich wissen wir alle, wie sehr sich die Welt nach der Abschaffung des Eisernen Vorhangs und dem Zerfall des ehemaligen sozialistischen Systems im Ostblock in den letzten 15 oder 16 Jahren verändert hat. Diese Zäsur wirkte sich auch auf die westlichen Länder und auf Westeuropa aus, die sich in Richtung Globalisierung entwickelt haben. Die Globalisierung scheint doch ein objektiver Prozess zu sein, dem man sich in wirtschaftlicher Hinsicht gar nicht entziehen kann. Welche Rolle sollen da noch sozialdemokratische Werte spielen? 22 Vasil Levski, eigentlich Vasil Ivanov Kunchev (1837-1873), Führer der bulgarischen Nationalbewegung gegen die Herrschaft der Osmanen. 1858-1864 ein Mönch, setzte Levski sich schon bald für die Unabhängigkeitsbewegung ein und versuchte, eine Erhebung in Bulgarien zu organisieren. 1872 wurde er von den Osmanen gefasst und später hingerichtet. 67 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Problematisch ist, dass die Globalisierung als ein rein ökonomisches Phänomen wahrgenommen wird, das nur den eigenen Regeln gehorcht. Aber gerade für jeden Sozialdemokraten und jeden Sozialisten auf der Welt ist es nun sehr wichtig, einen Weg zu finden, die Globalisierung gegenüber der vor den globalen Herausforderungen stehenden Menschheit sozialer und verantwortungsvoller zu gestalten. Wir sehen doch, was um uns herum passiert: in vielen Ländern wächst die Armut. Die Kluft zwischen reichen und armen Ländern wird mit der Globalisierung noch größer. In ein und demselben Land – und dies trifft auch für die Länder der Dritten Welt zu – gibt es inzwischen verschiedene, nebeneinander bestehende Welten. Es gibt Inseln moderner Entwicklung und eine reiche Gesellschaftsschicht, aber zugleich wird man Zeuge einer gravierenden Armut, von Krankheiten und vielen anderen Problemen. Aus diesem Grund sollte jeder Sozialdemokrat die Gelegenheiten nutzen, die in der globalen Welt mit ihren größeren Möglichkeiten einer internationalen Kooperation reichlich vorhanden sind. Ich glaube auch, dass heute in der globalen Welt gerade der Internationalismus – ein grundlegender Wert und ein Prinzip der sozialen Demokratie – wichtig ist. Wir können beobachten, wie die sozialdemokratischen Parteien und die Partei der Europäischen Sozialisten das Globale Progressive Forum einrichten, eine sehr wichtige Veranstaltung, in der Angehörige aus dem politischen Links-Mitte-Feld zusammen mit Nichtregierungs- und Umweltorganisationen die Weltprobleme diskutieren. Wir Sozialdemokraten suchen unseren eigenen Weg und eigene Antworten, denn mit den Veränderungen in der Wirtschaft müssen sich auch die politischen Parteien ändern. Hinzu kommt, dass manchmal gerade die sozialdemokratischen Parteien Reformen durchführen, die, bezogen auf den alten Begriff der Wohlfahrtsgesellschaft, nicht typisch sozialdemokratisch sind. Wir müssen pragmatisch sein und uns den veränderten Umständen anpassen, aber wir dürfen dabei auf keinen Fall unsere Werte und Grundsätze vergessen. Vielmehr müssen wir sie mit den neuen Realitäten in Einklang bringen und neue Mechanismen finden, ihnen in einer veränderten Welt Geltung zu verschaffen. Können Sie, wenn wir von Werten sprechen, diese präzisieren? Welches sind die grundlegenden Werte und Prinzipien Ihrer Partei? Nun, eines der Grundprinzipien jeder sozialistischen Partei ist die Solidarität – Solidarität zwischen den Menschen, zwischen den Bürgern. Das ist besonders in unserer heutigen Zeit von größter Wichtigkeit, wo wir doch Zeugen einer Atomisierung der Welt werden, in der jedes Individuum nur noch um das eigene Überleben und für den eigenen Erfolg unter marktwirtschaftlichen Bedingungen kämpft – eine Welt, in der ein Teil unserer Grundwerte verloren gegangen ist. Das ist die traurige Wahrheit, und mit ihr muss man sich befassen, denn ich glaube nicht, dass ultraliberales, nur am freien Markt orientiertes Handeln die Probleme lösen kann. Im Gegenteil, es ist im Allgemeinen nicht dazu geeignet, das Problem der sozialen Integration und der Effizienz einer Gesellschaft zu lösen. Sie erwähnten, welche Bedeutung die traditionellen Familienwerte in der bulgarischen Gesellschaft und auch für Sie persönlich haben. Spielt die Lehre der Orthodoxen Kirche 68 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas bei der Entwicklung dieser Werte für Sie persönlich oder auch für die bulgarische Gesellschaft als Ganzes eine Rolle? Ist die Religion immer noch ein Faktor? Ja, ich glaube schon, dass sie eine Rolle spielt. Meiner Meinung nach ist sie dabei eher ein kultureller als ein religiöser Faktor, denn mir scheint, dass die Bulgaren als Nation – etwa wenn man sie mit den Griechen vergleicht – nicht besonders religiös sind. Aber meiner Auffassung nach hat die Bulgarische Orthodoxe Kirche dennoch eine sehr wichtige Rolle in der Entwicklung der bulgarischen Nation gespielt. Das Hauptverdienst der Kirche ist, während der 500 Jahre langen Fremdherrschaft – fremd auch vom religiösen Gesichtspunkt her, waren die osmanischen Türken doch bekanntlich Moslems – entscheidendend zur Erhaltung der bulgarischen Nation und Nationalität wie auch der bulgarischen Kultur beigetragen zu haben. Auch die Anfänge der nationalen Befreiungsbewegung selbst liegen in ihrem Kampf für die Befreiung der Kirche, war es im osmanischen Reich doch die Griechisch-Orthodoxe Kirche, die alle Christen zu vertreten hatte. Damit stand am Anfang die Wiedergeburt der Kirche mit all den Erinnerungen an das mittelalterliche bulgarische Königreich, mit dem Unterricht in bulgarischer Sprache, dem Alphabet, der Literatur usw. Dann kam die nächste Phase, die bereits erwähnte Bewegung für die Befreiung der Kirche, die ihr als Institution Unabhängigkeit verschaffen wollte. Erst später erfolgte dann der Schritt zur nächsten Etappe in der nationalen Befreiungsbewegung. Hier hat die Bulgarische Kirche offensichtlich eine wichtige Rolle für das Nationalbewusstsein und die nationale Unabhängigkeitsbewegung gespielt. Aber was könnte sie zur heutigen Situation beitragen, wo es weniger um nationale Befreiung, sondern um die Gestaltung zwischen- und übernationaler Strukturen geht? Eine meiner Ansicht nach sehr wichtige Eigenschaft kommt darin zum Vorschein, dass in der Orthodoxen Kirche die Toleranz hoch geschätzt und als immanenter Wert berücksichtigt wird. Dies ist ein gerade Bulgarien kennzeichnendes Phänomen, waren doch sogar im Mittelalter weder ketzerische Bewegungen noch andere Rivalen der Kirche religiöser Verfolgung ausgesetzt. Falls doch, geschah dies selten – ein deutlicher Gegensatz etwa zur Katholischen Kirche. Für Bulgarien war in jener Zeit religiöse Verfolgung nicht gerade charakteristisch, und besonders wichtig ist, dass sich eine solche Haltung erst später, nach dem Beginn der nationalen Befreiungsbewegung entwickelte. Die Toleranz hat in der Gesellschaft Bulgariens eine starke Tradition und einen hohen Stellenwert. Genau hier, im Zentrum von Sofia, können Sie im Umkreis von 500 Metern einen orthodoxen Dom, eine muslimische Moschee und eine Synagoge sehen, die damit in friedlicher Koexistenz nahe beieinander liegen. Hier haben wir eine bedeutende Eigenart Bulgariens, die auf den Werten der Toleranz zwischen den verschiedenen Religionen und ethnischen Gruppen basiert. Während des Zweiten Weltkriegs, als Bulgarien mit dem nationalsozialistischen Deutschland verbunden war, hat es neben Dänemark als eines der wenigen Länder Europas, die vom faschistischen Regime besetzt oder mit ihm verbunden waren, seine Juden gerettet, und zwar unter dem starken Druck der orthodoxen Kirche, der bulgarischen Öffentlichkeit und der 69 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Widerstandskräfte, die zu dieser Zeit aktiv waren. Ich denke, angesichts dieser interessanten Phänomene gilt es zu ermitteln, welche wichtige Rolle eben diese Werte, welche die Jahrhunderte überstanden haben, in der modernen Geschichte spielen. Und was gerade nach 1990 bemerkenswert ist und trotz aller Probleme und schlechten Erfahrungen meiner Meinung nach auf eine positive Seite unseres Landes verweist, ist die Tatsache, dass wir ein gut ausgewogenes ethnisches Modell haben. Die verschiedenen Religionen und ethnischen Gruppen sind gut miteinander verbunden, was die politische Entwicklung des Landes oder ihre Beteiligung an der sozialen Entwicklung der Gesellschaft betrifft. Die Orthodoxe Kirche ist ein Teil der historischen Erbschaft des Landes, ein anderer die Jahrzehnte des Sozialismus. Wenn Sie die Politik und die Werte aus der Zeit des Kommunismus mit den heutigen vergleichen, wie würden Sie diese beschreiben und worin sehen Sie die hauptsächlichen Unterschiede? Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass die menschlichen Werte und Prinzipien sehr alt, fast altertümlich sind. Die Zehn Gebote Gottes sind sehr gut formuliert. Wenn wir jetzt auf die neueste Geschichte Bulgariens und besonders auf die kommunistische Zeit blicken, werden Sie bemerken, dass die Gebote der Kommunisten den Zehn Geboten der christlichen Religion sehr ähnlich sind. Das ist auch der Grund, warum ich sie als grundlegende Werte betrachte, die sich gerade nicht mit der Zeit ändern. Das heißt, die Werteorientierung hat sich gar nicht geändert? Angesichts des großen Umbruchs der letzten eineinhalb Jahrzehnte ist eine solche Aussage erstaunlich. Selbstverständlich gibt es Dinge, die sich verändern, besonders in der Politik, zumal es in der Zeitspanne von 1989 bis 1994 im Grunde keine Politik im Sinne eines pluralistischen politischen Systems gab. Die kommunistische Partei war keine Partei, da der Definition nach eine Partei etwas ist, was die gemeinsamen Interessen eines Teils der Gesellschaft vertritt. Die kommunistische Partei dagegen war geschaffen worden, die ganze Gesellschaft zu vertreten, und von diesem Gesichtspunkt aus war sie keine politische Partei. Aus meiner Sicht war sie eher ein Teil der Verwaltung des totalitären Systems. Sehr viele Leute besaßen keine linken Neigungen, Überzeugungen oder Werte, sie waren nur deshalb in der Partei, weil dies eine Voraussetzung, ja die unvermeidliche Bedingung war, in der Verwaltung oder in irgendeinem anderen Bereich Karriere zu machen. Tatsächlich vollzogen nach 1990, als die Leute die Freiheit hatten, selbst zu wählen, sehr viele der formellen Mitglieder der Kommunistischen Partei einen fast schon extremen Wechsel ins rechte politische Spektrum. Andererseits bin ich der Meinung, dass die Sozialistische Partei sich in den letzten 15 Jahren nicht einfach nur zur Mitte hin bewegt hat. Natürlich lassen sich gewisse Punkte in unserem Programm, in unserer Politik usw. ausmachen. Aber mir scheint, die Sozialistische Partei entwickelte sich auch in eine andere Richtung und in einer ganz anderen Hinsicht. Sie wurde von einer Partei, die Teil des Staates war, zu einer normalen politischen Partei, sie öffnete sich der bürgerlichen Gesellschaft, und insofern 70 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas dies eine ganz andere Entwicklung ist, beeinflusste sie die Aktivitäten und die Politik der Partei selbst. Sie erwähnten einen der Grundwerte der Sozialdemokratie: die Solidarität. Zugleich sprachen Sie von der in Atome zerfallenen Gesellschaft. Glauben Sie, dass es gerade der jüngeren Generation an Solidarität fehlt und deshalb weniger Interesse an der Politik, der Parteiangehörigkeit und an aktiven Positionen in der Gesellschaft besteht? Ja, ich sehe das schon so, dass es in der jungen Generation weniger Solidarität gibt. Die Gesellschaft in Bulgarien hat sich tatsächlich sehr verändert, in vielen Bereichen zum Guten, doch in mancher Hinsicht auch zum Schlechten. Das ist es, was ich bereits erwähnt habe, die übermäßig verbreitete ultraliberale Denkweise und der extreme Marktliberalismus. Es herrscht das Prinzip vor, jeden anderen als einen Konkurrenten anzusehen und sich in Acht nehmen und selbst konkurrenzfähig sein zu müssen. Dieses Prinzip beinhaltet etwas sehr Schlechtes, gehen doch die grundlegenden und nationalen Werte der Solidarität und gegenseitigen Hilfeleistung allmählich verloren, und ich glaube nicht, dass das gut ist. Würden Sie den jungen Leuten empfehlen, selbst in die Politik zu gehen? Wie, glauben Sie, könnte man diese jungen, zunehmend unpolitischen Leute für die Politik interessieren, an was müsste man appellieren? Junge Leute sollten nur dann in die Politik gehen, wenn sie auch etwas verändern wollen. Immer, wenn ich jungen Leuten begegne und sie zu kritisieren beginnen, was in der Öffentlichkeit passiert, dann versuche ich ihnen zu erklären, dass die einzige Möglichkeit, etwas zu verändern, die Politik ist. Denn die Politik ist überall. Wer etwas verändern will, muss sich als Mitglied des Gemeinderats bewerben oder in eine Partei eintreten, um ihre Politik zu beeinflussen und sie in die Richtung, die man selbst will, zu bewegen. Der nächste Schritt wäre, ins Parlament zu gehen, und diesen Weg müsste man dann fortsetzen, denn die Politik ist überall und steht in jedem Moment mit unserem Leben in Berührung. Die Entscheidungen des Gemeinderats, die Entscheidungen des Parlaments, der Regierung – sie betreffen jeden, sie beeinflussen die Art, wie die Gesellschaft organisiert, wie das Ausbildungssystem oder unser Gesundheits- und Sozialsystem beschaffen ist. Das alles ist sehr wichtig, und ich bemerke das wachsende Interesse der jungen Leute für die Sozialistische Partei. Das lässt sich auch bei den Wahlen, in den Wahlergebnissen und in der Struktur der Wähler, die links gewählt haben, verfolgen. Ist die Sozialistische Partei wieder zunehmend interessant für junge Menschen in Bulgarien? Beim Zusammenbruch des Sozialismus waren es doch andere politische Kräfte, denen die Jugendlichen sich zuwandten. Tatsächlich findet derzeit ein umfassender Verjüngungsprozess der Wähler der Sozialistische Partei statt. Ich halte das für ganz normal. Sehen Sie, es ist völlig verständlich, dass in den frühen 90er Jahren, als die demokratischen Veränderungen in Bulgarien begannen, die junge Generation für die rechts-zentristischen politischen 71 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Formationen und für die Union der Demokratischen Kräfte war, weil diese die Wende repräsentierten. In jenem Moment war die Öffnung unserer Gesellschaft gegenüber der westlichen Demokratie und der Marktwirtschaft wirklich eine Revolution. Deshalb schlossen sich die meisten jungen Leute meiner Generation politisch den Mitte-RechtsParteien an. Die meisten waren dann ziemlich enttäuscht von dem, was passierte, hatte man doch versprochen, dass alles, was am sozialistischen System gut war, erhalten bleibe, soziale Sicherheit, freier Zugang zur Ausbildung und solche Dinge, aber natürlich auch, dass die Bulgaren in der Lage sein würden zu reisen und ihre Ferien auf den Kanarischen Inseln zu verbringen. Das waren die Erwartungen, die man geschürt hatte. Die Tatsache, dass gerade die junge Generation von den Wirtschaftsreformen am meisten betroffen war, führte später dann zur Enttäuschung, und viele junge Menschen kamen zu den Linken zurück. Traditionsgemäß ist eben der linke Flügel die verändernde Kraft in der Gesellschaft. Die sozialistischen Parteien sind nun einmal die Parteien, die das Unrecht und die Ungleichheit nicht hinnehmen wollen. Sie akzeptieren nicht, dass es Leute gibt, die von der Gesellschaft ausgeschlossen sind; dass die Geburt sie dazu verurteilt, nur weil sie arme Eltern hatten. Ohne Ausbildung und arm sein, ohne gute Arbeit und ohne die Chance zu reisen, das ist für die Sozialistischen Parteien nicht akzeptabel. Ich glaube, dass es das ist, was die jungen Menschen jetzt verändern wollen. Sie wollen die Freiheit haben, aktiv zu werden, sie brauchen die Möglichkeit, ihre Talente zu entfalten. Und das kann allein auf der Basis des freien Marktes niemals passieren. Bulgarien führt schon seit zehn Jahren Beitrittsverhandlungen mit der EU. Das setzt viele Veränderungen voraus im Bereich der Gesetzgebung, der Implementierung der Richtlinien usw. Aber dabei handelt es sich eher um den formalen Aspekt des Beitritts. Lässt sich dagegen auch irgendein Einfluss auf die bulgarische Gesellschaft feststellen, auf ihre Wertvorstellungen, Verhaltensweisen, Denkweisen? Die Reformen, die bei uns durchgeführt wurden, lassen sich zum größten Teil durch den Willen und die Entschlossenheit, der EU beizutreten, erklären. Das ist das hohe Ziel, das sich unsere Gesellschaft gesetzt hat: wieder in die europäische Familie aufgenommen zu werden, und zwar in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht. Wie Sie wissen, ist Bulgarien im Hinblick auf die Mitgliedschaft in der EU äußerst optimistisch, mehr als viele andere Länder in Europa. Das mag damit zusammenhängen, dass wir noch nicht Teil der Union sind. Manche Leute betrachten den EU-Beitritt mit den Augen eines Konsumenten, indem sie glauben, dass die EU, wenn wir nur erst einmal Mitglied sind, automatisch unsere Probleme lösen wird – was natürlich nicht geschehen wird, schließlich ist die EU keine Wohltätigkeitsorganisation. Die Mitgliedschaft in der EU bedeutet also nicht nur Vorteile, sie ist auch mit vielen unterschiedlichen Herausforderungen verbunden. Sind da nicht auch Enttäuschungen zu befürchten, die dann zu ganz anderen Reaktionen der Bulgaren führen könnten? Ich sehe in ihrem Optimismus grundsätzlich einen sehr positiven Trend, weil dies zeigt, dass der Wille zum Beitritt in die Europäischen Union sehr stark ist und hier ein breiter 72 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Konsens herrscht. Das unterstützt viele Reformen, die in unserer Gesellschaft durchzuführen sind. Außerdem sind die Anforderungen und die Bedingungen seitens der Europäischen Union ein Ansporn für die bulgarische Gesellschaft und die bulgarische Staatsverwaltung, für die Politiker und alle Institutionen im Land. Im Laufe dieses Prozesses werden wir uns und die bei uns geltenden Regeln verändern. Gerade deshalb glaube ich, dass der Beitritt für Bulgarien von Vorteil und wichtig ist, auch weil sich damit der Prozess der Abtrennung von den beherrschenden Mächten vollenden wird, weil es zu einer besseren Überwachung der Institutionen durch die Bürger und zur Einführung klarer Marktregeln kommen wird, die für jeden gültig sind. Wenn klare Regeln gelten, beeinflusst dies jedes Mitglied der Gesellschaft. Und genau dieser Prozess ist in Bulgarien zu sehen. Meiner Ansicht nach sind die Bulgaren, was Veränderungen betrifft, sehr flexible und anpassungsfähige Leute. Seit vielen Jahren sind wir Zeugen der schwierigen Debatten in Deutschland anlässlich der Rentengesetzreform und einiger anderer Reformen in der Sozialgesetzgebung. In Bulgarien dagegen haben wir im Laufe von 15 Jahren eine Vielzahl von Reformen gewaltigen Ausmaßes durchgeführt. Das war eine grundlegende Veränderung in der Gesellschaft, doch wir haben das überstanden und uns angepasst. Und jetzt gibt es im Rahmen des neuen Systems, in dem die Einwohnerzahl zu wachsen beginnt, Bulgaren, die diesen Wandel mitvollzogen haben und in der neuen Gesellschaft erfolgreich arbeiten und leben können. Wird sich Bulgarien an die Kriterien von Kopenhagen für die Annährung an die Europäische Union halten? Transformationsgesellschaften, die ohnehin gewaltige Anstrengungen auf sich zu nehmen haben, sind zusätzlich mit Anforderungen konfrontiert, die ihnen von außen gestellt werden. Sind hier nicht Schwierigkeiten zu erwarten? Nun, wir haben es hier mit einem anhaltenden Prozess zu tun. Es ist richtig, dass wir uns jetzt in der schwierigsten Phase der Umsetzung befinden. Doch Bulgarien hat bemerkenswerte Fortschritte in der Implementierung der Kriterien für die Mitgliedschaft in der EU gemacht und bewies während dieser ganzen Zeit, dass es ein Land ist, das die Schwierigkeiten meistern und bewältigen kann – und dies genau in einer äußerst angespannten Phase, in der sich zeigt, dass die EU selbst interne Probleme hat aufgrund der beiden fehlgeschlagenen Referenden und des Mangels an Finanzperspektiven und entsprechender Abkommen. Trotz aller Schwierigkeiten erfüllte Bulgarien seine Verpflichtungen recht zügig. Natürlich gab es eine gewisse Verzögerung und sogar einen Stillstand wegen der bulgarischen Parlamentswahlen, da die Wahlkampagnen liefen und keiner den politischen Willen aufbrachte, die vereinbarten Reformen durchzuführen. Aber nach den Wahlen haben wir nun eine neue Regierung, die im Parlament breite Unterstützung genießt und sich auf die drei größten Fraktionen und Parteien stützt. Wir brauchen diese Unterstützung, wir müssen den politischen Willen und die politischen Kräfte bündeln, um die notwendigen Reformen durchzuführen und die europäischen Kriterien vor dem Datum unserer vollen Mitgliedschaft in der EU zu erfüllen. 73 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Die von Ihnen erwähnten zwei Volksbefragungen in Frankreich und in den Niederlanden lassen erkennen, dass es gegenüber der Erweiterung Bedenken gibt. Welche Auswirkung hat das auf Bulgarien und die anderen Balkanländer? Wir sind ein Land im Durchgangsstadium, ein Land, das den Beitrittsvertrag schon unterschrieben hat. Derzeit findet in den Ländern der Europäischen Union der Ratifizierungsprozess der Erweiterungsverträge statt, aber die Frage nach der Aufnahme Bulgariens ist, wie ich glaube, schon entschieden. Die ganze Spannung dreht sich nur noch darum, ob wir bereits im Januar 2007 in die Union aufgenommen werden oder ob sich die Aufnahme um ein Jahr verschiebt. Das Endergebnis wird dies nicht beeinflussen. Bulgarien wird zur Europäischen Union gehören, und ich denke, dass sich daraus auch Vorteile für die EU ergeben, schließlich sind wir keine Bettler, die nur darauf warten, dass ihre Probleme mit Mitteln der europäischen Fonds gelöst werden. Wird der Beitritt Bulgariens auch für die EU Positives bringen? Bulgarien kann einen inhaltlichen Beitrag leisten, indem es mit seinen 15 Jahren Stabilität und erfolgreichen Reformen der ganzen Region als gutes Beispiel dient. Fragt man nach der Zukunft der Länder des westlichen Balkans, so bin ich überzeugt, dass die Mitgliedschaft Bulgariens ab Januar 2007 ein äußerst wichtiges und ermutigendes Signal für deren Entwicklung sein wird. Wir wissen ja, dass nach den ethnischen Konflikten und den Kriegen, die in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien ausbrachen, die Demokratie und die Entwicklung der Marktwirtschaft noch schwach und zerbrechlich sind. Auch der Frieden ist in diesen Ländern noch äußerst fragil; es gibt zu viele Streitfragen in der Region. Die Gesellschaften und die Politiker dieser Länder verfolgen aus unmittelbarer Nähe und mit großer Aufmerksamkeit, welches Schicksal auf Bulgarien, „den guten Schüler“ auf dem Balkan, zukommt. Und sie werden auch verfolgen, inwieweit Europa seine Verpflichtungen Bulgarien gegenüber erfüllen wird. Daher könnte für diese Länder und ihre Entwicklung eine Verschiebung der Aufnahme Bulgariens als ein negatives Signal aufgefasst werden. 74 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Meglena Kuneva, Ministerin für Europäische Angelegenheiten Dr. Meglena Shtilianova Kuneva war Ministerin für Europäische Angelegenheiten in der Regierung von Simeon Sakskoburggotski und übt dieses Amt auch in der neuen Regierung Stanischew aus. Sie ist designierte EU-Kommissarin Bulgariens ab 2007. Die promovierte Rechtswissenschaftlerin arbeitete im Hochschulbereich wie auch für den Bulgarischen Rundfunk. 1990 bis 2001 war sie juristische Beraterin des Ministerrats und arbeitete bei Gesetzesvorlagen im Umwelt-, Informations- und anderen Bereichen mit. Seit 2001 im Parlament, ist sie seither für die Verhandlungen mit der EU und für europäische Angelegenheiten zuständig. Zuerst möchten wir Ihnen zu Ihrer Wiederernennung zur Ministerin für Europäische Integration gratulieren, womit auch die Kontinuität der europäischen Politik Bulgariens in der Phase vor dem Beitritt in die Europäische Union gewährleisten ist. Sie wurden zum ersten Mal im Jahr 2001 in der Regierung des Ministerpräsidenten Simeon Sakskoburggotski zur Ministerin für Europäische Integration ernannt. Wie kamen Sie in die Politik? Als im Jahr 2001 einige meiner Kollegen von der Juristischen Fakultät der Universität Sofia den Vorschlag machten, mich zu nominieren, war meine erste Reaktion: „Nein, warum gerade ich?“ Dann aber, als ich mich Tag für Tag mit dieser Möglichkeit auseinander setzte, nahm ich den Vorschlag schließlich doch an, da ich zu der Einsicht gelangte, dass der richtige Zeitpunkt – ein reiferes Stadium der demokratischen Entwicklung – gekommen war, um Verantwortung für die Entwicklung des Landes zu übernehmen. Ich bin von Beruf Rechtsanwältin, eine ausgebildete Juristin, und ich bin der Überzeugung, dass dies, zumindest für mich, der beste Beruf ist. Ich habe Umweltschutzrecht studiert, und meine Dissertation handelte über die rechtlichen Aspekte des Umweltschutzes. Vielleicht hat dies irgendeine tiefere Bedeutung, denn die Arbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes ist eine Sache der Gesinnung. Sie ist nicht auf rein rechtliche Fragen beschränkt, vielmehr muss man bisweilen kämpfen, um das zu erreichen, woran man glaubt. Für mich ist die Arbeit auf dem juristischen Gebiet damit auch eine Frage der eigenen Überzeugung hinsichtlich dessen, was gesetzlich und was gesetzwidrig, was richtig und was falsch ist. Darüber hinaus gibt es zwischen dem, was ich heute tue, und meinem Beruf als Juristin viele Verbindungslinien, lässt sich doch die Gesellschaft tatsächlich durch rechtliche Methoden und Verfahren verändern. Man trägt Verantwortung und erfüllt die daraus entstehenden Verpflichtungen nicht nur als Mitglied einer regierenden Partei, sondern auch durch die Arbeit im Parlament, ja durch jegliche politische Beteiligung, die einem demokratischen Staatswesen angemessen ist. Schon während meiner Arbeit als juristische Beraterin des Ministerrats war ich eng mit der Politik verbunden, aber dies doch hauptsächlich vom Standpunkt des Staates aus gesehen in dem Sinne, ob und inwiefern meine Lösungsvorschläge und Empfehlungen für das Land richtig und gut waren. 75 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Inzwischen gehöre ich aber zu denjenigen Politikern, die in die Strukturen einer Partei einbezogen sind, und ich bin sehr zufrieden, dass unsere Partei als eine liberale Partei der Mitte Aufnahme im politischen Spektrum gefunden hat. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie vor 2001 nie daran gedacht, aktiv in die Politik zu einzutreten. Gab es für Sie dennoch Mentoren oder Vorbilder, die Ihre politische Karriere und Ihr politisches Leben beeinflusst haben? Nun, meine Familie hat im Bereich der Politik äußerst bittere Erfahrung gemacht. Auch wenn sie an den politischen Ereignissen keineswegs mit besonderer Aktivität teilnahmen und nur im Dienst des Landes standen, haben die Familien meiner beiden Eltern durch die Politik sehr gelitten. Aus diesem Grund war die Vorstellung, mich am politischen Leben des Landes zu beteiligen, nicht gerade attraktiv. Trotzdem kam ich letztlich zu dem Entschluss, dass nun der richtige Zeitpunkt sei, denselben Weg zu beschreiten, für den sich im Grunde viele der demokratisch gesinnten Menschen in Bulgarien entschieden haben. Dieser Weg bedeutet, das politische Leben neuen Ideen und guten demokratischen Praktiken gegenüber zu öffnen. Ich lese viel über die Zeit vor der so genannten sozialistischen Revolution in Bulgarien, also vor 1944. Aus dieser Zeit habe ich tatsächlich einige Persönlichkeiten als Vorbilder für mich entdeckt. Demgegenüber bin ich aber noch nie in Versuchung geraten, mir aus der sozialistischen Periode meines Landes Vorbilder oder Modelle zu nehmen. Ich befasse mich eingehend mit der Geschichte Bulgariens, und ich versuche, stolz auf die Geschichte des freien Bulgarien – des Bulgarien vor 1944 – zu sein und mich nicht angesichts meiner Familie, meiner Eltern und meiner Freunde schämen zu müssen. Das sind ungefähr die Umrisse meiner politischen Vorbilder. Natürlich bin ich auch stark von der Persönlichkeit des vorigen Ministerpräsidenten Simeon Sakskoburggotski 23 beeinflusst worden. Meiner Meinung nach ist er ein wirklich außergewöhnlicher Mensch, der viel für die politische Kultur und die politische Vielfalt Bulgariens geleistet hat. Sie sind Mitglied einer zentristischen Partei. Was bedeutet dies für Ihre politische Arbeit, was sind für Sie die hauptsächlichen Werte bei Ihrer Tätigkeit in dieser Partei? Selbstvertrauen. Wenn ich die Werte, die ich für maßgeblich ansehe, mit einem Wort ausdrücken sollte, so würde ich es Selbstvertrauen nennen. Das bedeutet Vertrauen in sich selbst, Vertrauen in die eigene Fähigkeit, auf die Dinge Einfluss zu nehmen und der Gesellschaft das zu geben, was jeder von uns mit den Mitteln des modernen Staates für die Leute, die sich in einer benachteiligten Lage befinden, leisten muss. Das gehört zur persönlichen Verantwortung jedes einzelnen Mitglieds unserer Gesellschaft. Diese knappe, aber klare Definition kann, wie ich glaube, der breiten Öffentlichkeit die liberalen Ideen erklären. Freilich gibt es noch viele andere Aspekte liberaler 23 Simeon Sakskoburggotski (*1937), auch Simeon von Sachsen-Coburg-Gotha. Sakskoburggotski wurde 1946 als letzter bulgarischer Zar (Simeon II.) mit Abschaffung der Monarchie abgesetzt und ging in das Spanien Francos ins Exil. Erstmals 1996 nach Bulgarien zurückgekehrt, gründete er 2001 die Nationale Bewegung Simeon II. und wurde infolge eines hohen Wahlsieges von 2001 bis 2005 Ministerpräsident. 76 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Wertvorstellungen, die sich auf eine liberale Wirtschaftsordnung, eine liberale Sozialpolitik oder eine liberale EU-Politik beziehen. Aber diese sind etwas komplizierter. Meiner Meinung nach zeichnet es einen Liberalen als Politiker aus, dafür einzutreten, dass man den Bedürfnissen des Landes mit den eigenen Kräften zu entsprechen sucht und nicht auf den Staat wartet, bis dieser sich so weit entwickelt hat, dass er den anderen Gesellschaftsmitgliedern entsprechende Sozialleistungen anzubieten vermag. Es gilt, Verantwortung zu übernehmen, und zwar unverzüglich. So lassen sich unsere hauptsächlichen Werte beschreiben. Freilich kann man nicht alles auf einmal tun, und wir wollen im Grunde keine abrupten Veränderungen unterstützen. Aber nach unserer Vorstellung wird das Land, wenn man die Marktwirtschaft mit einer angemessenen sozialen Sensibilität und doch mittels der Initiative jedes einzelnen Gesellschaftsmitglieds weiter entwickelt, anders aussehen. Es ist nicht zuletzt die Aufgabe der Politik zu definieren, was Solidarität im Rahmen der Gesellschaft, aber auch was Freiheit und Gerechtigkeit bedeuten. Können Sie uns erläutern, welche Auffassung Ihre Partei von Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit hat? Diese Werte, die Sie hier ansprechen, sind diejenigen, die uns als aufrechte Europäer bestimmen. Durch den Rechtsstaat gesicherte Gerechtigkeit – das ist ein Synonym von Staatlichkeit, das ist im Grunde der Begriff, den wir heute vom Staat haben. Vielleicht ist es sogar ein Synonym von Zivilisation. Ohne Gerechtigkeit, ohne Rechtsordnung wäre das ganze Gebilde der Europäischen Union überhaupt nicht möglich. Ohne Gerechtigkeit kann es keine Verständigung geben. Wir können innerhalb der bulgarischen Gesellschaft ohne eine an Recht und Gesetz gebundene Wirtschaft, ohne ein an Recht und Gesetz gebundenes soziales Leben oder ohne die übrigen rechtsstaatlichen Aspekte der Gesellschaft keine Verständigung erzielen. Eine strikt rechtliche Grundlage ist für einen Staat der einzige Weg zu einem gesunden gesellschaftlichen Leben. Sie haben nun bereits die Europäische Union angesprochen und auf die unverzichtbare Grundlage einer funktionierenden Rechtsordnung hingewiesen. Aber im Zuge der Referenden zur Annahme der Europäischen Verfassung haben sich in Frankreich und den Niederlanden erhebliche Schwierigkeiten abgezeichnet. Glauben Sie, dass dies eine Auswirkung auf die Länder der nächsten Erweiterungsrunde haben könnte und vielleicht den Integrationsprozess verlangsamt? Wie sehen Sie in dieser Hinsicht die Zukunft der Balkanländer? Ich bin hier sehr optimistisch, weil der Europäische Rat am 3. Oktober dem Erweiterungsprozess einen neuen Impuls gegeben hat. Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass die Erweiterung als politisches Projekt für die gesamte Europäische Union sehr wichtig ist. Als Vertreterin Bulgariens in den Beitrittsverhandlungen kann ich nur hervorheben, dass mein Land nach all den schwierigen Gesetzesreformen, den tiefgreifenden Veränderungen und dem institutionellen Aufbau nun ganz anders aussieht als davor. Bulgarien ist ein Ort, an dem sich viel besser leben lässt als noch zu Beginn der Beitrittsverhandlungen. 77 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Dieser Prozess bietet auch benachbarten Ländern eine gute Perspektive, denn er weist jedem Land, das dieselben Werte hegt und pflegt und das die Kraft aufbringt, diesen ganzen Prozess zu durchlaufen, eine prinzipielle Möglichkeit auf. Das Schwierigste daran ist vielleicht, in all diesen Jahren der langwierigen Verhandlungen den Enthusiasmus aufrechtzuerhalten. Aber wenn man es hinter sich hat und die Schwierigkeiten überwunden sind, dann ist der Gewinn für das Land enorm. Ich glaube, Sie können das, obwohl man es nicht direkt vergleichen kann, auch im Osten Deutschlands sehen. Dort lässt sich beobachten, wie die Versprechen jetzt verwirklicht werden, wenngleich es für die Ostdeutschen ein bisschen einfacher war, denn sie wurden ohne dramatische Verhandlungen zu einem Bestandteil der EU. Aber man kann sehen, wie sich dort die Lage wirklich verändert hat, seit es ein normales europäisches Land ist. Wenn man den Blick darauf richtet, um welche Länder sich die EU in Zukunft erweitern könnte oder erweitern wird, stellt sich die Frage nach dem gemeinsamen Fundament der Union. Haben Länder wie Bosnien und Herzegowina oder die Türkei dieselben Werte wie die zentraleuropäischen Länder, oder sehen Sie hier Differenzen? Es ist nicht nur wichtig, wie die Geschichte der europäischen Vergangenheit gelesen wird, sondern auch, wie wir die Geschichte der europäischen Gegenwart formulieren. Ich bin der Meinung, dass wir viel Gemeinsames haben. Europa macht aus, dass die Europäische Union ein politisches Projekt ist. Dies setzt gemeinsame Werte voraus, aber auch, sich für diese Werte einzusetzen, was schwieriger ist, als sich nur für diese oder jene Seite unserer gemeinsamen Geschichte zu interessieren oder zu behaupten, dass irgendein Land zu einem bestimmten Zeitpunkt für ganz Europa von großer Bedeutung gewesen sei, weil es mit einem Buch, einer Entdeckung oder etwas Ähnlichem einen wesentlichen Beitrag zur europäischen Entwicklung geleistet habe. Das reicht heute nicht mehr aus. An dem politischen Projekt Europas teilzunehmen bedeutet weit mehr, und dieses „Mehr“ bezieht sich auf die Zukunft, nicht auf die Vergangenheit. Europa ist heute mehr denn je ein politisches Projekt. Es ist ein Projekt, das mit unseren Einstellungen zu tun hat: zum Kyoto-Protokoll oder zu genetisch veränderten Organismen; zu der Frage, ob wir bereit sind, auf die nationalen Kompetenzen zu verzichten und sie dem Europäischen Parlament zu übergeben; ob wir bereit sind, die Regeln qualifizierter Mehrheitsentscheidungen oder der Anonymität zu akzeptieren, wenn zum Beispiel Beschlüsse über die Steuerpolitik in Europa gefasst werden. In vielen Nationalstaaten ist die Zustimmung hierzu immer noch problematisch. Auch das ist eine Seite Europas, ein Bestandteil der staatlichen Reife zum Eintritt in die Union. Wie der politische Dialog innerhalb der einzelnen Länder geführt wird, ist auch eine Frage der Werte. Die EU ist ein offenes Projekt, denn es ist auf die Gegenwart Europas gerichtet, nicht auf die Vergangenheit. Oft begründen wir mit geographischen oder historischen Argumenten unseren Anspruch, ein Teil von Europa zu sein, aber das reicht nicht aus. Gerade jetzt müssten wir so etwas wie eine europäische Berufung haben. Aber eigentlich ist die Bezeichnung „Europäer“ fehl am Platz: wir müssten als Mitglieder der Europäischen Union berufen sein, was eine tiefere Bedeutung hat. Sie haben mit Recht 78 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas auf die Problematik der Europäischen Verfassung verwiesen: es handelt sich um eine Prüfung für Europa. Wenn Europa ein politisches Projekt der Zukunft ist, stellt sich die Frage nach denen, die am meisten von dieser Zukunft betroffen sind. Denken Sie, dass junge Leute eine größere Rolle in der Politik spielen sollten? Wie schafft man es, mehr junge Leute in die Politik mit einzubeziehen? Hier stoßen wir erneut auf die Frage nach Vorbildern. In unserer Partei haben wir eine ausreichend große Zahl junger Minister gehabt, und das Durchschnittsalter unserer parlamentarischen Fraktion in der letzten Volksversammlung wie auch das der letzten Regierung war am niedrigsten. Der frühere Ministerpräsident hat oft im Scherz gesagt, dies sei seinetwegen, um sein hohes Alter zu kompensieren. In Wahrheit ist es der liberalen Partei „Nationale Bewegung Simeon II.“ gelungen, eine große Anzahl junger Leuten an sich zu ziehen. Viele von ihnen haben ihre Ausbildung im Ausland abgeschlossen. Darin, so scheint mir, folgen wir dem Modell anderer Länder, etwa unserem Nachbarn Griechenland. Die Griechen haben begonnen, ihre gebildeten und erfolgreichen Landsleute im Ausland dazu aufzufordern, sich im eigenen Land zu engagieren und an der Verwaltung teilzunehmen. Im Übrigen glaube ich, dass man nur in seinem Heimatland richtig zufrieden sein kann, denn dort kann man nicht nur etwas für sich selbst oder für seine Familie tun, sondern auch für die eigene Heimat. Dies gilt besonders für die erste Emigrantengeneration. Vielleicht ändert sich die Situation nach der ersten Generation, aber ein Gefühl von der eigentlichen Bedeutung seiner Handlungen erfährt man nur hier, in der Heimat. Zudem lebt hier die Familie, und sogar die Bulgaren, die im Ausland ansässig sind, suchen in ihrer Heimat nach Anerkennung. Ich habe viele Freunde, die im Ausland arbeiten, dort eigene Unternehmen gegründet haben und ein ziemlich stabiles Leben führen. Aber wenn wir in Bulgarien zusammenkommen, suchen sie gerade hier nach der Anerkennung dafür, dass sie wirklich erfolgreich sind und dass ihre Anstrengungen auch für die anderen eine Bedeutung haben. Der einzige Weg, die Bulgaren im Ausland wieder mit ihrer Heimat zu vereinen, besteht darin, sie einzuladen, für die Heimat zu arbeiten. Wenn sie sicher sind, dass sie sich in der Heimat verwirklichen können, dann werden sie, davon bin ich überzeugt, auch wieder zurückkehren. 79 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Jeliasko Hristov, Vorsitzender der KNSB Dr. Jeliasko Hristov ist Vorsitzender der Konföderation der Unabhängigen Gewerkschaften in Bulgarien (KNSB). Der Gründungskongress der KNSB fand 1990 statt, nachdem sich der Zentralrat der bulgarischen Gewerkschaften aufgelöst hatte. Hervorgegangen aus dem alten Gewerkschaftssystem, ist die KNSB mit derzeit rund 600.000 Mitgliedern – 1993 waren es noch 1,6 Millionen – der größte Gewerkschaftsbund. Die KNSB ist Mitglied des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften und des Europäischen Gewerkschaftsbundes. Herr Hristov, Sie sind Vorsitzender des Zusammenschlusses der Unabhängigen Gewerkschaften in Bulgarien und stehen damit im öffentlichen Leben. Was sind die für Sie entscheidenden Wertvorstellungen? Was gehört für Sie zum Menschsein? Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der die christlichen Tugenden großgeschrieben wurden. Ehrlichkeit und Anstand, Liebe, Güte und Barmherzigkeit, Achtung und Toleranz gegenüber der Meinung, der Einstellung und dem Verhalten der anderen, Engagement und Verantwortungsbewusstsein – das sind die Wertvorstellungen, mit denen ich erzogen wurde. Ich schätze Familie und Freundschaft hoch ein, und ich hasse Doppelzüngigkeit und Verrat. Später, insbesondere als ich mich für die Anliegen der Gewerkschaften als meinen Beruf und meine Berufung entschieden habe, kamen Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität hinzu. Das sind alles Werte, dank deren sich Europa aus den Ruinen eines verheerenden Krieges wieder aufrichten, die Konfrontation überwinden und das Vereinte Europa von heute schaffen konnte. Ohne Freiheit, Demokratie und Humanismus ist die Entwicklung der Gesellschaft undenkbar. Der wahre Mensch, jemand, der eine Persönlichkeit darstellt, zeichnet sich meines Erachtens durch eine gewisse Dynamik aus und ist ein engagierter Fachmann auf seinem Gebiet, er ist jemand, der sich ständig zu vervollkommnen sucht, der verantwortungsvoll, kooperativ und tolerant gegenüber der Vielfalt ist, ein stark entwickeltes Pflichtgefühl besitzt und den der Kummer und das Leid der anderen berühren. Mit diesem breiten Fundament an Werten stehen Sie an der Schnittstelle von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Gibt es einen bulgarischen oder ausländischen Politiker oder eine sonstige Persönlichkeit, der oder die bei der Ausprägung dieser Wertvorstellungen einen großen Einfluss auf Sie hatte? Abgesehen von meinen Eltern und meiner Familie, hatte den größten Einfluss auf meinen Werdegang als Mensch und Persönlichkeit der Freiheitsapostel Vasil Levski 24 mit seiner Hingabe, Uneigennützigkeit und Tapferkeit, mit seinem echten und erhabenen 24 Vasil Levski, eigentlich Vasil Ivanov Kunchev (1837-1873), Führer der bulgarischen Nationalbewegung gegen die Herrschaft der Osmanen. 1858-1864 ein Mönch, setzte Levski sich schon bald für die Unabhängigkeitsbewegung ein und versuchte, eine Erhebung in Bulgarien zu organisieren. 1872 wurde er von den Osmanen gefasst und später hingerichtet. 80 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Patriotismus. Was meine berufliche Tätigkeit betrifft, so waren mir zwei führende Persönlichkeiten der deutschen Gewerkschaftsbewegung – Hans Böckler 25 und Ernst Breit 26 – ein frühes Beispiel für die Aufarbeitung und Entwicklung der gewerkschaftlichen Werte, und infolge dieses Vorbildes war meine künftige Zugehörigkeit zur Sache der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer in Bulgarien prädestiniert. Als Vorsitzender der größten Gewerkschaft in Bulgarien war ich stark davon beeindruckt, wie sich die zwei großen Deutschen Konrad Adenauer und Hans Böckler im Nachkriegsdeutschland die Hand reichten. Und das nicht im Geiste des Populismus, nicht um sich Ruhe zu verschaffen und den bloßen Anschein eines sozialen Friedens hervorzurufen, sondern um gemeinsam ein Sozialmodell zu entwerfen und zu errichten, das mit all seinen immanenten Gegensätzen zwischen Arbeit und Kapital und seinen dennoch angemessenen Regelwerken, die für eine Ausgewogenheit in der Gesellschaft sorgten, dringend geboten war. Meine Begegnung mit Ernst Breit 1999 in Sofia wird mir ständig in Erinnerung bleiben. Vor allem beeindruckte mich seine Zuversicht, dass man auch in Krisenzeiten auf die soziale Gerechtigkeit setzen muss und die Gewerkschaften kein Recht haben, vor welchen Herausforderungen auch immer zurückzuweichen, dass sich sowohl im wirtschaftlichen als auch im sozialen Bereich selbst in schwierigen Zeiten Erfolge zeitigen lassen, wenn die Sozialpartner zueinander halten. Josef Gruber, der Leiter der Außenstelle der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sofia, übte ebenfalls einen Einfluss auf mich aus. Von den bulgarischen Politikern möchte ich Ivan Kostov 27 , Peter Stojanov 28 und Georgi Parvanov 29 nennen. Auch wenn Ivan Kostov in einer für Bulgarien schicksalhaften Zeit 25 Hans Böckler (1875-1951), seit 1894 Gewerkschafter und Mitglied der SPD; saß von 1928-1933 im Reichstag; nach 1945 am Wiederaufbau der Gewerkschaften beteiligt und ab 1949 Vorsitzender des DGB. Nach ihm ist die Hans-Böckler-Stiftung des DGB benannt. 26 Ernst Breit (*1924), Gewerkschafter; seit 1957 Mitglied der SPD, 1971-1982 Vorsitzender der Deutschen Postgewerkschaft und 1982-1990 des DGB. 27 Ivan Kostov (*1949), bulgarischer Politiker. Nach seiner Hochschultätigkeit wurde er 1990 für die Union der Demokratischen Kräfte (bulgarisch SDS) ins Parlament gewählt und Ende des Jahres in der Koalitionsregierung aus SDS und der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP, Nachfolgepartei der KP) Finanzminister. 1997 wurde er, gestützt auf das Wahlbündnis „Vereinigte Demokratische Kräfte“ der SDS mit mehreren kleineren Parteien, Ministerpräsident Bulgariens, nach den Parlamentswahlen 2001 aber von Simeon Sakskoburggotski, dem früheren Simeon II., der erst kurz davor eine eigene Wahlplattform gegründet hatte, abgelöst. 28 Petar Stojanov (*1952), bulgarischer Politiker, 1997-2002 Staatspräsident. Der Anwalt Stojanov war als Mitglied des SDS 1991/92 stellvertretender Justizminister; ab 1994, inzwischen stellvertretender Vorsitzender der Partei, gehörte er dem Parlament an. 1997 wurde er als Kandidat der bürgerlichen Opposition zum Staatspräsidenten gewählt. 29 Georgi Parvanov (*1957), bulgarischer Politiker, seit 2002 Staatspräsident. Parvanov ist seit 1981 Mitglied der Bulgarischen Sozialistischen Partei. 1994 war er stellvertretender Vorsitzender, 1996-2002 Vorsitzender der BSP. Seit 1994 Abgeordneter, löste er nach den Präsidentschaftswahlen 2001 Stojanov in dessen Amt ab. 81 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas an der Spitze einer rechten Regierung stand, als es galt, unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen, hatte er doch eine staatsmännische Denkweise und war sich der großen Bedeutung des sozialen Dialogs und der Rolle der Gewerkschaften im Zuge der Reformierung der Gesellschaft bewusst. In dieser Periode haben wir gemeinsam die neuen Sozial- und Arbeitsgesetze Bulgariens geschaffen, und zwar im Sinne des modernen europäischen Sozialmodells. Ernst Breit hat mir Mut gegeben, Emilio Gabaglio 30 moralische Unterstützung. Aber angesichts Ihrer Wertehaltung als Gewerkschafter – wenn man die jetzige Situation im Lande betrachtet, gewinnt man doch das Gefühl, dass jeder vor allem an sich denkt. Ist das ein Phänomen des Übergangs und hat vielleicht damit zu tun, dass die früheren Beschränkungen der Freiheit im Kommunismus nun weggefallen sind, oder ist es charakteristisch für die Bevölkerung auf dem Balkan? Diese Feststellung trifft tatsächlich zu, und das macht mir große Sorgen. Ich halte den Umstand für bedenklich, dass die alten Werte vernichtet wurden, ohne dass sich zwischenzeitlich neue etabliert haben. Der Schock, den der Fall der Berliner Mauer für Millionen bedeutete, führte zu einer Verwirrung der Werte, zur völligen Ablehnung alles Alten und zu dem Versuch, sich von der Vergangenheit gänzlich abzunabeln. Bei einem Großteil der Menschen verwandelten sich der einst propagierte Kollektivismus, die behauptete Einheit individueller, kollektiver und öffentlicher Interessen und das durch Bewusstsein oder durch konformistische Anpassung eingeübte kollektive Verhalten in ihr Gegenteil, den Individualismus. Ich befürchte, dass der Individualismus in seinen irrationellen Formen zunehmend im Wertesystem unserer Gesellschaft dominieren wird und dass er auf die Familie übergreift, die für uns Bulgaren von alters her von großem Wert ist, aber nun immer mehr zerrüttet wird. Für viele werden Rücksichtslosigkeit, Egoismus oder Flegelhaftigkeit geradezu zu Tugenden. Aber eine solche Wertehaltung ist von den europäischen Werten weit entfernt. Allerdings glaube ich nicht, dass der Individualismus ein Charakteristikum der Bevölkerung auf dem Balkan ist, das man dann als gegeben hinnehmen müsste. Er ist vielmehr ein Ergebnis des Übergangs, bei dem die Lasten ungleichmäßig verteilt sind und nun, nachdem sich der Staat von seinen paternalistischen Funktionen immer weiter zurückzieht, jeder auf seine eigene Weise versucht, mit der Situation fertig zu werden, auch wenn er dabei manchmal die Interessen anderer verletzt. Dieses Ausbleiben einer wahren Solidarität steht in Konflikt mit den Grundlagen der Gewerkschaftsbewegung. Wenn man diese Diagnose einer zunehmend egoistischen Gesellschaft erstellt, fragt man sich doch, wie mit dieser Problematik umzugehen ist. Sehen Sie in diesem Zusammenhang positive Werte und Wertvorstellungen aus der kommunistischen Zeit, die beim derzeitigen Wandel von Gesellschaft und Wirtschaft hilfreich sein könnten, auch gerade für Sie und Ihre gewerkschaftliche Arbeit? 30 Emilio Gabaglio (*1937), Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschafter, seit 1991 zum Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes gewählt. 82 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Hier in Bulgarien scheint mir das nicht angebracht. Die Begriffe „Freiheit“, „Solidarität“ und „Gerechtigkeit“ besaßen auch bei den Entscheidungsträgern in den kommunistischen Gesellschaften großes Ansehen, aber sie blieben hohle Phrasen, trugen nichts zur Veränderung bei und wurden nicht zu Werten der Gesellschaft. Die „Solidarität“ strahlte einen ideologischen Primitivismus aus, die „Gerechtigkeit“ bestand in Belehrung und Gleichheit in Armut, und der Begriff „Freiheit“ ist niemals im Kontext der Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen interpretiert worden. Eine Neuentdeckung von Werten ist immer ein schwieriger Prozess, doch in den Übergangsjahren nahm dies für große Gesellschaftsschichten dramatische und schmerzhafte Züge an. Es ist schwierig, ein Fünftel der erwerbsfähigen Bevölkerung, das jetzt arbeitslos ist, davon zu überzeugen, dass Vollbeschäftigung in der Marktwirtschaft eine Chimäre ist. Wie kann man in den 35 bis 40 % der in Elend und Armut lebenden Menschen den Glauben wecken, dass sie doch noch den richtigen Ausweg finden können und die Öffentlichkeit mit ihrem Schicksal solidarisch ist, wenn die Polarisierung zwischen Arm und Reich solch drastische Ausmaße annimmt? Diese Menschen sind nicht frei, sie können sich der menschlichen Würde nicht erfreuen, weil sie mit den täglichen Sorgen und Ängste um ihr und ihrer Familien Überleben belastet sind. Sie sind auch nicht imstande, Verantwortung zu tragen, weil nur freie Menschen verantwortungsvoll sein können. Ich sage dies voller Schmerz, aber ohne eine Spur Sehnsucht nach der Vergangenheit. Der historisch einzig mögliche Vergleich mit dem Kommunismus ist fürchterlich, denn für viele war es damals kennzeichnend, gleichgültig und an die Unfreiheit gewöhnt zu sein. Wenn wir uns heute unter den Bedingungen einer realen politischen Demokratie mit der Unfreiheit abfänden, käme dies einem Selbstmord gleich. In gewisser Hinsicht freilich bildeten die sagenhafte Ausdauer der Bulgaren und ihr Glaube, dass auch ohne ihr entscheidendes Eingreifen alles in Ordnung gebracht werde, ein günstiges Umfeld für den politischen Übergang, für das Vermeiden von Gewalt und Blutergießen. Sie trieben mit ihm aber auch einen bösen Scherz – denn ein Großteil der bulgarischen Gesellschaft hat es nicht vermocht, seine Wertvorstellungen zu überdenken, und die Zivilgesellschaft ist unterentwickelt geblieben. Bedeutet das, dass es aus der Zeit des Kommunismus nichts gibt, das sie heute vermissen? So pauschal kann man das nicht sagen. Ich denke, wir müssen unsere Vergangenheit mit einer gewissen Vorsicht behandeln. Ich bin ein Gegner der beiden extremen Herangehensweisen an unsere jüngere Geschichte, deren eine alles, was war, radikal ablehnt, während die andere sich nach der Vergangenheit sehnt und sie ohne jegliche Aufarbeitung akzeptiert. Unter den Bedingungen autoritärer Staatlichkeit gab es im Kommunismus mehr Sicherheit für das Leben, es gab in gewisser Hinsicht Ordnung, Staatlichkeit und Institutionalität. Ich kann nicht akzeptieren, dass heute das Gesundheitssystem, das Bildungswesens oder die Sicherheit zu Waren werden, was für die meisten Menschen in unserem Land „Luxuswaren“ bedeutet. Ich kann es nicht akzeptieren, dass es in unserem Lande mittlerweile etablierte Arbeitsverhältnisse gibt 83 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas mit Einstellungen ohne Verträge und Sozialversicherungen, mit ausbleibender Bezahlung der Löhne und Gehälter im Wert von Hunderten Millionen Leva, mit 15-16stündigem Arbeitstag, ausbleibender Bezahlung der Überstunden, mit der massenhaften Verletzung von Arbeits-, ja sogar von Menschenrechten, mit vorherrschenden Bedingungen eines wilden Kapitalismus, unter denen Tausenden von Frauen in den Werkstätten griechischer und türkischer Unternehmer arbeiten. So etwas hat es bislang nicht gegeben, und dabei befinden wir uns doch heute im 21. Jahrhundert und wollen nach Europa. Mit Europa haben Sie ein wichtiges Stichwort gegeben. Ihr Land wird bald ein Mitglied der EU sein, nachdem es einen vielschichtigen Prozess durchlaufen hat, um die Aufnahmebedingungen zu erfüllen. Haben Sie das Gefühl, dass bei den Beitrittsverhandlungen die alten EU-Mitglieder Beschlüsse gefordert haben, die in Wahrheit für Ihr Land gar nicht geeignet sind? Ja, das stimmt. Hier könnte man auf die geforderte Stilllegung des Atomkraftwerks „Koslodui“ verweisen, liegen doch Expertenprognosen vor, die vor den negativen Folgen für die Energiewirtschaft und den damit zusammenhängenden ungünstigen sozialen Auswirkungen – steigende Strompreise, Rückgang der Beschäftigung und Abbau von Arbeitsplätzen – warnten. Ein weiteres Beispiel ist die Annahme einer 7jährigen Übergangsregelung für die Freizügigkeit der Menschen aus den Beitrittsländern. Ein Teil der bevorstehenden Probleme resultiert aus der einseitigen Form der Beitrittsverhandlungen. Im Grunde gibt es keine Verhandlungen, vielmehr werden den Beitrittsländern gewisse Regeln vorgeschrieben und lediglich über die Modalitäten und Fristen verhandelt. Dies könnte, insbesondere nach dem Beitritt, in einigen Sektoren ungünstige Folgen haben. Die Erfahrungen aus früheren Beitritten zeigen, dass damals die Verhandlungen sanfterer Natur waren. Offen gesagt habe ich das Gefühl, dass es in der letzten Zeit an europäischer Solidarität mangelt, vor allem seitens des „alten Europa“ gegenüber den neuen Beitrittsländern. Dies ist besonders dann besorgniserregend, wenn wir in unserem neuen Europa mehr als einen gemeinsamen Warenmarkt und als ein System der kollektiven Sicherheit sehen wollen. Nach der Ablehnung der Europäischen Verfassung bei den Referenden in einigen EU-Ländern stellt sich nun die Frage, welche Einstellung die EU-Bürger zum Beitritt Bulgariens haben, in schärferer Form. Andererseits sind die Ängste der Menschen dort um ihr Vermögen, ihre Arbeitsstelle und die soziale Sicherheit durchaus verständlich. Sie heben die unmittelbaren Schwierigkeiten des Beitrittprozesses für Ihr Land und seine Gesellschaft hervor. Aber wenn man den Blick noch einmal auf die grundlegende Ebene der Werte richtet, was hat dieser Prozess Bulgarien hier an Positivem oder Negativem gebracht? Bulgarien hat am 25. April den EU-Beitrittsvertrag unterzeichnet. Ohne Zweifel ist dies eine historische Chance für unser Land – aber eine Chance, die ein hohes Maß an Verantwortlichkeit und Engagement verlangt. Regierung, Wirtschaft und die 84 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas verschiedenen Arbeitssektoren stehen vor zahlreichen Herausforderungen. Die Beitrittsverhandlungen und die Anstrengungen, die Bulgarien zur Erfüllung der ökonomischen und sozialen Kriterien auf sich genommen hat, haben zweifelsohne dazu beigetragen, das Land in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft umzugestalten. Der Anschluss an die Werte des vereinten Europa – Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit – wird freilich ein Prozess sein, der Zeit braucht. Dabei müssen wir uns die Möglichkeit offen halten, die sozialen Rechte aller Bulgaren, zu denen sich unser Land durch die Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta verpflichtet hat, wahrzunehmen. Wir, die KNSB und ich persönlich als ihr Vorsitzender, wollen uns nach wie vor für den sozialen Dialog, für die Arbeits-, Sozial- und Gewerkschaftsrechte, für die Gewährleistung gerechter Arbeitsbedingungen und für eine würdige Lebensperspektive aller bulgarischen Bürger einsetzen, denn andernfalls können wir kein Teil des vereinten Europa sein. Aber wie kann Ihr Land es schaffen, diese Grundhaltung und Werteorientierung in seiner Gesellschaft zu etablieren, in der Demokratie und Marktwirtschaft erst seit einigen Jahren einen Platz haben? Meiner Ansicht nach reicht eine bloße Popularisierung nicht aus. Diese Werte müssen konkret durch bestimmte institutionelle und administrative Mechanismen zur Geltung und Anwendung gebracht werden. Die Demokratie als politische Ordnung ist undenkbar, wenn ihr nicht eine angemessene Wirtschaftsordnung entspricht, würde doch sonst die Freiheit als Wert an Inhalt verlieren, denn was heißt politische Freiheit ohne wirtschaftliche Freiheit. Bei der Frage um die menschliche Freiheit als solche geht es nicht um die Erklärungen von Vorhaben und Absichten, sondern um die Gestaltung einer Politik, die dem einzelnen Bürger die Erfüllung seiner wichtigsten wirtschaftlichen und sozialen Bedürfnisse sichert. Wir setzen auf mehr Freiheit und soziale Gerechtigkeit, auf wirtschaftliche Stabilisierung und mehr Sicherheit. Das lässt sich aber nur erreichen, wenn wir uns selbst täglich für den Aufbau der Zivilgesellschaft einsetzen und die Haltung eines aktiven Bürgers einnehmen. Wir können hier nicht mit Hilfe von außen rechnen; niemand kann uns diese Arbeit abnehmen. Es muss klar sein, dass wir einen europäischen Lebensstandard nicht umsonst erhalten werden, sondern dass wir ihn durch Bürgerbewusstsein und unseren Einsatz selbst erreichen müssen. Der Beitritt in die Europäische Union ist kein Wochenendausflug, die Umsetzung der gesamteuropäischen Werte wird viel Anstrengung, Talent und Willenskraft abverlangen, damit die Menschen der Balkanländer, zu denen auch wir Bulgaren gehören, ihren Beitrag zum großen europäischen Projekt leisten können. Aber um noch einmal auf Ihre konkrete Frage zurückzukommen: Ich bin nicht der Ansicht, dass die Beitrittsverhandlungen irgendwelche negativen Werte für Bulgarien mit sich gebracht haben. Wie bereits gesagt, sind unsere Probleme bei den Wertvorstellungen mit dem Transitionsprozess in unserem Land verbunden. 85 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Betrachten wir doch die Sache aus der umgekehrten Perspektive, da sie ja schon von dem Beitrag der Balkanländer zu Europa gesprochen haben: Welche Werte Bulgariens werden sich Ihrer Meinung nach positiv auf die anderen EU-Mitglieder auswirken? Das bulgarische Identitätsbewusstsein und seine Bedeutung für Europa stützt sich ohne Zweifel auch auf die Vergangenheit des Landes. Der bulgarische Staat existiert schon seit über 1300 Jahren, und bereits Ende des 9. Jahrhunderts hat Bulgarien zwei bedeutungsvolle Schritten – die Bekehrung zum Christentum und die Übernahme des slawischen Schrifttums – unternommen, die als seine ersten Integrationsschritte anzusehen sind. Die Heiligsprechung der Schöpfer des bulgarischen Alphabets und ihre Ernennung zu Schutzpatronen Europas ist etwas, das wir Europa geben könnten. Bulgarien hat Europa und der Welt John Atanasoff, den Erfinder des Computers, sowie viele hervorragende Sänger und Musikinterpreter gegeben. Die bulgarische Folklore und das „Mysterium der bulgarischen Stimmen“ imponieren nach wie vor durch Vollkommenheit und Einmaligkeit. Ein weiterer Beitrag unseres Landes wird ohne Zweifel das Beispiel multiethnischer Toleranz sein, eine Toleranz, die es ermöglicht, trotz Differenzen in kultureller Vielfalt zusammenzuleben und Geistesgröße zu bewahren; ebenso das große intellektuelle Potential der Bulgaren und besonders der Jugend. Zugleich bin ich mir bewusst, dass sich ohne geteilte Verantwortung, allein mit einem individuellen und nationalen Selbstbewusstsein keine gemeinsamen europäischen Werte aufbauen lassen. Sie haben eben auf das große Potential der bulgarischen Jugend verwiesen. Dies impliziert, dass diese Jugend am Transformations- und Integrationsprozess einen wesentlichen Anteil nehmen sollte. Aber auf der anderen Seite haben die Parteien in Südosteuropa beachtliche Schwierigkeiten, junge Menschen für eine politische Betätigung zu gewinnen. Was muss hier geschehen, damit sich dies ändert? Sie haben Recht, tatsächlich interessieren sich immer weniger junge Menschen für Politik und politische Parteien. Ähnlich steht es auch um die Gewerkschaften. Wir müssen alles tun, damit sie uns glauben und begreifen, dass sie nicht manipuliert und für eigennützige Zwecke benutzt werden. Die Jugend darf sich nicht ausgenutzt vorkommen. Vielmehr sollten wir ihr zu der Überzeugung verhelfen, dass sie die Geschicke des Landes tatsächlich mitbestimmen und an den genannten Prozessen teilnehmen kann. Die Politiker müssen von Lügen, Unwahrheiten, Populismus, billigen Versprechungen und schönen Losungen Abstand nehmen. Die Jugendlichen brauchen keine schmeichelnden Worte, sondern aktives Handeln, durch das ihr jetziges Leben, und zwar hier in Bulgarien, besser wird, damit sie nicht aus Sorge um ihren Unterhalt auswandern müssen. Eine Erklärung für dieses Phänomen scheint mir der sich ausbreitende Individualismus zu sein, von dem wir bereits sprachen. Der einzelne Bürger und insbesondere die jungen Leute sind immer weniger bereit, sich als Teil einer politischen, beruflichen oder sonstigen Gemeinschaft zu betrachten. Dies führt zum Rückzug von den politischen Parteien und auch von den Gewerkschaften. Offensichtlich braucht die politische Klasse in Bulgarien eine neue politische Kultur des Kompromisses und des Konsenses anstelle 86 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas des Hochmuts und der Aggression im politischen Leben, eine Zuwendung zu den realen Problemen der Menschen und ein offenes Ohr für die Probleme der Jugend. Der Beitritt Bulgariens in die EU steht im größeren Zusammenhang der Globalisierung, mit der sich die Länder dieser Welt konfrontiert sehen. Spielen in diesem Zeitalter der Globalisierung Ihres Erachtens Werte wie Solidarität, Freiheit und Demokratie noch eine Rolle? Im Grunde zielt Ihre Frage darauf, ob diese Werte im Zeitalter der Globalisierung nicht eine Utopie sind. Die Globalisierung mit allen ihren ökonomischen Vorteilen hat zugleich eine zutiefst gespaltete Welt entstehen lassen, und zwar nicht nur zwischen Habenden und Habenichtsen, zwischen Reichen und Armen, sondern auch zwischen Zonen des Friedens und Zonen der Konflikte. Sie schafft eine Welt und eine Lebensführung, die immer unsicherer und vom Zufall abhängig sind, eine gnadenlose, jeglicher Solidarität beraubte Welt, eine Welt mit ihrem eigenen Wertesystem, das freilich von sozialer Gerechtigkeit weit entfernt ist. Diese neuen Realitäten sind wahrhaftig eine gewaltige Herausforderung für Werte wie Freiheit, Solidarität und Demokratie. Aber meiner Meinung nach wächst gerade deshalb ihre Bedeutung, weil die neuen Möglichkeiten, welche die Globalisierung bietet, durchaus auch für einen anhaltenden Zuwachs und die Verbesserung der Lebensbedingungen der meisten Menschen genutzt werden könnten und müssten. Mehr denn je brauchen wir eine globale Zusammenarbeit, um Alternativen insbesondere zu Hunger, Armut, Krankheiten und Kriminalität zu ermitteln. Daher unterstützen wir auch voll die Forderung der ILO und der internationalen Gewerkschaften nach einer „Globalisierung mit humanem Gesicht“, nach einer Globalisierung in Richtung Wachstum, soziale Gerechtigkeit und Stabilität. Und wir wollen weiterhin Druck auf die Regierung ausüben, was die übernommenen Verpflichtungen im Zusammenhang mit den Entwicklungszielen des neuen Jahrtausends 31 betrifft. 31 Damit dürften die infolge der von den Mitgliedsstaaten der UNO verabschiedeten Millenniumserklärung im Jahr 2001 formulierten Millenniums-Entwicklungsziele gemeint sein. 87 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Mazedonien Radmila Šekerinska, ehem. Stellvertretende Premierministerin der Republik Makedonien Radmila Šekerinska war zwischen dem 1. November 2002 und August 2006 Stellvertretende Premierministerin der Republik Mazedonien und in der Regierung mit der Europäischen Integration und der Koordination ausländischer Hilfe betraut. Sie war von 1995 bis 1999 Vorsitzende der Sozialdemokratischen Jugend Mazedoniens und bis 1999 Zweite Vorsitzende des Sozialdemokratischen Bundes Mazedoniens (SDMS). 19961998 Mitglied des Stadtrats von Skopje, saß sie von 1998 bis 2002 für den SDMS im mazedonischen Parlament und nahm Funktionen in ihrer Fraktion wie auch in verschiedenen parlamentarischen Ausschüssen wahr. Nach ihrem Studium der Elektrotechnik hatte sie zunächst als Assistentin im Hochschulbereich gearbeitet; 2004 gewann sie den Preis des Weltwirtschaftsforums und wurde Mitglied der Young Global Leaders. Das Gespräch fand am 12. Oktober 2005 in Skopje statt. Politik kann definiert werden als die Einflussnahme auf die Ordnung und die Gestaltung des Gemeinwesens aufgrund bestimmter Wertvorstellungen und ausgehend von einem konkreten Menschenbild. Wie sind Ihre Wertvorstellungen und wie ist Ihr Menschenbild? Sie fragen mich nach der Motivation als Politikerin. Nun, in Transformationsgesellschaften ist die Politik kein besonders geschätzter Beruf. Oft haben europäische Kollegen mich gefragt, was mich dazu bewogen habe, diesen undankbaren und schlecht angesehenen Beruf zu ergreifen. In meiner Antwort ging ich oft von der These aus, dass unser persönliches Leben unsere ganz eigene Wahl ist. Die Frage der Zukunft und der Entwicklung eines Landes ist hingegen eine Frage der gemeinsamen Wahl. Ich habe mich in einer Zeit der Krise und der schwerwiegenden Transformation unserer Gesellschaft entschieden, an diesem Prozess der Veränderung mitzuwirken. Schon in der Vergangenheit wollte ich mich nicht einfach mit dem Zustand, in dem wir uns befanden, zufrieden geben. Mazedonien brauchte Veränderungen und braucht sie immer noch. Über diese Frage herrscht Konsens. Dabei stellen sich jedoch zwei Fragen. Die erste: Welche Veränderungen? Die zweite: Wer soll diese Veränderungen unterstützen? Zu diesen beiden Fragen gibt es verschiedene Standpunkte. Meiner Meinung nach ist eine besonders schlechte Erbschaft des Sozialismus und des ehemaligen jugoslawischen Staatsverbandes unsere Passivität als Bürger. Das sage ich, ohne eine hundertprozentige Kritikerin des Sozialismus zu sein. In diesen 50 Jahren hat Mazedonien sich stark verändert. Wir haben uns aus einem vorwiegend landwirtschaftlich geprägten und nur ungenügend gebildeten Land zu einer Gesellschaft entwickelt, in der Bildung ein bedeutende Rolle spielt. Aber vor allem in den letzten 20 Jahren des Sozialismus hat sich die Bevölkerung Mazedoniens wie vermutlich auch die der anderen Teilrepubliken daran gewöhnt, dass jemand anderer für sie die Entscheidungen trifft. Das ist zum einen sehr undemokratisch. Zum anderen, und das ist meiner Meinung nach noch schlimmer, beschreibt es einen Zustand ausgeprägter 88 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Konformität: Ich entscheide nichts, also trage ich auch keine Verantwortung. Genau hier, glaube ich, fand die tiefstgreifende der Reformen statt, die wir in den letzten 15 Jahren hatten – die Bereitschaft, persönlich und gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Ich denke, die wichtigste Aufgabe, welche die Politiker in dieser Region und in dieser Zeit haben, ist es, eine Perspektive zu definieren, an ihr zu arbeiten und für die Unterstützung der entsprechenden Veränderungen in der Gesellschaft zu sorgen. Verantwortliches Handeln ist für Sie offensichtlich einer der zentralen Kategorien im heutigen politischen Leben Mazedoniens. Wertvorstellungen sind beispielsweise aber auch Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität. Gibt es, neben dem bislang Gesagten, Wertvorstellungen, die Ihnen besonders wichtig sind? Wenn ich meine Antwort noch weiter ausgeführt hätte, hätte ich versucht, ein Gleichgewicht zwischen dem Prinzip der individuellen Verantwortung und demjenigen der Solidarität zu finden. Aber ich habe mich entschieden, Ihnen diese Antwort zu geben, weil ich der Meinung bin, dass uns gerade das, was ich beschrieben habe, im Moment am meisten fehlt. Für mich persönlich gehört zu den grundlegenden Werten auch die Chancengleichheit, die nur durch das Solidaritätsprinzip möglich ist. Das Prinzip der Chancengleichheit kann man bei uns in verschiedener Hinsicht betrachten. Bislang war in der politischen Rhetorik die Fokussierung auf das Ethnische dominant, also Chancengleichheit für die Angehörigen aller ethnischen Gruppen. Das ist für Mazedonien sicherlich sehr wichtig. Es gibt keine stabile multiethnische Gesellschaft – die ohnehin sehr schwierig ist – ohne Chancengleichheit. Aber das Prinzip beinhaltet noch mehr, es muss auch auf die Geschlechter bezogen werden und sozial sein. Natürlich sind Freiheit und Menschenrechte auch für mich grundlegend, aber wenn ich wählen könnte, würde ich sagen, dass das Prinzip der Chancengleichheit für mich persönlich sehr wichtig ist. Wenn man einen Vergleich zu früheren Zeiten zieht, sagen wir vor 20 oder 30 Jahren – lässt sich hier ein Wandel der Wertvorstellungen in der Gesellschaft erkennen oder sind diese im Wesentlichen gleich geblieben? Das ist eine schwierige Frage. In der Politik analysieren wir Tag für Tag und vergessen dabei, 20 oder 30 Jahre zurückzublicken. Aber da wir eine Gesellschaft in der Übergangsphase sind, gibt es noch keine endgültige Antwort. Einige Bereiche der Gesellschaft haben sich sehr schnell, andere haben sich überhaupt nicht verändert. So war das Solidaritätsprinzip ein wesentliches Merkmal der mazedonischen Gesellschaft und ist es auch geblieben. Dagegen sind die Prinzipien Freiheit, Menschenrechte und Demokratie meiner Meinung nach erst jetzt akzeptiert worden. Wenn man die mazedonische Gesellschaft und ihre Schwächen analysiert, so scheint sie mir die typischen Schwächen der anderen europäischen Gesellschaften zu haben, nur sind diese Probleme bei uns viel ausgeprägter. Das Positive an der mazedonischen Gesellschaft ist – und ich meine damit nicht das „ethnische Konzept“ – die große Offenheit, die gegenüber dem Anderen innerhalb der eigenen Gesellschaft, aber auch darüber hinaus besteht. Insofern ist sie also nicht xenophob, wenngleich zwischen den ethnischen Gruppen ein gewisses Maß an 89 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Misstrauen und Angst herrscht. Das lässt sich auf den Einfluss der Ereignisse um uns herum und die zahlreichen Konflikte auf dem Balkan zurückführen. Aber alle Umfragen in der mazedonischen, der albanischen und anderen kleineren ethnischen Gemeinschaften zeigen, dass kein Interesse besteht, irgendwelche radikalen, extremen oder militärischen Lösungen oder Konflikte zu unterstützen. Das ist eine gute Grundlage, und in einem solchen Staat ist es wichtig, durch eine bessere Kommunikation zwischen den ethnischen Gemeinschaften ein tieferes Vertrauen zu schaffen. Kommen wir doch zu Ihnen als Politikerin zurück. Wir haben schon einiges über Ihre Motivation gehört. Aber wie gelangten Sie letztendlich in die Politik? Das geschah tatsächlich ganz zufällig und ungeplant. Nicht mal mein Abschluss hat etwas mit Politik zu tun. Ich bin Elektroingenieurin und habe als wissenschaftliche Assistentin an der Fakultät für Elektrotechnik der Universität Skopje gearbeitet. Meine beruflichen Pläne gingen deshalb auch eher in Richtung einer akademischen und technischen Laufbahn. Als ich Mitglied der politischen Partei SDSM wurde, hatte ich zunächst nur die Absicht, deren Politik zu unterstützen, war ich doch der Überzeugung, dass man in solchen Umbruchszeiten Parteien beistehen müsse, die rationale und keine radikalen Lösungen anbieten. Das war 1992, als ich die Aktivitäten einiger Abgeordneter des SDSM unterstützt habe. Aber die Entwicklung ging dann dahin, dass ich mich langsam immer intensiver mit Politik beschäftigte. Bis 2002 wollte ich nicht zugeben, dass die Politik mein Beruf ist, aber nun kann ich das nicht mehr leugnen. Gibt es für Sie, auch wenn sie nach Ihren Aussagen eher allmählich und unabsichtlich die berufliche Laufbahn einer Politikerin einschlugen, Vorbilder oder Mentoren für ihr eigenes politisches Engagement? Wir sind ein kleines Land, und deshalb gibt es kein wirklich gut funktionierendes System politischer Mentoren. Als ich 1992 in die Politik ging, war der SDSM keine Partei, die viele Jugendliche anzog, da diesen Anfang der 90er Jahre eine härtere Rhetorik gefiel. Uns wenigen, die wir Parteimitglieder wurden, widmete die Parteiführung viel Aufmerksamkeit. Der jetzige Staatspräsident, der derzeitige Finanzminister und unser Botschafter in Athen waren damals in der Parteiführung, und sie haben uns geholfen und in die Politik eingeführt. Würden Sie denn heute den jungen Menschen empfehlen, in die Politik zu gehen und sich dort zu engagieren? Denjenigen, die wirklich etwas tun möchten, empfehle ich es von ganzem Herzen. Viele meiner Freunde, meiner Kollegen und der Menschen, die ich schätze, sagen mir, dass sie nicht in die Politik gehen würden, weil es ein unehrlicher oder undankbarer Beruf sei und weil Politik oft nur als Kampf um persönliche Interessen erscheine. Wenn aber solche Leute, die dies stört und die einen solchen Zustand ändern möchten, nicht in die Politik gehen, dann kann es nur bergab gehen. Ich provoziere dann gerne und sage: Es ist natürlich am einfachsten, beiseite zu stehen, zu beobachten und zu kritisieren. Wer 90 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas meint, dass die politische Szene in Mazedonien frische Kräfte braucht, muss auch bereit sein, darin zu investieren. Die Politik ist ein Beruf, der dich 24 Stunden am Tag und 365 Tage pro Jahr in Anspruch nimmt. In diesem Sinne ist er undankbar. Wenn ich im nächsten Geschäft Brot kaufen gehe, bin ich immer noch Politikerin und muss aufpassen, wie ich mich verhalte, mit wem ich spreche und was ich sage. Manchmal ist das schon belastend. Aber andererseits kann man in der Politik innerhalb kurzer Zeit mehr Erfahrungen sammeln als in einem anderen Beruf. In diesen 10 Jahren habe ich so viele Menschen getroffen, so viele Erfahrungen gemacht, so vieles gehört und gesehen, wozu ich in einem anderen Beruf vermutlich 30 Jahre gebraucht hätte. Als Politikerin sind Sie für Ihre Effektivität und Effizienz besonders bekannt. Wenn Sie an Tugenden denken, welche sollte ein guter Politiker unbedingt mit sich bringen? Braucht es da nicht ein wenig Klugheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeitsempfinden? Es gibt drei wesentliche Eigenschaften, ohne die überhaupt nichts geht. Erstens braucht man Entschlossenheit, zweitens muss man zuhören können, und drittens muss man bei der eigenen Arbeit im weitesten Sinne des Wortes ehrlich sein. Es gibt viele ehrliche Politiker, die zu keinen Ergebnissen kommen, weil sie keine Entscheidungen treffen. Es gibt auch Politiker, die leicht Entscheidungen treffen, aber nicht auf die Meinungen der anderen hören. Sie können dann zwar Teil eines Teams sein, es wird ihnen aber nicht gelingen, in führende Positionen zu gelangen. Auch sehr wichtig ist, das habe ich noch nicht erwähnt, dass ein Politiker seine Eitelkeit kontrollieren muss. Wir sind ständig in den Medien präsent, und wenn wir bisweilen Fehler in der Politik machen und sie dann nicht zugeben, sondern sie verheimlichen, um unsere Eitelkeit zu schützen, ist das ganz schlecht. Man sollte schon zu Beginn sagen: Auch mir können Fehler unterlaufen, aber ich werde versuchen, dass es so wenige wie möglich bleiben. Damit das dann aber auch der Fall ist, muss man ein offenes Ohr für die Meinungen der anderen haben. Wie wichtig ist für Sie – als Politikerin und als Mensch – Gerechtigkeit? Welchen Stellenwert hat Sie bei Ihnen? Für mich persönlich – und ich hoffe auch für viele andere Politiker und Bürger der Republik Mazedonien – ist Gerechtigkeit ein Konzept, das uns von klein auf beigebracht wurde, sowohl durch die Literatur, die wir gelesen, als auch die Filme, die wir gesehen haben. Ihre Helden führten oft beispielhaft vor, dass die Gerechtigkeit ein Modell ist, dass sich immer lohnt. Sie muss die Grundlage sein, auf der wir uns als Persönlichkeit entwickeln. Sie ist nicht nur ein menschliches, sondern auch ein gesellschaftlich rationales Konzept. Ich möchte nun gerne auf die europäische Integration Mazedoniens zu sprechen kommen. Denken Sie, dass Mazedonien für eine EU-Mitgliedschaft schon reif ist, oder sind noch viele Schritte notwendig, um das Land an die EU heranzuführen? 91 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Um es ganz ehrlich und offen zu sagen: Im Moment hat Mazedonien nicht die Reife, um ein Mitglied der EU zu werden. Mazedonien ist aber bereit für den Status eines EUBeitrittslandes. Ich möchte ihnen meinen Standpunkt mit Hilfe des Konzepts der Gerechtigkeit, von dem wir gerade sprachen, erklären. Bei einem Teil der Bürger der Republik Mazedonien gibt es eine gewisse Tendenz, an die europäische Gerechtigkeit zu appellieren, damit dem Land ein Beitrittsstatus zugesprochen wird. In solchen Situationen sagen wir, dass Mazedonien in den 15 Jahren seiner Selbstständigkeit stets ein loyaler und treuer Partner der EU war. In jeder Krise, in der die EU eingriff, hat Mazedonien ihr seine Hilfe angeboten und diese Zusage auch eingehalten. Wir stellten unser Land den Militär- und Polizeimissionen der EU als Stützpunkt zur Verfügung und nahmen Flüchtlinge aus mehreren unserer Nachbarstaaten auf. Aber ich bin nicht der Meinung, dass dies unser einziges Argument ist, und ich glaube auch nicht, dass es ausreicht. Natürlich fände ich es gerecht, wenn die EU auf den mazedonischen Antrag positiv reagiert. Aber wir müssen die EU und die Mitgliedsstaaten auch davon überzeugen, dass unser Beitritt sinnvoll ist. Mazedonien hat sich gewaltig verändert und erfüllt nun den größten Teil der Kriterien für die EU-Mitgliedschaft. Es hat eine recht stabile Wirtschaft, die aber noch nicht ausreichend wettbewerbsfähig ist. Das war aber schon ein Problem vieler Aufnahmeländer – auch die früheren Berichte der Kommission über die Beitrittsländer, die 2004 Mitgliedstaaten wurden, bemängelten dies. Aber die Verhandlungen und die diesen Ländern gestellten Bedingungen haben zu großen Veränderungen in ihnen geführt, und zum Zeitpunkt ihres Beitritts waren sie dann bereit. Kurzum: wir sind für die neuen Bedingungen, für eine starke Kontrolle durch die EU, aber auch für eine Entscheidung, die Mazedonien unterstützen wird. Sehen Sie die EU angesichts der gescheiterten Referenden zur Verfassungsfrage in Frankreich und den Niederlanden in einer Krise? Und wenn es so ist, glauben Sie dann, dass dies Auswirkungen auf den Balkan haben wird? Es ist offensichtlich, dass die EU sich derzeit einer Selbstprüfung unterzieht. Das zeigt sich in mehreren Ländern ganz deutlich, und ich denke, dass bei solch komplexen Strukturen, wie sie die EU hat, dies etwas ganz Natürliches ist. Betrachten wir die letzten 50 Jahre des europäischen Kontinents, so könnten wir sie als eine Epoche mehrerer kleinerer Revolutionen und einer gewaltigen, aber stillen Revolution beschreiben. Diese Revolution hat den ganzen Kontinent transformiert, und sie hat auch Probleme aufgeworfen. Die EU versucht Antworten zu finden auf die Fragen, wie weit die Erweiterung gehen und auf welchen Grundprinzipien und –werten sie beruhen soll: auf Effizienz, Macht oder Solidarität, oder auf allen drei zusammen? Weder teilen alle Mitgliedstaaten dieselbe Geschichte, noch haben sie die gleichen Traditionen oder Gewohnheiten. Hier kamen Zweifel an die Oberfläche, die dann im Ratifizierungsprozess behandelt werden mussten. Mir scheint, die beiden Referenden haben auf den Erweiterungsprozess einen negativen Einfluss, war doch der Erfolg der Osterweiterung das Ergebnis einer starken und selbstbewussten EU. Es war klar, dass 92 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Deutschland und Frankreich die Führung übernahmen, das Konzept definierten und dann alles taten, damit es erfolgreich angewandt wurde. Für diese Union wäre der Balkan nach der Klärung einiger Statusfragen unter dem Gesichtspunkt der Erweiterung eine Kleinigkeit gewesen. Mazedonien hat insgesamt 2 Millionen Einwohner. Wenn es morgen Mitgliedstaat werden würde, bekäme niemand irgendwelche negativen Effekte dieser Entscheidung zu spüren. Aber es handelt sich um eine größere Entscheidung: Was passiert mit dem Balkan? Es gibt weder eine strategische noch eine politische Rechtfertigung für die These, dass die EU ohne den Balkan vollständig sein könnte. Der Preis eines nicht integrierten Balkans wäre viel höher als der Preis seiner Integration. Deshalb ist die Entscheidung der EU, Verhandlungsgespräche mit Kroatien zu beginnen, positiv zu bewerten, und wir hoffen, dass es ein Zeichen dafür ist, dass der Prozess weitergeht. 93 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Teuta Arifi, stellv. Vorsitzende der Partei DUI und Parlamentarierin Als Professorin für Multikulturelle Studien an der Universität Tetovo tätig, ist Dr. Teuta Arifi zugleich die zweite Vorsitzende der Demokratischen Union für Integration, der 2002 gegründeten albanischen Partei in der Republik Mazedonien, und derzeit Abgeordnete im Parlament. Sie ist eine der bekanntesten politischen Figuren der mazedonischen Albaner, Vorsitzende des parlamentarischen Komitees für Internationale Beziehungen und Mitglied der Delegation des mazedonischen Parlaments im Europarat. Als Wissenschaftlerin wie auch als Politikerin widmet sie sich besonders dem Thema der albanischen Minderheit in Mazedonien sowie der Frage nach der Gleichstellung der Geschlechter. Das Gespräch fand am 13. Oktober 2005 in Skopje statt. Frau Dr. Arifi, Sie sind als Wissenschaftlerin und als Politikerin aktiv. Wenn man Politik als die Einflussnahme auf die Ordnung und die Gestaltung des Gemeinwesens aufgrund bestimmter Wertvorstellungen und eines konkreten Menschenbildes definiert – welche sind ihre Wertvorstellung und ihr Menschenbild? Wichtig sind für mich Ehrlichkeit und Fleiß, dass man offen über anstehende Fragen spricht, direkt ist und immer für die gleichen Rechte für alle kämpft. Das sind meine persönlichen Werte, für die ich mich auch schon eingesetzt habe, bevor ich Politikerin geworden bin. Was mein Menschenbild betrifft, so sehe ich den wesentlichen Unterschied zwischen dem Menschen und den anderen Lebewesen im menschlichen Gewissen. Das Hauptmerkmal des Menschen ist sein Gewissen ist, dieser Punkt ist für mich das Wichtigste. Sie sind Abgeordnete der noch jungen Partei „Demokratische Union für Integration“, die sich auf die albanische Bevölkerungsgruppe Mazedoniens stützt. Wie steht Ihre Partei zu den sozialdemokratischen Werten – natürlich gibt es diese Werte auch bei anderen politischen Parteien– Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität? Im Programm unserer Partei haben wir vier Grundwerte festgeschrieben: Gleichheit, Chancengleichheit, Solidarität und Freiheit. Wie Sie sehen, teilen wir die Werte, die Sie genannt haben. Glaube und Religion waren früher oft von großer Bedeutung für die Herausbildung der Werte in einer Gesellschaft, und teils sind sie dies auch noch heute, wenngleich ihr Gewicht in den westlichen Gesellschaften doch deutlich zurückgegangen ist. Wie groß ist Ihrer Ansicht nach die Rolle von Glaube und Religion in der heutigen mazedonischen Gesellschaft? Prinzipiell ist die Religion ein wichtiger Teil jeder Gesellschaft. Als Teil des Lebens aller Menschen hat sie sicherlich Einfluss darauf, welche Werte sich in einer Gesellschaft und damit in den Beziehungen der Menschen untereinander herausbilden. Hier scheint mir der Wert der Solidarität besonders wichtig. In unserem Parteiprogramm dagegen – und dies bedeutet in den politischen Vorstellungen, die wir haben und die wir vermitteln 94 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas wollen – treten wir für das Konzept einer säkularen Gesellschaft und eines säkularen Staates ein. Wir sind also für die Trennung von Staat und Glaube, da unserer Meinung nach nur säkulare Gesellschaften sich als tolerante Gesellschaften gestalten lassen. Das gilt insbesondere für multikonfessionelle Gesellschaften. Wie bereits angedeutet, sind Sie Mitglied einer noch jungen, erst 2002 gegründeten Partei. Wie sah Ihr Einstieg in die Politik aus? Eigentlich bin ich Universitätsprofessorin und komme damit aus dem akademischen Leben. Zwar habe ich auch schon früher politische Texte geschrieben, war aber nie Mitglied einer politischen Organisation. In die Politik kam ich, als nach der Unterzeichnung des Rahmenabkommens von Ohrid 2001 und damit der Beendigung des Konflikts 32 klar wurde, dass die Menschen, die Teil der damaligen Guerilla waren, auch am politischen Leben mitwirken mussten. Zum anderen war offensichtlich, dass der politische Block der Albaner neuer politischer Kräfte bedurfte, die sich für die vollständige Umsetzung des Abkommens von Ohrid und seiner Werte einsetzen würden. Meiner Meinung nach sollten die Intellektuellen auch an den politischen Bewegungen und dem politischen Leben mitwirken, da die Politik intellektuelle Werte und Einstellungen braucht. Gibt es Personen, die Sie als Vorbilder oder Mentoren in Ihrer politischen und akademischen Laufbahn stark beeinflusst haben? Im akademischen Leben war der von mir hochgeschätzte Professor Ferid Muhić mein Mentor. Er betreute mich im Laufe meines akademischen Werdeganges vom Studium bis hin zur Promotion. Muhić ist einer der berühmtesten Philosophen der Region und war zur Zeit des Kommunismus für seine Standpunkte hinsichtlich der Toleranz und des interethnischen Zusammenlebens bekannt. Deshalb war er für mich in meinem persönlichen und politischen Werdegang, aber auch als Intellektuelle ein Vorbild. Natürlich habe ich auch viele politische Ideen aus internationalen Texten übernommen, ohne allerdings Vorbilder nennen zu können. Ich habe Werke von Henry Kissinger, von dem ich viel lerne, und Winston Churchill gelesen, und ich tue das immer noch. Uns geht es in unseren Gesprächen mit Politikern der Region um die Werte, die hinter dem politischen Handeln stehen. Um hier noch einmal auf die schon genannten sozialdemokratischen Ideale zurückzukommen – was verbinden Sie mit diesen? Ihre Partei scheint mir ja eine deutliche sozialdemokratische Ausrichtung zu haben. Persönlich bin ich sozialdemokratisch eingestellt und bestehe darauf, dass auch die Partei eine solche Orientierung einschlägt. Zwar distanzieren wir uns in der Partei von 32 Das am 13. August 2001 unter Vermittlung von EU und den USA in Ohrid unterzeichnete Abkommen zwischen Vertretern der albanischen und der slawischen Bevölkerung Mazedoniens beendete den durch Aktionen extremistischer albanischer Freischärler im Nordwesten des Landes entstandenen Konflikt. Die Demokratische Union für Integration (DUI) wurde Ende Mai 2002 gegründet und trat im November desselben Jahres in eine Koalitionsregierung mit dem Sozialdemokratischen Bund für Mazedonien (SDSM) ein. 95 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas einer rein ideologischen Orientierung, da es zu früh scheint, sich auf eine bestimmte Richtung festzulegen, aber ich halte die sozialdemokratische Idee für die richtige, und wir sollten sie uns stärker zu Eigen machen. Für mich sind die Werte der Sozialdemokratie – also die sozialen Rechte, der Aspekt der Behandlung der Ausländer, der Anderen und der Frauen –progressive Werte, die wir fördern sollten. Als politische Partei haben wir sehr viel im Bereich der ethnischen Rechte getan und tun dies immer noch; die Diskussionen um die ethnische Orientierung scheint für uns also besonders schwerwiegend zu sein. Aber ich bin überzeugt, dass eine politische Partei eine ideologische Linie – sei es links, rechts oder in der Mitte – haben muss. Wir werden auch innerhalb unserer Partei zunehmend mehr ideologische Diskussionen haben und uns nicht auf den ethnischen Aspekt und die interethnischen Rechte beschränken können. Mit dem Aspekt der interethnischen Beziehungen und der Rechte ethnischer Gruppen haben Sie eine zweifellos zentrale Frage der politischen Entwicklung Mazedoniens in den letzten Jahren genannt. Was wird in dieser Hinsicht in Ihrer Partei diskutiert? Wie stellen Sie sich das Zusammenleben der ethnischen Gemeinschaften vor? Für unseren politischen Auftrag war es eine große Herausforderung, einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, der, ausgehend vom Abkommen von Ohrid, die ethnischen Beziehungen und die ethnischen Rechte in Mazedonien umfassend und abschließend regelt. Die hauptsächlichen Fragen drehten sich in dieser Zeit um die Hochschulbildung in albanischer Sprache und die Universität Tetovo; um die Dezentralisierung, die zwar eine politische Frage ist, aber eine ethnische Dimension hatte; um die Verwendung der Sprache, etwa der albanischen Sprache im Reisepass und in anderen Unterlagen; um die Frage der ethnischen Fahnen, die auch eine ethnische Frage ist. All dies war für unser politisches Mandat von hoher Priorität. Das wird sich aber in Zukunft ändern, weil wir diese Fragen langsam abgeschlossen und sie mit positiven Rechtsnormen geregelt haben. Wenn Sie mich nach unseren Vorstellungen über das Zusammenleben der ethnischen Gruppen in Mazedonien fragen – natürlich setzen wir uns für ein Mazedonien ein, in dem alle ethnischen Gemeinschaften integriert sind. Wir machen uns aber auch für die Gleichbehandlung und die gleichen Rechte und Chancen für alle stark, also für das Prinzip der Nichtdiskriminierung, das die Gestaltung einer integrierten Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht. Sehen Sie sich in Ihrer Partei bei der Durchsetzung dieser Rechte als ausschließliche oder doch hauptsächliche Interessenvertretung der eigenen Minderheit oder ethnischen Gemeinschaft, also der Albaner, oder verstehen Sie sich als Vorkämpferin für die Rechte aller ethnischen Gemeinschaften, die in Mazedonien leben? Wir sind der Ansicht, dass wir, indem wir uns für unsere eigenen Rechte einsetzen, dies auch für die Rechte der anderen tun. In unserem politischen Programm steht, dass wir auch mit den anderen ethnischen Gemeinschaften in Mazedonien Partnerschaften bilden. Das Rahmenabkommen von Ohrid bietet Möglichkeiten und gleiche Chancen für 96 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas alle ethnischen Gemeinschaften. Wenn wir uns beispielsweise für gleiche und faire Beschäftigungsmöglichkeiten der ethnischen Gemeinschaften im öffentlichen Bereich, etwa bei der Polizei, einsetzen, erfolgt diese Beschäftigung proportional zum Prozentsatz der jeweiligen ethnischen Gruppe an der Bevölkerung. Das wären für die Albaner 25 Prozent, für die anderen ethnischen Gemeinschaften entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Wenn man sich also für Minderheitenrechte einsetzt, kann man dies nicht nur für die eigene Volksgruppe tun, sondern teilt diese Werte mit den anderen. Unser Ansatz ist es, dass diese Werte und Rechte für alle gelten müssen. Obwohl es das Rahmenabkommen von Ohrid nicht vorsah, haben wir auch unterstützt, dass die persönlichen Daten auf der zweiten Seite des Reisepasses in der Muttersprache des Inhabers eingetragen werden. Aber nur, wenn dieser es wünscht. Vielleicht haben manche Bedenken, dass damit ihre ethnische Angehörigkeit gleich zu erkennen ist und ihnen ein Stempel aufgedrückt wird: Du gehörst zu dieser oder jener Gruppe. Das kann sein, aber ich denke, dass die Menschen die Möglichkeit haben sollen, die Daten in ihrem Pass in der eigenen Sprache eintragen zu lassen – und zwar als ein Recht, das sie in Anspruch nehmen können. Darüber, dass die Daten auf der ersten Seite des Passes auch in albanischer Sprache stehen können, gehen die Meinungen auseinander. Manche befürchten, dass dies zu Diskriminierungen führen kann. Darauf möchte ich antworten, dass die ethnische Zugehörigkeit wie ein Kreuz ist, das man tragen muß und das manchmal durchaus schwer sein kann. Aber man kann auch stolz darauf sein und für tolerante Beziehungen in der Gesellschaft einstehen. Die anderen werden sich in zwei Jahren daran gewöhnen, dass es Menschen mit Pässen und Daten in einer anderen Sprache gibt. Das ist nicht so schlimm und auch nicht das Ende der Welt. Nachdem wir uns über einige grundlegende innermazedonische Fragen unterhalten haben, möchte ich nun auf die Europäische Union zu sprechen kommen. Glauben Sie, dass Ihr Land für eine Mitgliedschaft in der EU schon reif ist? Mein Land ist sicherlich nicht reif genug, um 2006 Vollmitglied der EU zu werden. Es ist aber reif genug, um Anfang 2006 Beitrittsland zu werden. Was verbinden Sie mit dem Kandidatenstatus? Warum ist das so wichtig für Sie? Wir werden bei den Reformen ein schnelleres, zügigeres Tempo haben. Wir werden mehr und stärkere Partnerschaften haben. Als Beitrittsland bekommen wir Zugang zu Fonds für die Unterstützung der inneren Reformen, was für unsere Bürger ein wichtiges Signal wäre. Die Bürger Mazedoniens haben eine lange Zeit der Unruhe, aber auch eine der Stabilisierung des Landes nach dem Konflikt hinter sich. Ungeachtet dessen, dass uns noch viele Jahre schwieriger Arbeit bevorstehen, ist unser Ziel klar: die EUMitgliedschaft, und aus den genannten Gründen ist sie sehr wichtig für uns. Darüber hinaus hätte sie für die Region eine große Bedeutung, würde sie doch signalisieren, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben und dass es sich lohnt, sich für 97 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Stabilität und Frieden, für eine multiethnische Gesellschaft und entsprechend für die Umsetzung des Rahmenabkommens von Ohrid als einen klaren Weg Mazedoniens in die EU einzusetzen. Politische Beobachter in Ihrem Land sprechen von einem ziemlich fragilen Staat. Sehen Sie das ebenso, dass der derzeitige Zustand noch sehr zerbrechlich ist? Besteht möglicherweise die Gefahr, dass ethnische Spannungen wieder aufflammen könnten? Ich bin nicht der Auffassung, dass unser Staat oder unsere Gesellschaft besonders fragil sind, schließlich haben wir es geschafft, die schwierigsten Zeiten zu überwinden. Wenn wir jedoch eine negative Antwort bekommen, wenn der Eindruck entsteht, dass es im Prozess unserer NATO- und EU-Mitgliedschaft keine Fortschritte gibt und unsere Interessen nicht anerkannt werden – dann, so befürchte ich, wird dies ein falsches Signal aussenden. Denn es würde bedeuten, dass wir uns umsonst für das Funktionieren einer multiethnischen Gesellschaft eingesetzt haben. Die politische Klasse in Deutschland ist der Ansicht, dass viele der Probleme auf dem Balkan durch eine mittelfristige EU-Integration endgültig gelöst werden können. Teilen Sie diese im Grunde ja recht optimistischen Erwartungen? Ja, durchaus. Es ist sehr wichtig, dem Balkan eine europäische Perspektive zu geben, denn die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft ist die Antwort auf alle ethnischen Probleme und all die negativen Projektionen, die ethnische und territoriale Lösungsansätze vorschlagen. Für die Balkanländer gibt es keine andere Perspektive als die europäische. Freilich müssen wir unsere Arbeit und unsere Aufgaben hier erledigen, aber ebenso erwarten wir von den Institutionen in Brüssel eine gerechte und positive Antwort. Die Region und gerade Mazedonien nach dem Abkommen von Ohrid ist ein Standort, in den die Internationale Staatengemeinschaft sehr viel investiert hat, was den Frieden und die Gestaltung einer neuen Gesellschaft betrifft – ob es sich nun um finanzielle Mittel, um Soldaten, den Prozess der Entwaffnung oder die Bildung neuer Werte handelt. All das sind faktisch Direktinvestitionen der Internationalen Staatengemeinschaft, insbesondere der EU, und deshalb gehen wir davon aus, dass sie ihre Investitionen auch schützen wird. Wenn wir nun nicht allein die Präsenz von Soldaten oder Europol betrachten, sondern auch die von Nichtregierungsorganisationen, die Veränderungen der NGOs hier im Lande auf Druck der EU oder die Förderung durch die EU – welchen Einfluss hat die Internationale Gemeinschaft auf die Veränderungen der mazedonischen Gesellschaft der letzten 15 Jahre gehabt? Hat sich dadurch auch das Wertesystem verändert? Die Präsenz der Internationalen Gemeinschaft gehört meiner Ansicht nach mit zum Besten, was Mazedonien passieren konnte. Eine gewisse internationale Präsenz hatten wir bereits nach der Selbstständigkeit des Staates, aber ich denke, dass der Interventionismus im Sinne Woodrow Wilsons für Mazedonien sehr wichtig war, weil er uns direkt vor einem Bürgerkrieg verschonte. Dass die Internationale Staatengemeinschaft in unseren Konflikt im Gegensatz zu anderen Konflikten in der Region umgehend intervenierte, trug wesentlich dazu bei, dass wir unsere Gesellschaft 98 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas nach dem Konflikt stabilisieren konnten. Deshalb schätze ich die Rolle der internationalen Staatengemeinschaft äußerst positiv ein, und ihre Präsenz habe ich nie als eine Art Druck verstanden. Ganz im Gegenteil – es war der Wunsch, uns zu helfen, damit wir so schnell wie möglich Mitglied des Clubs der Länder werden, die diese Werte teilen: die Demokratie, die Menschenrechte, gleiche Rechte für alle trotz der Verschiedenheiten, die Entwicklung der Toleranz. Natürlich müssen dazu diese Werte auch Teil unseres umfassenden und politischen Systems sein, und ich denke, dass dies allen einleuchtet. Aber ist das bei der Gesellschaft, bei der normalen Bevölkerung auch so angekommen? Hat sich aufgrund dieses Einflusses das Denken in der Bevölkerung in den letzten 15 Jahren tatsächlich verändert? Sehen wir uns doch die neuesten Umfragen an. Über 80 Prozent der Bürger sprechen sich für eine EU-Mitgliedschaft aus, wollen also die europäischen Werte sowohl aus politischen als auch selbstverständlich aus wirtschaftlichen Gründen teilen. Dabei lässt sich ein positiver Wandel feststellen, wenn wir die Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft betrachten. Unmittelbar nach dem Konflikt war sie bei der albanischen Bevölkerung mit 80 Prozent sehr hoch, dagegen bei der mazedonischen sehr niedrig, was auf die unterschiedliche Wahrnehmung des Konflikts und der internationalen Intervention zurückzuführen ist. In den jüngsten Umfragen dagegen sind 70 Prozent beider Bevölkerungsgruppen für eine NATO-Mitgliedschaft Mazedoniens. Wahrscheinlich haben wir lange Zeit gebraucht, um diese Werte zu akzeptieren. Die Bürger haben eine positive Meinung über die Internationale Staatengemeinschaft, aber sie haben natürlich nicht täglichen Kontakt mit ihren Vertretern, so wie wir. Sie haben jedoch die positiven Wirkungen der zahlreichen internationalen Projekte zu spüren bekommen, und das wird sicherlich auch in Zukunft so sein, wenn es mehr internationale und ausländische Investitionen geben wird. Frau Arifi, Sie sind zu einer Zeit ins politische Leben getreten, als dies aufgrund der Konflikte in der mazedonischen Gesellschaft kein einfaches Terrain war. Was zeichnet Ihrer Auffassung nach einen guten Politiker aus? Welche Eigenschaften sollte er oder sie haben? Das ist eine recht philosophische Frage, die etwas Nachdenken erfordert. Zunächst sollte ein guter Politiker seinen Beruf ernst nehmen und nicht als eine Möglichkeit ansehen, sich in kurzer Zeit persönlich zu profilieren oder aus den Tiefen der Anonymität in die große Öffentlichkeit aufzusteigen. Ein guter Politiker ist jemand, der die Politik als die Kunst des Möglichen versteht und versucht, mit demokratischen Instrumenten das Bestmögliche für seine Wähler und die Bürger seines Staates durchzusetzen. Ein guter Politiker ist jemand, der sich für die Rechte aller Menschen einsetzt, auch für die Rechte derer, die anders sind als er. In seinem Mandat versucht er etwas zu machen, was vor ihm niemand getan hat – er muss ein bisschen revolutionärer sein als die anderen, auch wenn das für ihn in seiner Partei nicht sehr angenehm ist. Aber dafür lohnt es sich, Politiker zu sein. Ein guter Politiker kann die anderen davon überzeugen, dass seine Politik die beste ist – auch in der Praxis. Er steht 99 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas den politischen Gegnern direkt gegenüber, ist stark und überzeugt mit Argumenten. In seiner Partei ist er ein kritischer Geist und nimmt gegenüber der Arbeit seiner Parteigenossen eine kritische Haltung ein. Schließlich sollte ein guter Politiker Kompromisse machen können, damit die beste Lösung erreicht wird. Aber er darf nie bei seiner Persönlichkeit und seinen menschlichen Werten Kompromisse eingehen. 100 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Mirjana Borota-Popovska, St.-Cyril-Methodius-Universität Dr. Mirjana Borota-Popovska leitet am Institut für soziologische, politische und rechtliche Studien der St.-Cyril-Methodius-Universität in Skopje das Zentrum für Entwicklung der menschlichen Ressourcen. Neben der Organisation und Teilnahme an zahlreichen Forschungsprojekten und weiterer Hochschultätigkeit führte sie auch Trainingsprogramme für Management in den Bereichen der freien Wirtschaft, der öffentlichen Verwaltung und in Nichtregierungsorganisationen durch. Das Gespräch fand am 12. Oktober in Skopje statt. Frau Dr. Borota-Popovska, Sie sind Leiterin des Zentrums für die Entwicklung des Managements und der menschlichen Ressourcen. Können Sie uns schildern, was die Schwerpunkte Ihrer Untersuchungen sind? Am Institut für soziologische, politische und juristische Forschung beschäftige ich mich mit der Untersuchung der Managerpraxis und der damit verbundenen Werte. Die letzte Untersuchung befasste sich anhand eines repräsentativen Beispiels damit, welche Einstellung Beschäftigte zu ihrer Arbeit haben. So wurde etwa untersucht, wie die Arbeitsplätze und das Arbeitssystem gestaltet sind. Ergebnisse der Studie, die sich vergleichen lassen, beziehen sich etwa auf Macht und Einfluss, die Arbeitswerte, die Leistungen, Frauen als Beschäftigte und Managerinnen und die Kommunikation innerhalb des Betriebes. Eine andere und neuere Untersuchung widmet sich der Dezentralisierung als einem sehr aktuellen und wichtigen Prozess. Konkret wurde untersucht, was die Bürger von der Dezentralisierung halten und ob sie glauben, dass die Leistungen in der Gemeinde sich verbessern werden. Der Dezentralisierungsprozess begann offiziell am 1. Juli 2005 mit der Übertragung von Gebäuden, Grundstücken und ähnlichen Dingen. Zwar wurde das Gesetz über die Dezentralisierung bereits 2001 verabschiedet, das Gesetz über die Finanzierung der Gemeinden jedoch erst später. Deshalb bezog sich eine ganze Reihe der Fragen auf die Einschätzung der Bürger, ob es bisher schon gewisse Veränderungen, Verbesserungen der Dienstleistungen und eine Annäherung der Gemeindeverwaltungen an die Bürger gegeben hat und ob die Menschen eine positiv Meinung darüber haben. Im Ergebnis zeigte sich, dass es keine Unterschiede hinsichtlich der Beurteilung der einzelnen Zuständigkeiten gab. Vielmehr haben die Bürger immer die gleiche Meinung über alle Zuständigkeiten der Gemeinde und wünschen, dass alle Dienstleistungen besser werden. Wenn ich vielleicht direkt hierzu eine Frage stellen darf? Wie weit steht Ihrer Ansicht nach dieses Ergebnis mit einer Haltung in der Gesellschaft in Verbindung, vom Staat weiterhin ein sehr großes Maß an Leistungen zu erwarten? Da scheint es doch eine sehr passive Haltung in der Bevölkerung zu geben, die vor allem auf das Handeln des Staates setzt, ohne selbst aktiv zu werden, und die, was die Untersuchung zeigt, sehr viel mehr Dienstleistungen erwartet. Heißt das nun mindestens so viel öffentliche Leistungen wie im Kommunismus vor 15 Jahren, oder haben wir heute doch eine andere Haltung? 101 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Wir haben keine Haltung, die nur darauf abzielt, öffentliche Leistungen in Anspruch zu nehmen. Ich bin der Auffassung, dass die Bürger sich dessen bewusst sind, was kommunale Selbstverwaltung bedeutet. Das kann man anhand der Antworten zu einem weiteren Komplex der genannten Studie aufzeigen. Es wurde gefragt, ob die Bürger bereit seien, bei Entscheidungen und ihrer Implementierung mitzuwirken. Dabei wurden die Fragen bewusst nach einer Mitwirkung auf rein ehrenamtlicher Basis gestellt. Es war also klar, dass nicht einmal die entstandenen Kosten erstattet würden. Interessant sind die Ergebnisse, weil ganze 40 % bereit waren, ehrenamtlich mitzuwirken. Wir versuchten dann, diese Antworten mit den sozialen Strukturen in Verbindung zu setzen, um zu sehen, welche Bürger bereit sind, an diesen Prozessen mitzuwirken. Teilweise ist es bei uns zu einer Verzerrung der Ziele gekommen, indem manche Bürgermeister, die gewisse Aktivitäten einleiteten, die Partizipation der Bürger mehr als eine Möglichkeit verstanden, politisch Punkte zu sammeln oder bestimmte soziale Probleme kurzfristig aus der Welt zu schaffen. Früher wurden Sozialhilfebezieher für Reinigungsarbeiten und andere Aktivitäten in der Stadt eingesetzt, wofür sie eine Vergütung erhielten. Der Grundgedanke ist jedoch, dass die Gemeinde, wenn sie die Partizipation der Bürger erhöhen will, das intellektuelle Kapital aktivieren muss. Aus diesem Grund waren unsere Ergebnisse bei derjenigen Gruppe besonders interessant, die über ein intellektuelles Kapital verfügt: das sind Arbeitslose mit Hochschulabschluss, Studenten, Beschäftigte im öffentlichen Sektor und andere Beschäftigte mit Hochschulabschluss in der Wirtschaft. Die Ergebnisse zeigen, dass sie alle bereit sind, an der Arbeit der Kommune mitzuwirken. Die Arbeitslosen und die Studenten erklärten sich sogar bereit, so viel Zeit wie erforderlich einzubringen. Aber auch die Beschäftigten im öffentlichen Sektor und die in der freien Wirtschaft sagten, dass sie bereit seien, sich in der Kommune zu engagieren und bis zu einer Woche ihrer Freizeit dafür zu opfern. Diese Zahlen sind vielleicht ein Beleg dafür, dass das Verantwortungsbewusstsein der Bürger gestiegen ist und sie nicht mehr erwarten, dass ein anderer alles für sie macht, sondern dass sie bereit und willig sind, sich zu engagieren. Ich befürchte, dass demgegenüber bei den Institutionen selbst das Wissen und die Bereitschaft, die Menschen zur Mitwirkung zu motivieren, geringer sind. So haben wir die Bürger auch gefragt, ob sie denn über die Übertragung der Zuständigkeiten an die Gemeinden informiert worden seien. Aber Informationen erhielten sie vielleicht durch das Fernsehen und einen Teil der Zeitungen, kaum jedoch von ihren Kommunen oder vom Ministerium für die kommunale Selbstverwaltung. Leider muss ich daraus schließen, dass die Institutionen nur wenig bereit sind, die Bürger zu aktivieren. Das sind interessante Ergebnisse. Bedeutet dies nun, dass die Bevölkerung Mazedoniens in den letzten 15 Jahren der Transition auf der Ebene der Werte und Einstellungen selbst einen Transformationsprozess durchlaufen hat und nun bereit ist, mehr Verantwortung zu übernehmen, als das im Kommunismus noch üblich war? Bedeutet dies, dass die Bevölkerung in einem neuen Mazedonien der Demokratie, der zivilgesellschaftlichen Aktivität angekommen ist? 102 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Ja, ich denke, dass das der Fall ist. Aber dieses Engagement und diese Teilnahme sollten Gegenstand einer gut koordinierten und durchdachten Aktion sein. Ich weise noch einmal auf die Untersuchung hin. So habe ich etwa erwartet, dass die Nichtregierungsorganisationen am besten über diese Prozesse informieren würden, da viele NGOs zu diesem Zeitpunkt gegründet worden sind. Aber entgegen meinen Erwartungen haben die NGOs am wenigsten informiert. Ich vermute, dass die NGOs sich eher an potentiellen Gebern und weniger an der Umsetzung wirklicher Aktivitäten orientieren. Das klingt nach einer engen Anbindung der NGOs an die Wirtschaft, nach einer regelrechten NGO-Industrie! In diese Richtung geht es. Das kann man kritisieren, aber viele NGOs haben keine ständigen Finanzierungsquellen oder Kontakte zu staatlichen Behörden, für die sie bestimmte Aktivitäten durchführen oder kontrollieren würden. Möglicherweise findet das Verhalten mancher NGOs hier seine Gründe und kann insofern gerechtfertigt werden. Persönlich bin ich der Auffassung, dass dieser Sektor nicht differenziert genug ist. Aber alles braucht seine Zeit und einen Zuwachs an Erfahrung. Wir sprachen nun von den Werten und Einstellungen der Bevölkerung Mazedoniens und konnten hierbei durchaus Positives feststellen. Gibt es Ihrer Auffassung nach in diesem Bereich Unterschiede zwischen den verschiedenen Ethnien in Mazedonien? Ich vermute, dass es hier durchaus Unterschiede gibt. Die Grundwerte der beiden großen Bevölkerungsgruppen Mazedoniens, der Mazedonier und der Albaner, ihre religiösen Überzeugungen und die inneren Werte der jeweiligen ethnischen Gruppe unterscheiden sich mit Sicherheit. In meinen Untersuchungen berücksichtigte ich auch die ethnische Zugehörigkeit. Nun richteten sich unsere Fragen ja auf die Wünsche der Bürger nach Verbesserungen für ihre Zukunft, nach Veränderungen und einer Mitwirkung an der Arbeit in der Kommune. Aber hier gab es bei der ethnischen Zugehörigkeit interessanterweise keinen Unterschied, entscheidend war vielmehr, ob der oder die Befragte Student, Arbeiter oder Beschäftigter im öffentlichen Sektor oder in der freien Wirtschaft war. Mich überraschte, dass die Hausfrauen in Mazedonien am wenigsten an der Arbeit der Gemeinde teilnehmen wollen und hier den geringsten Prozentsatz der Befragten aufweisen, manchmal noch niedriger als der bei den Rentnern. Aber zwischen den ethnischen Gruppen lässt sich hier kein Unterschied ausmachen. Vorhin haben Sie von unterschiedlichen Grundeinstellungen und Grundwerten der ethnischen Albaner und der Mazedonier gesprochen. Wenn diese Unterschiede nicht in der Einstellung gegenüber einem Engagement in der Gemeinde liegen, wo lassen sie sich dann festmachen? Gibt es sie überhaupt? Hierzu kann ich auf Untersuchungen verweisen, die in der letzten Zeit in Mazedonien stattfanden. So wurde beispielsweise an unserem Institut die Meinung der Albaner und der Mazedonier über die politischen Parteien, die Politik allgemein und die politische 103 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Kultur untersucht. Das Soros Institute Open Society hat zuletzt eine zum Thema Multikulturalismus in Mazedonien veröffentlicht. Aber kommen wir noch einmal zu der vorigen Frage zurück, ob die Bürger erwarten, dass nur die Institutionen handeln sollen. Unsere Untersuchungsergebnisse scheinen darauf hinzuweisen, dass dies nicht mehr so ohne weiteres der Fall ist. Nun lässt sich dies mit einer anderen Untersuchung in Verbindung bringen, die deutlich macht, dass die Institutionen, in denen noch ein altes Verwaltungssystem dominiert, selbst aktiver werden müssen. Damit sind auch Wirtschaftsbetriebe gemeint, die sich in ihrem Aufbau nicht von der Verwaltung einer öffentlichen Behörde, eines Ministeriums oder einer Kommune unterscheiden. Die Struktur und der innere Aufbau der Betriebe entsprechen nicht den Anforderungen der Arbeit und der Situation draußen in der modernen Welt. Und die Arbeiter in den Betrieben schätzen den Wert ihrer Arbeit und ihre Leistung höher ein als in anderen Ländern – aus verschiedenen, teils auch psychologischen Gründen, aus Überlastung oder auch aus Angst vor der eigenen Ersetzbarkeit. All das zeugt von der enormen Trägheit unserer Institutionen, sowohl der öffentlichen Behörden als auch derjenigen der freien Wirtschaft. Es ist sehr schwierig, Innovationen aus dem Bereich des Managements einzubringen. Wenn man die Zahlen aus Korea, Japan und den USA mit denen aus Mazedonien vergleicht, so spricht vieles dafür, dass die Leute im Grunde mental nicht konkurrenzfähig oder konkurrenzwillig sind. Ja, das kann sein, aber man darf nicht die institutionelle Ebene übersehen. Auch wenn die Menschen etwas ändern wollen, ist immer eine institutionelle Unterstützung erforderlich. Das ist ein zentraler Aspekt des Managements. Im früheren Jugoslawien wurden Abteilungen für das Personalmanagement entwickelt, die rein administrative Funktionen ausübten und nur Urlaubs- und Krankentage registrierten. Es gab aber auch eine andere Entwicklung, insbesondere in Slowenien und Kroatien, und unsere Experten wussten das. Man hat versucht, die Erkenntnisse aus der Praxis in den USA in die Abteilungen für das Personalmanagement einfließen zu lassen. Leider sind wir in den letzten 15 Jahren Zeugen der umgekehrten Entwicklung geworden hin zu Abteilungen, welche die Beschäftigten nur registrieren. Dabei ist der Aspekt der positiven, der aktivierenden Praxis verloren gegangen. Meiner Auffassung nach hat das Personalmanagement immer dann große Vorteile, wenn man strategische Veränderungen umsetzen möchte, und zwar unabhängig davon, ob das im Staat, in der kommunalen Selbstverwaltung oder im Geschäftsleben ist. Eine Ebene der Veränderung ist die individuelle, eine zweite Ebene ist die Organisation und die dritte ist die Umgebung. Meiner Meinung nach haben wir derzeit ein Defizit auf der Organisationsebene. Es fehlt eine institutionelle Grundlage. Ich wage die These zu formulieren, dass die politische Transformation in Mazedonien ziemlich rapide vor sich gegangen ist, aber die mentale Transformation noch weit hinterherhinkt. Stimmen Sie dieser These zu? 104 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Ich möchte noch einmal betonen, dass jede Transition und jeder neue Wert zuerst institutionalisiert werden müssen, und zwar als rechtliche oder als moralische Norm. Mir scheint, dass wir in beiden Bereichen Schwächen haben und uns noch in einer Phase des Suchens befinden. Aber fehlt da neben der rechtlichen oder moralischen Richtlinie nicht auch die Umsetzung? Genügt es, rechtliche und moralische Normen zu haben, wenn die Implementierung nicht stattfindet? Ihr Einwand stimmt – eine rechtliche Implementierung bedeutet nicht nur, dass eine Norm gesetzt, sondern auch, dass sie umgesetzt wird. Wenn sie eingehalten wird, ist es gut so. Wenn sie aber nicht eingehalten wird, muss man vor Gericht gehen, um ihre Einhaltung zu erzwingen. Ist die Lage nicht noch schlimmer? Was ist, wenn die Norm besteht, aber der Staat nicht in der Lage ist, für die Implementierung zu sorgen? Ist damit der Niedergang der Werte und der Moral nicht sehr viel schneller besiegelt, als wenn es die Norm gar nicht gegeben hätte? Das ist eine interessante Frage, und vielleicht ist ihre Aussage ja richtig. Aber der Staat ist nicht nur oben, sondern auch unten. Damit meine ich, dass es sich in unserer Situation um Menschen handelt, die sich sehr schwer selbst organisieren oder organisieren lassen. Zum Beispiel haben wir im Geschäftsleben keine Berufsverbände mit eigenen Werten und Organisationsstrukturen, die sich an die eigenen Werte halten und ihren Mitgliedern Legitimität geben. Gäbe es solche Organisationen, hätten diese Verbände dann das Recht, diejenigen auszuschließen, die sich nicht an die Normen halten. Vielleicht kann man Ihre Frage bejahen, es kann tatsächlich zu einem schnellen Zerfall und Niedergang der Werte kommen. Aber auf der anderen Seite ist es auch möglich, das eine Restrukturierung stattfindet und die Motivation für den Aufbau von Interessenvertretungen aufkommt, die dann beginnen, diese Werte zu respektieren. Ich hoffe, dass das die positiven Seiten sind, die daraus resultieren können. Die negativen sind uns allen ohnehin schon bekannt. Vielleicht hat das Problem, über das wir sprechen, mit der Korruption zu tun, die in Ihrer Gesellschaft offensichtlich ein Problem darstellt. Sehen Sie eine Möglichkeit, die Korruption in absehbarer Zeit zu reduzieren? Wie müsste man da vorgehen? Ja, ich sehe durchaus eine Möglichkeit – einerseits als Bürgerin, andererseits als jemand, der sich damit beschäftigt, mit welchen Elementen man die Performanz eines Unternehmen verbessern kann. Die Praxis zeigt, dass man in Unternehmen, wo es korrupte Elemente gibt, leicht auch Praktiken für ihre Bekämpfung einführen kann. Ebenso sind wir Zeugen davon, wie Staaten erfolgreich gegen die Korruption vorgehen. Die Korruption ist ein Problem, und wenn man sie nicht bekämpft, kann sie bedrohliche Ausmaße annehmen und zum Zerfall der Gesellschaft führen. Das ist eine Tatsache, mit der sich dieser Staat ernsthaft auseinander setzen muss. 105 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Ich kenne Beispiele dafür, wie man den Diebstahl in einem Betrieb reduzieren kann; dazu gibt es schon viele praktische Erfahrungen. Man weiß, dass es einem viel schwerer fällt, ein Werkzeug aus dem Betrieb zu schaffen, wenn auf ihm der Name des Beschäftigten steht, der dafür verantwortlich ist. Das Verhältnis zum Werkzeug ist dann wie zu einer Person, die wir kennen und mit der wir beim Stehlen konfrontiert werden. Der Betrieb dagegen ist etwas Abstraktes und etwas Fernes, entsprechend ist auch das Verhältnis zu ihm anonym. Man sollte also zu einem Werkzeug eine Beziehung wie zu einer Person aufbauen und nicht wie zu etwas Unbekanntem. Dasselbe sollte auch für einen Staat gelten, der Gerichte, Polizei und Gefängnisse hat. Der Staat muss gegen die Korruption kämpfen. Es gibt Lösungen und viele praktische Möglichkeiten, aber bei den politischen Entscheidungsträgern muss auch der Wille bestehen, sie umzusetzen und auf die eigenen Vorteile, die sie haben, zu verzichten. Wenn wir von der EU positive Signale erhalten, wird, so glaube ich, auch der Wille, diese Lösungsansätze umzusetzen, größer sein. Man sieht auch schon konkrete Maßnahmen bei den Regierungseliten, die dies in Angriff nehmen möchten. Meiner Auffassung nach ist manchmal das Formale wichtiger als der Inhalt. Es ist uns allen klar, dass manche Staaten, auch Bulgarien und Rumänien, Verfahren und Regeln der EU teilweise nur formal akzeptiert haben. Aber diese formale Anerkennung ist ein Schritt vorwärts zur tatsächlichen Anerkennung der entsprechenden Angelegenheiten. Es ist besser, irgendeine Praxis oder Regel zu haben, als gar keine. Es gibt Situationen, in denen die Leute der Umsetzung einer Maßnahme eher zustimmen, wenn auf die Autorität der EU verwiesen und behauptet wird, dass diese es von uns verlangt. Die Autorität der EU ist bei uns sehr groß. Das kann man ausnutzen und in eine positive Praxis umwandeln, und es ist dann leichter, als wenn man nur sagt, dass etwas gut für Mazedonien ist. Und wenn diese Normen dann zunächst nur der Form nach institutionalisiert werden – die EU hat dann schon ihre Mittel und Wege, aus dieser Form einen Inhalt und etwas Substanzielles zu machen. 106 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Sašo Ordanoski, Journalist Sašo Ordanoski leitet das Zentrum für Strategische Forschung und Dokumentation der Zeitschrift Forum. Er hat Journalismus studiert und ist als Chefredakteur des Forum einer der bekanntesten mazedonischen Journalisten. Seine politischen Analysen über die Geschehnisse in Mazedonien und dem früheren Jugoslawien sind auch einem internationalen Publikum bekannt geworden. Ebenso arbeitete er als Leiter des mazedonischen Fernsehens und für die Weltbank und war Berater verschiedener internationaler Organisationen. Ordanovski ist einer der Gründer von Transparency International in Mazedonien und sitzt in verschiedenen regionalen und internationalen Kommissionen von Berufs- und Nichtregierungsorganisationen, die sich den Bereichen Medien, Demokratie, Sicherheit und regionale Kooperation widmen. Das Gespräch fand am 12. Oktober in Skopje statt. Herr Ordanoski, Mazedonien ist ein Land, dessen Unabhängigkeit gerade einmal 14 Jahre dauert. Der autonome Staatsbildungsprozess ist also noch relativ jung. Zugleich haben Konflikte zwischen den ethnischen Gruppen Mazedoniens in den letzten Jahren in Europa Aufmerksamkeit erregt. Können Sie uns vor diesem Hintergrund sagen, welche Werte der mazedonischen Verfassung zugrunde liegen? Die Verfassung der Republik Mazedonien ist tatsächlich eine der modernsten in Europa, weil sie vor etwas mehr als 10 Jahren verabschiedet und danach einige Male geändert worden ist. An ihrer Ausarbeitung waren die anerkanntesten ausländischen Experten beteiligt, und der Entwurf wurde von mehreren Vorsitzenden der größten europäischen Verfassungsräte unter Leitung des Vorsitzenden des französischen Verfassungsgerichts, Herrn Badingter, einer Bewertung unterzogen. Das war Anfang der neunziger Jahre, und damals herrschte die Meinung, dass gemessen an ihren Verfassungen nur zwei der damaligen ex-jugoslawischen Teilrepubliken die Kriterien für eine Selbstständigkeit erfüllten: das waren Slowenien und Mazedonien. Die Verfassung spiegelt die mazedonische Realität wider. Sie definiert den Staat als unitären und souveränen Staat seiner Bürger, die in einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft leben. Sie schützt alle Minderheiten- und Menschenrechte und die anderen Rechte, auf welche die Menschen in den modernen europäischen Staaten Anspruch haben. Im Bereich der Minderheitenrechte hat diese Verfassung höhere Standards als 90 Prozent der europäischen Verfassungen, einschließlich der deutschen. Und sie hat entwickelte Mechanismen, um diese Minderheitenrechte zu gewährleisten. Ohne eine bestimmte, sehr spezifische Art der Abstimmung können die prinzipiellen Grundlagen, auf denen der Staat basiert, nicht geändert werden. Mazedonien definiert sich auch als Sozialstaat, also ein Staat, in dem das Recht auf Arbeit garantiert wird. Ebenso wird das Recht auf eine gesunde und saubere Umwelt garantiert sowie Dutzende von anderen Rechten, die zum Korpus der modernen europäischen und internationalen Verfassungserrungenschaften gehören: das Recht auf Demokratie, auf demokratische Wahlen, das Recht, für ein Amt zu kandidieren und gewählt zu werden, das Recht auf Schutz vor Folter, vor politischem und anderem Druck und weitere, für einen modernen demokratischen Rechtsstaat typische Rechte. 107 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Nun sind Verfassung und Verfassungswirklichkeit ja nicht immer identisch. Können Sie die Werte, die der Verfassung zugrunde liegen, noch einmal präzisieren und beschreiben, wie sich diese Werte in den letzten 40 bis 50 Jahren entwickelt haben? Wie war es früher und wie ist es heute? Natürlich stellt sich immer die Frage, was mit auf solch hohem Niveau definierten und in der Verfassung empfohlenen Rechten in der Praxis passiert. Wie werden sie umgesetzt? Mazedonien hat in den letzten 10 bis 15 Jahren einige Erfahrungen gemacht, da mehrmals in die Verfassung eingegriffen und wichtige Artikel geändert wurden, um ein normales Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Ich denke, dass Mazedonien heute aufgrund seiner Verfassung die einzige funktionierende multiethnische Demokratie auf dem Balkan ist. Um auf Ihre Bitte einer Präzision der Werte zu kommen – ich bin keine Experte für Verfassungsrecht und kann sie nicht der Reihe nach aufzählen. Aber man kann sie in der Verfassung nachlesen. Es gibt jedoch zwei wesentliche Veränderungen, die sich auf die verfassungsrechtliche Definition Mazedoniens beziehen, einmal im Hinblick auf die Zeit vor den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, und einmal auf diese neunziger Jahre selbst. Zunächst haben wir Anfang der neunziger Jahre das politische und wirtschaftliche System des Landes geändert; aus einer kommunistischen wurde eine demokratische und marktwirtschaftliche Gesellschaft. Diese Veränderung fand natürlich auch in der Verfassung ihren Niederschlag. Später haben wir dann in der aktuellen Verfassung den multiethnischen Charakter des Staates hervorgehoben. Im Gegensatz zur vorherigen Verfassungsordnung, in der neben den anderen Minderheiten das mazedonische Volk als Staatsvolk definiert wurde, sind das heute die Bürger Mazedoniens. Für die deutsche Sozialdemokratie und auch nach dem Verständnis vieler Menschen sind die wichtigsten Werte, die mit der Gestaltung eines Gemeinwesens in Zusammenhang stehen, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Wird das in Mazedonien auch so gesehen? Wie werden hier Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität näher definiert? Ich kann Ihnen jetzt keine exakte verfassungsrechtliche Definition dieser Begriffe geben, dazu müsste ich zuerst die Verfassung lesen. Aber das sind gewiss drei wichtige Elemente, die in der Verfassung als Werte der neuen Gesellschaft festgeschrieben werden – Werte, die auch schon in der vorherigen mazedonischen Verfassung enthalten waren, heute aber, soweit ich sehe, Realität sind, besonders was ihre politischen Elemente betrifft. Die politische Freiheit ist etwas, das in unserer heutigen Demokratie verfassungsrechtlich gewährleistet ist. Sie haben Mazedonien als multiethnischen und multikulturellen Staat beschrieben. Spielen Religion und Glauben in der heutigen gesellschaftlichen Entwicklung Mazedoniens eine große Rolle? Nein. Der Glaube ist ein von der Verfassung geschützter Bereich und gehört zu den Menschenrechten und -freiheiten. Man hat also das Recht, seinen Glauben frei zu 108 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas praktizieren. Er ist wichtig für das Privat- und Familienleben, aber im politischen und im gesellschaftlichen Bereich nimmt der Glaube keine Schlüsselrolle ein, er entwickelt nicht die Aktivitäten und Energien, um die gesellschaftliche Handlungsorientierung wesentlich beeinflussen zu können. Wenn sie an die Politiker Ihres in seiner politischen Selbständigkeit doch noch jungen Landes denken, würden Sie da sagen, dass man Vertrauen in sie haben kann? Folgen sie gewissen Tugenden, so wie wir sie kennen? Sind sie besonders besonnen, besonders klug? Werden die Kriterien, die man allgemein an Politiker anlegt, auch in Mazedonien erfüllt? Die Politiker hierzulande genügen vielen wichtigen Kriterien, an denen man Politiker in Europa und in der Welt misst. Aber manche wichtige und unabdingbare Kriterien erfüllen sie nicht. Man muss sehen, dass diese Politikern alle einer Generation angehören, welche die schwierige fünfzehnjährige Transformation des Staates erlebt hat. Diese Transformation war besonders kompliziert, weil es ja nicht nur um eine ideologische Transformation ging, sondern auch um die Etablierung eines souveränen, aus dem jugoslawischen Staatsverband hervorgegangenen Staates und, in unserem besonderen Fall, um die Etablierung der Souveränität der mazedonischen Nation. Das ist ein schwieriger und komplizierter Prozess mit vielen Höhen und Tiefen, mit Erfolgen und Misserfolgen. Solch eine dichte und komplexe politische Aufgabe zehrt an den Kräften der Politiker und nimmt sie stark in Anspruch. Ihre Glaubwürdigkeit, Legitimität und Integrität sind schneller verbraucht als in einem normal funktionierenden Staat wie zum Beispiel Deutschland. Wir haben es hier mit einem historischen Prozess zu tun. In dieser Situation, in der die Institutionen noch nicht die gleiche Funktionalität besitzen, wie dies in Ländern mit langer Tradition der Fall ist, müssen die Politiker auch die Defizite der Institutionen kompensieren, die nicht oder nicht vollständig funktionieren. Hinzu kommt, dass ihre Parteien sich in der Gründungs-, Aufbau und Stabilisierungsphase befinden. Das alles nimmt die Politiker stark in Anspruch. Könnte man dies auch so ausdrücken, dass viele mazedonische Politiker moralisch noch nicht gefestigt genug sind? Sie sind es nicht weniger als die Politiker in der Bundesrepublik Deutschland. Das bedeutet, dass sie allmählich eine politische Kultur erreicht haben, die mit der politischen Kultur in Zentraleuropa vergleichbar ist? Ja, auf jeden Fall. Zwar nutzen Politiker jede Gelegenheit, sich sehr autokratisch zu verhalten, wenn man das zulässt. Sie nutzen jede Chance, um sich für ihre Partei anstatt für den Staat einzusetzen. Einige von ihnen sind korrupt, genauso wie deutsche Politiker, nur handelt es sich bei uns um geringere Beträge als in Deutschland. Aber das Entscheidende ist doch das Funktionieren der Gesamtgesellschaft, welche die Politiker ständig kontrollieren und ihre „Kreativität“ einschränken muss, damit sie die Grenzen des Anstands und der Moral nicht überschreiten. 109 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Natürlich sage ich das mit einer gewissen Ironie. Ich bin einer der Begründer von Transparency International in Mazedonien, der internationalen Organisation, welche die Korruption bekämpft. Ich kann ihnen glaubwürdig bestätigen, dass es heute in Mazedonien viel schwieriger ist, ein korrupter Politiker zu sein, als noch vor 10 Jahren. Ein bestimmtes Maß an Kontrolle, das öffentliche Bewusstsein, die Medien als Wachhunde, die Untersuchungsverfahren und die Institutionen lassen es nicht zu, dass Gelder und Kompetenzen noch so leicht wie vor 10 oder 15 Jahren missbraucht werden. Der wesentliche Unterschied zu den Politikern in Deutschland ist, dass sie dort, wenn sie erwischt werden, ins Gefängnis kommen. Bei uns sind wir noch nicht so weit, aber wir geben uns Mühe. Wenn ich Sie richtig verstehe, haben die Menschen in Mazedonien zunehmend Vertrauen in die staatliche Entwicklung und in die politische Klasse. Welche Vorstellung haben Sie von der Zukunft Ihres Landes? Welche Rolle sollte Mazedonien – auch im Hinblick auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union – auf dem Balkan spielen,? In die politische Klasse haben die Bürger kein großes Vertrauen, das habe ich so nicht behauptet. Als Experte für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) untersuche ich das Vertrauen der mazedonischen Bevölkerung in die politischen Institutionen. Wenn man die Antworten der Menschen auf solche Fragen analysiert, wird rasch klar, dass die Gründe ihrer Unzufriedenheit und damit der mangelnden Legitimität der Politiker vor allem im sozioökonomischen Bereich liegen. Wenn es um diesen besser bestellt wäre, dann wäre auch das Vertrauen größer. Was die Rolle Mazedoniens auf dem Balkan betrifft, kann man das Land als eine katena mundi, als regionalen Kreuzungspunkt der Welten bezeichnen, als Verbindungsstelle zwischen dem Norden und dem Süden und zwischen dem Osten und dem Westen. Mazedonien gehört auch zu den Ländern, die, wenn die Probleme ein bestimmtes Maß übersteigen, nicht implodieren, sondern explodieren. Während in Bosnien zehn Jahre lang ein Bürgerkrieg toben kann, ohne dass der Konflikt auf die Nachbarländer übergreift, ist dies in Mazedonien nicht der Fall. Unsere Tektonik potentieller Auseinandersetzungen bezieht immer auch die Nachbarländer mit ein. Deshalb ist die Stabilität Mazedoniens entscheidend für die Stabilität des Balkans. Natürlich ist Mazedonien nicht das einzige Land in der Region mit dieser Eigenschaft. In dieser Hinsicht ist zum Beispiel auch Serbien ein sehr wichtiges Land, von dessen Stabilität und Fortschritt die Stabilität der gesamten Region abhängt. Da Mazedonien ein kleines Land ist – und nach der Definition Hegels schöpfen die kleinen Länder ihre Stabilität von ihren Nachbarn –, beeinflussen die Nachbarstaaten die Stabilität unseres Landes. Eine Reihe von Faktoren kann Mazedonien nicht selbst kontrollieren, wenn die Nachbarstaaten das Land destabilisieren möchten. Das hat sich schon mehrfach gezeigt, das letzte Mal 2001, als der Konflikt in unserem Land in hohem Maße von den Nachbarn 110 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas ermöglicht, inspiriert und unterstützt wurde. 33 Deshalb sind die Stabilität Mazedoniens wie auch das Funktionieren seines multiethnischen Modells für die ganze Region äußerst wichtig. Paradoxerweise kann aber dieses multiethnische Modell selbst einige Nachbarstaaten gefährden, die in ihren Verfassungen Staatsnationen definiert haben. Obwohl der ganze Balkan multiethnisch ist, gibt es hier immer noch Staaten wie Griechenland, die keine ethnischen Minderheiten anerkennen. Deshalb bedroht die Entwicklung multiethnischer Demokratien die Grundlagen ihrer Verfassungsordnung, weil es ihre Minderheiten motiviert, für ihre kulturellen und politischen Rechte zu kämpfen. Europa und die Europäische Union sind nicht zuletzt ein Modell dafür, dass solche Konflikte friedlich gelöst werden können. Wie sieht das in Mazedonien aus? Hat sich der Staat inzwischen so weit gefestigt, dass man künftig von einer friedlichen Lösung dieser Konflikte ausgehen kann? Mazedonien hat schon bisher und auch in Zeiten großer Herausforderungen den Willen bewiesen, Konflikte friedlich zu lösen. Unsere Verfassung und unsere Gesetze ermöglichen einen Prozess friedlicher Eindämmung und Lösung solcher Konflikte, und ich denke, dass alle relevanten politischen Kräfte im Land von dieser Idee absolut überzeugt sind. Sie werden hier niemanden finden, der politische Konflikte und Missverständnisse jeglicher Art mit Gewalt lösen möchte. Deshalb blieb Mazedonien ja auch von den starken Zerstörungen und inneren Turbulenzen verschont, die in anderen Balkanländern zu Kriegen mit Hundertausenden von Toten geführt haben. Wichtig ist auch, dass Mazedonien von Anfang an verstanden hat, von welch großer Bedeutung die Internationale Staatengemeinschaft bei der Unterstützung der Stabilität des Landes und der Lösung von Konflikten und potenziellen Konfliktsituationen ist. Meiner Meinung nach kann nur ein von außen importiertes Problem zur Destabilisierung des Landes und zum Konflikt führen. Wir leben in einer Region, in der wichtige Fragen wie die Souveränität, die innere Ordnung oder die Stabilität einiger Staaten, die Grenzen oder die durch den Balkan verlaufenden Kanäle des organisierten Verbrechens noch nicht gelöst sind. Wenn es tatsächlich äußere Faktoren sind, die Mazedonien und seine Stabilität gefährden, bedeutet dies dann, dass die Menschen in Mazedonien ein Wertesystem haben, dem gemäß sie bereit sind, in einer multiethnischen Gesellschaft zu leben und sich auch gegenseitig zu respektieren? Haben die Umstände der letzten 10 oder 15 Jahre, also der Transformationsphase mit ihren Problemen der Korruption, der organisierten Kriminalität und des wirtschaftlichen Niedergangs, nicht auch zu einer Veränderung der Werte in der Gesamtgesellschaft geführt? 33 Ordanovski bezieht sich hier auf den von albanischen Extremisten mit ihren Aktionen im Nordwesten des Landes ab Frühjahr 2000 ausgelösten Konflikt zwischen dem albanischen und dem slawischen Bevölkerungsteil Mazedoniens. 111 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas Mazedonien ist nicht erst seit den letzten Jahren, sondern seit Jahrhunderten multiethnisch, hat also eine jahrhundertealte Tradition des Zusammenlebens. In den letzten 15 Jahren wurden der rechtliche und der politische Rahmen angepasst, um die multiethnischen Elemente des Lebens aller Menschen in Mazedonien zu schützen und zu fördern. Vor allem tat man das, um sich an die zahlreichen und detaillierten Regeln und Prinzipien der EU anzupassen. Das geschah in einer sehr turbulenten Zeit, als in anderen Balkanländern um solche Fragen Krieg geführt wurde. Das derzeitige Niveau des politischen Verständnisses zwischen den ethnischen Gruppen in Mazedonien und der praktische Umgang miteinander verdienen also allen Respekt. Bereits seit 15 Jahren haben wir durchgehend eine multiethnische Regierung, und schon seit 10 Jahren kontrollieren Vertreter der Minderheiten in der Regierung über 50 Prozent des Staatshaushalts. Stellen Sie sich so etwas in Frankreich oder in Großbritannien vor! Denken Sie an das Rahmenabkommen von Ohrid 34 : Mazedonien ist nicht der einzige Staat, der nach einem Konflikt einen solchen Vertrag unterzeichnet hat – es ist aber der einzige Staat, der so einen Vertrag auch umgesetzt hat! Die vereinbarten Punkte werden im geplanten Tempo realisiert. Dieses Tempo hängt aber auch von den sozialen, politischen und historischen Umständen der Minderheiten ab. Zum Beispiel lassen sich in einer Minderheit nicht auf einmal 500 ausgebildete Juristen finden und einstellen, sondern man muss sie zuerst ausbilden. Aber alle Schlüsselelemente des Vertrags wurden umgesetzt, und das Vereinbarte wird im entsprechenden Zeitraum ohne größere soziale und politische Turbulenzen implementiert. Wenn Sie mich fragen, gibt es in der Mehrheitsbevölkerung, also unter den ethnischen Mazedoniern, keine wirklichen Extremisten oder Radikalen wie in den Niederlanden oder in Frankreich. Sie sind politisch nicht relevant und auch nicht als Gruppe organisiert. Es ist nicht ihr eigenes Verdienst, dass sie nicht auf der politischen Bühne auftreten, sondern das Ergebnis des politischen Handelns der anderen politischen Kräfte. Man darf zwar die Nationalisten auf dem Balkan nie unterschätzen, aber hier in Mazedonien ist ihr Spielraum sehr begrenzt, und dies nicht nur formal, sondern als Ergebnis der Kultur und der politischen Praxis im Land. In der Krise 2001 hatten wir keinen einzigen zivilen Zwischenfall, keinen einzigen. Analysiert man die vorhandenen Daten, so sieht man, dass die Gesellschaft zwar geteilt ist, die Grundwerte jedoch respektiert werden. Betrachten wir die so genannte Aktivität der ethnischen Vorurteile. Bei uns ist sie mit 1 bis 1,5 Prozent sehr gering, und hier unterscheiden sich die Mazedonier von den anderen Völkern auf dem Balkan erheblich. Fragt man nach der Bereitschaft, etwas gegen die Albaner oder die Mazedonier zu unternehmen, dann sieht man, dass dies auf weniger als 1 Prozent der Bevölkerung zutrifft. Und wenn es zu einer Situation käme, in der sie wirklich etwas tun sollten, wäre dieses Prozentsatz noch geringer. In Bosnien, Serbien, Kroatien, Griechenland und Bulgarien ist ganz anders. Das ist ein Beweis für die langjährige, jahrhundertealte 34 Das am 13. August 2001 in Ohrid unterzeichnete Abkommen zwischen Vertretern der albanischen und der slawischen Bevölkerung Mazedoniens sollte den bereits genannten, 2000 entstandenen Konflikt beilegen. 112 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas multiethnische Tradition zwischen den Menschen, und auf dieser nachweisbaren Tatsache basiert meiner Meinung nach auch der multiethnische mazedonische Staat. Das sind interessante und bedeutsame Umstände, bei denen wir uns noch lange aufhalten könnten. Wenn ich Sie jedoch richtig verstanden habe, war der Konflikt 2001 ein historischer Ausrutscher in einer sonst friedlich zusammenlebenden multiethnischen Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Trennungen und die Segregation, die 2001 stattgefunden haben, sind also nicht von Dauer? Obwohl ich Experte für den Konflikt 2001 bin, haben wir nicht die Zeit, um über Details zu sprechen. Aber die Analysen hinsichtlich der Teilnehmer des Konflikts, der wichtigsten Austragungsorte und der Zusammensetzung der UÇK zeigen eindeutig, dass der Konflikt von außen ins Land importiert wurde. Im Grunde genommen begann er als ein Kampf um kriminelle Interessen, transformierte sich aber in der zweiten Phase sehr schnell in einen Kampf um Gebiete mit dem Ziel, ihn mit Hilfe des internationalen Faktors zu einem Kampf um die Menschenrechte zu machen. In seiner Endphase, also mit dem Abkommen von Ohrid, förderte er die interethnischen Beziehungen im Land. In diesem Sinne trug er zur Verbesserung der interethnischen Beziehungen bei, wenngleich alle Fragen aus dem Abkommen ohnehin schon auf der Agenda des Prozesses der mazedonischen EU-Integration standen. Den größten Teil dieser Fragen hätte man auch ohne diesen Konflikt in der politischen Diskussion der Jahre nach 2001 behandelt. Ausgelöst haben den Konflikt aber Personen, die nicht in Mazedonien leben; keiner der Hauptakteure der UÇK kam aus Mazedonien. Die eigentliche Frage ging eher dahin, ob die Segregation, die nach dem Konflikt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppe, also zwischen den Albanern und den Mazedoniern, stattgefunden hat, sich im Laufe der nächsten Jahre wieder auflösen wird. Wird man wieder problemlos zusammenleben, oder wird die Segregation nachhaltig und von Dauer sein? In Mazedonien wird es noch lange Jahre Spannungen in den mazedonisch-albanischen Beziehungen geben. Der Abbau dieser Spannungen wird von zwei Faktoren abhängen. Erstens von der wirtschaftlichen Situation im Land. Immer wenn sie schlecht ist, werden diese Spannungen steigen, in wirtschaftlich besseren Zeiten werden sie dagegen nachlassen. Der zweite Faktor ist das Niveau und das Tempo der Integration Mazedoniens in der Region und in der EU, und zwar aufgrund der schon erwähnten Faktoren, die Mazedonien nicht allein kontrollieren kann. Je weiter sich der Kosovo, Serbien und Albanien Europa annähern, umso mehr wird auch der Druck auf Mazedonien und dessen ethnische Situation nachlassen. Das ist kein militärischer, aber ein sozialer und kultureller Druck und betrifft auch den freien Personenverkehr. 2001 war das Jahr, als die albanisch-mazedonische Beziehungen eskalierten. Heute jedoch leben wir in einem institutionell gefestigten, funktionierenden Staat, in dem Konflikte in diesen Beziehungen kanalisiert und in einer politisch zugelassenen Weise gelöst werden. Es ist ganz normal, dass es zu Spannungen und Auseinandersetzungen kommt, sie verbleiben aber alle im Rahmen der bestehenden staatlichen Institutionen und der Zivilgesellschaft. 113 Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas