Werte und Politik

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MK - 1000 Skopje
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
FRIEDRICH EBERT STIFTUNG
Büro Skopje - Makedonien
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www.fes.org.mk
Stefan Dehnert
Alfred Diebold
WERTE UND POLITIK
Die EU und der Südosten Europas
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Werte und Politik
Die EU und der Südosten Europas
Stefan Dehnert / Alfred Diebold
Herausgeber:
Friedrich-Ebert-Stiftung
Büro Skopje - Makedonien
www.fes.org.mk
Cover design und pre-press
Promo DSGN, Skopje
Auflage: 500
CIP – Каталогизација во публикација
Национална и универзитетска библиотека “Св. Климент Охридски”,
Скопје
316.64 (4-672:4-12) (062)
341.171.071.51 (4-672:4-12) (062)
DEHNERT, Stefan
Werte und Politik : die EU und der Südosten Europas /
Stefan Dehnert, Alfred Diebold. – Skopje : Fondacija Fridrih-Ebert
Kancelarija – Skopje, 2006. – 120 стр. ; 20 см
Фусноти кон текстот
ISBN 9989-109-34-6
1. Diebold, Alfred
а) Европска Унија – Проширување – Југоисточна Европа – Собири
б) Вредносни системи – Европска унија – Југоисточна Европа – Собири
COBISS.MK – ID 67775242
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Inhalt
Vorwort............................................................................................................................7
Alfred Diebold: Werte und Politik – die EU und der Südosten Europas: Eine Einführung.................8
Mein Menschenbild ist das des Grundgesetzes: Gespräch mit Hans-Jochen Vogel ........................13
Konferenzbeiträge .........................................................................................................19
Stefan Dehnert: Das nach Südosten erweiterte Europa – eine Wertegemeinschaft? .....................19
Hannes Swoboda, MdEP: Gemeinsame Werte der Europäischen Union in der politischen Praxis ...22
Gordana Siljanovska Davkova: Leitbild Mensch – Forderungen nach Ethos, Pathos und Logos......28
Holm Sundhaussen: Rückkehr nach Europa? Südosteuropa zwischen Westen und Osten .............36
Interviews .....................................................................................................................42
Albanien .................................................................................................................................42
Rexhep Mejdani, ehem. Staatspräsident der Republik Albanien ..................................................42
Ilir Meta, ehem. Ministerpräsident der Republik Albanien ...........................................................54
Dritero Agolli, Schriftsteller ......................................................................................................57
Bulgarien ................................................................................................................................66
Sergej Stanischew, Ministerpräsident der Republik Bulgarien......................................................66
Meglena Kuneva, Ministerin für Europäische Angelegenheiten ....................................................75
Jeliasko Hristov, Vorsitzender der KNSB ....................................................................................80
Mazedonien ............................................................................................................................88
Radmila Šekerinska, ehem. Stellvertretende Premierministerin der Republik Makedonien .............88
Teuta Arifi, stellv. Vorsitzende der Partei DUI und Parlamentarierin ............................................94
Mirjana Borota-Popovska, St.-Cyril-Methodius-Universität ........................................................ 101
Sašo Ordanoski, Journalist ..................................................................................................... 107
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Vorwort
Die Länder des Balkans sehen in einer Mitgliedschaft zur EU die Möglichkeit,
wirtschaftlich schneller zu den reichen Ländern Mitteleuropas aufzuschließen. Zugleich
sind viele Politiker aus den EU-Mitgliedsstaaten überzeugt, dass eine Annäherung dieser
Länder an die EU und eine spätere Mitgliedschaft den Frieden dort nachhaltig sichern
können. Eine Vielzahl von Ländern strebt die Integration in die EU an. Zugleich zeigen
sich die Menschen, beispielsweise in Frankreich und den Niederlanden, dem
Erweiterungsprozess gegenüber misstrauisch und lehnen die vorgeschlagene
Europäische Verfassung ab.
Visionen, verstanden als eine Vorstellung für einen künftigen Zustand, basieren auf
einer Beschreibung und Analyse des Ist-Zustands, Erfahrungen aus der Vergangenheit
und begründeten Annahmen, Hoffnungen und Vorstellungen wie und wohin es gehen
soll. Auf Europa bezogen, sind nicht nur Politiker aufgerufen, Visionen zu entwickeln,
sondern auch alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen.
Es ist Hauptaufgabe der Politik, im Rahmen von politischen Prozessen Bedingungen zu
schaffen und Richtungen zu weisen, die von einer überwiegenden Mehrheit der
Bevölkerung getragen werden. Der Kampf um die besten Ideen und Visionen, als auch
die Kunst diese umzusetzen, basieren auf Werten, Grundüberzeugungen,
Menschenbildern und bei nicht wenigen auch auf dem Glauben an Gott.
Das Projekt „Werte und Politik“ möchte den Fragen nachgehen, welche Werte, welche
Überzeugungen, welche Menschenbilder heute relevant sind und Europa verbinden.
Gedankt wird an dieser Stelle Dr. Hans-Jochen Vogel, Bundesminister a.D. und früherer
Parteivorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der durch seine
Veröffentlichungen und das anschließend abgedruckte Interview Ideengeber war und
wesentlich zu dieser Publikation beigetragen hat. Die Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung,
vertreten durch Arnold Wehmhörner und Hans Schumacher, Bulgarien, Stefan Dehnert,
Mazedonien und Alexander Dhima, Albanien ebenso wie die vielen lokalen Mitarbeiter in
den Büros haben einen großen Beitrag zum Gelingen der internationalen Konferenz
„Das nach Südosten erweiterte Europa – eine Wertegemeinschaft?“ in Struga am OhridSee am 17. Juni 2006 geleistet. Dem Sekretariat für Europäische Angelegenheiten der
Regierung der Republik Mazedonien danken wir für die Schirmherrschaft der Konferenz.
Dank sei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Südosteuropa ebenfalls
ausgesprochen für den Beitrag zur Publikation der Interviews, den Übersetzungen und
dem Tagungsbericht. Zu erwähnen ist auch Dr. Volker Manz, der die Interviews aus
Bulgarien, Mazedonien und Albanien sprachlich hervorragend überarbeitet hat. Zu
danken ist ebenfalls allen Persönlichkeiten, die sich den Fragen gestellt haben und
durch ihre Beiträge die Staaten des südlichen und westlichen Balkans in die Europäische
Union begleiten wollen. Zu danken ist an dieser Stelle auch Dr. Reinhold Sohns,
Referatsleiter für Mittel- und Osteuropa in der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, der von
Beginn an dieses Projekt unterstützt hat.
Dr. Alfred Diebold
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Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Alfred Diebold: Werte und Politik – die EU und der Südosten Europas: Eine
Einführung
Mit der Annäherung des westlichen Balkans an die Europäische Union machen sich
dessen multiethnische Gesellschaften auf den Weg zu mehr Demokratie, Frieden und
eine Kultur interethnischer Zusammenarbeit. Wie weit ist dieser Weg noch? – Wie
werden die Länder diesen Weg gehen? – Und werden sie dabei auch Europa verändern?
Diese Fragen sucht das vorliegende Buch zu beantworten. Zugleich soll ein Beitrag zur
derzeitigen Wertediskussion geleistet werden. Politiker, Künstler, Wissenschaftler,
Gewerkschafter und Publizisten kommen zu Wort.
Diskussionsbeiträge werden gegenüber gestellt, Vorstellungen von freien, gerechten
und solidarischen Gesellschaften artikuliert und Handlungsempfehlungen für die Politik
abgeleitet.
Bevor aber die Interviews vorgestellt werden, soll an dieser Stelle der Frage
nachgegangen werden, was unter Werten im politischen Prozess überhaupt zu
verstehen ist, und welche Bedeutung Werte haben und haben sollten, insbesondere für
uns als Europäer. Erst wenn wir uns hier unser selbst gewiss sind, können wir uns dem
Dialog mit anderen stellen.
Versucht man nun, sich dieser Frage analytisch zu nähern, ist zunächst eine doppelte
Klärung erforderlich. Zum einen ist abzugrenzen, welche Werte es sind, die Gegenstand
der hier diskutierten Fragestellung sein sollten. Zum anderen allerdings – und zuvor –
ist zu bestimmen, was genau hier unter einem „Wert“ verstanden werden soll – also
worum es in den folgenden Überlegungen eigentlich geht.
Als moralphilosophischer Begriff sind Werte zunächst Kriterien zur näheren Bestimmung
des „Guten“: ein Handeln, das den Forderungen des zugrundegelegten Wertesystems
entspricht, ist im Sinne dieses Systems besser als eines, das seinen Zielen zuwiderläuft.
Damit unterscheiden sich Werte grundlegend von bloßen Gewohnheiten oder
Mentalitäten, die ebenso veränderliche wie wertfreie Gegebenheiten der empirischen
Gestalt der Gesellschaft sind. Werte dagegen mögen zwar empirisch in einer
Gesellschaft verankert sein, sie sind aber nicht zu trennen von der ihnen
innewohnenden Forderung. In Frage steht damit nicht nur ihre Wirkmächtigkeit zu
einem bestimmten historischen Zeitpunkt, ihre (positive) Faktizität, sondern daneben
immer auch ihre (normative) Geltung.
Will man sich nun nicht dem Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses aussetzen, ist
es also unabdingbar, die metaphysische - und damit einer logischen „Beweisführung“
letztendlich nicht zugängliche - Grundlage jeglicher Werte anzuerkennen und offen zu
legen: Werte sind letztendlich Glaubenssache.
Auch wenn man diesen metaphysischen Kern anerkennt, sind sie aber damit nicht der
Beliebigkeit unterworfen. Werte werden von Menschen geglaubt, entdeckt, als richtig
erkannt – aber sie werden nicht von Menschen gemacht.
8
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Gleichzeitig aber liegen bekanntlich die Auffassungen, was denn nun die rechten,
vielleicht sogar allgemein verbindlichen, Werte seien, häufig weit auseinander – nicht
nur zwischen den Kulturen, sondern oft auch zwischen einzelnen Menschen. Ein
funktionierendes Zusammenleben wiederum setzt aber auch in Wertfragen gewisse
Einigungen und Entscheidungen in die eine oder andere Richtung voraus. Dass sich
über Werte also nicht streiten lässt, dieser Streit aber sachlich und ergebnisorientiert
ausgetragen werden sollte, ist somit ein Dilemma jeder Gesellschaft – zumindest, will
sie sich nicht auf die gewaltsame Durchsetzung eines bestimmten Wertekanons auf
Kosten aller anderen stützen.
Einen – wenigstens teilweisen – Ausweg aus diesem Dilemma bietet die Einsicht, dass
unsere Werte zwar für uns, vielleicht sogar für alle, unverrückbare Geltung
beanspruchen mögen, unsere Erkenntnis derselben, unser „normatives Wissen“ aber
beschränkt und unvollkommen ist. Wo immer wir den Wertediskurs somit als
gemeinsame Suche nach einer Wahrheit verstehen , der wir uns als Menschen immer
nur nähern, die wir aber nicht, schon gar nicht allein, besitzen können, dann liegt es auf
einmal nicht nur nahe, sondern sogar in unserem eigenen Interesse, andere in diesem
Diskurs ebenfalls und gleichberechtigt zu Wort kommen zu lassen.
Gemeinsame Wertsuche erfordert also Respekt und Toleranz – und wieder stehen wir
vor einem Dilemma. Denn gerade Respekt und Toleranz sind ja Werte, die bestens
geeignet sind, sich sozusagen selbst wieder abzuschaffen, indem sie nämlich Respekt
und Toleranz auch gegenüber ihren eigenen Feinden fordern. Die Grenzen der Toleranz
müssen also dort liegen, wo es um den Bestand des Wertediskurses selbst geht. Wer
dessen Grundregeln in Frage stellt, stellt sich selbst außerhalb der Debatte. Das heißt
aber auch: wo über diese Grundregeln kein Konsens herzustellen ist, bleibt als Ausweg
nur eine friedliche Trennung (bzw. „Koexistenz“) oder die Anwendung von Gewalt.
Eine gemeinsame Auffassung über die Grundregeln der Verständigung ist somit eine
notwendige Bedingung für das Funktionieren von Gesellschaft – aber sie ist noch nicht
hinreichend. Denn im gesellschaftlichen Zusammenleben dient der Wertediskurs nicht
nur der Suche nach der Wahrheit: In vielen Bereichen dient er auch der Ordnung des
Zusammenlebens, konkret der Aufstellung von Regeln. Zu unterscheiden ist also
zwischen individuellen, privaten Werten, die vom Diskurs profitieren, aber keine
Einigung erfordern, und kollektiven, öffentlichen Werten, die in sich die Forderung nach
allgemeiner, gesellschaftlicher Durchsetzung tragen. Während die Selbstachtung, der
Umgang der Individuen mit sich selbst (um ein zugespitztes Beispiel zu wählen), dem
gesellschaftlichen Zugriff entzogen ist und der ersteren Kategorie zugehört, muss
beispielsweise das Recht auf Leben durchgesetzt werden und gehört zur letzteren
Kategorie: Die Selbstachtung fordert nur den Einzelnen, das Recht auf Leben fordert die
Gesellschaft.
Oft allerdings ist die Zuordnung von Werten zur privaten bzw. zur politischen Sphäre
weitaus weniger eindeutig als in den genannten Beispielen. Und auch, wenn ein
gemeinsames Interesse an der Existenz verbindlicher Regeln besteht, ist damit noch
nicht gesichert, dass sich alle einig sind, auf welche Bereiche sich diese Regeln beziehen
sollten. Eine Verständigung auf gemeinsame Regeln setzt aber eine Verständigung über
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Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
die zu regelnde Materie voraus; wo diese nicht existiert, ist ein ergebnisorientierter
Regeldiskurs nicht zu erwarten.
Diese Verständigung wiederum ist insbesondere da erforderlich, wo es um im engeren
Sinne politische Gemeinschaften geht. Diese zeichnen sich nämlich gegenüber anderen
Gruppen (Parteien, Vereinen, Interessenverbänden und vielen anderen) dadurch aus,
dass sie einen Austritt üblicherweise nicht oder nur um den Preis der Emigration
zulassen, so dass der Einzelne sich den von ihnen durchgesetzten Wertvorstellungen
nicht entziehen kann.
Eine zweite Bedingung für den Umgang mit Werten, die für ein Miteinander als
Gesellschaft erfüllt sein muss, ist somit ein zumindest weitgehender Konsens über die
Abgrenzung der Sphäre des Politischen gegenüber dem privat oder in freiwilliger
Übereinkunft zu Regelnden. Anders als der Konsens über die Verfahrensregeln kann
diese Abgrenzung zwar im Diskurs entwickelt (und auch immer wieder weiterentwickelt)
werden, sie muss aber doch regelmäßig auch zu einem allgemein akzeptierten Ergebnis
führen. Eine Gesellschaft, der dies nicht gelingt, die sich also uneins ist, auf was sie sich
überhaupt einigen will, steht vor der neuerlichen Alternative, über alles, was über den
kleinsten gemeinsamen Nenner hinausgeht, zu schweigen – oder zu Gewalt zu greifen.
Indem diese Abgrenzung sich im Diskurs vollzieht, kann sie natürlich auch in
unterschiedlichen Gemeinschaften zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Dabei
unterscheidet sich nun der Bereich der politischen Gemeinschaft und ihres
Wertesystems auch von dem religiöser, standes- oder klassengebundener Werte: Da
sich politische Gemeinschaften, also Staaten, Staatsverbände, Teilstaaten, Städte und
Landgemeinden gewöhnlich territorial definieren, muss der geforderte Konsens über die
Abgrenzung der politischen Moral ebenfalls territorial definiert sein.
Die Frage, der sich die im folgenden vorgelegten Texte nähern wollen, ist also die, wie
weit sich der europäische Werteraum erstreckt, insbesondere, inwiefern Südosteuropa
an ihm teil hat – oder auf dem Weg ist, an ihm teilzunehmen. Mit Blick auf die mit dem
Jahr 2007 beginnende Erweiterung der Europäischen Union um die Länder an ihrer
südöstlichen Flanke ist dies gleichzeitig die Frage, ob Europa sich durch diesen Schritt
selbst fragmentieren und möglicherweise zum kleinsten gemeinsamen Interesse einer
Freihandelszone zurückentwickeln, oder aber sich als Wertegemeinschaft festigen und
so an politischer Stärke gewinnen wird.
Damit sind zunächst Ausdehnung und Inhalt eines europäischen Konsenses über Regeln
und Zugriffsbereich des politischen Diskurses zu klären. Was also qualifiziert „Europa“
als politische Einheit gegenüber anderen Staaten und Staatenbünden?
Offenkundig erschwert zweierlei eine Klärung dieser Frage. Zum einen ist dies die nach
wie vor große Heterogenität der europäischen Staaten und ihrer politischen Kultur
zwischen Monarchie und Republik, Präsidialsystem und direkter Demokratie, Konkurrenz
und Konkordanz oder Gottesbezug und Laizismus. Zum anderen ist dies aber auch die
weite Ausbreitung vieler über lange Zeit europäischer Charakteristika. So bleiben
jüdisch-christliche Tradition, aufgeklärtes Bürgertum, römisches Recht und Code
Napoléon, Menschenrechte oder auch die Säkularisierung zwar Teil der europäischen
10
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Wertewelt, sie sind heute aber kein Alleinstellungsmerkmal Europas mehr. Sie sind zum
einen Teil dessen, was weltweit als die Kultur des „Westens“ wahrgenommen wird, zum
anderen aber auch wesentlich für das Selbstverständnis der bürgerlichen (gewöhnlich
„westlich geprägt“ wahrgenommenen) Bildungselite in fast allen Ländern der Welt.
Dennoch existiert im Umgang des heutigen Europa mit diesem kulturellen Fundament
ein wesentlicher Unterschied zu anderen Regionen: Anders als in den „nicht westlichen“
Gesellschaften sind diese Elemente in der Bevölkerung insgesamt verankert oder
zumindest angelegt. Der clash of civilizations, der in vielen Ländern Asiens oder Afrikas
Teil des gesellschaftlichen Alltags ist, findet in Europa so nicht statt. Und anders als die
„westlichen“ Länder Amerikas oder Australiens sind wir Europäer die Nachkommen der
„Daheimgebliebenen“. Unser Erbe ist nicht die Mentalität der Auswanderer, sondern wir
stammen von denen ab, die Europa bei aller Kritik immer noch so viel abgewinnen
konnten, dass sie auch in Zeiten großer Wanderungsbewegungen hier blieben, um so
weniger Neues aufzubauen als das Bestehende fortzuentwickeln. Damit fehlt unseren
Gesellschaften auch das einigende Band einer gemeinsamen Idee. Kein großer Entwurf,
kein Freiheitsversprechen hat die Bürger Europas zusammengeführt, sondern die
Geschichte mit all ihrer Heterogenität und ihren Brüchen, bis hin zur in den meisten
europäischen Ländern präsenten Erfahrung des Totalitarismus. Diese besondere
Akzentuierung, die die Werte des Westens in der Alten Welt erfahren, könnte ein
Erklärungsansatz sein für manches Missverständnis zwischen den beiden Seiten des
Atlantischen Ozeans, das uns gerade in der gegenwärtigen Zeit auch die Unterschiede
innerhalb unserer gemeinsamen Zivilisation wieder vor Augen führt.
Dennoch sind es zunächst natürlich die gemeinsamen Werte des Westens, die auch das
prägen, was wir heute Europa nennen – und womit wir oft genug zuvörderst West- und
Mitteleuropa meinen. Konsensfähig ist hier zunächst ein liberales Ideal der politischen
Auseinandersetzung, das die Freiheit und Gleichberechtigung der einzelnen Bürger und
eine breite Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen ins Zentrum stellt.
Beschränkungen des Zugangs zum politischen Diskurs dagegen, sei es aus Gründen der
Religion, der Herkunft, Abstammung, Klasse oder des Geschlechts, werden strikt
abgelehnt. Damit korrespondiert ein hoher Stellenwert der Freiheit des Einzelnen, wie er
sich auch in der von diesem Verständnis geprägten Menschenrechtserklärung der
Vereinten Nationen findet. Wer diese Prinzipien nicht anerkennt, stellt sich in der
ganzen westlichen Welt, und damit auch in der Europäischen Union, außerhalb des
politischen Prozesses. Er muss damit rechnen, als Gegner wahrgenommen und
gegebenenfalls auch als Feind bekämpft zu werden.
Während der Rahmen des Diskurses also den Westen, und nicht nur diesen, einigen
mag, gilt dies nur zum Teil für dessen Inhalte. So sind wir Europäer beispielsweise viel
stärker bereit, den Staat in die Pflicht zu nehmen, um das Wirtschaftsleben oder die
materielle Stellung der Bürger mit zu gestalten, als dies in den USA der Fall ist.
Wer also bereit ist, unter den Bedingungen der liberalen, offenen Gesellschaft Politik zu
gestalten, der ist in Europa willkommen, um über Rolle und Aussehen eines starken,
aktiven Staates zu diskutieren – so in etwa mag eine vereinfachte, stilisierende
11
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Arbeitsdefinition dessen aussehen, was heute Europa als politische Wertegemeinschaft
ausmacht.
Doch inwiefern schließt diese Definition von „Europa“ auch die Länder ein, um die es in
den folgenden Texten geht, die Länder des westlichen Balkans? Die Europäische Union
stellt diese Frage ebenfalls, indem der EU-Vertrag zwar jedem europäischen Staat die
Möglichkeit offeriert, die Mitgliedschaft zu beantragen, dies allerdings an die Bedingung
knüpft, dass in diesem Staat Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geachtet
werden, wie sie als Grundsätze „allen Mitgliedsstaaten gemeinsam“ sind.
In dieser Bedingung, die in den Kopenhagener Kriterien für die Bewertung der
Beitrittsgesuche potentieller neuer Mitglieder konkretisiert ist, drückt sich der
Stellenwert aus, den die Union ihrem Wertefundament beimisst. Und es ist für ihren
Bestand als politische Einheit wesentlich, dass die Regeln, die sich aus diesem
Fundament ableiten – und die die Verfahrensregeln unseres politischen Diskurses
darstellen – auch nicht verhandelbar sein können.
Gleichzeitig aber hat die EU spätestens seit dem Gipfel von Thessaloniki im Jahr 2003
deutlich gemacht, dass sie den gesamten Balkan als integralen Teil Europas versteht,
dessen Zukunft sie innerhalb ihrer Grenzen sieht. Damit ist nicht gesagt, dass ein
gesellschaftlicher Konsens über das, was wir die „europäischen Werte“ nennen, in
diesen Ländern heute bereits bestehen muss. Wäre aber nicht die Hoffnung begründet,
dass ein solcher Konsens auch dort in den nächsten Jahren heranreifen kann, wäre die
Eröffnung einer Beitrittsperspektive nicht nur verfehlt, sondern auch gefährlich für den
inneren Bestand der Union. Diese Hoffnung bedeutet konkret, dass sich angesichts des
Gegensatzes zwischen modernen, westlich orientierten und stärker traditionalistisch und
national ausgerichteten Bevölkerungsteilen, die diese Gesellschaften heute noch prägen,
sich die Kräfte durchsetzen mögen, die unsere Werte, insbesondere unser Ideal eines
politischen Diskurses teilen.
.
Es kommt also auf den gesellschaftlichen Prozess in den Ländern des westlichen
Balkans an – ein Prozess, dessen „europäischer“ Ausgang auch im unmittelbaren
Eigeninteresse der EU-Staaten liegt: Die Chance, dass sich in nächster Nähe unserer
Grenzen Frieden und Stabilität entwickeln, steht gegen die Gefahr, dass sich diese
Nachbarn von Europa abwenden und sich in einem Raum, der von 2007 an von der EU
geographisch komplett umschlossen ist, potentiell aggressive Nationalismen und
Fundamentalismen fest etablieren könnten.
.
Es besteht, dies machen auch die hier zusammengestellten Texte deutlich, eine gute
Chance, dass sich diese innergesellschaftliche Auseinandersetzung gerade durch die
europäische Perspektive schließlich zugunsten der europäischen Werte entscheiden
könnte – allerdings nur, wenn die EU beides aufrechterhält: die Beitrittsperspektive
einerseits, und andererseits die Anforderung an jedes einzelne Land, die Kopenhagener
Kriterien tatsächlich und kompromisslos zu erfüllen. Dann und nur dann kann der
westliche Balkan die Entwicklung nehmen, die die EU sich in ihrem eigenen Interesse
für ihn erhofft, um so als Raum von Frieden, Freiheit und Stabilität zu wachsen und
stärker zu werden.
Jürgen Ehrke
Dr. Alfred Diebold
12
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Mein Menschenbild ist das des Grundgesetzes: Gespräch mit Hans-Jochen
Vogel
Dr. Hans-Jochen Vogel ist Jurist. Von 1960 bis 1972 war er Oberbürgermeister von
München, von 1972 bis 1974 Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und
Städtebau, dann bis 1981 Bundesminister der Justiz und schließlich im Jahr 1981
Regierender Bürgermeister von Berlin. Von 1987 bis 1991 war er Bundesvorsitzender
der SPD und von 1983 bis 1991 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion.
Das Gespräch mit Dr. Hans-Jochen Vogel führte Dr. Alfred Diebold.
Sie haben gerade ein Buch über Politik und Anstand veröffentlicht. Darin definieren Sie
Politik als Einflussnahme auf die Ordnung und die Gestaltung des Gemeinwesens
aufgrund bestimmter Wertvorstellungen und eines konkreten Menschenbildes. Wie
würden Sie Ihre Wertvorstellungen, Ihr Menschenbild beschreiben?
Mein Menschenbild ist das des Grundgesetzes, das insbesondere seinen Niederschlag im
erstes Artikel gefunden hat: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jeder Mensch ist
ein Zweck in sich. Kein Mensch darf instrumentalisiert werden. Und die wichtigen Werte
sind in diesem Zusammenhang Kriterien für die Gestaltung des Gemeinwesens, aber
auch für das Leben des Einzelnen: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Bei mir kommt
zur Begründung dieses Menschenbildes noch meine christliche Überzeugung hinzu; also
die Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, die Vorstellung, dass es
mit dem Tode nicht ein endgültiges Ende dieses menschlichen Individuums gibt,
sondern dass es - in welcher Form auch immer - weitergeht, und die Einsicht, dass der
Mensch Gut und Böse voneinander zu unterscheiden vermag.
Willy Brandt sagte: Es wird sich als geschichtlicher Irrtum erweisen, das dem
demokratischen Sozialismus der Sozialdemokratie zugrunde liegende Ideal der
Zusammenfügung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als überholt abzutun. Wie
denken Sie darüber?
Ich rufe mir diesen Satz gerne in Erinnerung. Ich ziehe daraus übrigens den Schluss,
dass sich Willy Brandt kurz vor seinem Tod nicht nur für die drei Grundwerte, sondern
dass er sich auch gegen die Preisgabe des Begriffes „demokratischer Sozialismus“
ausgesprochen hat. Er wollte offenbar diesen Begriff als ein Element
sozialdemokratischer Tradition beibehalten wissen. Natürlich hat sich der Inhalt dieses
Begriffes im Laufe der letzten Jahrzehnte geändert. Ursprünglich war es die
Beschreibung eines gesellschaftlichen Endzustandes, der eines Tages eintreten werde.
Wobei es für die Sozialdemokratie immer ein demokratischer Sozialismus war. Heute gilt
die Definition, die Willy Brandt gegeben hat. Genau so steht es auch im „Berlin
Programm“. Und dabei sollten wir es belassen.
13
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Ihre Wertvorstellungen legen den Schluss nahe, dass für Sie Überzeugungen wichtig
sind. Wie würden Sie Überzeugungen von Ideologien abgrenzen und welche Rolle
spielen Überzeugungen in Ihrem Leben?
Ideologien sind Gesamtvorstellungen: Wie die Gesellschaft beschaffen sein sollte und
wie dieser Zustand erreicht werden kann. Schwierig wird es, wenn diese Ideologie mit
einem Wahrheitsanspruch auftritt. Und es wird noch schwieriger, wenn diese Ideologie
für sich das Recht in Anspruch nimmt, ihre Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen.
Letzteres kann man am Beispiel des Kommunismus sehen, aber auch in früheren
Phasen des Christentums. Das gab es bei der Sozialdemokratie nie. Aber es gab im
„Erfurter Programm“ von 1891 ideologische Vorstellungen, die mit einem
Wahrheitsanspruch einhergingen. Einem Anspruch, der sich auf die vermeintliche
Gesetzmäßigkeit des Geschichtsablaufs stützte. Eine Gesetzmäßigkeit, die dann eben im
Sozialismus enden würde. Wir sind mittlerweile aus guten Gründen gegenüber
Ideologien sensibler geworden. Als Sozialdemokraten erkennen wir unterschiedliche
Begründungen für unsere Grundwerte an. Das „Godesberger“ und noch stärker das
„Berliner Programm“ sagen: Hinsichtlich der Frage, aus welchen Erwägungen jemand
die drei Grundwerte anerkennt, hat die Partei die Entscheidung des einzelnen zu
respektieren. Überzeugungen sind mehr eine Sache des einzelnen Individuums. Was
hast du für Vorstellungen über dich und über dein Dasein? Warum bist du da? Was
solltest du tun, um ein gutes und gelingendes Leben zu führen? Das sind dann
subjektive Vorstellungen, die um so beachtlicher sind, wenn sie auf Nachdenken, auf
Meinungsaustausch und auf Erfahrungen beruhen. Überzeugung ist das Gegenteil von
Beliebigkeit. Sie darf sich nur nicht so verfestigen, daß sie auf Einwände und auf neue
Einsichten nicht mehr reagiert.
Als Politiker waren Sie auch vor allem für Ihre Ordnungsliebe bekannt. Wenn Sie an
Tugenden denken, welche sollte ein guter Politiker unbedingt mit sich bringen?
Es ist in der Philosophie und auch in der Ethik insgesamt gefestigt, dass man immer die
vier sogenannten Kardinaltugenden im Auge hat, nämlich: Klugheit, Tapferkeit,
Besonnenheit und Gerechtigkeit. Ich sehe nicht, dass es da eine größere Variation von
Tugendvorstellungen gibt. Und dann gibt es die sogenannten Sekundärtugenden, wobei
das Wort >sekundär< leider gelegentlich als Herabsetzung oder sogar fast
Verächtlichmachung ausgesprochen wird, was allerdings nicht der Sinn des Wortes
>sekundär< ist. Darunter nimmt man dann: Ordnungsliebe, Fleiß, Pünktlichkeit,
Sorgfalt.
Vermissen Sie diese Tugenden dieser Tage etwas oder hat sich da nichts geändert?
Ich bin da in meinem Urteil zurückhaltend. Es ist bei Älteren immer die Gefahr, dass sie
finden, früher sei alles besser gewesen und jetzt sei alles weniger gut geworden. Vor
einem solchen Pauschalurteil hüte ich mich. Allerdings sehe ich zwei Trends, die sowohl
die Kardinaltugenden als auch die Sekundärtugenden aus den Augen verlieren könnten.
Das ist einmal der Trend, das ökonomische Prinzip als das höchste Kriterium zu sehen,
das heißt, dass also alles am materiellen Ergebnis, am materiellen Erfolg gemessen
14
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
wird; und der Trend, dass das ökonomische Prinzip auf Lebensbereiche übergreift, in
denen es, jedenfalls nach meiner festen Überzeugung, nichts zu suchen hat. Im
Unterhaltungsbereich ist es weit fortgeschritten und neuerdings sehen wir in mitunter
erschreckender Weise, dass es auch im Sport immer mehr die Herrschaft antritt, so
dass nicht mehr der Sport als Pflege und Betätigung körperlicher Kräfte und
Leistungsmöglichkeiten gesehen wird, sondern als Mittel für große ökonomische
Operationen und für große Gewinnerzielungen. Der Schiedsrichter-Skandal deutet ja in
diese Richtung.
Und das zweite ist ein Trend zur Beliebigkeit. Anything goes, auf nichts kommt es an –
wenn es nur Spaß macht. Da muss man dagegenhalten. Diese Trends sind wohl in den
letzten zehn, fünfzehn Jahren stärker geworden.
Dennoch bin ich weit davon entfernt zu sagen: Alles ist schlechter geworden und alles
ist verloren. Es war auch früher nicht alles so, dass es 100 Prozent meinen
Vorstellungen entsprochen hätte.
Wie war Ihr Einstieg in die Politik?
Der Einstieg war eben zunächst mal mein Beitritt. Es war ja nicht so selbstverständlich,
dass ein Akademiker, der zudem noch im Examen Glück gehabt hatte, der SPD beitritt
und außerdem auch noch kein Hehl daraus macht, dass er ein Christ ist. Das hat
zunächst großes Erstaunen hervorgerufen. Aber das Entscheidende war wohl, dass ich
in diesem Arbeitervorort Freimann, Reichsbahnausbesserungswerk hieß das damals
noch, das Vertrauen dieser zunächst sehr abwartenden Männer - überwiegend, Frauen
gab es kaum - erworben habe, und dass sie mich zum Nachfolger des schwer
erkrankten bisherigen Vorsitzenden wählten. Das war eine Probe, die, wenn sie nicht
bestanden worden wäre, auch für die weitere Entwicklung eine Rolle gespielt hätte.
Aber sie ist bestanden worden und ich bin heute noch ein bisschen stolz darauf, dass
mir diese Menschen ihr Vertrauen gegeben haben.
Willy Brandt war wohl Ihr Förderer, der Ihr politisches Talent schon frühzeitig erkannt
und Sie von München nach Bonn geholt hat.
Willy Brandt ist das erste Mal 1953 in mein Leben getreten. Da war ich
Ortsvereinsvorsitzender im Münchner Norden, in einem Arbeiterviertel. Es waren dort
Flüchtlinge des 17. Juni in großer Zahl in einer Kaserne untergebracht. Die waren
außerordentlich kritisch gegenüber der Sozialdemokratie. Ich habe in Bonn beim
Parteivorstand angefragt, ob sie uns nicht jemanden schicken könnten, der mit diesen
Leuten umgehen kann. Sie sagten: Ja, da gibt es einen gewissen Brandt. - Ich sagte:
Wer ist das? Dann sagten die, er sei Bundestagsabgeordneter und sei in Berlin. Er kam
dann mit der Bahn. Ich habe ihn am Bahnhof abgeholt. Das war meine erste Berührung
mit ihm. Und er hat es wirklich geschafft, dass diese Leute ihm zugehört haben. Er hat
sie nicht umgedreht. Ich glaube, sie haben auch weiterhin Adenauer gewählt. Aber er
hat diese fast hasserfüllte Feindlichkeit gegenüber der Sozialdemokratie ausräumen
können.
15
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Würden Sie heute jungen Menschen empfehlen, in die Politik zu gehen?
Ja, das würde ich tun. Man muss nicht nur für sich selber sorgen, sondern man muss
sich auch für das Gemeinwesen engagieren. Politik heißt nichts anderes als Engagement
für den Zustand des Gemeinwesens. Das, was gut ist, bewahren; das, was nicht gut ist,
verändern. Ich bin wirklich ein bisschen in Sorge, weil die Zahl derer der jungen
Generation, die einem solchen Rat folgen, eher abgenommen, jedenfalls nicht
zugenommen hat.
Ich habe große Bedenken gegen die so genannten Insider-Karrieren, in deren Verlauf
jemand politische Wissenschaften studiert, einer Partei beitritt, dann erst Mitarbeiter
eines Abgeordneten, dann einer Fraktion und dann selbst Abgeordneter wird. Schließlich
ist er sogar Parlamentarischer Staatssekretär oder gar Minister, ohne dass er außerhalb
des politischen Bereichs wenigstens eine Zeitlang ein „normales“ Leben geführt und
erfahren hätte, wie es der großen Mehrheit seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger ergeht.
Deshalb halte ich es auch für weniger empfehlenswert, dass jemand schon mit 19
Jahren ins Parlament kommt.
Es ist ja auch häufig so, daß Menschen erst dann reif wären, ein Mandat zu
übernehmen, wenn sie schon etwas älter sind, meinetwegen 40, 50, und mehr
Lebenserfahrung haben. Aber dann sind die Chancen nicht mehr so gut, sich in diesem
Sinne noch einzubringen.
Ich weiß nicht, ob uns genügend bewusst ist, dass die über 60-Jährigen jetzt etwa 24
Prozent der Bevölkerung ausmachen. Dies sind 32 Prozent der Wahlberechtigten, weil
die unter 18-Jährigen und die nichtdeutschen Staatsangehörigen ja nicht wählen dürfen.
Da sie außerdem fleißiger wählen, stellen sie über ein Drittel der Wählerinnen und
Wähler. Im Bundestag ist diese Ein-Drittel-Gruppe gegenwärtig nur mit wenigen
Abgeordneten vertreten. Das sollte so auf Dauer nicht bleiben. Dabei denke ich nicht
daran, dass Abgeordnete, die schon im Parlament sind, dann noch eine oder zwei
Perioden länger mitmachen. Sondern ich denke daran, dass Leute, die mit 60, 62 oder
65 ein volles Arbeitsleben hinter sich haben, für eine oder zwei Perioden in das
Parlament gehen. Sie hätten übrigens nicht nur mehr Erfahrung, sondern auch ein
höheres Maß an Unabhängigkeit.
Wird das in der SPD schon so gesehen?
Überall, wo ich das vorbringe, stoße ich auf Nachdenklichkeit und neuerdings sogar auf
Zustimmung. Jedenfalls macht das Argument, dass es sich hier um ein Drittel der
Wählerschaft handelt, einen gewissen Eindruck.
Was zeichnet einen guten Politiker aus und welche Eigenschaften sollte er haben?
Er braucht eine stabile und belastbare Gesundheit, und zwar physisch wie psychisch. Er
muss glaubwürdig bleiben. Sein Reden und Handeln müssen übereinstimmen. Er muss
mit Macht umgehen können, und zwar Macht nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel
zur Durchsetzung dessen, was er für richtig hält. Sonst ist er ein Beifahrer oder ein
16
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
freundlicher Beobachter, aber kein Gestalter. Außerdem muss er sich ausdrücken
können. Er muss so sprechen können, dass die jeweiligen Zuhörer zu ihm Kontakt
gewinnen.
Gesellschaftliche Entscheidungen werden aber zunehmend durch demokratisch nicht
legitimierte Institutionen getroffen. Dadurch hat der Politikerberuf an Attraktivität
eingebüßt.
Ja, auf wirtschaftlichem Gebiet ist der Einfluss der Kapitalseite deutlich größer
geworden. Die Argumentation „Wenn ihr nicht das und das macht, dann gehen wir da
und dort hin“ ist ja ein Zeichen dafür, dass das demokratisch legitimierte Organ
Bundestag in viel stärkerer Weise als früher, als die nationalen Rahmenbedingungen
maßgebend waren, diesem Einfluss, man kann auch sagen: Druck, ausgesetzt ist. das
gilt ja auch für die Weltebene. Ich meine: Warum lehnt denn die amerikanische
Administration das Kyoto-Protokoll ab? Doch unter dem Druck der amerikanischen
Großindustrie! Oder auch bestimmte Entwicklungen in der Welthandelsorganisation.
Warum? Nicht weil es die Erkenntnis der demokratisch legitimierten Kräfte ist, sondern
weil sie massivem Druck ausgesetzt sind.
Warum sind Gewerkschaften heute notwendig?
Die einfachste Begründung ist: Gewerkschaften sind notwendig, damit der einzelne
Arbeitnehmer nicht allein der Macht der Arbeitgeber und der Macht des Kapitals
gegenübersteht. Ich meine, es wäre ein Rückfall in die zweite Hälfte des 19.
Jahrhunderts, als man auch von Staats wegen die Gewerkschaften sehr zurückgedrängt
und überhaupt nicht akzeptiert hat, weil man wollte, dass der Einzelne dem
Unternehmer allein gegenübersteht. Ich glaube, es wird allmählich wieder die
Erkenntnis wachsen, dass es nicht im Sinne von Klassenkampf, aber im Sinne einer
gewissen Machtbalance auch auf der Seite der Arbeitnehmer einer gemeinsamen
Organisation und Vertretung bedarf.
Ein weiterer Grund ist, dass die Gewerkschaften aufgrund ihrer Tradition, aber auch
aufgrund ihrer Arbeit in die Entwicklung unseres Gemeinwesens sehr spezielle
Erfahrungen einbringen können. Und dass auch der Grundwert der Solidarität durch die
Existenz und die Tätigkeit der Gewerkschaften gepflegt werden kann
Angesichts der Massenarbeitslosigkeit kann man aber den Eindruck gewinnen, dass das
Kapital den Kampf gegen die Arbeit gewonnen hat.
So weit würde ich nicht gehen. Das würde Hoffnungslosigkeit und Kapitulation
bedeuten. Das habe ich in meinem Leben zu vermeiden gelernt. Ich gebe auch zu, dass
ich im Grunde ein eher optimistischer Mensch bin. Nein, nein. Die Dinge sind viel
schwieriger geworden infolge der Globalisierung, infolge der Tatsache, dass Produkte
derselben Güte ohne große Komplikationen mit der Hälfte der Lohnkosten verfügbar
gemacht werden können. Das ist ein Faktum. Und niemand, selbst der Saarländer,
dessen Namen ich ungern erwähne aufgrund der Geschehnisse, hat eine Vorstellung,
dass wir in Deutschland die Grenzen wieder zumachen könnten. Es sind veränderte
17
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Verhältnisse. Die europäische Kooperation oder auch die Weltkooperation der
Gewerkschaften wird wichtiger, weil Rahmenbedingungen, die man früher auf
nationaler Ebene kannte, jetzt erst auf europäischer und wahrscheinlich endgültig erst
auf Weltebene wieder greifen. Nein, verloren ist der Kampf nicht; aber er bedarf
erheblicher Anstrengungen. Und die Überlegung, dass man halt auch Abnehmer für
seine Erzeugnisse braucht, nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland, ist ja bei
vernünftigen Unternehmern durchaus auch präsent.
Ein Kapitel Ihres Buches „Anstand und Politik“ handelt von Ihrem Verhältnis zu Gott.
Das ist für Sie etwas ganz Wichtiges, ganz Zentrales, was Ihnen auch sehr viel Kraft
gegeben hat. Können Sie Ihre Vorstellungen von Gott - Sie nennen ihn „Herrgott“ erläutern?
Ich habe einen Augenblick überlegt, ob man bei einer solchen Gelegenheit überhaupt
darüber sprechen soll. Es gibt ja eine gewisse Neigung zu sagen: Das ist Privatsache
und darüber rede ich nicht. Aber warum eigentlich nicht? Das ist doch für viele
Menschen, ob sie nun anders oder gleich denken, ein interessanter Gegenstand. Warum
soll also einer wie ich nicht dazu offene Antworten geben?
Mein Verhältnis zu Gott ist im Laufe meines Lebens erst ab den 70er Jahren wieder
stärker geworden. Da wurde die Vorstellung von einem persönlichen Gott für mich mehr
und mehr zu einem archimedischen Punkt, der mir Halt gibt. Mit dieser Vorstellung
verbindet sich für mich, dass der Mensch nicht allmächtig ist und dass man einer
höheren Instanz Rechenschaft schuldig ist. So steht es übrigens auch in der Präambel
des Grundgesetzes, in der von der Verantwortung vor Gott und den Menschen die Rede
ist. Der Begriff „Herrgott“ ist eine bayrische Eigentümlichkeit, weniger abstrakt als ein
Gottes-Begriff rein philosophisch-theologischer Natur. Ich verweise etwa auf die „Heilige
Nacht“ von Ludwig Thoma, in der einem der Herrgott sehr menschlich begegnet.
Wenn man über Ihr politisches Vermächtnis spricht, an was denken Sie? Was möchten
Sie weitergeben?
Ich möchte weitergeben, dass es notwendig, aber auch sinnvoll und auch für den
Einzelnen wichtig ist, dass er sich nicht nur um sich selbst kümmert, sondern auch für
das Gemeinwesen engagiert. Ich möchte auch gerne weitergeben, dass wir Deutschen
keinen Anlass haben in der Rückschau auf unsere Geschichte nach 1945 mit
heruntergezogenen Mundwinkeln herumzulaufen, sondern dass wir Anlass zu
Dankbarkeit haben. Ich schreibe ja: Wenn uns einer im Krieg, in der Gefangenschaft
vielmehr, gesagt hätte, wie sich Deutschland in den nächsten fünfzig Jahren entwickelt,
hätten wir den für wahnsinnig gehalten, hätten gesagt: Du spinnst! Ich würde mir
manchmal wünschen, dass ein bisschen mehr Freude oder auch Dankbarkeit erkennbar
würde, dem Schicksal oder dem Herrgott gegenüber.
18
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Konferenzbeiträge
Stefan Dehnert: Das nach Südosten erweiterte Europa – eine
Wertegemeinschaft?
Die Idee zur Konferenz „Werte und Politik – Das nach Südosten erweiterte Europa –
eine Wertegemeinschaft?“ am 17. Juni 2006 entstand aus den Ergebnissen der
Interviews, die in diesem Band zusammengefaßt wurden. Die Interviews waren zu
interessant, um sie einfach nur zu drucken und in privaten und öffentlichen Bibliotheken
verstauben zu lassen. Die Fragen damals wie heute waren die folgenden: Welche Werte
bestimmen derzeit die Situation in den Gesellschaften der Länder Südosteuropas? Sind
diese mit denjenigen kompatibel, die innerhalb der EU gemeinhin als europäischer
Standard angesehen werden? Und daraus folgend eine weitere Frage: Gibt es denn
überhaupt einen gemeinsamen Nenner europäischer Werte, gibt es darüber Konsens
innerhalb der 25 Mitgliedsstaaten der EU? Diese und noch mehr Fragen haben wir uns
auf der Konferenz „Politik und Werte“ gestellt und bei der Beantwortung Vertreter aus
Politik und Wissenschaft aus Albanien, Bulgarien, Mazedonien als auch aus Brüssel und
Berlin zu Wort kommen lassen.
„Werte und Politik“ – eine Sinngemeinschaft, die in jüngerer Zeit unzeitgemäß erscheint.
Zu sehr glaubt man die Politik von ökonomischen Grundsätzen dominiert zu sehen, als
daß man sie noch mit Werten in Verbindung bringen würde. Und doch – in Europa hat
die Debatte politischer Werte neuen Auftrieb erhalten – nicht zuletzt durch die
Verunsicherungen und Herausforderungen, mit denen scheinbar Selbstverständliches
innerhalb Westeuropa in Frage gestellt wird. Dazu gehören die geplante Erweiterung
der EU nach Osten bis über den europäischen Kontinent hinaus – zu nennen ist hier die
Türkei-Debatte. Dazu gehören aber auch die Herausforderungen für das Europäische
Sozialmodell durch die Globalisierung, die demographische Entwicklung –
Bevölkerungsrückgang und Alterung der Gesellschaft - und die Immigration, um nur die
wichtigsten Punkte zu nennen.
Ihren klarsten Ausdruck hat die Suche nach den Werten der Europäischen Union in der
Formulierung für den Verfassungsvertrag gefunden: „Die Werte, auf die sich die Union
gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit,
Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der
Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer
Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz,
Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
Daneben wurde die Debatte um ein gemeinsames europäisches Bewußtsein durch
Jürgen Habermas angeregt, das seiner Ansicht nach auf gemeinsamen Erfahrungen in
der europäischen Geschichte gründet. Dazu gehöre die Privatisierung des Glaubens und
die reflexive Distanz der Menschen zu sich selbst, die Domestizierung staatlicher Gewalt
und die Sensibilität der Bürger für die Verletzung der persönlichen und körperlichen
Integrität, die kritische Einschätzung des Marktes und der Ethos des Kampfes um mehr
soziale Gerechtigkeit sowie die Sensibilität der Menschen für die Paradoxien des
Fortschritts.
19
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Wie steht es nun um die Wertorientierung in SOE? Die Staaten Südosteuropas haben
sich ähnlich denen der mittelosteuropäischen postsozialistischen Staaten nach dem
Zusammenbruch des Ostblocks auf die Suche nach ihrer spezifischen Identität begeben.
Das Werte- und Identifikationsvakuum, das durch den Zusammenbruch des einen,
lange Jahrzehnte vorherrschenden Gesellschaftsmodells entstand, musste gefüllt
werden. Meist geschah dies im Rückgriff auf nationale Unabhängigkeitsmythen und auf
eine
sich
ebenfalls
als
national
gebunden
verstehende
Religion
der
Bevölkerungsmehrheit. Werte sind identitätsprägend – und umgekehrt beeinflußt
Identität Wertbilder. Insofern ist es von großem Interesse, ob die in den vergangenen
15 – 20 Jahren wiedergefundenen oder redefinierten Identitäten in Südosteuropa sich
unter dem Dach der Werte der EU einfügen können und wollen. Oder ob es
Widerstände gegen diese Werte gibt, die es zumindest Teilen der Bevölkerung schwer
machen wird, die Vorgaben der EU nicht nur zu akzeptieren, sondern sie auch mit
Leben zu erfüllen.
Weiter oben wurde aus dem Verfassungsvertrag der EU zitiert, in dem die
Wertorientierung der EU betont wird. Es handelt sich dabei offensichtlich nicht um
eurozentristische Grundüberzeugungen, man erkennt darin eher universelle Werte, die
gemeinhin als „westliche Werte“ bezeichnet werden. In dem Versuch Habermas’, ein
europäisches Bewußtsein zu definieren, sieht man eher etwas spezifisch europäisches –
allerdings dürfte seine Beschreibung noch stärker auf die EU-15 zutreffen als auf die
heutige EU-25. Wie lassen sich aber die im Verfassungsvertrag formulierten universellen
gesellschaftlichen Werte erfassen und definieren, gar in konkrete Politik umsetzen, ohne
der Versuchung zu verfallen, sie in globaler Allgemeingültigkeit aufzulösen? Die
Europäische Union hat ihre eigene Antwort auf diese Frage im Laufe ihrer nunmehr fast
50-jährigen Geschichte entwickelt. Die EU ist eine Rechts- und Wertegemeinschaft,
deren Funktionieren durch die EU-Institutionen garantiert wird. Die Regeln sind in den
Verträgen der Gemeinschaft und dem „aquis communautaire“ in mitunter verwirrender
Detailliertheit definiert und werden kontrolliert und durchgesetzt.
Die EU wiederum erwartet von denjenigen Staaten, die Teil der Rechtsgemeinschaft der
Europäischen Union werden wollen, daß sich dieser Beitrittswille in der Übernahme der
sogenannten „Kopenhagener Kriterien“ widerspiegelt. Sie verlangen unter anderem:
"...Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle
Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung
der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht
haben;
Neben den nüchternen, eher technischen Kriterien, welche ein Kandidatenland für die
EU qualifizieren, spielen also in Form von Werten auch scheinbar „weiche“ Faktoren
eine Rolle, die sich aber in der institutionellen Ausgestaltung des Staates und deren
Funktionsfähigkeit auswirken müssen – und somit zu „harten“ Faktoren werden, deren
Umsetzung nicht von heute auf morgen gelingen kann. Nichtsdestotrotz gehören sie
zum Grundgerüst der EU. Es ist eben gerade die institutionelle Umsetzung dieser
Kriterien, die innerhalb der Mitgliedsstaaten der EU dafür sorgt, daß der Staat und das
20
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
politische System ein hohes Maß an Legitimität und damit Vertrauen bei den Bürgern
erzeugen.
Nun stellt sich die Frage, inwieweit dies für die Region Südosteuropa bereits zutrifft. Zur
Illustration dieser Frage sei auf die Erfahrungen aus Mittelosteuropa verwiesen, die
Andras Bozoki folgendermaßen skizziert: „Der Erfahrungshorizont der Bürger aus den
postsozialistischen Transformationsstaaten mit den Institutionen ihrer Staaten ist häufig
ein anderer. Sie mussten lernen, dass Institutionen mitunter keine Rolle spielen.
Informelle Praktiken beherrschten meist das politische Geschehen ihres Landes.“ Die
hinter dieser Beschreibung stehende Situation ist auch der Bevölkerung in SOE nicht
vollkommen fremd. Bozoki führt weiter aus: „In den EU-Beitrittsstaaten von 2004 zeigte
sich ein Phänomen, das mit der Wahrnehmung der politischen Eliten durch die
Bevölkerung, der Art und Weise, wie diese den Transformationsprozess nach 1990
gemanagt hatten und wie sie die EU-Heranführung ihres Landes für sich
vereinnahmten, zusammenhing. Während die Unterstützung für den EU-Beitritt höher
lag, als dies in westeuropäischen Staaten der Fall gewesen war, lag die Beteiligung an
den Referenden meist unter 50%. Das Vertrauen in demokratische Prozesse und eine
funktionierende politische Streitkultur waren offensichtlich Wegmarken, die noch nicht
erreicht waren. Beobachter sprachen deshalb auch von einer „simulierten Unterstützung
des Beitritts“. Folge ist eine „Mitgliedschaft ohne Zugehörigkeit“. 1
Wenn die Staaten Südosteuropas ein vergleichbares Szenario verhindern wollen, dann
gehört mehr dazu, als Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu proklamieren. Dann
müssen die zentralen Werte der EU auch ihren institutionellen und praktischen
Wiederhall in der alltäglichen Erfahrung ihrer Bürger finden. Dies ist beileibe keine
einfache Aufgabe, aber eine lohnende.
Das Ziel der Konferenz war die kritische Bestandsaufnahme von den
Veränderungsprozessen, welche die Gesellschaften Albaniens, Bulgariens und
Mazedoniens in den vergangenen 20 Jahren durchlaufen haben, auf welche Muster und
Identitäten zurückgegriffen wurde, aus welchem Mix von Altem und Neuem sich die
heutige Wertorientierung der jeweiligen Gesellschaften zusammensetzt, wie weit die
Institutionelle Absicherung der von der EU proklamierten Werte vorangeschritten ist,
welche Herausforderungen sich durch anti-westliche Diskurse ergeben und wie es um
die Kenntnis und Akzeptanz der Werte der EU bestellt ist.
1
Andras Bozoki. „Mitgliedschaft ohne Zugehörigkeit?“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 56/2004, S. 3-4.
21
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Hannes Swoboda, MdEP: Gemeinsame Werte der Europäischen Union in der
politischen Praxis
Hannes Swoboda ist Mitglied des Europäischen Parlaments, Stellv. Vorsitzender der
Delegation für die Beziehungen zu den Ländern Südosteuropas
Zuerst möchte ich mich herzlich für die Einladung durch die Friedrich-Ebert-Stiftung
bedanken. Wann immer mich die Friedrich-Ebert-Stiftung einlädt, komme ich gerne,
wenn es meine Zeit erlaubt. Und besonders gerne komme ich an derart schöne Orte,
mit denen ich ebenso schöne Erinnerungen verbinde. Wir hatten einmal auf der anderen
Seite des Sees, in der Nähe von Ohrid, eine Tagung des Gemischten Ausschusses des
Europäischen und des Mazedonischen Parlaments hatten.
Beginnen möchte ich mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen, um dann am Beispiel
von Entscheidungen und Diskussionen aktueller Natur zu belegen, dass die Europäische
Union sehr stark eine Wertegemeinschaft ist, auch wenn vielleicht ihr Image ein
anderes ist.
Lassen Sie mich zuerst zurückkehren zur Gründung der Europäischen Union. Die
Europäische Union ist als Wertegemeinschaft gegründet worden, um Krieg, Rassismus
und Nationalismus zu überwinden und die Voraussetzungen für einen dauerhaften
Frieden zu schaffen. Es kommt nicht von ungefähr, dass der Kern der Europäischen
Union – mit Nachwirkungen bis heute – aus einem Brückenschlag zwischen Frankreich
und Deutschland entstanden ist, zwischen den beiden Erbfeinden, die über
Jahrhunderte miteinander Krieg geführt haben. Und es kommt nicht von ungefähr, dass
man jene Ressourcen vergemeinschaftet hat, das heißt, einer gemeinsamen Behörde
untergeordnet hat, die für Aufrüstung und Krieg ausschlaggebend sind und waren:
Kohle, Eisen und Stahl. Das war der Anfang und Ursprung der Europäischen Union.
Das Instrument war ein wirtschaftliches. Aber der Zweck, die Ursache, die Zielrichtung,
war die Friedenschaffung. Es sollte nie wieder Krieg geben. Und dem Faschismus, der
im Zweiten Weltkrieg diese ungeheure Verwüstung über Europa gebracht hat, wurde
der Kampf angesagt. Es ging um eine Abwehr des Nationalismus und des Rassismus, im
Sinne der pangermanischen Überheblichkeit mit den Millionen von Opfern,
insbesondere, aber nicht nur bei der jüdischen – denken wir an die Roma, an
Homosexuelle, etc. An diesen Ursprung der Europäischen Union muss man immer
wieder erinnern.
Im Laufe der Zeit hat sich diese Wertegemeinschaft allerdings in Richtung einer
vorwiegend ökonomischen Wirtschaftsgemeinschaft entwickelt. Zuletzt ist die
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft jedoch in eine Europäische Union umgewandelt
worden, weil man wieder reelle Werte in den Vordergrund rücken wollte. Höhepunkt
war der so genannte „Grundrechtskatalog“, der erarbeitet und auch von den
Regierungschefs akzeptiert worden ist und in der Folge in die Europäische Verfassung
eingebaut wurde. Allerdings wurde diese – noch – nicht ratifiziert, so dass der
Europäische Grundrechtskatalog zwar ein Zielkatalog ist, aber keine rechtliche
Durchsetzungsfähigkeit hat.
22
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Dennoch hat der Europäische Gerichtshof bei seinen Erkenntnissen in vielen Fällen
bereits auf diesen Europäischen Grundrechtskatalog zurückgegriffen, ihn also de facto
als eine Wertgrundlage der Europäischen Union angesehen. Es gibt somit zwei aktuelle
Grunddokumente der Europäischen Union. Das eine Grunddokument definiert den so
genannten „Lissabon-Prozess“, also die wirtschaftliche Seite. Europa möchte in einer
globalen Welt der wettbewerbsfähigste Kontinent werden. Das andere ist der
Grundrechtskatalog. Er definiert, dass die Europäische Union auch eine
Wertegemeinschaft ist.
Diese Parallelität halte ich für absolut richtig. Beide Seiten sind wichtig: die
ökonomische, aber auch die Wertegemeinschaft. Ich möchte einige Beispiele anführen,
die das belegen.
1. Bei der Erweiterung der Europäischen Union spielen Werte und die Einhaltung von
Werten eine zentrale Rolle. Das ist nicht nur in den so genannten „Kriterien von
Kopenhagen“ festgelegt, bei denen es zum Beispiel um die Rechtsstaatlichkeit und den
Schutz von Minderheiten geht. Gerade auch in den letzten Verhandlungsrunden und den
Gesprächen, die wir nach dem Ende der Verhandlungen mit Bulgarien und Rumänien
führen, spielen fast ausschließlich Werte eine Rolle. Es geht weniger um die
wirtschaftliche Situation und politische Fragen, sondern vielmehr um Unabhängigkeit
der Justiz, um den Kampf gegen Korruption und grenzüberschreitende Kriminalität und
um
Minderheitenrechte – wenn ich insbesondere an Rumänien denke.
Das sind die Werte, die zur Debatte stehen. Und wenn es zum Beispiel bei Bulgarien
noch eine offene Frage gibt, dann ist es die Unabhängigkeit der Justiz. Und es war auch
der Druck der Europäischen Union, die Verfassung zu ändern, einen neuen
Generalstaatsanwalt, zu ernennen etc. Gerade an diesen Verhandlungen ist ziemlich
deutlich, wie wichtig die Einhaltung von Werten ist.
Auch der Minderheitenschutz spielt immer eine große Rolle – etwa in der Slowakei.
Auch dieses Land ist ein gutes Beispiel. Solange wir dort eine Regierung mit Meciar an
der Spitze hatten und ein mangelnder Respekt der ungarischen Minderheit und der
Roma bestand, solange haben wir nicht einmal begonnen, mit der Slowakei zu
verhandeln. Erst nach den politischen Änderungen, die auch die Voraussetzungen für
eine neue Gesetzgebung geschafft haben, wurden die Gespräche aufgenommen.
Bei der Frage der Minderheiten gibt es allerdings ein Problem: Der Minderheitenschutz
ist nicht genau definiert. Wir verweisen auf das, was der Europarat beschlossen hat. Es
gibt in der Europäischen Union deshalb keine genaue Definition, weil manche Länder,
die sehr zentralistisch aufgebaut sind, keine regionale oder Minderheitenautonomie
kennen – ich denke zum Beispiel an Frankreich. Andere Länder sind föderal strukturiert.
Aber dass Minderheiten nicht nur respektiert werden müssen, wie das in der
Grundrechts-Charta festgehalten ist, sondern auch einen besonderen Schutz, einen
Schutz ihrer Entfaltungsmöglichkeit haben müssen, ist gemeinsame Ansicht. Inwieweit
hier Autonomieregelungen sinnvoll sind, wie weit die Sprachenentfaltungsmöglichkeit
geht, wird diskutiert.
23
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
2. Die Europäische Union hat den Grundwert der Solidarität, wenn man so will, in
Richtung einer Sozialunion sehr hochgestellt. Man findet daher auch im
Grundrechtskatalog über das, was in vielen Verfassungen hinausgeht, viel zur Frage der
Solidarität, zu den Rechten der ArbeitnehmerInnen, zu Kollektivvertragsrechten, etc.
Aber auch das Recht auf gemeinwirtschaftliche Leistungen ist angeführt. Das heißt, die
Union ist – und das stört manche Leute, wenn ich zum Beispiel an Vaclav Klaus, den
Präsidenten der Tschechischen Republik denke – auch im wirtschaftlichen Bereich mehr
als eine kapitalorientierte Wirtschaftsgemeinschaft, weil sie die sozialen Rechte sehr
stark betont.
Die vergangenen Monate waren insbesondere im Europäischen Parlament stark durch
die Debatte über die so genannte „Dienstleistungsrichtlinie“ gekennzeichnet. Es geht
dabei um eine Gesetzgebung, die regelt, wie europaweit grenzüberschreitend soziale
Dienstleistungen, Dienstleistungen im Bausektor etc., angeboten werden können. Es
gab eine lange Debatte darüber, ob das Heimatrecht, das Ursprungslandprinzip, gültig
ist. Dieses besagt, dass alles, was bei mir zu Hause gilt, auch anderswo gilt, wenn ich
eine Dienstleistung anbiete. Einige der neuen Mitgliedsländer setzten sich für dieses
Prinzip ein. Das andere Modell ist das Ziellandprinzip, nach dem das Recht und
Grundprinzip jenes Landes gültig ist, in dem ich die Dienstleistung anbiete.
Nach längeren Diskussionen hat sich im Europäischen Parlament und letztendlich auch
im Rat eine sehr große Mehrheit gebildet, die feststellt, dass es nicht sinnvoll ist, soziale
Standards zu unterbieten. Zwar müssen die Märkte geöffnet und Diskriminierungen
vermieden werden. Es gibt einen gemeinsamen europäischen Dienstleistungsmarkt.
Aber soziale Rechte und soziale Standards, die in einzelnen Ländern erarbeitet worden
sind, müssen akzeptiert werden. Auch das ist ein klarer Beweis dafür, dass es nicht nur
um wirtschaftliche Faktoren, sondern auch um Wertefaktoren geht.
3. Die europäischen Grundwerte drücken klar das Prinzip der Nichtdiskriminierung aus.
Das heißt: Niemand darf aufgrund seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, seiner
ethnischen Herkunft, seiner geschlechtlichen Einstellung, etc. diskriminiert werden.
Auch zu diesem Punkt gab es immer wieder Debatten. So führten wir im Europäischen
Parlament bei einem neuen Mitgliedsland in der Europäischen Union, Polen, eine sehr
intensive Diskussion darüber. Wir haben mit großer Mehrheit eine Resolution verfasst,
die sich gegen jede Art von neuen rassistischen Gewaltakten, die innerhalb der
Europäischen Union stattfinden – in Frankreich, in Großbritannien –, aber auch gegen
so genannte „homophobe“ Gewaltakte ausspricht: gegen Gewaltandrohung gegenüber
Menschen, die sich zur Homosexualität bekennen.
Die sehr weit rechts stehende Regierung in Polen, unter Einschluss von Parteien, die
nicht nur antieuropäisch sind und sich antieuropäisch äußern, sondern auch bis zur
Einsetzung von Skinheads Drohungen gegen Minderheiten aussprechen, bereitet uns
große Sorgen.
4. Wir hatten diese Woche eine intensive Debatte über das „Forschungsrahmenprogramm“. Innerhalb dieses Forschungsrahmenprogramms stoßen mehrere
Grundwerte aufeinander. Der Grundwert, der auch im Grundrechtskatalog verankert ist:
24
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Freiheit der Forschung. Ebenso wie die gesundheitspolitischen Zielsetzungen und der
Schutz des Lebens. In diesem Zusammenhang haben wir heftig über die „embryonale
Stammzellenforschung“ geführt, also über die Verwendung von Stammzellen aus
Embryonen, um Gesundheitsforschung zur Bekämpfung von schwerwiegenden
Krankheiten, die derzeit nicht über einen anderen Weg heilbar sind, zu betreiben. Auf
der einen Seite wollten Manche – vor allem jene, die in sehr starker Verbindung mit der
katholischen Kirche stehen – jegliche Art der embryonalen Stammzellenforschung
verbieten, auf der anderen Seite traten Viele für die Freiheit der Forschung und das
Primat der Gesundheit ein.
Es gab schließlich einen Kompromiss, den man im Europäischen Parlament beschlossen
hat: Aus EU-Forschungsmitteln darf embryonale Stammzellenforschung in jenen
Ländern gefördert werden, in denen dies grundsätzlich erlaubt ist – mit der klaren
Zielrichtung der Gesundheitsforschung. Selbstverständlich ist das Klonen zu
Forschungszwecken verboten, wie das ja auch im Grundrechtskatalog klar verankert ist.
5. Wir sind gerade dabei, einen Zwischenbericht über den „CIA-Sonderausschuss“ zu
erarbeiten. Wie Sie wissen, hat es eine Reihe von Verbringungen auch europäischer
Staatsbürger durch die CIA gegeben – aus unserer Sicht und wie auch der Bericht des
Europarats festgestellt hat, unter Verletzung europäischer Grundsätze, aber auch
nationaler Rechte. Viele sehen das nicht als schwerwiegend an, weil sie es als Teil des
Kampfes gegen den Terrorismus verstehen.
Der Kampf gegen Terrorismus ist eine entscheidende Aufgabe. Für uns aber muss
dieser Kampf vereinbar gemacht werden mit der Wahrung der Grund- und
Freiheitsrechte. Daher haben wir immer wieder Resolutionen mit sehr breiter Basis
gegen Guantanamo verfasst und die Vereinigten Staaten von Amerika aufgefordert,
Guantanamo zu schließen und die Gefangenen in ein normales Rechtssystem zu
überführen.
Mit knapper Zustimmung haben wir im Ausschuss die Frage der CIA-Verfrachtungen von
Bürgern verhandelt. Im Grundrechtskatalog ist zum Beispiel auch festgehalten, dass
Niemand aus Europa in ein Land ausgewiesen werden darf, das Folter anwendet –
trotzdem ist das passiert. Es gab eine Reihe von Verletzungen, bei denen wir im
Europäischen Parlament klar sagen: Ja zum Kampf gegen den Terrorismus, aber Nein
zum Missbrauch der Grund- und Freiheitsrechte und Nein zur Unterordnung der
europäischen Werte unter die konkreten Ziele der CIA oder anderer amerikanischer
Institutionen.
Die letzten Punkte, die ich noch erwähnen möchte, stehen im Zusammenhang mit der
Region Südosteuropa. In der Erklärung von Saloniki 2003 wurde unmißverständlich
festgelegt, dass nicht nur die Kopenhagener Kriterien gelten. Für den Beitritt zur
Europäischen Union ist die Zusammenarbeit mit dem Den Haager Tribunal eine
notwendige Voraussetzung. Das ist ganz klar auch eine Frage der Menschen- und der
Minderheitenrechte und beweist eindeutig, dass es in der Europäischen Union um Werte
geht und nicht nur um eine Wirtschaftsgemeinschaft. So haben beispielsweise die
Verhandlungen mit Kroatien erst begonnen, als diese Zusammenarbeit gegeben war.
25
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Und so gibt es derzeit mit Serbien diesbezüglich ein großes Problem, weil Mladic noch
immer nicht ausgeliefert wurde, das aber eine der Voraussetzungen ist, um das
Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen abzuschließen.
Ein letzter Punkt, den ich nur noch kurz erwähnen möchte, ist der gesamte Bereich der
Außenpolitik. Ob wir mit Russland diskutieren oder mit dem Iran verhandeln – in all
diesen Fragen ist klar, dass Europa auch im Bereich der Außenpolitik nicht nur eine
wirtschaftliche Außenpolitik oder eine Außenpolitik im politischen Sinn betreibt, sondern
dass Werte immer eine Rolle spielen: Zum Beispiel bei unserer Kritik an Russland
hinsichtlich Tschetschenien, bei der Frage, wie sich Russland gegenüber Georgien im
Zusammenhang mit Südossetien, Abchasien oder gegenüber Moldowa hinsichtlich
Transnistrien verhält.
Zweifellos gibt es auch innerhalb der europäischen Institutionen Unterschiede bei der
Umsetzung der Werte. Die Kommission und der Rat sind mehr pragmatischwirtschaftlich
orientiert,
das
Parlament
ist
mehr
minderheitenund
menschenrechtsorientiert. Aber klar ist, dass die Europäische Union nicht nur eine
Wirtschaftsgemeinschaft ist. Sie ist nicht mehr die EWG, sondern die Europäische Union.
Werte spielen eine große Rolle. Daher ist für alle Länder, die sich auf dem Weg zur
Europäischen Union befinden, die Wertediskussion und die Umsetzung einer
Werteordnung ein wichtiger Aspekt für die Vorbereitung der Mitgliedschaft in der
Europäischen Union.
Teil 2
Diskussion
Zum Verhältnis EU und USA. Der bekannte österreichische Schriftsteller Karl Kraus hat
einmal über das Verhältnis Deutschland-Österreich gesagt: „Nichts trennt uns mehr als
die gemeinsame Sprache.“ Diesen Widerspruch kann man vermutlich auch auf das
Verhältnis USA-Europa anwenden: „Nichts trennt uns so sehr, wie die gemeinsamen
Werte.“
Oberflächlich betrachtet sind die Werthaltungen ziemlich – wenn auch nicht völlig –
gleich. Und dennoch bestehen in der Interpretation dieser Wertehaltungen zahlreiche
Unterschiede. Es gibt zum Beispiel den Unterschied, dass die religiösen Werte in den
USA einen höheren Stellenwert haben als in Europa. Wenn man von „Demokratie,
Freiheit, Menschenrechte, Minderheitenrechte“ spricht, wird man auf der abstrakten
Ebene keinen Unterschied erkennen. Bei der konkreten Umsetzung allerdings, etwa im
Kampf gegen den Terrorismus – Stichwort Guantanamo – oder im Verhalten Amerikas
gegenüber Entwicklungen in Lateinamerika, im Irak oder im Iran, gibt es zum Teil große
Unterschiede.
Darüber ist im Zusammenhang mit der Erweiterung auch eine Debatte innerhalb der EU
gewachsen. Die Einstellung zu den USA ist in einem Großteil – nicht in allen – der neuen
Mitgliedsländer eine viel positivere ist als in den alten Mitgliedsländern. Dasselbe gilt
auch für Bulgarien und Rumänien. Amerika hat für den Fall des Kommunismus de facto
nicht viel mehr unternommen als Europa. Aber es hat anders agiert, es hat sich
26
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
deutlicher artikuliert und die Wertedebatte klarer vorgetragen. Mehr umgesetzt hat
Amerika aber nicht.
Wenn ich heute beobachte, was Amerika beispielsweise gegenüber Russland bei
Tschetschenien sagt, dann agiert Europa zweifellos deutlicher als Amerika. Auch
bezüglich der Türkei hat Amerika immer zu den Menschenrechten geschwiegen, Europa
hat sich dazu geäußert. Und trotzdem hat es Amerika de facto geschafft, eine größere
Akzeptanz in den neuen Mitgliedsstaaten zu bekommen.
Was die Balkan-Region betrifft: Viele in Westeuropa haben nicht begriffen, dass das
Konzept von Europa – auch das geographische und damit das inhaltliche Konzept – sich
verändert. Für die Gründungsmitglieder – insbesondere für Frankreich – besteht Europa
eigentlich nur aus dem Westen unseres Kontinents. Alles andere ist schon ein
Kompromiss. Angesichts der Erweiterung von sechs auf 12 mit der Süderweiterung,
dann auf 15 und nun mit der Erweiterung um 10 neue Länder fragen sich Viele, ob das
überhaupt Europa ist. Ja, das ist Europa. Aber es ist ein anderes Europa mit einer
anderen geschichtlichen Entwicklung, und das gilt natürlich insbesondere für den
Balkan. Man hat noch akzeptiert, dass Europa nicht nur an den Atlantik und das
Mittelmeer grenzt. Aber dass Europa in wenigen Monaten auch an das Schwarze Meer
grenzt und sich eine ganz neue Dimension entfaltet, können Viele nicht nachvollziehen.
Zudem gibt es Einige, insbesondere bei der Europäischen Volkspartei, die Europa
prinzipiell als christlichen Club sehen. Für die katholische Seite ist es schon ein
schwierig, die orthodoxe Gemeinschaft in die EU mit einzubeziehen. Und wenn schon
viele Muslime in Europa leben, ist das umso schwieriger. Aus diesem Umfeld hört man:
„Erweiterung um Kroatien: Ja! Kroatien ist tiefkatholisch, religiös und gehört zu uns.
Aber an diesem Punkt sollte man zumindest eine Pause machen.“
Es gibt also durchaus Kräfte, die einfach quer durch den Balkan eine Grenze ziehen
möchten. Eine Grenze, zu der das Katholische noch dazugehört. Alles andere, vor allem
wenn es dann in Richtung nicht nur Orthodoxie, sondern vor allem in Richtung Islam
geht, soll draußen bleiben. Ich bin da ganz anderer Meinung. Europa ist kein christlicher
Club, war kein christlicher Club und darf kein christlicher Club werden!
27
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Gordana Siljanovska Davkova: Leitbild Mensch – Forderungen nach Ethos,
Pathos und Logos
Prof. Dr. Gordana Siljanovska Davkova ist Professorin für Verfassungsrecht und
Politische Systeme an der St. Cyril und Methodius Universität in Skopje, Mazedonien.
Wir leben in einer widersprüchlichen Zeit, in einer postindustriellen Gesellschaft, in einer
Informationsgesellschaft, in einer Ära der Globalisierung, einer Ära des technologischen
Fortschritts. Unser Leben ist jedoch gleichzeitig erfüllt von Erschütterungen und Angst
vor einer ungewissen Zukunft. Besteht das Risiko, dass wir auf der Suche nach einer
fortschrittlicheren Gesellschaft unsere Existenz gefährden? Es besteht, wenn man die
Kriterien des Guten, der Moral, der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit und der Solidarität
vernachlässigt. Diese Gefahr besteht objektiv, wenn man einerseits die Entwicklung als
Möglichkeit für die Lösung der gesellschaftlichen Probleme und die Verbesserung der
Lebensqualität sieht und andererseits Entscheidungen über die zukünftige Entwicklung
getroffen werden, ohne ethischen Fragen Rechnung zu tragen und ohne die
Wertedimension in der Politik zu berücksichtigen.
Wir befinden uns an einem Kreuzungspunkt. Nun müssen wir zurückschauen, die
Lektionen aus der Vergangenheit lernen und uns an das Ziel der Renaissance erinnern:
“Rückkehr zur Natur und Rückbesinnung auf unsere menschlichen Natur”. Wir müssen
die Wirklichkeit aus einer ethischen Perspektive sehen, uns mit der Krise der Moral und
der Heuchelei auseinandersetzten und eine Entwicklung mit einem ethischen Antlitz in
die Wege leiten, eine für den Menschen maßgeschneiderte Entwicklung. Bei diesem
Vorhaben stehen folgende Herausforderungen vor uns: erstens der Aufbau einer
Gesellschaft, in der die Menschen frei sind und ihre Lebensqualität in materieller und
kultureller Hinsicht gut ist, zweitens der Aufbau einer Gesellschaft, in der die Menschen
Herrscher über die Zivilisation sind und alle menschlichen Errungenschaften ihnen
dienen, drittens die Abkehr vom exklusiven Nationalismus und die Schaffung von
regionalen kooperativen Gemeinschaften zur Stabilisierung von regionalem Frieden und
Fortschritt, und viertens die Schaffung einer globalen, kooperativen, “interkulturellen”
Gemeinschaft “ohne Grenzen”, die auf universalen ethischen Prinzipien und Werten der
Solidarität, der Partnerschaft, der Gemeinschaft, der Toleranz und der Zusammenarbeit
basiert.
Die Politik ist ein ambivalentes Phänomen. Sie ist eine Tätigkeit, mit welcher die
Menschen allgemeine Verhaltensregeln gestalten, bewahren und ändern. Im Grunde
handelt es sich um eine gesellschaftliche Aktivität die einerseits untrennbar mit dem
Bestehen von Unterschieden und Konflikten verbunden ist und andererseits mit dem
Bedarf an Zusammenarbeit und kollektiver Aktion. Verschiedene Philosophen und
verschiedene Traditionen verstehen sie unterschiedlich. Für die einen ist sie die “Kunst
des Herrschens” bzw. “die sich auf die Polis beziehende” (die klassische, antikgriechische Variante) oder “die sich auf den Staat beziehende” (die moderne Variante,
D. Easton). Manche verstehen sie als “das Leiten und Steuern der öffentlichen
Angelegenheiten” (Aristoteles, J.J. Rousseau, J. S. Mill, H. Arendt), manche als die
28
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Lösung von Konflikten durch Auseinandersetzung und Einigung (B. Crick) und manche
als Kampf um begrenzte Ressourcen (H. Lasswell, K. Millett, K. Marx, V. Lenin).
Eine ständige Polemik wird auch um die Sphäre des “Politischen” geführt. Traditionell
wird sie auf die Institutionen und die Akteure, die in der “öffentlichen Sphäre” wirken
reduziert, sie wirkt jedoch aufgrund der Machtverhältnisse auch in die “private” Sphäre
hinein. In der Politikforschung gibt es mehrere Ansätze: den politisch-philosophischen,
der sich mehr auf “das was sein soll” fokussiert und weniger auf “das was ist”; den
empirischen, der sich mit den Institutionen und den Strukturen befasst; den
behavioristischen, der versucht, wissenschaftliche Strenge einzuführen und eine Vielzahl
von modernen Ansätzen, unter denen einen besonderen Stellenwert die Theorie der
rationalen Auswahl hat. Die Politikforschung ist wissenschaftlich, wenn sie auf
objektivem Wissen über die Welt der Politik basiert bzw. auf der Unterscheidung
zwischen Tatsachen und Werten. Hierbei handelt es sich um eine schwierige Aufgabe,
weil der Zugang zu den Daten schwer ist, die Werte in den politischen Modellen und
Theorien verborgen sind und die Gefahr der Voreingenommenheit in der
Politikforschung besteht.
Die heutige Europäische Union ist eine andere als die, mit welcher der europäische
Traum in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts begann. Sie ist eine weitere,
demokratischere und integriertere Einheit. Die Europäische Union ist einer der
angesehensten und begehrtesten Clubs der Welt. Für die Nachbarn, die ihr beitreten
möchten, klingen die Worte Robert Schumans verführerisch “Es ist notwendig, dass
jeder fest davon überzeugt ist, dass wir einander brauchen, ungeachtet der Lage und
der Macht, die wir haben” 2 . Diese Botschaft des damaligen Außenministers von
Frankreich wurde zuerst vom deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer aufgegriffen.
Er beendete die jahrhundertealten Feindseligkeiten zwischen den Mitgliedern der
Europäischen Gemeinschaft… "Europe is turning away from power, or to put it a little
differently, it is moving beyond power into a self-contained world of laws and rules and
transnational negotiation and cooperation. It is entering a post-historical world of
paradise of peace and relative prosperity, the realization of Immanuel Kant's "perpetual
peace". 3
Der jahrzehntelange Frieden führte die Europäer zu neuen Prioritäten: mehr
Arbeitsplätze, eine bessere finanzielle Lage, bessere Lebensqualität, aber auch größere
Sicherheit nach den Anschlägen in New York, Madrid und London. Den Bürgern Europas
ist klar, dass es ohne Sicherheit keine Freiheit geben kann und deshalb geben 60% der
4
Deutschen der Sicherheit den Vorrang vor der Freiheit . Natürlich sind Freiheit und
Sicherheit komplementäre Kategorien. Es gibt keine Sicherheit ohne die Bürgerfreiheit
und umgekehrt gibt es ohne die Bürgerfreiheit keine Demokratie. Der Rechtsstaat bzw.
Hobbes Leviathan ist eine Garantie für das Ende des "bellum omnium contra omnes"
bzw. für die Überwindung des vorbürgerlichen Urzustands. Im Geiste des Naturrechts
2
3
4
Šuman, R.: Za Evropa, Delegacija na Evropskata komisija, Skopje, 2004.
Kagan, R./Knopf: A. "Of Paradise and Power", New York 2003, S. 3.
Focus, 45/ 2001, www.focus.de/emnid .
29
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
hat für John Locke der Mensch natürliche Rechte: das Recht auf Leben, auf Freiheit und
auf Eigentum. Sie sind prä-existentieller Natur, d.h. sie sind dem Zugriff des Staates
entzogen.
Trotz der permanenten Säkularisation ist der moderne Europäers ein homo religiosus.
Für Schumann, Adenauer und de Gaspari waren das Christentum bzw. die
“Christdemokratie” eine politische Orientierung, eine Grundlage für die Gleichheit der
Menschen, die Würde des Menschen und den Frieden zwischen den Völkern.
Europa hat eine lange und tiefe Tradition von Sozialstaaten und der Zusammenarbeit
von Kapital und Arbeit. Aus solch einer Tradition wachsen Solidarität und Gleichheit. Der
Neoliberalismus untergräbt diese Werte. Die Familie ist immer noch ein wesentliches
Segment im Leben der meisten Europäer und stellt die Hauptzelle des Staates dar.
Vorrangiges Ziel der europäischen Eltern ist es, einen verantwortungsbewussten,
kultivierten und gebildeten Nachwuchs großzuziehen, für den sie sich zu opfern bereit
sind.
Der Prozess der europäischen Einigung ist an die Kernfrage geknüpft: Was sind die Ziele
der Einigung? Warum sind die Nationalstaaten bereit, einen Teil ihrer Souveränität
abzugeben? Was sind die Vorteile für Sicherheit und Wohlfahrt? Die nationalstaatlichen
Strategien sind an konsistenten bzw. EU-kompatiblen Lösungen orientiert, also an
Lösungen, die zur Europäisierung der nationalen Systeme führen. Die Umsetzung der
Kopenhagener Kriterien ist eng verknüpft mit dem Werte-Rahmen der nationalen
Systeme bzw. mit den Werten, auf denen das System basiert. Natürlich ist die
Wertefrage nicht vom Modell der politischen Kultur zu trennen bzw. von der Tradition
und der Sozialisierung als ihre Determinanten.
Die EU ist keine homogene Gesellschaft, mansche sprechen von “alter” und “neuer” EU.
Es gibt Anhänger einer vertieften Integration (vertreten durch die Gründungsmitglieder
Deutschland, Frankreich, Italien und den Beneluxstaaten) und Vertreter einer
Beibehaltung weitgehender nationaler Souveränität (Polen, Tschechien, Großbritannien,
Dänemark, Schweden). Es wird davon ausgegangen, dass es unter den neuen
Mitgliedstaaten eine Mehrheit gibt, die einer weiteren Integration skeptisch
gegenübersteht.
Dabei ist wichtig hervorzuheben, dass laut Eurobarometer 2003 die Bürger in den neuen
Mitgliedsstaaten der Integration freundlicher zugeneigt waren als der Durchschnitt der
EU-15. Außerdem sind die kleinen Staaten generell EU-freundlicher. Sie erwarten durch
sie eine schnellere Lösung der akuten Probleme. Der EU-Betritt hat für sie eine starke
affektive Bedeutung im Sinne der Reintegration nach Europa. Die Unterstützung für die
EU in den Mitgliedstaaten sank jedoch nach 2004 in der Folge des Irak-Kriegs, der
Debatte über die Verfassung und der gescheiterten Referenden in Frankreich und in den
Niederlanden, aber auch aus Gründen, die in den Mitgliedstaaten selbst liegen. Der EUSkeptizismus bei den Bürgern ist nicht generell gegen die europäische Integration
gerichtet, sondern gegen die vermeintliche Bürokratisierung und die Zentralisierung der
EU.
30
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Warum hat die EU ihre Türen für die Staaten aus Mittel- und Osteuropa geöffnet?
Erstens entstand nach jahrzehntelangen Aufrufen, vom Kommunismus als autoritärem
Modell abzukehren, eine Situation, in der die westeuropäischen Staaten eine moralische
Pflicht verspürten, ihre Solidarität mit den sich demokratisierten Ländern aus Mittel- und
Osteuropa zu zeigen.
Zweitens sind die wirtschaftlichen Möglichkeiten eines erweiterten Europas wesentlich
größer. Die Märkte für die westeuropäischen Produkte sind in Mittel- und Osteuropa
nicht zu unterschätzen, die billigen Arbeitskräfte und die niedrigen Abgaben sind für die
Profitlogik der westlichen Wirtschaft attraktiv. Drittens, hängt die Stabilität des
Kontinents nicht nur vom Westen ab, sondern auch vom Osten. Die Heranführung der
Staaten Mittel- und Osteuropas bedeutete auch die Verschiebung der Grenze der EU zu
Russland. Wären diese Staaten außerhalb der europäischen Integrationsprozesse
geblieben, wäre die Möglichkeit einer neuerlichen Beeinflussung durch Russland und
auch die Fragwürdigkeit ihrer Demokratisierung und der Öffnung ihrer Wirtschaft
geblieben. Die wirtschaftliche Unterstützung der Union ist außerordentlich wichtig für
die wirtschaftliche Transformation der Staaten Mittel- und Osteuropas.
Südosteuropa ist ein Gemisch von Kulturen und Religionen, das sich an einem
Kreuzungspunkt zwischen Europa und Nahost befindet, eine potentielle ethische
Konfliktzone. Auf dem Balkanforum in Thessaloniki 2002 erklärte EU-Kommissar Patten:
“Die Wahl ist für uns eindeutig: entweder werden wir Stabilität in den Balkan einführen
oder der Balkan wird Instabilität nach Europa ausführen” 5 .
Welches sind die Argumente für die Akzeptanz des Balkans als Teil der EU?
Erstens ist der Balkan ein Teil Europas – geographisch, historisch, politisch und
insbesondere kulturell. Zweitens wird die Idee einer einheitlichen Politik von allen
politischen Akteuren und von der ganzen Öffentlichkeit befürwortet. Drittens ist die EUPerspektive der wichtigste Motor und das Motiv für positive Entwicklungen in der
Region. Sie wird es den nationalistischen Parteien unmöglich machen, die Region zu
destabilisieren und den Frieden in der Nachkriegszeit und in den vom Krieg betroffenen
Gebieten zu gefährden. Viertens ist die Stabilität Europas ohne einen stabilen Balkan
nicht vollständig gewährleistet. Die Heranführung des Balkans an die EU wird die
vollständige Einigung der Region bedeuten. Anstelle von Verschiebungen von Grenzen
auf dem Balkan ist es notwendig sie aufzuheben – durch den Beitritt in die EU. Romano
Prodi erklärte 2003, als Kroatien den Beitrittsantrag stellte: “Erst wenn der Balkan Teil
der EU ist, können wir von einer vollständigen EU sprechen. Auf ihren Weg zur EU
werden wir die Balkanstaaten nicht alleine lassen.
Der europäische Erweiterungskommissar Olli Rehn sagte über das Verhältnis zwischen
der Aufnahmefähigkeit der EU und dem Westbalkan: “Der Westbalkan ist überhaupt
kein Problem für die Aufnahmefähigkeit der EU”. Der österreichische Kanzler Wolfgang
Schüssel meinte: ”Die Versprechen der EU gegenüber Bulgarien, Rumänien und den
5
Speech by Chris Patten, Western Balkans Democracy Forum - Thessaloniki, 11 April 2002.
31
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Balkanstaaten müssen eingehalten werden und die Türkei sollte als Sonderfall
betrachtet werden” 6
Die Friedrich Ebert Stiftung und das Sekretariat für europäische Angelegenheiten der
Regierung der Republik Mazedonien haben außerordentlichen sinnvoll entschieden,
indem sie die Regionalkonferenz zum Thema “Die Werte und die Politik: ein nach
Südosten erweitertes Europa – eine Wertegemeinschaft” am 17.06.2006 in Struga
veranstaltet haben. An der Konferenz nahmen Politiker, Fachleute aus dem Bereich der
Wissenschaft, der Verwaltung und der Medien, Vertreter des NGO-Sektors und der
Zivilgesellschaft teil.
Davor hatte Herr Dr. Alfred Diebold zwölf Interviews mit herausragenden
Persönlichkeiten aus der Welt der Politik, der Wissenschaft, der Kultur, des Journalismus
geführt und ihnen Schlüsselfragen über die Werte und die Politik gestellt. Sein Interesse
galt der Einstellung seiner Gesprächspartner zu den Grundwerten, zur Frage, welche
Persönlichkeiten sie personifizieren, zu den Wertesystemen in der Vergangenheit und
der Gegenwart, zur europäischen Idee, zur Bewertung der nationalen Situationen unter
dem Aspekt des Charakters und der Qualität des politischen Ideen und Visionen, zur
Fähigkeit der Gestaltung und der Entwicklung eines europäischen Wertemodells und zu
den Prozessen und den Tendenzen in der EU gegenüber den Anrainerstaaten unter dem
Gesichtspunkt der Werte.
Die Antworten zeichnen den Werte-Rahmen Südosteuropas. Im Interview mit Herrn
Holm Sundhaussen beschreibt dieser die Phänomenologie der EU als einer
Gemeinschaft von Staaten und Völkern, die durch gemeinsame Werte integriert sind.
Das Gespräch mit Herrn Hans-Jochen Vogel spiegelt den “deutschen” Werterahmen, die
sozialdemokratische Ideologie und den individuellen Wertehabitus wider.
Die Dimension der Werte ist in der Politik ein vernachlässigter Untersuchungs- und
Debattegegenstand, nicht nur in der Region SOE, sondern auch darüber hinaus. Das ist
kein Zufall, sondern ist mit der aktuellen politischen Praxis verbunden. Eine Politik ohne
Werteessenz ist kein Dialog, sondern ein Monolog. Eine Politik ohne werthaltigen Kern
ist keine Tätigkeit, mit welcher sich die Menschen bemühen, ihr Leben zu verbessern
und eine gute Gesellschaft zu schaffen. In einer Politik ohne Werteorientierung wird es
immer schwieriger sein, Kants Menschen als oberstes Ziel zu erkennen, immer öfter
jedoch stoßen wir auf Hobbes Menschen als Wolf.
Im Jesuitismus und Machiavellismus kann der zoon politicon nicht zum “ewigen Frieden”
sondern zum Zerfall der Zivilisationen führen und zum bellum omnium contra omnes.
Die moderne Politik ist eher Macht als Autorität. In Bedingungen eines unendlichen
Bedarfs und Wünschen einerseits und begrenzten Ressourcen andererseits manifestiert
sie sich als Kampf um die begrenzten Ressourcen, in dem die Macht als Instrument
dient (Lasswell) 7 . Erwünscht ist eine Politik als “Kunst des Möglichen”, eine Politik als
6
"Future Enlargement: 'absorption capacity' coming to the fore", 23 March 2006.
www.euractive.com.
7
Lasswell, H.: “Politics: Who gets, what, when, How?” New York, McGraw-Hill, 1936.
32
,
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
“ausgeglichenes Handeln”, eine Politik als Ausgleichsinstrument und nicht als Gefahr
und als Anwendung von bloßer Gewalt.
Die Konferenz war eine seltene Gelegenheit für den Austausch von Meinungen und
Standpunkten, die Gegenüberstellung von Argumenten, den Erfahrungsaustausch und
eine gemeinsame Suche nach Antworten. Die Gesprächpartner erreichten einen
Konsens über zwei Schlüsselfragen. Erstens ist die Qualität der politischen Ideen und
Visionen und die Weise ihrer Umsetzung in den politischen Prozeß untrennbar vom
Wertesystem, den Einstellungen und Grundüberzeugungen (einschließlich des
Glaubens), von den Grundvorstellungen über den Menschen, sein generisches Wesen
und seine Rolle. Zweitens ist die EU nicht nur eine politische Gemeinschaft, sondern
auch eine Wertegemeinschaft. Demnach können sich die Länder Südosteuropas eine
EU-Mitgliedschaft erhoffen, wenn sie ein Wertesystem haben und entwickeln, dass dem
europäischen gleicht.
Für alle Interviewten, Moderatoren und Diskutanten, aber auch für alle Bürger in der
Region ist die europäische Idee ein oberster Wert, “eine Leitidee”, eine Idee die wie
keine andere alle politischen Parteien, Ethnien und Religionen vereint. Die EUPerspektive ist eine Motivation für die Schaffung einer Kultur des Friedens, der Toleranz
und der Stabilität. In ihr sehen die Menschen aus der Region einen “modus vivendi”. Die
Schaffung und die Vitalisierung der europäischen Idee und Vision ist nicht nur Recht
und Pflicht der Politiker, sondern aller gesellschaftlichen Gruppen und Subjekte.
Die Menschen aus Südosteuropa sehen sich als ehemalige, jetzige und künftige
Europäer im geographischen, historischen, politischen und kulturellen Sinne. Der Homo
Balkanicus ist ein Homo Europaeus. Die Reintegration der Bürger des Balkans beinhaltet
einen Symbolismus: Sie bedeutet die Rückkehr zu den gemeinsamen europäischen
Wurzeln, die auch auf ihrem Boden entstanden sind. Das antike Kulturerbe, das
Römische Reich, das Christentum, die Aufklärung und die beiden Weltkriege sind die
Hauptpunkte und Bindeglieder der Wertesynergie zwischen dem Westen und dem
Osten. Das Osmanische Reich und der Kommunismus waren die Ursachen von ihrer
Abkehr.
Die Grundwerte in der Gesellschaft, aber auch für den Einzelnen sind nach Meinung der
Interviewten und der Teilnehmer an der Debatte die Freiheit, der Mut, die Justiz und die
Gerechtigkeit, die Solidarität, die Treue und die Orientierung zur Familie, die
Menschlichkeit, der Patriotismus, die Gleichberechtigung und der Glaube an Gott. Auf
diesen Werten basiert auch die westliche Zivilisation. In Anbetracht des heterogenen
ethnischen und religiösen Ambientes hat die Fähigkeit zum Miteinander leben und die
friedliche Konfliktlösung eine besondere Bedeutung.
Wenn es sich um die nahe Vergangenheit bzw. die Zeit des Realsozialismus und des
Kommunismus handelt bestanden trotz der Gemeinsamkeiten wesentliche Unterschiede
zwischen Albanien als dem geschlossensten und isoliertesten Staatssystem auf
europäischem Boden, Bulgarien als Mitglied des Warschauer Paktes und sowjetischen
Satelliten und Mazedonien als Teilrepublik der SFRJ mit einem Modell der
Selbstverwaltung in den Binnenbeziehungen, Blockfreiheit in den Außenbeziehungen,
33
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
sowie der „freien“ Kommunikation mit dem Westen. Alle kommunistischen Regimes
haben die Freiheit eingeschränkt und die Gleichheit und die Solidarität als Fundamente
des Systems hervorgehoben.
In den Interviews und in der Diskussion wurde offen und kritisch über die Krise des
Wertesystems und die Gefahr eines Wertevakuums in der Übergangsphase gesprochen,
was in direktem Zusammenhang steht mit dem Zerfall der Ethik in der Politik, der
Präsenz des oligarchischen Elements in der Staatsgewalt, mit dem partitokratischen
Modell der Staatsgewalt, mit dem “brain drain”, mit dem Mangel an wirtschaftlicher
Demokratie bzw. dem Mangel an Partnerschaft zwischen Kapital und Arbeit, mit der
Entideologisierung der Parteien, die sich in den Entscheidungsprozessen auf einen
engen Personenkreis konzentrieren, die an den Interessen der Bürger vorbeigehen, mit
der Krise des „Leaderships“ und der Delegitimierung der Politiker, mit der politisierten
und parteiabhängigen Verwaltung, die auf der Basis von “relations” und nicht aufgrund
von “merit” rekrutiert wird, mit einem politisch abhängigen Gerichtswesen, einem nicht
authentischen und fragmentierten Nichtregierungssektor, mit bestehendem Druck auf
die Medien …
Die Öffentlichkeit fordert immer lauter die Bekämpfung des Klientelismus, der
Vetternwirtschaft und der organisierten Kriminalität, sie möchte Reformen, wünscht die
Europäisierung der wirtschaftlichen, politischen und allgemeinen Prozesse, sie möchte
einen “Rechtsstaat” und eine werteorientierte Politik. Gebraucht werden wirkliche
Reformatoren, deren politische Aktivität vom “Allgemeinwohl und nicht durch
persönliche Interessen” inspiriert ist. Es besteht Bedarf nach einer neuen Generation
von Politikern, die vom Ethos, Pathos und Logos geleitet werden. Die realistische
Einschätzung der inneren Situation und die Entschlossenheit für Reformen werden die
Region europäisieren.
Die EU wiederum muss der Gettoisierung der Region und der “Gestaltung” von
besonderen, speziellen Kriterien und Formeln für ihre Eurointegration vom Typus der
sogenannten “privilegierten Partnerschaft” 8 ein Ende setzen, weil sie dadurch
Frustrationen, Apathie, ja sogar Autarkie hervorruft und Relikte der parochialen,
patriarchalen und untertänigen Kultur der Politik wiederbelebt und die partizipative
untergräbt, wodurch neue Möglichkeiten für Demagogen und Radikale geschaffen
werden. In der Region besteht kein EU-Skeptizismus, es gibt auch keine EU-Euphorie,
aber es gibt die Wahrnehmung, dass in der EU Balkanophobie und Balkanskeptizismus
herrscht.
Zusammenfassend kann man sagen, dass es sich in den internationalen Beziehungen
bewährt hat, wenn die EU eine starke Motivation für innere Veränderungen in den
Ländern hat. Indem sie sich erweiterte, brachte die Union Frieden und Prosperität. Die
Welt erinnert sich an die Worte Kennedys: “Ich bin ein Berliner”, die er 1963
8
Für die Idee der Privilegierten Partnerschaft warb die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in
der Erklärung nach dem Treffen mit dem slowenischen Premier, Janez Jansa, auf die Frage nach
der europäischen Perspektive des Westbalkans. ( Merkel moots "privileged partnership" for
Balkans", 17.03.2006, EUObserver, http://euobserver.com ).
34
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
ausgesprochen hat. Der trotzige Idealismus gegenüber der brutalen Wirklichkeit
bedeutete Glauben an die Freiheit, die Demokratie, die Offenheit. Es musste über ein
Viertel eines Jahrhunderts nach der Rede Kennedys vergehen, bis die Berliner Mauer
fiel. Sie wurde von den Menschen, die sie teilte, niedergerissen. Ihr Fall vereinte eine
Stadt, eine Nation, einen Kontinent. Die Grundwerte werden den europäischen Demos
tatsächlich vereinen und er besteht auch aus den Menschen Südosteuropas. Aus dem
Mosaik der Grundwerte braucht Südosteuropa insbesondere die regionale Solidarität
und die Solidarität der EU zur Region.
35
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Holm Sundhaussen: Rückkehr nach Europa? Südosteuropa zwischen Westen
und Osten
Prof. Dr. Holm Sundhaussen ist Professor für Südosteuropäische Geschichte am
Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Er ist u.a. Herausgeber der
"Forschungen zur osteuropäischen Geschichte", Mitherausgeber der "SüdostForschungen", der "Balkanologischen Veröffentlichungen", der "Österreichischen
Osthefte".
Das Interview mit Prof. Dr. Holm Sundhaussen führte Dr. Alfred Diebold.
Im Europäischen Verfassungsvertrag von 2003 heißt es: Die Werte, auf die sich die
Europäische Union gründet, sind: die Achtung der Menschenwürde, Freiheit,
Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte
einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind
allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus,
Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen
und Männern auszeichnet. – Wie sind diese Werte im geschichtlichen Zusammenhang
einzuordnen?
Sie sind das Ergebnis eines langen historischen Prozesses, der sich über mehrere
Epochen – vom Humanismus und der Aufklärung über die Französische Revolution und
die 1848er Revolution – erstreckte. Dieser Prozess war verbunden mit einer
schrittweisen Aufwertung des Individuums gegenüber der Gemeinschaft und der
Trennung von Kirche und Staat. In westlichen Gesellschaften wurden die erwähnten
Werte als grundlegende Zielvorstellung akzeptiert und haben während der letzten
Jahrzehnte auch in internationale Vereinbarungen (z.B. in die Charta der Vereinten
Nationen) Eingang gefunden. Die Tatsache, dass es sich zunächst genuin „westliche“
Werte handelte, dass sie auch im „Westen“ nicht immer realisiert werden und dass sie
zum Teil im einem Spannungsverhältnis zu anderen Werten stehen (indem z.B. die
Gemeinschaft höher gewertet als das Individuum), hat vielfältige Wertkonflikte
ausgelöst, die noch nicht überwunden sind.
Es heißt bei Ihnen: ‚Westen’ und ‚Osten’ als Chiffren. Was meinen Sie damit?
Ich meine damit, dass ‚Westen’ und ‚Osten’ nicht oder nur sehr bedingt in einem
geografischen Sinn zu verstehen sind, sondern dass es sich um mentale Räume handelt,
die mit bestimmten (unterschiedlichen) Wertvorstellungen verbunden sind. Es sind
schon insofern keine geografischen Begriffe, als wir sowohl im „Westen“ Phänomene
oder Strömungen beobachten können, die dezidiert antiwestlich sind (denken Sie etwa
an den Nationalsozialismus in Deutschland), wie wir umgekehrt auch im Osten Gruppen
und Strömungen finden, die pro-westlich orientiert sind, neben solchen, die sich
dezidiert vom „Westen“ absetzen wollen. Kritik am „Westen“ bzw. an seinen Werten
und Gesellschaftssystemen tritt in zweierlei Gestalt auf. Einmal als Kritik an der
Diskrepanz zwischen Zielvorstellungen und Realität. Dies ist die pro-westliche Variante
der Kritik am „Westen“, die auch im „Westen“ als Selbstkritik weit verbreitet ist. Und
36
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
zum anderen als Kritik an den Zielvorstellungen (unabhängig von der Realität). Das ist
die anti-westliche Variante der Kritik am „Westen“. Mit der geografischen Zuordnung ist
es also nicht getan. Der „Westen“ steht für einen Katalog von Werten, wie sie auch in
der Europäischen Konvention und in anderen internationalen Dokumenten ihren
Niederschlag gefunden haben, die aber gleichwohl nicht unumstritten sind.
Meinen Sie, dass die Werte auf dem Balkan andere sind als zum Beispiel in
Großbritannien, Deutschland, Frankreich?
Zumindest bis ins 19. Jahrhundert hinein gab es deutliche Unterschiede in den
Prioritätssetzungen. In den Balkangesellschaften besaß z.B. die Gemeinschaft – im
Unterschied zum „Westen“ - einen deutlichen höheren Stellenwert als das Individuum.
Die Aufwertung des Individuums begann mit der Rezeption des Römischen Rechts im
Verlauf des 19. Jahrhunderts. In Westeuropa zog sich die juristische Entdeckung des
Ichs über mehrere Jahrhunderte hin. In den post-osmanischen Balkanländern dagegen
wurde das Römische Recht mit einer Art Schocktherapie eingeführt. Und wie nicht
anders zu erwarten war, löste dieser Vorgang heftige Konflikte aus. Deshalb verwundert
es nicht, dass es innerhalb des Balkanraums (ähnlich wie auch in Russland) ganz
unterschiedliche Lager gab und gibt. Etwa seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
sind die Eliten in zwei Lager gespalten, die ich grob vereinfacht und etwas plakativ als
„Westler“ bzw. „Europäer“ und „Populisten“ bezeichnen möchte. Die „Westler“ strebten
eine Modernisierung ihrer Gesellschaften nach westeuropäischem Muster an und
sprachen von einer „Rückkehr nach Europa“. Dieses Europaverständnis ist abermals
kein geographisches. Denn geographisch haben die Balkanländer immer zu Europa
gehört und konnten deshalb nicht nach Europa zurückkehren. Auch in diesem Fall
haben wir es also mit einem mentalen Gebilde zu tun. Die „Populisten“ standen den
westeuropäischen Mustern skeptisch bis ablehnend gegenüber und beriefen sich auf die
„traditionellen“ Werte. Sie empfanden z.B. die Einführung des Römischen Rechts als
Angriff auf ihre Vorstellung von Gerechtigkeit und bewerteten den Individualismus als
Todesstoß für die Gemeinschaft. Die Rezeption des Römischen Rechts gestaltete sich
daher als ein schwieriger und konfliktreicher Prozess, weil sich mentale Strukturen
wesentlich langsamer ändern als äußere Umstände, die etwa durch eine
Institutionenbildung herbeigeführt werden. Mentale Strukturen und Denkweisen
verändern sich nur langsam. In den Verlautbarungen vieler orthodoxer Geistlicher (sei
es im Balkanraum, sei es in Russland) wird deutlich, dass sie andere Prioritäten setzen
und andere Werte anstreben als der „Westen“. Nach wie vor steht die Gemeinschaft
deutlich über dem Individuum. Das Individuum ist nur dann etwas wert, wenn es Teil
der Gemeinschaft ist. Es besitzt (fast) keinen Eigenwert.
Wird dem Eisernen Vorhang ein religiös-kultureller Vorhang folgen?
Da ist im Augenblick noch nicht zu beantworten. Es muss keineswegs so sein, ist
allerdings auch nicht ausgeschlossen. Selbst wenn es einen solchen Vorhang geben
sollte, was ich nicht hoffe, würden sich die geographischen Abgrenzungen aus der Zeit
des Ost-West-Gegensatzes mit den neuen Abgrenzungen nicht decken. Bis 1989 war ja
‚Osteuropa’ eine Art Sammelbegriff für die sozialistischen Länder Osteuropas. Mit dem
37
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Kollaps der realsozialistischen Systeme ist auch die Vielfalt innerhalb Osteuropas wieder
deutlich geworden. Die Historiker haben schon früher zwischen drei Teilräumen
Osteuropas unterschieden: dem ostmitteleuropäischen Raum (vom Baltikum bis Ungarn
und Kroatien), dem engeren Osteuropa (Russland, Weißrussland und die östliche
Ukraine) und dem Balkanraum zuzüglich Rumäniens. Ostmitteleuropa war seit dem
Mittelalter kulturell und religiös am Westen orientiert. Wirtschaftlich-sozial hat es
dagegen andere Wege beschritten als der Westteil Europas. Das engere Osteuropa hat
ein anderes Kulturmodell hervorgebracht als West- und Ostmitteleuropa: ein
ostkirchliches mit starken byzantinischen Elementen. Der Balkanraum weist insofern
noch einmal Besonderheiten auf, als er vier- bis fünfhundert Jahre unter osmanischer
Herrschaft stand. Falls es jetzt zu einem kulturellen Vorhang kommt, stellt sich die
Frage: Wo würde er verlaufen? Ich denke, der „Westen“ würde sich weiter in den
früheren „Osten“ verschieben, während diejenigen Gesellschaften, die stark orthodox
geprägt sind und diese Prägung als wichtiges identitätsstiftendes Merkmal betrachten,
eventuell einen anderen Weg als der „Westen“ gehen wollen. Sie verstehen die
Entwicklung, die in West- und Mitteleuropa seit der Französischen Revolution
eingetreten ist, als Irrweg. So wird es ja auch von einigen orthodoxen Theologen
formuliert. Ich denke an den serbischen Bischof Nikolaj Velimirović, der – bei einigen –
als der größte serbische Theologe des 20. Jahrhunderts gilt und im Jahre 2003 von der
serbischen Kirche heilig gesprochen wurde. Er hat in unzähligen Schriften immer wieder
gesagt: Der Westen ist einen falschen Weg gegangen, einen Irrweg, den wir vermeiden
wollen. Er hat das, was wir als Ziele formulieren und akzeptieren, dezidiert
zurückgewiesen: nicht die Praxis oder die Realität, sondern die Ziele selbst!
Hat die Kirche dort einen großen Einfluss auf den Staat, so dass sich das auch in der
Politik äußert?
Das ist sehr schwer zu beantworten. Es bestehen hier noch viele Forschungsdefizite.
Nach 1989 haben viele gemeint, dass es überall zu einer Art religiösen „Renaissance“
gekommen sei. Selbst wenn das so ist, bleibt die Frage bestehen: Handelte es sich um
eine temporäre Erscheinung, die bereits wieder rückläufig ist, oder um eine langfristige
Weichenstellung. Und zum anderen: Wird Religion im Sinne von Frömmigkeit oder als
kulturelles Referenzsystem verstanden. Die Religion war über Jahrhunderte hinweg als
kultureller Faktor lebendig. Das Bekenntnis zu einer (religiös geprägten) Kultur muss
nicht mit Frömmigkeit identisch sein. Auch Atheisten können sich dazu bekennen. In
westlichen Gesellschaften gibt es sehr, sehr viele Menschen, die aus der Kirche
ausgetreten sind. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass sie auch aus der Kultur, die
über Jahrhunderte hinweg religiös konnotiert war, ausgetreten sind. Ähnliche
Phänomene gibt es sicher auch in anderen Gesellschaften. Gerade wenn ich an den
Balkanraum denke: Dort fungiert die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft in
vielen Fällen als eine Art nationaler Ausweis. Ein slawischer Makedonier sagt:
Orthodoxie ist untrennbarer Bestandteil der nationalen makedonischen Identität, auch
wenn die betreffende Person nie in die Kirche geht und überhaupt nichts mit Religion im
Sinn hat. Deshalb muss man trennen zwischen einem Wiederaufleben der Religiosität
nach 1989, die auch bedingt war durch die Orientierungsunsicherheit, die mit dem
38
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Systemzusammenbruch eingetreten ist, und Religion als kulturstiftendem Merkmal, die
nicht mit Frömmigkeit bzw. Religiosität verbunden sein muss. Das gilt sowohl für die
christliche Bevölkerung wie für die muslimische. Von den Albanern z.B., die zu 70
Prozent Muslime sind, heisst es, dass sie nicht besonders fromm sind. Es geht um ihre
Kultur, in der sie groß geworden sind. Auch wenn sie keinerlei religiöse Bräuche
praktizieren, ist das kulturelle System für sie ein Identifizierungspunkt.
Sie sprechen von Werten als Prozess und Projekte. Was genau meinen Sie damit?
Ich meine damit, dass man nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt seine Werte erreicht
hat und dann bleiben sie stabil. Anders als bei einem Autorennen gibt es in der
Entwicklung von Gesellschaften keine Ziellinie, die einmal überschritten wird und danach
steht der Sieger fest. Es kommt immer wieder zu Zielkonflikten zwischen verschiedenen
Werten, beispielsweise zwischen Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, Rechten der
Gemeinschaft und Rechten des Individuums, Privateigentum und sozialer
Verantwortung etc. Gerade in den postsozialistischen Ländern ist das ein großes
Problem. Aber es ist nicht auf die postsozialistischen Gesellschaften beschränkt. Eine
ideale Gesellschaft gibt es nicht. Immer wieder kommt es zu Diskrepanzen zwischen
Zielen und Alltagspraxis. Immer wieder muss man danach streben, diese Diskrepanz zu
vermindern oder ganz aufzuheben. Und wenn man es an einem Punkt geschafft hat,
kann man ziemlich sein, dass sich an einem anderen Punkt neue Diskrepanzen auftun.
Das ist ein permanenter Prozess.
Welche Rolle spielt dabei die Religion? Gibt es Unterschiede zwischen der östlichen und
der westlichen Kirche in Bezug auf Werte?
Die gibt es sicher. Ich habe sie vorhin schon kurz angesprochen. Wenn man sich die
Schriften der Theologen anschaut, dann wird sehr deutlich, dass die Ostkirche andere
Vorstellungen hat als die Westkirchen. In der Orthodoxie steht die Gemeinschaft, steht
die Mystik, steht die Ablehnung von rationalen – auch schein-rationalen – Phänomenen
im Vordergrund. Das Individuum hat nur eine untergeordnete Rolle. Was orthodoxe
Theologen dem Westen vorhalten, ist, dass der Westen einen aus ihrer Sicht
übertriebenen Individualismus praktiziert, dass er zu materialistisch ist. Auch die
Trennung von Kirche und Staat wird abgelehnt ebenso wie ein gesellschaftlicher
Pluralismus etc. Es gibt also deutliche Unterschiede.
Sie sagen: Südosteuropa bzw. dem Balkanraum fehle der historische Stallgeruch des
Westens. Daraus ergeben sich Identitätsprobleme in der Gegenwart. Wie werden diese
sich äußern? Wo gibt es die Unterschiede?
Die Unterschiede beruhen einfach auf den unterschiedlichen Entwicklungspfaden, die
die Gesellschaften im Westen und die Gesellschaften in Südosteuropa gegangen sind.
Uns sind, im Bösen wie im Guten, die Epochen der Reformation, der Gegenreformation,
der Aufklärung etc. mehr oder minder vertraut. Es ist etwas, womit wir uns und unsere
Vergangenheit identifizieren können. Das fehlt in im Balkanraum. Eine Reformation und
Gegenreformation hat es nicht gegeben. Bei der Aufklärung ist es insofern
39
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
problematisch, als wir zwar einzelne, sehr renommierte Aufklärer aus dem Balkanraum
kennen, aber sie lassen sich an einer Hand aufzählen. Es war keine breitenwirksame
Bewegung, so dass auch in diesem Punkt Unterschiede in den historischen Erfahrungen
bestehen. Das, was wir heute als Ideale vertreten, sind Ideale, die im Laufe eines
langen Reifungsprozesses in Westeuropa ausgehandelt wurden.
Gibt es eine Kontroverse zwischen Slawophilen und Westlern? Ist es ein ‚clash of
civilizations’?
Kontroversen dieser Art gibt es auf jeden Fall. Wir kennen z.B. die Auseinandersetzung
zwischen Slawophilen und Westlern in Russland während des 19. Jahrhunderts ziemlich
gut. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion und Russland sind
im Verlauf der 90er Jahre wieder ganz ähnliche Lager entstanden, die - natürlich etwas
modifiziert - mit den gleichen Argumentationsmustern arbeiten wie die Slawophilen und
Westler im 19. Jahrhundert. Was weniger erforscht ist, ist die Tatsache, dass wir
vergleichbare Erscheinungen auch im Balkanraum finden. Auch dort sind die Eliten seit
Mitte oder spätestens seit dem letzten Drittel/Viertel des 19. Jahrhunderts in zwei Lager
gespalten. Und diese Spaltung dauert bis zur Gegenwart an und ist nach 1989 wieder
sehr deutlich in die Öffentlichkeit getreten. Wenn ich etwa an die vielen Diskussionen in
den 90er Jahren im ehemaligen Jugoslawien denke – das war mit Händen zu greifen.
Oder wenn ich an an Belgrad denke: Eine Stadt, deren Elite sehr gespalten ist. Auf der
einen Seite Leute, die weltoffen sind, die sich für die Rechte von Einzelnen und von
Minderheiten (ethnischen, religiösen, sexuellen Minderheiten) einsetzen, und auf der
anderen Seite Leute, die Individualismus, Pluralismus, Toleranz, Säkularisierung etc. als
frontalen Angriff und Bedrohung ihrer Gemeinschaft interpretieren und die Verbindung
mit der – westlich geprägten – Außenwelt um jeden Preis vermeiden möchten.
Die EU-Erweiterung ist eine politische Herausforderung. Kulturen treffen aufeinander.
Wie können sich die Staaten diesen Herausforderungen stellen?
Wir brauchen einen sehr viel intensiveren Dialog, und zwar auf beiden Seiten, als wir
ihn bisher hatten. Das heißt, dass bei der Südost-Erweiterung der EU nicht allein nur auf
die politischen Systeme, die Wirtschaftsysteme und die Rechtssysteme zu achten ist,
sondern auch auf die Aspekte der kulturellen Identität und auf Unterschiede in den
Wertsystemen. Man hat das in der EU lange Zeit eher vernachlässigt. Vielleicht war es
bisher auch nicht so notwendig, denn bis vor kurzem gab es nur einen Balkanstaat in
der EU (Griechenland), zu dem jetzt noch Zypern gekommen ist. Aber mit dem Beitritt
Rumäniens und Bulgariens sind es schon vier Staaten. Und auch die Länder, die man
jetzt unter dem Begriff „Westbalkan“ zusammenfasst, streben den Beitritt an. Diese
Entwicklung kann und soll man nicht aufhalten. Nach dem Beitritt von Rumänien und
Bulgarien ist der restliche Balkan praktisch umzingelt von EU-Staaten; das kann kein
sinnvoller Zustand sein. Ein Land wie die Schweiz kann damit wunderbar leben, weil es
ein wohlhabender, ein reicher Staat ist, der sich denselben Werten verpflichtet fühlt wie
die EU-Mitglieder. Die verbleibenden Staaten im Westbalkanraum können mit einer
solchen Situation dagegen nicht sinnvoll leben. Es muss deshalb auch in unserem
Interesse sein, diesen Erweiterungsprozess zu Ende zu führen und die jetzt noch nicht
40
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
beitretenden Staaten im Balkanraum möglichst bald aufzunehmen. Aber damit ist auch
die Notwendigkeit verbunden, dass wir viel intensiver nicht nur über unsere
Gemeinsamkeiten und die Implementierung der Kopenhagener Kriterien diskutieren,
sondern auch über unsere Unterschiede, gerade im kulturellen Bereich. Neben den
Kopenhagener Kriterien müssen wir auch einen wechselseitigen Lernprozess
implementieren und uns darüber verständigen, was eigentlich „europäische“ Werte sind
und wie die EU als Gemeinschaft zusammengehalten werden kann.
Die Mehrheit der Balkanbevölkerung ist orthodox. Daneben gibt es 8 Millionen Muslime
auf dem Balkan. Sind die Werte der orthodoxen und muslimischen Gesellschaften
kompatibel mit den europäischen Werten, so wie sie im Verfassungsvertrag beschrieben
sind?
Das kann man nicht generell beantworten. Es gibt sowohl in den orthodoxen wie auch
in den muslimischen Glaubensgemeinschaften einen großen Teil von Menschen, die kein
Problem mit den „europäischen Werten“ haben, die mit diesen westlichen Werten nicht
nur leben können, sondern sie auch aus eigener Überzeugung akzeptieren. Es gibt
andere Gruppen, die sich damit schwer tun oder diese Werte dezidiert ablehnen. Solche
„fundamentalistischen“ Gruppierungen gibt es ja auch im Westen. Wenn ich z.B. an die
Vereinigten Staaten denke, - auch da gibt es einen christlichen Fundamentalismus, der
nicht jedermanns Sache ist. Und umgekehrt finden wir natürlich auch bei den
orthodoxen und muslimischen Glaubensgemeinschaften Gruppierungen, deren
Vorstellungen mit den Werten, die wir hier vertreten, nicht ohne weiteres kompatibel
sind.
Interessant ist der Balkan-Islam. Die Frage, ob er etwas Besonderes ist, ob er eine
Variante des Islams ist, die sich sowohl vom Islam in anderen europäischen Ländern
unterscheidet als auch vom Islam in der außereuropäischen Welt, lässt sich im
Augenblick noch nicht eindeutig beantworten. Es gibt eine ganz Reihe von Indizien
dafür, dass es tatsächlich einen spezifischen Balkan-Islam gibt. Die Balkan-Muslime
unterscheiden sich zum einen von den relativ rezenten muslimischen Einwanderern in
Westeuropa dadurch, dass sie bereits seit Generationen in der Region leben, dass sie
sehr lange Kontakte mit der christlichen Nachbarbevölkerung hatten, dass sie teilweise
selber oder ihre Vorfahren aus dieser Bevölkerung stammen, mitunter dieselbe Sprache
sprechen und sich auch in ihrem Brauchtum oft nur wenig von den christlichen
Nachbarn unterscheiden. Das könnte dafür sprechen, dass sich der Islam im
Balkanraum in vielerlei Hinsicht vom Islam der rezenten muslimischen Einwanderer in
Westeuropa auf der einen Seite oder vom Islam in den arabischen Ländern oder in
Südostasien auf der anderen Seite unterscheidet und dass die Bezeichnung „EuroIslam“ vielleicht besser zu den Muslimen im Balkanraum als zu denen in Westeuropa
passt. Wie das Christentum ist jedenfalls auch der Islam keine Einheit. Und erst rechte
keine statische Einheit.
Vielen herzlichen Dank.
41
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Interviews
Die Interviews in Albanien führten Dr. Alexander Dhima und Dr. Alfred Diebold, die
Interviews in Bulgarien Arnold Wehmhörner und Dr. Alfred Diebold und die Interviews
in Mazedonien Stefan Dehnert und Dr. Alfred Diebold.
Albanien
Rexhep Mejdani, ehem. Staatspräsident der Republik Albanien
Rexhep Kemal Mejdani war von 1997 bis 2002 Staatspräsident Albaniens. Nach seinem
Studium der Physik und Mathematik in Tirana und Paris, wo er 1976 promovierte, war
er bis 1996 Professor an der Universität Tirana. 1991 Vorsitzender der staatlichen
Wahlkommission und seit 1992 für die Menschenrechte engagiert, wurde Mejdani auf
dem Reformparteitag der Sozialistischen Partei Albaniens im August 1996 zu deren
Generalsekretär ernannt. 1997 kam er bei Neuwahlen ins Parlament und wurde von
diesem zum Staatspräsidenten gewählt. Bei seiner Kandidatur für den Vorsitz der
Sozialistischen Partei 2003 unterlag er dem bisherigen Vorsitzenden und
Premierminister Fatos Nano.
Herr Mejdani, können Sie als ehemaliger Präsident der Republik Albanien und als
Wissenschaftler beschreiben, welche Werte für Sie wichtig sind? Wie sehen Sie sich
selbst, was macht Ihre Persönlichkeit aus?
Wichtig ist mir, bescheiden und ruhig zu sein und den anderen mit einem gewissen
Wohlwollen entgegenzutreten. Ich würde mich als bürgerlich und intellektuell
bezeichnen, als jemanden, der daran arbeitet, für die Lösung von Problemen
institutionell und gesetzlich verankerte Wege zu bahnen und eine neue „Philosophie“ zu
etablieren, deren Fundament die Achtung der Freiheits- und Menschenrechte und die
Solidarität zwischen den Menschen ist.
Hinsichtlich meines konkreten Beitrags als Politiker und ehemaliger Präsident der
Republik Albanien könnte ich auf Prof. Dr. Nino Boccara verweisen, der mein
Doktorvater in Frankreich war. Als ich ihn Jahre später traf und fragte, wie er seine
eigene wichtige Arbeit als Wissenschaftler und Pädagoge einschätze, antwortete er
ohne Zögern: „Ich habe nur einige Lücken gefüllt. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte
sie zweifelsohne ein anderer ergänzt ...“ Diese Antwort hat mir immer gefallen, sie
zeugt von einem bescheidenen, aber freien Geist und von großer Schaffenskraft. Ich
möchte daher auf ihre Frage hin nicht länger in Selbstbeschreibungen verfallen, sondern
eben diese Antwort geben.
Sie haben ja, bevor Sie in die Politik gegangen sind, lange Jahre als Wissenschaftler
gearbeitet. Welche Ideale waren für Sie prägend? Hat Sie bei der Entwicklung Ihrer
Person und Ihrer Werte eine historische Persönlichkeit oder ein einheimischer oder
ausländischer Politiker besonders beeinflusst?
42
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Wie Sie schon sagten, bin ich in der Politik erst spät präsent gewesen, obwohl ich als
Intellektueller schon seit meiner Jugendzeit durch die Teilnahme an zahlreichen
öffentlichen Veranstaltungen indirekt einen Beitrag geleistet habe. Mein erstes
politisches Amt, der Vorsitz der Zentralen Wahlkommission bei den ersten freien Wahlen
1991, wurde mir gerade als neutrale Person aus dem Bereich der Hochschule
angetragen. Und fünf Jahre später nach der manipulierten Wahl vom 26. Mai 1996,
wurde ich – erstmals in meinem Leben – Mitglied einer Partei, der Sozialistischen Partei,
die damals die größte Oppositionspartei war. Mein Leben war also lange Zeit dasjenige
eines Akademikers, und es waren entsprechend dieses akademische Milieu und seine
Geistesgrößen und Vorbilder wie etwa Aristoteles, Galilei, Newton oder Einstein, die
mich, meine Interessen und meine intellektuell-humanitären Wertvorstellungen prägten.
Hier verbindet sich Idealismus mit solidarischer Zusammenarbeit, mit Internationalismus
und mit dem Wunsch, die Welt kennen zu lernen und der Menschheit zu dienen, indem
man Wissen produziert und zu ihrer Formung und Emanzipation beiträgt.
Aber gab es nicht bestimmte politische Persönlichkeiten, die Sie gerade als albanischen
Politiker beeinflusst haben?
Natürlich habe ich auch viel über große politische Führer gelesen, auch über politischphilosophische Größen wie Sartre oder Havel. Als Politiker bin ich vielen wichtigen
Gestalten der Gegenwart persönlich begegnet, und mit anderen arbeite ich noch heute
im Rahmen des Madrider Clubs, einer Organisation ehemaliger Staats- und
Regierungschefs, zusammen. Sie alle haben während ihrer Regierungszeit eine klare
demokratische Haltung demonstriert.
Clinton schätze ich besonders, ich habe geradezu eine Schwäche für ihn und die Art,
wie er Politik macht. Das hat wahrscheinlich auch damit zu tun, das Clinton und die USAdministration in herausragender Weise zur Zerschlagung der blutrünstigen
Kriegsmaschinerie Milošević’ beigetragen haben, indem sie seine Politik der ethnischen
Säuberung und des Genozids am albanischen Volk im Kosovo und anderer Völker des
ehemaligen Jugoslawien gestoppt haben.
Von den albanischen Persönlichkeiten schätze ich besonders Gjergj Kastriota
Skanderbeg 9 als unbeugsamen Verteidiger der albanischen Gebiete und des
Christentums gegen die osmanischen Streitkräfte. Hohen Respekt habe ich vor dem
„Patriarchen“ der Unabhängigkeit, dem Patrioten Ismail Qemali 10 , oder vor dem
9
Skanderbeg, eigentlich Gjergj Kastriota (1405-1468), albanischer Feldherr und Nationalheld, der,
obwohl er zunächst am Hof des Sultans in Adrianopel zum Islam übertrat und dort seine
militärische Ausbildung erhielt, die Einigung Albaniens und den Widerstand gegen die Osmanen
organisierte.
10
Ismail Qemali (1844-1919), albanischer Politiker; spielte eine maßgebliche Rolle bei der
Ausrufung der Unabhängigkeit Albaniens vom Osmanischen Reich 1912 und war Vorsitzender der
provisorischen ersten Regierung des Landes; nach seinem Rücktritt 1914 verließ er Albanien und
lebte bis zu seinem Tod in Italien.
43
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Ministerpräsidenten Fan Noli 11 . Einen seltenen Stolz ruft in mir auch die bedeutende
Humanistin weltweiten Ausmaßes, die große Albanerin Mutter Teresa 12 hervor. Aber sie
ist so einzigartig, so ideal wie unerreichbar.
Das waren nun ganz verschiedene Persönlichkeiten. Sonst jemanden als mein
politisches Vorbild zu benennen, fällt mir schwer – wohl auch deshalb, weil Ideale in der
Politik heutzutage oft als naiv oder als jeglichem Erfolg abträglich angesehen werden.
Sie haben Freiheit und Solidarität erwähnt. Wenn Sie nun die Gesellschaft Ihres Landes
ansehen – haben Sie da nicht das Gefühl, dass jeder zumindest in erster Linie nur an
sich selbst denkt? Ist dies eine Erscheinung des umfassenden Wandels und hat damit zu
tun, dass es im Kommunismus an Freiheit fehlte, oder haben wir hier ein spezifisches
Charakteristikum der Bevölkerung des Balkans, der Bevölkerung Albaniens?
Wie die anderen Balkanvölker auch, hat das albanische Volk unter ständiger Besatzung
oder inneren Auseinandersetzungen gelitten, die von ausländischen Mächten und den
großen Clans Albaniens angefacht wurden. Auch die Zeit der kommunistischen Diktatur
hat zu einer beträchtlichen Erschöpfung geführt, wenngleich neben den ideologischen
und geistigen Deformierungen auch große, heute noch genutzte Projekte etwa in der
Energiebranche realisiert wurden – all dies dank der Arbeit und der Opfer des ganzen
albanischen Volkes.
Blickt man in die Geschichte der Albaner, so sieht man sofort, dass das Gefühl der
Freiheit und der Solidarität auch in schwierigen und von Armut geprägten Zeiten von
Bedeutung war. Seinen Höhepunkt erreichte es während der Kosovokrise, als die
albanische Bevölkerung sich innerhalb von zwei Wochen um 600.000 albanische
Flüchtlinge vergrößerte, die mit Waffengewalt, Massenmord und Zerstörungen aus ihren
angestammten Gebieten im Kosovo vertrieben wurden. Die albanischen Familien,
welche die Brüder und Schwestern aus dem Kosovo bereitwillig bei sich in ihrem
eigenen Heim aufnahmen, haben die Ehre und Würde des albanischen Staates bewahrt.
Auf eine solche Solidarität stoßen wir aber auch während des Zweiten Weltkriegs, als
kein Jude, der in Albanien lebte, den Nazis übergeben wurde. Obwohl sie ihren Kopf
riskierten, versteckten viele albanische Familien Juden, die damals in Albanien lebten, in
ihrem Haus. Damit ist Albanien einmalig in der Weltgeschichte.
Diese beiden Beispiele beweisen, dass Freiheit und Solidarität dem albanischen Geist in
seinen tieferen Schichten inhärent sind. Auf den ersten Blick scheint es, als wären sie
vergessen worden oder in tiefen Schlaf versunken. Aber wenn eine Situation
11
Teophan (Fan) Stylian Noli (1882-1965), orthodoxer albanischer Bischof und Politiker; für die
albanische Unabhängigkeit und deren Anerkennung u.a. in den USA engagiert; nach dem Sturz
Ahmed Zogus 1924 Ministerpräsident, wurde aber im selben Jahr wieder gestürzt und opponierte
aus dem Exil dem sich 1928 zum König erklärenden Zogu. Während des Zweiten Weltkriegs hatte
Noli Kontakt zu den albanischen Kommunisten unter Enver Hoxha.
12
Mutter Teresa, eigentlich Agnes Gonxha Bojaxhio (1910-1997); die katholische Ordensgründerin
in Indien war albanischer Herkunft und in Skopje geboren.
44
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
bedeutenden Ausmaßes wie die beiden erwähnten auftritt, werden diese Elemente in
ihrer ganzen historischen Vitalität wieder auftauchen.
Gegenwärtig kann man sich aber nicht des Eindrucks erwehren, dass jeder in erster
Linie nur an sich selbst denkt. Hat dies mit den politischen und gesellschaftlichen
Umständen unserer Zeit zu tun?
Man kann nicht leugnen, dass dieses Verhalten in der ein oder anderen Form jetzt
während dieser politischen Übergangsphase zutage tritt. Genauso wenig kann man
leugnen, dass auch die westliche Welt an einer Armut an Liebe, wie Mutter Teresa
betonte, leidet. Für das postkommunistische Albanien gibt es dafür jedoch einige
Gründe.
Zum einen haben die in Isolation lebenden Albaner die westliche Welt, die sie nur von
schönen Ansichtskarten oder Fernsehbildern kannten, nicht wenig idealisiert. Der
Westen galt ihnen als ein Paradies aus Wohlstand, Glück und Geld. Hungrig nach
diesem Wohlstand und den westlichen Lebensstandards wollten sie ihre eigene arme
Welt quasi über Nacht verändern. Dabei vergaßen sie die Nachbarn, die Freunde oder in
manchen Fällen auch die Familie. Aber dies lässt sich nicht verallgemeinern. So sind
viele ernste soziale Probleme dank der 600 bis 700 Millionen Dollar im Jahr, die
albanische Emigranten aus den westlichen Ländern ihren Familien in Albanien
zukommen lassen, weniger schmerzhaft. Um die Bedeutung dieses Betrags für Albanien
zu verdeutlichen: unser Staatshaushalt beträgt wenig mehr als das Doppelte.
Zweitens wurde die Umgestaltung der albanischen Wirtschaft von einer völlig
zentralisierten zu einer freien Wirtschaft anfangs wild und ohne Regeln, allerdings mit
einem ausgeprägt populistischen Geist in Angriff genommen. Die unmittelbare Folge
war, dass die vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen auseinander brachen und
menschliche und humanitäre Werte entleert wurden, da alle kopflos dem schnellen
Gewinn hinterherrannten. Privatisierungen waren notwendig, wurden aber ohne feste
Strategie und ohne Perspektiven nach manchmal rein politischen Kriterien durchgeführt,
was viele Tausende von Menschen arbeitslos machte. In diesem „grausamen“
Kapitalismus tauchten Menschen auf der gesellschaftlichen Bühne auf, die nicht die
nötigen Fähigkeiten, aber einen abenteuerlichen Mut besaßen und sich oft mit rein
spekulierender Absicht in die Welt von Kapital und Gewinn stürzten. Steuerflucht und
Korruption sind nach und nach zu festen Begleitumständen des Reformprozesses
geworden, was den Konzepten von Freiheit und Solidarität schwere Schläge versetzt.
Drittens haben auf diese „Gefühlsentwicklung“ auch Migrationsprozesse eingewirkt, die
für eine rasche und solidarische Harmonisierung der albanischen Gesellschaft eine
zusätzliche Schwierigkeit bedeuten. In einigen Fällen wie Tirana oder Durrës reichten
die städtischen Kapazitäten nicht aus, um die plötzliche Zuwanderung aus ländlichen
Regionen zu bewältigen. Wir dürfen nicht vergessen, dass am Ende der
kommunistischen Periode die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten doppelt so groß
war wie die in den Städten, während sie heute etwa gleich ist. Beides zeigt, dass die
Migration kein ausgeglichener Prozess war, und die Verhältnisse sind weit von
denjenigen in den entwickeltsten europäischen Ländern entfernt. Die konzeptionelle
45
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Frage nach Freiheit und Solidarität hängt eng mit der möglichst raschen Anpassung der
Städte und mit der richtigen „Absorbierung“ des Migrationsprozesses zusammen.
Sie haben eine Reihe struktureller und mentaler Umstände genannt, die zu dem
Phänomen führen, dass sich zunehmend eine egoistische Verhaltensweise und ein
Rückgang der Solidarität in der albanischen Gesellschaft ausbreiten. Inwiefern steht dies
mit dem Verhältnis Albaniens zu anderen Ländern in Zusammenhang? Welche Rolle
spielt dieses Verhältnis?
Tatsächlich lässt sich hier eine Einwirkung beobachten, und sie hat mit dem zu tun, was
man als Minderwertigkeitskomplex bezeichnen könnte. Unsere Geschichte und die
Entwicklung unserer Nationalität ist von alters her bis heute gleichsam durch eine
Spirale heroischer wie ungerechterweise tragischer Ereignisse hindurchgegangen. Aus
dieser Geschichte mit ihren ständigen Besatzungen und Revolten, mit opferbereiten
Aufständen und Kriegen für Freiheit und Unabhängigkeit ließe sich vieles herausgreifen,
um in der freiheits- und friedliebenden, tapferen und stolzen albanischen Bevölkerung
ihren Minderwertigkeitskomplex schon im Ansatz zu verdrängen.
Leider gibt es dieses Minderwertigkeitsgefühl auch heute noch nach den vielen Jahren
unserer Anstrengungen, eine freie und demokratische Entwicklung in einem völlig
neuen und offenen System herbeizuführen. Es gibt ihn als Ausdruck verschiedenster
Interessen, und besonders ausgeprägt ist er gegenüber Ausländern im Bereich der
Politik, der Machterhaltung und der Machtübernahme. Aber immer mehr taucht ein
freier albanischer Bürger auf. Trotz unserer derzeitigen Schwierigkeiten der
Übergangsphase sind diese Bürger und auch gerade die albanischen Jugendlichen, die
häufig im Ausland studieren, die Künstler, Sportler, Wissenschaftler und Intellektuellen,
die Experten jeglichen Fachbereichs und die erfolgreichen albanischen Geschäftsleute
mit ihren vielfältigeren und dynamischeren internationalen Kontakten nunmehr Partner
und seriöse Konkurrenz bis hin zur Überlegenheit. Dank ihrer Fähigkeiten, Kapazitäten,
ihres Talents, ihrer Arbeit, ihres Mutes, ihrer Moral und Ehrlichkeit haben sie den
„historischen“ Minderwertigkeitskomplex gegenüber Fremden weitgehend abgelegt und
erscheinen immer selbständiger und beruflich gleichberechtigt und damit auch als freie
und solidarische Bürger.
In einem offenen System sind solche Möglichkeiten auch im politischen Bereich und in
vielen der von ihm abhängigen Institutionen vorhanden. Man muss sich nur auch hier
von diesem Minderwertigkeitsgefühl endgültig trennen, um im Rahmen eines würdigen
Miteinanders und einer wechselseitig anerkannten Souveränität als echter und freier
Partner zu handeln. Sonst wird es nicht gelingen, unter den neuen Bedingungen auch
im „Schoß des Volkes“ jene positiven historischen Werte wiederherzustellen, für die
Freiheit und Solidarität wesentliche Bestandteile waren und sind.
Sie gehören der Sozialistischen Partei und damit einer postkommunistischen Partei an.
Gibt es aus der kommunistischen Zeit auch positive Werte, die bei der Veränderung der
Partei und der Entwicklung ihres Programms geholfen haben?
46
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Wie bereits gesagt, bin ich 1996 zum ersten Mal in meinem Leben Parteimitglied
geworden. Ich trat der damals oppositionellen Sozialistischen Partei bei, um einen
eigenen bescheidenen Beitrag zu leisten, dem albanischen Demokratisierungsprozess in
die richtige Richtung und zu einer gewissen Normalisierung zu verhelfen.
Die Sozialistische Partei hat in den Anfängen der Transition tatsächlich mehr als die
anderen, neu gegründeten Parteien die politische Struktur der Partei der Arbeit geerbt.
Aber ehemalige, darunter auch führende Mitglieder der Partei der Arbeit sind ebenso in
allen anderen Parteien zu finden. Trotz der gemeinsamen Herkunft aus der
„Mutterpartei“ wollen sich viele dieser Exkommunisten über Nacht in „Antikommunisten“
verwandelt haben. Zum Glück blieb mir dies erspart, weil ich vorher kein Parteimitglied
gewesen war.
Es ist schwierig, heute über die Werte einer früheren Staatspartei rein ideologischer
Natur, wie sie die Partei der Arbeit war, zu sprechen. Aber auf der individuellen Ebene
muss man den ausgeprägten Idealismus und die Ergebenheit zahlreicher Kommunisten
der Basis für ihre Aufgaben im Gegensatz zur Spitze der Partei hervorheben.
Aber dennoch sind Sie bei der Sozialistischen Partei gelandet. Warum gerade bei dieser?
Welche Umstände führten dazu, dass Sie sich nicht einer anderen politischen Formation
anschlossen?
Nun, gemessen an meiner Familienherkunft sollte meine politische Zugehörigkeit mehr
rechts als links sein. Andererseits wuchs ich im Universitätsmilieu auf, das sich in der
Regel durch eine klare soziale Neigung auszeichnet. All dies lag meiner Weltanschauung
näher, und so fühle ich mich eher zu einer modernen sozialistischen oder genauer
sozialdemokratischen Partei hingezogen. Als ich beitrat, gab es zudem innerhalb kurzer
Zeit Veränderungen hinsichtlich des Programms, der Organisations- und der
Führungsstruktur der Partei. Hier wehte ein frischer Wind, der die Partei mit Reformen
allmählich dem Ziel einer sozialdemokratischen Partei europäischen Typs näher brachte.
Rückblickend kann ich sagen, dass sich vieles zum Positiven entwickelt hat, aber es gibt
immer noch viele Dinge, die verändert werden sollten.
Die Sozialistische Partei hat sich also noch nicht weit genug verändert? Wo sehen Sie
Probleme, wo weiteren Handlungsbedarf, damit sie zu einer modernen
sozialdemokratische Partei wird?
Für eine Vertiefung dieser Umwandlung muss der Blick auf die Veränderungen in der
Wählerschaft der Partei gerichtet werden. Ich bin der Überzeugung, dass angesichts der
aktuellen Situation als Oppositionspartei nach acht Jahren Regierungszeit die
Reformierung nur vorangebracht werden kann, wenn es gelingt, die Kommunikation
zwischen Parteimitgliedern und Sympathisanten zu normalisieren und ein gegenseitiges
Vertrauen aufzubauen, in der Partei und ihren Leitungsstrukturen wieder einen
moralischen Standpunkt zu beleben und für eine Rückkehr des „sozialistischen Geistes“
zu sorgen. Wenn wir nicht einige Personen, die als korrumpiert angesehen werden oder
über die es zumindest solche Gerüchte gibt, für eine gewisse Zeit der Reflexion und der
Selbstüberprüfung von den Parteistrukturen fernhalten, werden wir unser Image nur
47
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
langsam verändern und die Unterstützung und das Vertrauen im Volk nicht mehr
wiedergewinnen können. Dadurch würden wir die Bereicherung durch den Beitritt
ehrlicher und idealistischer Menschen, fähiger Intellektueller oder talentierter
Jugendlicher hemmen. Deshalb muss im Moment der Kampf gegen die Korruption in
Theorie und Praxis, als Mittel der Bereicherung, der Einflussnahme und der
Durchsetzung eigener Interessen, an erster Stelle stehen und zum tragenden Element
werden; es gilt, die Parteireihen zu säubern.
Auf dem Parteitag der Sozialistischen Partei im Dezember 2003 wie auch im Oktober
2005 war einer meiner wichtigsten Vorschläge, innerhalb der Partei Fraktionen
zuzulassen – nicht im klassischen Sinne, sondern als Vertretung von Alternativen, indem
Kandidaten gemäß den Listen ihrer Unterstützer Zugang zu den Leitungsgremien der
Partei bekämen. Leider wurde dieser Vorschlag 2003 nicht zuletzt wegen der
schwierigen Situation, in der sich die Partei befand, nicht verstanden, und er wurde erst
auf dem Wahlparteitag im Mai 2005, jetzt unter Friedensbedingungen, angenommen.
Freilich konnte er nun nicht mehr im selben Maße zur Rettung der Partei beitragen wie
noch 2003, aber trotzdem handelte es sich um einen konzeptionellen Fortschritt, der die
demokratische Reformierung der Sozialistischen Partei, die Repräsentation von
Alternativen in ihrer Führungsstruktur, ja letztlich überhaupt erst den Zusammenhalt
einer großen Partei ermöglicht. Aber mit Erstaunen muss ich beobachten, wie diese
Alternativvertretung auch heute noch nicht praktisch umgesetzt ist und man sie nicht
als einen Faktor von Kohäsion und Pluralität, sondern der Spaltung darstellt. Hier taucht
das veraltete, einst von der Partei der Arbeit kultivierte Konzept der „absoluten
Uniformität“ wieder auf. Ich glaube weiterhin, dass durch gewählte Repräsentanten auf
allen Parteiebenen weniger eine Machtausübung, sondern ein Kräfteausgleich, eine
Institutionalisierung der Pluralität ohne theoretische oder metaphysische
Vorbedingungen stattfinden wird, gleichgültig, ob die Partei sich in der Regierung oder
der Opposition befindet.
Um die derzeitige Schwäche der Partei zu überwinden, halte ich inzwischen zwei
andere, eng miteinander verbundene Prinzipien für unverzichtbar: Konsens und
Kollegialität. Gelingt es, diese beiden hervorzuheben und die Beschlussfassung auf sie
zu gründen, werden wir „zur richtigen Zeit und am richtigen Ort“ zu wertvollen
politischen Lösungen gelangen. Dies ist, wie ich schon 2003 gesagt habe, genauso
wichtig wie die Annahme der Alternativvertretung.
Dies bedeutet, dass die Sozialistische Partei sich noch nicht weit genug von der
kommunistischen Partei der Arbeit entfernt, von ihrem Erbe getrennt hat, und Sie
scheinen hierin große Probleme zu sehen.
Ich meine, eine falsche und der Demokratie abträgliche Reminiszenz an die Idee der
absoluten Einheit in der Führung der Partei zu erkennen. Wird diese Idee erneut zum
politischen Prinzip erhoben, so wird dies größere Fehler und Schwierigkeiten, ja
Gefahren für die Zukunft nach sich ziehen. Absolute Uniformität läuft der Kollegialität,
dem Kardinalprinzip demokratischer Parteien und ihres Zusammenhalts, zuwider. Die
aktuelle und auch andere Situationen können nur bewältigt werden, wenn Kollegialität
48
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
in die gesamte Parteistruktur eingeführt wird und dem theoretischen wie praktischen
Unitarismus der Parteispitze Widerstand leistet. Angesichts der heutigen
gesellschaftlichen Entwicklung muss das einst auf eine autokratische Einförmigkeit
hinauslaufende Argument der inneren Einheit der Partei über Bord geworfen werden.
Einheit muss sich aus der Debatte zwischen den unterschiedlichen Alternativen und der
Konvergenz ihrer Lösung ergeben. Freiheit und Solidarität in der Partei müssen als
Solidarität in der Diversität und nicht als Solidarität in Uniformität, als Freiheit der
Öffnung, nicht als Freiheit der Abschließung konzipiert werden. Sie sind ein ethisches
Prinzip und umfassen gegenseitiges Vertrauen, gegenseitige Achtung, eine
Verständigung in Würde, Toleranz und den Kompromiss. Befehlsstrukturen dürfen nicht
mehr dafür herhalten, abweichende Meinungen in der Partei, die für den inneren
Demokratisierungsprozess wesentlich sind, auszuschalten. Dies entspricht auch dem
Konzept einer Partei, die sich nicht auf Ideologie, sondern auf Wähler stützt und daher
eine freie Vereinigung gesellschaftlicher Gruppen und freier und gleichberechtigter
Menschen ist. Sonst gewinnen wir keine ehrlichen und idealistischen Menschen, keine
der für die Entwicklung des Denkens in der Partei so wichtigen Intellektuellen. Ebenso
muss die Vertretung der Frauen und besonders der Jugend gestärkt werden, sind es
doch die Jugendlichen, welche die zukünftigen Mitglieder jeder demokratischen Partei
stellen.
Sie haben viel über alte Parteistrukturen gesprochen, die Ihnen als Hindernis für eine
demokratische Entwicklung erscheinen. Aber gibt es auch etwas aus der Zeit des
Kommunismus, das Ihnen heute fehlt?
Im Kommunismus als politischem System und als politischer Praxis – nicht als Theorie
und Idee – lässt sich nur schwer so etwas finden, vor allem dann, wenn man die
orthodoxe Variante des Kommunismus in Albanien betrachtet.
Aber während meiner Zeit an der Universität, als Student wie als Wissenschaftler, waren
wir mit Eifer bei unserer gemeinsamen Arbeit. Wir waren nicht wirklich frei, aber wir
wurden von der Gesellschaft geschätzt und geachtet, und untereinander waren wir
solidarisch und halfen uns gegenseitig. Ohne Zweifel leisteten wir damals, auch unter
jenen schwierigen Bedingungen, eine würdige Arbeit, es gab eine sehr qualifizierte
Ausbildung in beruflicher und technischer Hinsicht, die viele Leitungs- und Fachkräfte,
die Pädagogen und Wissenschaftler hervorbrachte, die nicht nur in Albanien, sondern in
der ganzen Welt arbeiten und sich durch ein hohes Niveau auszeichnen, auf das wir
heute stolz sind. Leider sind viele dieser positiven Aspekte, wie ich aus Kontakten mit
Universitätskollegen weiß, untergegangen.
Ihr Land wünscht, Mitglied der EU zu werden. Haben Sie das Gefühl, dass die „alten“
Staaten der EU während des Beitrittprozesses Ihr Land durch Beschlüsse zurückgesetzt
haben? Gab es Beschlüsse, die sich schlecht auf Ihr Land ausgewirkt haben?
Der Beitritt ist die einzige Lösung, um in unserer globalen Welt zu überleben und
voranzukommen. Gewiss gibt es auch nachteilige Auswirkungen, es werden rasch
ernsthafte Probleme für die einheimische Produktion und Geschäftstätigkeit entstehen,
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Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
und dies nicht nur für uns, sondern auch für viele mächtige Staaten Europas. Aber
durch die Integration in die EU verwirklichen alle Albaner, sei es in Albanien, im Kosovo,
in Mazedonien oder in Montenegro, ihren Traum der eigenen Integration.
Ungeachtet der Probleme, die bei der Zustimmung zur Europäischen Verfassung zutage
gekommen sind, zeigt sich doch, dass sich das neue Europa von heute von Lissabon bis
zu den baltischen Ländern erstreckt, was eine Errungenschaft von außergewöhnlichem
politischen Wert ist. Aber dies trifft natürlich nicht auf die Länder zu, die außerhalb der
Europäischen Union geblieben sind. Wenn die 25 Mitgliedsländer sich abschließen,
werden sich die konkreten Sorgen der anderen Länder einschließlich Albaniens weiter
vermehren. Beispielsweise wird für diese Länder außerhalb der Union die
Bewegungsfreiheit noch problematischer, diskriminierender und eingeschränkter,
besonders für die Bewohner des westlichen Balkans.
Große Probleme werden aber auch auf die neuen Mitglieder zukommen. Dieser
gewaltige Erweiterungsprozess mit seinem gemeinsamen Markt von nun etwa 450
Millionen Einwohnern erfordert zwangsläufig eine bestimmtes Niveau an wirtschaftlicher
und institutioneller Homogenisierung. Es wird zu Auseinandersetzungen sowohl in den
„alten“ wie in den neuen Mitgliedsländern kommen, und auch zwischen diesen beiden
werden sie stattfinden. Damit bleibt als dringende Frage, wie dieser mächtige Block für
die Völker fassbar und zu einer für sie günstigen Realität werden kann, wie ein Vorbild
für die anderen Völker. Wie wird die Union zu einem Akteur, der auf der globalen Bühne
mit starker politischer wie ökonomischer Stimme spricht? Es ist nur natürlich, dass der
Weg hin zur notwendigen Konvergenz ein schwieriger Weg ist, denn je größer die Union
wird, umso größer sind die administrativen Herausforderungen, umso schwieriger wird
die Ausbalancierung und die Homogenisierung.
Das bedeutet, dass die Europäische Union selbst ein Prozess ist, und zwar ein
komplexer Prozess, der Verschiedenheit und Einheitlichkeit zugleich erreichen will und
muss. Wie soll dies funktionieren, und welche Bedeutung hat dies für Albanien?
Debatten über Diversität, unterschiedliche Reaktionen auf die Homogenisierung und
Möglichkeiten einer Ausbalancierung gab es früher auch schon. Die EU hat deshalb
schon lange ein hohes Maß an Flexibilität gepflegt. Nicht umsonst spricht man in Brüssel
von einer „variablen Geometrie“. Diese elastische Logik hat sich auf fast alle großen
Projekte der vergangenen Jahre ausgewirkt, in dem sie zunächst einen Teil der
Mitglieder, einen „Kern“, betrafen und sich dann allmählich auf andere Mitglieder
erstreckten. Das war mit dem Euro ebenso der Fall wie mit dem Schengener
Abkommen.
Nunmehr zeichnen sich Schwierigkeiten auch auf der Ebene der kollektiven
Entscheidungen ab. Die Sozialpolitik ist in Europa nur schwach koordiniert, und die
Außen- und Sicherheitspolitik stützt sich immer noch eher auf eine „Theorie der
Koalition des guten Willens“ denn auf ein reguliertes System institutionalisierter
politisch-administrativer Verpflichtungen. Aber mit diesem hohen Maß an Flexibilität
erreicht die EU ein Maximum an Toleranz gegenüber der Diversität der Mitgliedsländer.
50
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Die Gesetze der EU werden nicht mehr nur in Brüssel, sondern gerade von den
nationalen Regierungen der Mitgliedsländer angewandt. Dies macht eine höhere
gegenseitige Glaubwürdigkeit der unterschiedlichen politisch-ökonomischen Systeme
erforderlich. Zum Beispiel muss ein irischer Verbraucher, der bulgarische, rumänische
oder türkische Lebensmittel kauft, nicht nur den Bauern und Produzenten dieser Länder
vertrauen, sondern auch den Administrationen hinsichtlich der Kontrollen, der
Zollabfertigung, der Grenzsicherung. Er muss den entsprechenden Justizsystemen
vertrauen als rechtliche Garantie der Herkunft der Nahrungsmittel. Kann jedes neue
oder zukünftige Mitgliedsland wie Bulgarien, Rumänien und Kroatien oder auch Albanien
als Kandidat von morgen dieses Vertrauen wecken? In dieser Hinsicht scheinen die
Herausforderungen unüberwindlich. Und doch will die EU weiter voranschreiten und
auch diese Barrieren und Zögerlichkeiten überwinden. Sie mildert durch eine Strategie
der Handelsliberalisierung, der Hilfsfonds und eines vielseitigen Engagements die
bestehende Diversität, und sie kann hier als Modell für die künftige Weltpolitik dienen.
Aber scheint es derzeit nicht so, dass für künftige Mitglieder oder Kandidaten wie
Albanien die Zugangsbedingungen angesichts der inneren Schwierigkeiten der EU
erschwert zu werden drohen? Wann wird Albanien zur EU gehören?
Tatsächlich werden heute im Rahmen der Verhandlungen über das Stabilisierungs- und
Assoziationsabkommen nach dem europäischen „Big Bang“ mit zehn neuen Ländern
und dem euroatlantischen Bündnis mit sieben Ländern schärfere Fragen gestellt. Wird
man einen gewissen Grad der Homogenisierung der heutigen Mitgliedsländer abwarten,
bis man sich ernsthaft den weiteren Kandidaten zuwendet, oder wird dies schneller
vonstatten gehen? Wie wird man mit dem geplanten Beitritt Bulgariens und Rumäniens
2007 umgehen? Wird man die Verhandlungen mit der Türkei mit seiner überwiegend
moslemischen Bevölkerung „verfeinern“ und in die Länge ziehen und dagegen den
Beitritt des katholischen Kroatien beschleunigen? Wird Mazedonien weiterhin als Land
des Westbalkans oder als Teil Südosteuropas angesehen? Besorgniserregend ist, dass in
diesem Zusammenhang der Begriff „Südosteuropa“, der alle Länder der Balkanhalbinsel
umfasst, durch den Begriff „Westbalkan“ ersetzt wurde, der sich auf genau jene Länder
erstreckt, die vor der Tür der EU bleiben. Wird die Theorie der „drei
Integrationsgeschwindigkeiten“, das langfristige Konzept des „Cordon sanitaire“,
dasjenige der „rosafarbenen (moslemischen) Karten“ oder gemäß der Terminologie des
Big Bang die „Theorie der schwarzen Löcher“ angewandt, welche die Integration
Albaniens und einiger anderer Länder des westlichen Balkans auf den SanktNimmerleins-Tag verschiebt? Dies alles muss von den zuständigen albanischen und
europäischen Einrichtungen analysiert und den Albanern transparent gemacht werden.
Liegen die Schwierigkeiten im Hinblick auf eine Aufnahme Albaniens nun eher auf der
albanischen oder auf der europäischen Seite? Was steckt dahinter, dass der
Erweiterungsprozess nun eher ins Stocken zu geraten scheint?
Ich habe die öffentliche Debatte, die in Frankreich über die Europäische Verfassung
geführt wurde, aufmerksam verfolgt, und ich komme nicht umhin, hier meine Sorge
auszudrücken. Sowohl auf Seiten der Befürworter als auch der Gegner spielte das
51
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Konzept des Nationalstaats eine große Rolle, ein Konzept, das im Kern eine ernsthaftes
Hindernis für den Bau eines soliden und gesunden europäischen Gebäudes darstellt.
Meiner Ansicht nach handelt es sich dabei um eine Falle angesichts des
Globalisierungsprozesses mit seiner zunehmenden Vervollkommnung der Informationsund Kommunikationstechnologie.
Ich persönlich sehe mich als ein Verteidiger des „revolutionären“ Standpunktes, der die
wesentlichen Veränderungen im heutigen Konzept von Raum und Zeit mit einbezieht.
Wir sind Zeuge einer Komprimierung oder gar Vernichtung von Distanz und Raum im
menschlichen Erleben, und dies spiegelt sich zwangsläufig in der zeitlichen Struktur der
menschlichen Tätigkeit wider. Dieses Phänomen erleben wir täglich und mit wachsender
Intensität.
Unabhängig von Meinungsverschiedenheiten über dieses Raum-Zeit-Problem führt dies
zu einer Erosion der alten Konzepte lokaler und nationaler Grenzen, über ihren Wert
und ihre Bedeutung, die sich auf viele Bereiche des menschlichen Denkens und
Handelns auswirken. Das durch den Westfälischen Frieden konstituierte Konzept der
Souveränität ist ein solches Konzept, das zwangsläufig einer wesentlichen Reform
bedarf. Aber auch die räumlich-zeitlichen Verhältnisse der verschiedenen Kulturen,
ethnischen Gruppen, Nationen und Territorien müssen neu eingeschätzt werden. Anders
gesagt kann man beim Bau des europäischen Gebäudes nicht das nationalstaatliche
Konzept als Fundament nehmen, und dies schon gar nicht, indem man sein
„archaisches Gerüst“ fanatisch verteidigt.
Was hat der EU-Beitrittsprozess angesichts all dieser inter- oder supranationalen
Schwierigkeiten denn nun für Ihr Land gebracht?
In erster Linie hat er bei der Veränderung und Konsolidierung des politisch-rechtlichen
und institutionell-administrativen Systems und der Mentalität der albanischen
Gesellschaft geholfen. Natürlich darf man auch nicht die beträchtliche Hilfe
verschweigen, die zur Entwicklung der materiellen Strukturen in vielen lebenswichtigen
Bereichen, zur Verbesserung der Lebensbedingungen und zu einer beachtlichen
Dynamik beigetragen hat. Heute wären wir ohne die wertvolle Hilfe der europäischen
Steuerzahler nicht da, wo wir sind.
Und was sind Ihrer Meinung nach die Werte Albaniens, die umgekehrt einen positiven
Einfluss auf die anderen EU-Ländern ausüben können?
Ohne in leere Rhetorik zu verfallen, bin ich doch überzeugt, dass auch die Albaner als
eines der ältesten Völker Europas ungeachtet ihrer bescheidenen Zahl eigene Werte
anbieten können. Immerhin ist die Institution der Familie als Grundzelle der Gesellschaft
in Albanien von weit größerer Bedeutung als in den anderen Ländern der Europäischen
Union.
Zur Familie gehört auch die Jugend, die Zukunft einer Gesellschaft. Aber, um wieder
zurück zur Politik zu kommen, die Parteien in Südosteuropa haben große
52
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Schwierigkeiten, Jugendliche in nennenswerter Zahl in die Politik einzubeziehen. Was
muss geschehen, damit sich diese Lage ändert?
Es stimmt, dass bei uns ein Teil der Jugend verglichen mit dem älteren Teil der
Bevölkerung gegenüber der Politik recht gleichgültig ist. Das lässt sich manchmal auch
bei der Wahlbeteiligung feststellen. Wahrscheinlich hängt dies nicht zuletzt mit den
Enttäuschungen nach der Euphorie zu Beginn der Transition zusammen. Aber ich glaube
nicht, dass wir in Albanien verglichen mit den anderen demokratischen Ländern
Westeuropas eine sehr viel niedrigere Wahlbeteiligung der Jugend haben. Betrachtet
man das durchschnittliche Alter derjenigen, die in der Politik aktiv sind oder die in den
verschiedenen politischen Institutionen arbeiten – schauen Sie sich die Regierung, das
Parlament, die Stadträte an – so handelt es sich um recht junge Menschen, ja sogar
jüngere als in vielen anderen Ländern mit einer konsolidierten Demokratie.
Ein besonderes Problem für eine gesunde und gleichberechtigte Entwicklung der
albanischen Demokratie ist in meinen Augen dagegen die Einbeziehung der Frauen in
die Politik, ihre würdige, quantitativ wie qualitativ angemessene Repräsentation in den
wichtigsten Einrichtungen des albanischen Staates und der albanischen Gesellschaft.
Ihre Partei wird als eine sozialdemokratische Partei bezeichnet. Haben in ihr angesichts
der Globalisierung solche Werte wie Solidarität, Freiheit und Demokratie weiterhin eine
Bedeutung?
Die Sozialistische Partei Albaniens ist heute ein Mitglied der Sozialistischen Internationale. Sie ist also eine Partei, die sich der Werte der europäischen Sozialdemokratie
annimmt und sie zu verkörpern sucht, was sich aus ihrem Programm ersehen lässt.
Aber als eine Partei im Umbruch hat sie ihre Probleme, Werte wie Solidarität, Freiheit
und Demokratie konzeptionell festzulegen. Einen Teil dieser Probleme habe ich
darzulegen versucht.
Persönlich glaube ich, dass der Globalisierungsprozess nicht erfolgreich sein kann, wenn
den genannten Werten kein herausragender Platz eingeräumt wird – der Freiheit für
alle, der Solidarität und dem Humanismus, einer echten Demokratie, die sich vor allem
der Minderheit und den Schwächeren zuwenden muss. Zugleich bin ich überzeugt, dass
es auch auf der globalen Ebene notwendig ist, die Vielfalt der Kulturen und der
Sprachen zu bewahren. Auf der ideologischen Ebene ist der universelle Wert der
Freiheits- und Menschenrechte – und zwar für jeden Menschen – der entscheidende
Faktor für den notwendigen Zusammenhalt in einer globalisierten Welt. Ferner kann ich
nicht abstreiten, dass ich auf der wirtschaftlichen Ebene anstelle der sozialen
Marktwirtschaft, welche durch nationale Grenzen und innere Ambitionen bedingt ist,
eine „moralische Marktwirtschaft“ bevorzugen würde, worunter man eine soziale
Marktwirtschaft auf globaler Ebene verstehen könnte, also eine sozial grenzenlose
Wirtschaft. Und zuletzt kann ich mir hinsichtlich der politischen Ebene nicht vorstellen,
dass unter den Bedingungen der Globalisierung und Interdependenz eine neue
Weltordnung entstehen wird, ohne das Konzept von Nationalstaat und klassischer
Souveränität zu zerschlagen.
53
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Ilir Meta, ehem. Ministerpräsident der Republik Albanien
Ilir Meta war von 1999 bis Anfang 2002 Ministerpräsident und vom Juli 2002 bis Juli
2003 Außenminister Albaniens. Als Studentenführer an der Universität Tirana am Sturz
des kommunistischen Regimes beteiligt, trat der Wirtschaftswissenschaftler 1992 der
Sozialistischen Partei bei und wurde bereits 1993 deren stellvertretender Vorsitzender.
Seit 1992 Abgeordneter und 1996/97 stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen
Ausschusses, war Meta Staatssekretär im Außenministerium und später Stellvertreter
des Ministerpräsidenten Pandeli Majko, nach dessen Rücktritt er auf Vorschlag Fatos
Nanos 1999 Regierungschef wurde. Obwohl die Wahlen 2001 seine Regierung
bestätigten, trat er nach Auseinandersetzungen mit Nano zurück, wurde aber
2002/2003 Außenminister in dessen Regierung. 2004 verließ Meta die Sozialistische
Partei Albaniens und gründete eine eigene Partei.
Herr Meta, können Sie uns zunächst etwas über die Werte sagen, die Ihnen persönlich
und gerade als Mensch, der in der Öffentlichkeit steht, besonders wichtig sind? Wie
würden Sie sich selbst charakterisieren?
Ich finde es immer schwierig, über sich selbst und die Werte zu sprechen, die man als
bedeutend erachtet, denn das sind ja diejenigen, die man bei anderen schätzt oder die
man sich bei ihnen wünscht. Nun, ich hoffe, dass sie auch meine eigenen und bei mir zu
finden sind. Diese Werte haben mit Solidarität, Dankbarkeit, Treue, gesellschaftlichem
Zusammenhalt und Patriotismus zu tun, hängen also mit jenen Dingen zusammen, die,
wie ich glaube, für die Integration eines Menschen, einer Gesellschaft und einer Nation
wichtig sind.
Gibt es für Sie in dieser Hinsicht, in ihrer politischen und moralischen Orientierung ein
bestimmtes Vorbild, das Sie vor Augen haben?
Ohne Zweifel gibt es jemanden, der eine sehr große Bedeutung hat und im tieferen
Sinne die humanistische Seele meiner Nation ist, einer Nation, die in ihrer Geschichte
für ihre Freiheit, für ein besseres Leben stark gelitten hat. Die Verkörperung dieses
Humanismus findet sich in der Gestalt und dem Werk von Mutter Teresa.
Haben Sie auch direkt politische Vorbilder – sei es im Ausland oder in Albanien?
Es gibt sehr unterschiedliche und eine ganze Reihe von Politikern, die mich beeinflusst
haben. Eine gewisse geistige Leitfigur war für mich Felipe González, eine Persönlichkeit,
die viel dazu beigetragen hat, die Schwierigkeiten der Transition in Spanien zu
überwinden. González ermöglichte eine ideale Lösung des Übergangs von der Diktatur
zur Demokratie und damit den Aufbau eines europäischen Landes.
Später traf ich mit verschiedenen Politikern zusammen und lernte sie näher kennen.
Den früheren österreichischen Bundeskanzler Vranitzky, der 1997 Sonderbeauftragter
der OSZE für Albanien war, schätze ich sehr. Wir kamen oft zusammen, als er noch
Bundeskanzler war, aber auch nach seinem Rücktritt trafen wir uns mehrfach. Ebenso
54
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
habe ich große Achtung vor dem griechischen Ministerpräsidenten Simitis, einem
äußerst seriösen Menschen, der sehr konzentriert und loyal ist und ein hohes Maß an
Integrität besitzt. Aber es gibt auch andere europäische Politiker, die auf mich gewirkt
haben und mit denen ich grundlegende Wertvorstellungen zu teilen glaube.
Was die einheimischen Politiker anbelangt, so finden sich auch unter ihnen interessante
Persönlichkeiten, und es würde sich lohnen, sie einer genaueren Einschätzung zu
unterziehen. Aber es ist sicher schwierig, in einer so kurzen Zeit der demokratischen
Entwicklung und einer neuen politischen Kultur einen idealen Politiker zu finden.
Sie erwähnten als einen Ihnen wichtigen Wert die Solidarität und den gesellschaftlichen
Zusammenhalt. Aber lässt sich derzeit nicht vielmehr beobachten, dass sich ein
Egoismus in der albanischen Gesellschaft wie auch derjenigen anderer Balkanländer
ausbreitet, dass jeder zunehmend nur oder zumindest zunächst einmal an sich selbst
denkt?
Wenn Sie mich fragen, dann leiden unsere Länder daran, dass sie von einem Extrem ins
andere verfallen. Unsere Gesellschaften sind von der Kollektivierung des Eigentums,
aber auch von den Ideen einer am Kollektiv orientierten Gesellschaft zu einem extremen
Individualismus übergegangen. Dies ist sicher auch eine Folge der früher fehlenden
Freiheit. Was wir jetzt haben, ist das Resultat einer harschen und grausamen Transition,
eines Umsturzes, den allmählich und kontrollierter durchzuführen schwierig, wenn nicht
unmöglich war. Aber unsere derzeitige Situation ist auch das Resultat der Korruption
und der moralischen Entartung unserer Gesellschaft im Allgemeinen. Sie ist, wie ich
glaube, im Grunde das Resultat einer rückständigen Entwicklung unserer Region.
Deshalb ist Solidarität ohne Zweifel ein Wert, ja eine Notwendigkeit, um diese
Gesellschaft zu humanisieren und um eine andere Perspektive zu schaffen, um zu einer
Gesellschaft zu gelangen, in der alle mehr Verantwortung für eine gemeinsame Zukunft
übernehmen.
Sie haben als eines der Extremen, in das die albanische Gesellschaft verfallen ist, den
Kollektivismus aus der Zeit des Kommunismus genannt. Gibt es für Sie aus dieser Zeit
Werte, die Sie positiv einschätzen und die einen Beitrag zu den heutigen Problemen
leisten könnten?
Nun, ich bin heute kein Mitglied einer früheren kommunistischen Partei, aber ich war
einst Mitglied der Sozialistischen Partei. Ob der Kommunismus, also ein überwundenes
System, Werte oder bestimmte Vorteile besaß, die heute dabei helfen könnten, den
Härten des raschen Wechsels in Wirtschaft und Gesellschaft zu trotzen – nun, hier
möchte ich die allgemeine Schulbildung der Bevölkerung nennen. Trotz der Defekte des
alten Bildungssystems ist unumstritten, dass die Schulbildung während der
kommunistischen Zeit Priorität besaß, und diese Ausbildung der Massen erlaubte es
doch, dass der Prozess der Transition im ganzen Land Unterstützung fand. Sie kommt
außerdem nicht nur der Entwicklung des Landes und der Überwindung der Probleme
der Transition selbst zugute, sondern auch der Integration der Albaner in Europa und
über Europa hinaus.
55
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Damit ist das Verhältnis Albaniens zu Europa angesprochen. Albanien möchte der EU
beitreten und muss entsprechend eine ganze Reihe von Anforderungen erfüllen, die
gerade im laufenden gesellschaftlichen Formationsprozess mit nicht wenigen Problemen
behaftet sind. Kann Albanien die Bedingungen für eine Aufnahme in die EU einlösen?
Und bringen diese Vorgaben dem Land Nutzen oder auch Nachteile?
Wenn Sie mich nach dem Verhältnis Albaniens zur Europäischen Union fragen, so bin
ich der Ansicht, dass der Prozess der europäischen Integration in unserem Falle ein
Prozess ist, der weitgehend von dem Willen und der Bereitschaft der albanischen Seite
abhängt. Zum meinem Bedauern ist der Wunsch des albanischen Volkes hier zwar
einheitlich auf eine Integration gerichtet, aber die Bemühungen reichen nicht aus. Die
albanische Seite, also die Regierung und die entsprechenden Institutionen haben einen
nur mangelhaften Willen demonstriert, die von der EU verlangten Reformen
durchzuführen und die zum Standard erhobenen Normen zu erfüllen.
Ich glaube nicht, dass die Beschlüsse, die unsere Regierung gemäß den Forderungen
der EU fassen muss, gegen die Interessen des Landes, der Bürger oder bestimmter
Gesellschaftsschichten gerichtet sind. Gewiss, die Standards, die Albanien erfüllen muss,
verletzen die Interessen bestimmter politischer und wirtschaftlicher Gruppen, die davon
profitieren, dass das Land ernsthafte Probleme hat, was das Funktionieren der Justiz,
die unehrliche Konkurrenz auf dem Markt, die Verbindungen der Politik mit dem
organisierten Verbrechen und der informellen Wirtschaft und andere Dinge betrifft. Aber
Albanien hat mit der EU nicht jene grundlegenden Probleme, welche andere Länder wie
etwa Polen hatten, mit dem es zu einer Konfrontation wegen der Landwirtschaftspolitik
und anderer Dinge kam.
Sie haben die mangelnde Rechtsstaatlichkeit in Albanien angesprochen, ebenso die
Hindernisse, welche die starken Gruppeninteressen für ein Fortschreiten der
Demokratisierung des Landes und für eine Erfüllung der Integrationskriterien bilden.
Worin sehen Sie die hauptsächlichen Schwierigkeiten der heutigen albanischen
Gesellschaft?
Das größte Problem sind und bleiben ehrliche und freie Wahlen. Man weiß, dass die
letzte Wahl ein echter Skandal war und ein regelrechter Handel mit Wählerstimmen
betrieben wurde. Der Grund für diese mangelhafte Demokratie liegt darin, dass die
beiden wichtigsten Parteien und ihre Satelliten den Willen der Menschen, der Bürger
verdorben haben. Das ist das wichtigste Problem, denn ohne freie Wahlen werden wir
keine wirklich legitimen Institutionen haben, die allein Stabilität und das Fortschreiten
der Reformen garantieren und das Vertrauen der Öffentlichkeit hervorrufen können.
Das ist meiner Meinung nach das hauptsächliche Problem, das Albanien heute hat.
56
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Dritero Agolli, Schriftsteller
Als Schriftsteller wurde der 1931 geborene Dritero Agolli ab den späten 1950ern in
Albanien bekannt. Aus einer Bauernfamilie stammend, besuchte er die Leningrader
Universität und wandte sich nach seiner Rückkehr dem Journalismus und dem
Schreiben zu. Zunächst veröffentlichte er hauptsächlich Lyrik, ab 1970 auch Prosa. In
den 1960ern noch wegen sowjetischen Revisionismus angefeindet, war er 1972-1992
Vorsitzender des albanischen Schriftsteller- und Künstlerverbandes. Obwohl er somit der
kommunistischen Nomenklatura angehörte, wurde er auch nach dem Fall des
kommunistischen Regimes weiterhin als Autor und öffentliche Person respektiert. Als
Schriftsteller in den 1990ern besonders produktiv, saß er zu Beginn der Transition für
die Sozialistische Partei im Parlament.
Herr Agolli, als Schriftsteller stehen Sie in der albanischen Öffentlichkeit, sind aber auch
über Albanien hinaus bekannt. Zugleich haben Sie die sozialistischen Phase des Landes
durchlebt wie auch die jüngsten, durch Umbrüche gekennzeichneten Jahre. Uns
interessieren nun zunächst die Werte, die Ihnen wichtig sind. Wie sehen Sie sich selbst
als Person?
Es ist schwierig, über die eigene Person zu sprechen. Dies sollten besser andere tun,
um ein möglichst objektives Bild zu bekommen. Wer von und über sich selbst spricht,
schämt sich möglicherweise für manches und vermeidet es so, alles zu sagen, oder er
könnte versucht sein zu prahlen. Ich als Schriftsteller wie auch meine ganze Generation
sind in einer nunmehr zurückliegenden Zeit erzogen und geprägt worden, in der Zeit
des Sozialismus. Wir alle tragen die positiven und die negativen Seiten jenes Systems in
uns. Wir sind, könnte man sagen, wie jene Boote, die am Ufer liegen und von dem
Seetang, der an ihnen klebt, gereinigt werden.
Es war eine schwierige Zeit. Bekanntlich gab es eine starke Zensur, mittels derer die
Literatur ebenso einer Kontrolle unterworfen war wie alle anderen Bereiche auch, wie
die Institutionen und die Einrichtungen der Kultur und der Politik. Dennoch hat uns
ohne Zweifel vieles aus jener Zeit, aus jenem System und jener Gesellschaft geprägt.
Diese Dinge spiegeln sich in meinen Werken wider – und zwar als kritischer Überblick.
Hier wird nicht einfach das System gelobt; vielmehr handelt es sich um systemkritische
Werke. Dies ist auch der Grund, warum einige meiner Bücher verboten und
eingestampft wurden. 1964 war dies der Fall, als mein erstes Buch mit Erzählungen,
unter dem Titel „Lärm vom einstigen Wind“ erschienen, rasch verboten wurde, weil man
ihm eine so genannte „Deheroisierung“ der Personen vorwarf. Das war ein Begriff, der
damals häufig gebraucht wurde. Sowohl das Drama „Das weiße Alter“ wie der Roman
„Glanz und Niedergang des Genossen Zylo“ verschwanden nach ihrer ersten
Veröffentlichung einige Zeit von der Bildfläche, und der Roman wurde erst 1973 wieder
herausgegeben. Man betrachtete ihn als eine kritische Sicht auf die Gesellschaft. Im
Mittelpunkt stehen die Staatsmacht und das Individuum; es dreht sich darum, wie die
Macht das Individuum verändert. Der Roman wurde in Europa recht gut aufgenommen.
57
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Sie haben mit der Zensur bereits die Verschränkung von Literatur und Politik im
sozialistischen Albanien angesprochen. Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen und der
Politik?
Ich bin keine Berufspolitiker. Ich bin ein Schriftsteller, der sich mit Politik beschäftigt –
wie jeder Bürger, der wählen geht. Als Wähler beschäftigt man sich mit Politik, als
Nichtwähler eben nicht. Mit seiner Aussage, der Mensch sei ein zoon politikon, ein
politisches Tier, hatte Aristoteles Recht. Ich bin ein solches politisches Tier, und weil ich
Schriftsteller bin, bin ich es in höherem Maße, denn jeder Schriftsteller ist ein Spiegel
seiner Gesellschaft.
Deshalb war ich Mitglied der Partei der Arbeit, ich war ein Kommunist, ja sogar Mitglied
des Zentralkomitees der Partei, für lange Zeit aber auch Vorsitzender des Schriftstellerund Künstlerverbandes. Damals konnte man viel machen, wie ich, Ismail Kadaré 13 und
andere dies taten. Trotz der damaligen Bedingungen haben wir diese Realität
widergespiegelt. Als die Zeit zum Regimewechsel kam, ging ich in die Sozialistische
Partei, die aus der Partei der Arbeit entstanden war und nur den Namen geändert hatte.
In den ersten Jahren trug sie noch mehr Elemente des Kommunismus in sich, doch
allmählich entledigte man sich ihrer. Auch ich wurde von zahlreichen Sachen gereinigt,
während anderes geblieben ist.
Sie sprechen von einer Art Reinigung oder Säuberung, die Ihr Land, Ihre Partei, aber
auch Sie selbst durchgemacht haben. Verlief sie problemlos? War der Umbruch nicht
auch mit Schwierigkeiten behaftet, Schwierigkeiten, die noch heute virulent sind?
Ich erinnere mich an ein Gedicht des griechischen Dichters Seferis 14 , das von einer Insel
handelt, auf der es eine Kirche und einen Heiligen gab. Eines Tages tauchten auf der
Insel zahlreiche Schlangen auf. Der Heilige sammelte Katzen, und die Katzen fraßen die
Schlangen auf, so dass die Insel ganz von ihnen befreit wurde. Aber gleichzeitig starben
auch die Katzen. Warum? Weil sie zu viel Gift gefressen hatten. Auch in unserer
heutigen Gesellschaft haben die Menschen viel Gift geschluckt. Mit diesem Gift
beseitigte man einen Gegner, manchmal auch einen früheren Freund, zu dessen Gegner
man geworden war. Und dieses Gift hat auch einen selbst beschädigt.
Aus einer solchen Gesellschaft stamme ich. Ich wurde in die Sozialistische Partei
aufgenommen, war in ihren Leitungsgremien, am Anfang im Parteivorstand, dann im
Zentralkomitee. Schließlich wollte ich sie verlassen. Sie war zu einer Partei des
Übergangs geworden, das heißt, sie befreite sich von dem, was während der Zeit des
Sozialismus Dogma gewesen war. Sie wurde zu einer Partei, die den europäischen
Parteien nahe steht. Dabei kam es zu zahlreichen Polemiken und Diskussionen, und in
meiner Beschäftigung mit der Politik zögerte ich nicht, über die Mängel dieser
13
Ismail Kadaré (*1936), der im Ausland wohl bekannteste albanische Schriftsteller. Kadaré lebte
1990-1999 in Paris, da ihm in Albanien Nähe zum gestürzten kommunistischen Regime
vorgeworfen wurde, während er davor als jemand galt, der sich nicht an die vom Regime
vorgegebenen Regeln hielt; seit 1999 wieder in Albanien, Tirana.
14
Giorgos Seferis (1900-1971), neugriechischer Lyriker, 1963 Nobelpreis für Literatur.
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Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Sozialistischen Partei zu sprechen. Ich habe sie in den letzten acht Jahren oft in
Interviews und Artikeln kritisiert, wahrscheinlich mehr als ihre politischen Gegner, mehr
als die Opposition selbst. Manche verstanden, manche wollten nicht verstehen.
Trotzdem bin ich aus der Sozialistischen Partei nicht ausgetreten, und sie haben keinen
Versuch unternommen, mich auszuschließen. Immerhin bin ich ein Schriftsteller und
stand ihnen nahe.
Das bedeutet, Sie haben auch in Ihrer eigenen, sich in einem Übergangsstadium
befindlichen Partei – die Sie zeitweise auch verlassen wollten, wie Sie eben sagten – die
Konfrontation gesucht. Unterscheidet sich dies von Ihrer Haltung in der
kommunistischen Partei der Arbeit?
Was ich damit verdeutlichen möchte, ist, dass man alles, die guten wie die schlechten
Sachen, sagen muss, auch wenn es um eine Partei geht, der man selbst angehört. Ein
zeitgenössischer französischer Philosoph, Bachelard 15 , hat gesagt: „Bevor du einen
anderen kennst, musst du mit ihm streiten. Du musst dich den Dingen widersetzen, um
die Wahrheit herauszufinden; ohne Streit und Diskussion kann man sie nicht kennen
lernen. Denn die Wahrheit ist keine Tochter der Sympathie, sie ist die Tochter der
Diskussion.“
Dies habe ich stets berücksichtigt. Als der Vorsitzende der Sozialistischen Partei sagte,
diese sei einem Sumpf vergleichbar, erwiderte ich ihm, dass er ein Uhu des Sumpfes
sei. Ich zögerte nicht, die Wahrheit auszusprechen, und habe im Rahmen meiner
Möglichkeiten wahrscheinlich an vielem Kritik geübt. Trotzdem bin ich stets auf ihrer
Seite geblieben. Wie wir alle bin ich ein komplexer Mensch; ich habe meine guten
Seiten und meine Schwächen. Vielleicht hätte ich im vergangenen System einige Dinge
schärfer kritisieren müssen, aber die Bedingungen waren nun einmal so. Und nicht nur
dies – man hatte ja auch eine Familie und Angehörige und wollte nicht, dass diese zu
Schaden kamen. In einem Gedicht heißt es, dass es in der Zeit von Galilei auch andere
Galilei gab, die die Wahrheit hätten sagen können, doch sie hatten Familie. Sie wussten
zwar, dass sich die Erde dreht, aber wenn sie dies gesagt hätten, wären sie auf dem
Scheiterhaufen geendet. So verhält es sich auch mit den Schriftstellern, die in jenem
System lebten: sie wussten viele Dinge, sie wussten, dass sich die Erde dreht, doch sie
hatten Familie. Ein solcher Mensch bin ich.
Auch wenn Sie sich selbst nicht als Politiker ansehen – gibt es ausländische oder
einheimische Politiker, die einen besonderen Einfluss auf Sie hatten? Welche
grundlegenden Werte halten Sie im Bereich der Politik für wesentlich?
Ich wurde in der sozialistischen Gesellschaft geformt, und in jener Zeit hatten wir
kommunistische Ideale. Wir hatten sie tatsächlich, wie viele Intellektuelle in der Welt,
15
Gaston Bachelard (1884-1962), französischer Philosoph und Kritiker, Professor in Dijon und Paris
an der Sorbonne.
59
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
wie die hervorragenden kommunistischen Schriftsteller, wie Aragon 16 , Paul Éluard 17 , ja
sogar Picasso und Majakowskji 18 , die sich dieses Ideal des Kommunismus zu Eigen
gemacht hatten. Auch wir glaubten daran, dass die Welt verändert werden könne, dass
es für die Menschen mehr Gleichberechtigung geben, die Armut vermieden werden,
dass es eine größere Solidarität, eine vollständigere Freiheit geben könne. Das waren
unsere Ideale, die wir in uns trugen und die Einfluss auf uns ausübten. Mich
beeinflussten philosophische Größen wie Marx, aber auch politische wie Enver Hoxha.
Das war unser Ideal, unsere Generation kann dies nicht leugnen. Eine bestimmte Zeit
lang blieb dies so, doch allmählich begann die Begeisterung sich abzukühlen, weil wir
viele Mängel in unserer Gesellschaft bemerkten.
Als Schriftsteller hatte ich Naim Frashëri 19 als Ideal vor Augen, weil er ein vom Westen,
insbesondere von der französischen Revolution inspirierter Dichter war. Er orientierte
sich an der Humanität, wollte die Freiheit, wollte Gleichberechtigung unter den
Menschen, aber auch Brüderlichkeit. In dieser Hinsicht, aber auch in anderen Dingen
der Politik war er mein Ideal und für mein eigenes Schaffen von großer Bedeutung. All
dies half mir, einen eigenen Standpunkt zur Entwicklung der Gesellschaft einzunehmen.
Mein Vorbild war er nicht nur als Schriftsteller, er war auch ein hervorragender Politiker,
insbesondere was das Vaterland, was den Zusammenschluss der albanischen Nation
angesichts des Übels betraf, das die anderen unserem Volk antaten. Und trotzdem
sagte er, dass wir den anderen Balkanvölkern Brüder sein müssten. Er schrieb auch auf
Griechisch, und eines seiner berühmten Gedichte heißt „Die Albaner und die Griechen“.
Somit hat sein Geist auch eine, wie ich es ausdrücken möchte, internationalistische
Seite.
Ebenso war Fan Noli 20 mein Vorbild, einer unserer besten Sozialisten. Ich nenne ihn so,
weil er die Junirevolution durchführte. Obwohl er nur sechs Monate regieren konnte, hat
er Albanien Europa sichtbar näher gebracht, und das war einer der Wünsche der
Menschen, das war, was ich und mein Land wollten.
Außerhalb meines Landes hatte ich in meiner Jugend Marx und Lenin, später als
Erwachsener auch Willy Brandt vor Augen. Brandt gefiel mir als Sozialist, ein Mann mit
Standpunkten, aber er hatte weiter keinen Einfluss auf mich. Immerhin war ich nun
erwachsen und ließ mich nicht mehr so leicht beeinflussen, aber ich fand ihn
16
Louis Aragon (1897-1982), französischer Schriftsteller, Mitbegründer der Bewegung des
Surrealismus, später Mitglied der Kommunistischen Partei.
17
Paul Eluard (1895-1952), französischer Lyriker; aktiv in der Résistance und ab 1942 Mitglied der
Kommunistischen Partei.
18
Wladimir Majakowskji (1893-1930), russischer Schriftsteller; Mitbegründer und hauptsächlicher
Repräsentant des russischen Futurismus; ab 1908 Mitglied der Bolschewiki.
19
Naim Frashëri (1846-1900), albanischer Schriftsteller, vor allem Lyriker; schrieb schon damals
hauptsächlich in Albanisch; war früh am albanischen Befreiungskampf beteiligt.
20
Teophan (Fan) Stylian Noli (1882-1965), orthodoxer albanischer Bischof und Politiker; für die
albanische Unabhängigkeit und deren Anerkennung u.a. in den USA engagiert; nach dem Sturz
Ahmed Zogus 1924 Ministerpräsident, wurde aber im selben Jahr wieder gestürzt und opponierte
aus dem Exil dem sich 1928 zum König erklärenden Zogu. Während des Zweiten Weltkriegs hatte
Noli Kontakt zu den albanischen Kommunisten unter Enver Hoxha.
60
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
sympathisch. Dies trifft auch auf andere europäische Sozialisten wie etwa Mitterand zu.
Beeinflusst wurde ich aber von Naim Frashëri, Fan Noli und Enver Hoxha.
Eine Annäherung an Europa hat für Sie offensichtlich eine große Bedeutung. Europa ist
heute ja kein rein geographischer oder kultureller Begriff mehr, sondern beinhaltet
sozioökonomische wie auch politische Strukturen. Glauben Sie denn, dass Albanien für
diese europäischen Strukturen reif genug ist?
Nein, das glaube ich nicht. Zum einen müssen wir, um mit den fortgeschrittenen
Ländern Europas gemeinsam bestehen zu können, eine entwickelte Wirtschaft haben.
Das trifft auch für den sozialen Aspekt zu, ebenso für das kulturelle und das
Bildungsniveau. Die Menschen müssen gegenseitig Toleranz üben, aber auch gegenüber
der Politik. Eine politische Debatte darf nicht zum Streit, nicht zur Feindschaft führen,
sonst wirkt jeder Regierungswechsel wie die Installation einer neuen Besatzungsmacht.
Damit meine ich, dass uns noch eine demokratische politische Kultur fehlt. Wenn sich
zusammen mit der wirtschaftlichen Entwicklung auch die demokratische Kultur
verbessert, wenn also in der Diskussion der anstehenden Probleme Toleranz vorherrscht
und gegen Intoleranz und Dogmatismus im Allgemeinen vorgegangen wird, wenn es
innerhalb der Gesellschaft nicht mehr zu Rache kommt – dann sind wir reif für Europa.
Wer isoliert in seinen eigenen vier Wänden lebt, der kann nicht zu Europa gehören.
Diese große Wunde unserer Gesellschaft, die Rache, muss beseitigt werden.
Halten Sie die Rache für einen mentalen und soziokulturellen Grundaspekt der
albanischen Gesellschaft, zugleich etwas, das man als Zivilisationsrückstand bezeichnen
könnte?
Rache oder Selbstjustiz bedeuten nicht immer Blutrache; Rache kann man auch mit
Worten, mit der Sprache üben, dazu benötigt man nicht immer ein Gewehr. Wenn
jemand selbst schlecht ist und anderen nur Schlechtes antun möchte – dies ist Rache im
weiteren Sinne des Wortes. Oder eine Art permanente Revolution, die darin besteht,
dass eine Partei, die an die Macht kommt, die ganze Staatsverwaltung austauscht – eine
Säuberung der Verwaltung, die dann alle vier Jahre stattfindet. So etwas gibt es in
Europa nicht. All dies zeigt das Fehlen einer demokratischen Kultur und behindert uns
auf dem Weg nach Europa. Während Norwegen, ein fortgeschrittenes Land, nicht in die
EU eintreten möchte, wollen wir so schnell wie möglich aufgenommen werden, auch
ohne diese Bedingungen erfüllt zu haben. Wir haben es eilig, einen Schengener Pass zu
bekommen, glauben aber nicht, einen Ausweis wirtschaftlicher und kultureller
Entwicklung zu benötigen.
Wie könnte die Weltgemeinschaft Albanien angesichts dieser Lage helfen? Was sollten
die Albaner selbst tun, um Anschluss an den europäischen Einigungsprozess zu
bekommen?
Diejenigen, die von der EU nach Albanien kommen, müssen zuvor die Bedingungen
Albaniens gut studiert haben. Sie dürfen nicht mit einer Einstellung kommen, wie sie
dies bei anderen Ländern tun, sondern sollten wissen, wie die albanische Gesellschaft
61
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
beschaffen ist, welche Sitten und Bräuche, welche positiven Seiten die Albaner besitzen.
Sie müssen die psychische Verfassung dieses Landes kennen. Es nützt nichts, wenn
kluge Leute kommen, die ihre Arbeit besser in Bulgarien oder Rumänien tun könnten.
Auch wenn wir mit den anderen Balkanvölkern viele Gemeinsamkeiten haben,
unterscheiden wir uns doch sehr von ihnen.
Worin besteht dieser Unterschied? Gibt es soziopsychologisch gesehen einen ganz
eigenen albanischen Typ?
Die Albaner sind sehr klug, sie sind Menschen mit großer Fantasie, aber sie sind auch
ungeduldig und übersehen oft, wie viel Arbeit eine Sache verlangt. Wofür man zehn
Jahre braucht, das wollen sie in einem Jahr erreicht haben, wofür man fünf Monate
Arbeit benötigt, das möchten sie in einer Stunde erledigen. Wenn jemand die
Psychologie des Landes kennt und hierher kommt, wird er Albanien gute Dienste
erweisen.
Aber in erster Linie müssen die Albaner selbst ihr Land gestalten. Wir haben es uns
leider angewöhnt, dass die anderen unsere Arbeit verrichten – aber da haben wir eine
schlechte Lehre durchlaufen. Es liegt in unserer Psychologie, dass wir dann, wenn
andere uns anleiten, zu vielem fähig sind. Zum Beispiel gab es in der Türkei dreißig
Ministerpräsidenten und wer weiß wie viele Kommandeure, gute Soldaten und
hervorragende Staatsmänner albanischer Herkunft. Oder nehmen wir Griechenland –
wie viele tapfere Helden der griechischen Revolution waren Albaner? Die Albaner
besitzen große Fähigkeiten, wenn sie von anderen geführt werden; wenn sie dies
jedoch selbst tun, kommt es zu Durcheinander und Streit. Dieses psychologische
Moment müssen die Albaner selbst ändern. Sie müssen in erster Linie dafür kämpfen,
ihre Arbeit selbst zu leisten und auf ihrem Weg nach Europa nicht noch die
Anweisungen eines Kindermädchens zu benötigen.
Gut, die Albaner müssen also selbst für den Beitritt zu Europa arbeiten. Zugleich sind sie
sehr fähige Leute, die jedoch ungeduldig und schlecht koordiniert sind. Könnte man so
das, was Sie gesagt haben, zusammenfassen?
Die Albaner führen innerhalb einer kurzen Zeit große Veränderungen durch,
insbesondere in den Städten. Sie sind Menschen mit viel Energie, mit einer
unbegrenzten Fantasie in allen Bereichen des Denkens, aber auch fähige Mafiosi – darin
übertreffen sie die Italiener oder die Russen. In Angelegenheiten der Mafia gelangen sie
rascher in Führungspositionen als in sonstigen Positionen mit Befehlsgewalt. Ihre
Fähigkeiten gehen nicht nur in eine Richtung, sondern sind umfassend und zerstreuen
sich, weshalb sie selbst starke und fähige Führungskräfte brauchen, die sie anleiten.
Eine Führungskraft darf nicht dem Arbeitsprozess hinterherhinken. Bei uns entwickelt
sich das Volk rasch und gut, es versteht die Dinge leichter und schneller als seine
Leitung, die nichts versteht oder so tut, als ob sie nicht verstanden hätte. Das bedeutet,
das Volk ist schneller und kultivierter als die Führungskräfte.
62
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Politische Zukunft hat auch mit zukünftigen Politikern zu tun. Wie sehen Sie hier die
heutige albanische Jugend? Sie scheint in den letzten Jahren die Politik eher gemieden
zu haben, ihr politisches Engagement eher gering zu sein.
Früher gab es Jugendliche, die in der Politik aktiv waren, junge Menschen, die
Veränderungen wollten und für den Fortschritt eintraten. Aber dann machte sich eine
Trägheit unter den Jugendlichen breit, weil die Funktionäre der Partei sich nicht darum
kümmerten, dass neue, junge Kräfte nachkamen. Es blieben nur die alten Kader, welche
die Jugend nicht richtig verstanden. Diese verfehlte Politik zeigt sich etwa daran, dass in
dem Moment, als die Sozialistische Partei sich spaltete, alle Jugendliche in die
Sozialistische Integrationsbewegung gingen.
Nur dann, wenn die Parteiführung Jugendliche entsprechend ihren Fähigkeiten in
leitende Positionen in der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Partei wie auch der Kultur
und dem Bildungswesen bringt, können diese sich der Partei annähern und ihren
Beitrag leisten. Schließlich handelt es sich um Menschen, die auf die Schule gegangen
sind, die zu arbeiten und zu wirken verstehen. So können sie aktiv werden und
brauchen nicht einfach nur abzuwarten.
Handelt es sich also hauptsächlich um ein Problem der Sozialistischen Partei und ihrer
Führungskräfte? Das klingt, als bestünde seitens der Jugend große Offenheit und
Bereitschaft, als müsste man nur auf sie zugehen.
Die Jugendlichen müssen auch selbst mehr für sich tun. Sie müssen aktiver werden und
dauerhaft zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme beitragen. Sie sollten die
Entwicklung der Gesellschaft nicht einfach als etwas Äußerliches ansehen und sich nur
amüsieren und grenzenlose Freiheit verlangen. Gleichwohl sind die Führungskräfte der
Parteien und der Verbände hier von großem Gewicht; sie sollten sich engagieren und
mehr Seminare über die Rolle der Jugend in der Gesellschaft durchführen, über ihre
Rolle bei der Entstehung einer freien Gesellschaft.
Wir brauchen eine größere Zusammenarbeit mit den europäischen Vertretern, mit den
hier niedergelassenen Stiftungen, mit der OSZE. Wir müssen die Jugendarbeit
organisieren. Einige Länder sind hier meines Wissens sehr aktiv, vor allem Italien, aber
auch Frankreich und Deutschland tun viel in dieser Richtung, obwohl sie
unterschiedliche Ansätze haben. Es zeichnet sich ein Erwachen ab, eine wachsende
Aktivität, hauptsächlich bei Demonstrationen, Streiks und Protestveranstaltungen, an
denen die Teilnahme der Jugend groß ist.
In der Zeit des antifaschistischen Kampfes zum Beispiel waren es in Albanien vor allem
die Jugendlichen, die kämpften und das Land umgestalteten. 70.000 Partisanen
kämpften, und wenn man die Gefallenen anschaut, lag ihr Geburtsjahr bei 1925, 1920,
höchstens 1915. Die gefallenen Helden waren durchschnittlich 22 Jahre alt. Während
des Kosovo-Krieges waren die Jugendlichen aktiv; sie kamen aus ihren Häusern und
nahmen Flüchtlinge aus dem Kosovo bei sich auf. Sie beteiligten sich auch am Übergang
vom sozialistischen System zur demokratischen Gesellschaft. Ohne die Jugendlichen
gäbe es keinen Wechsel. Aber sie müssen nun auch aktiv am politischen Tagesgeschäft
63
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
teilnehmen. Es muss ihnen zur Lebensweise werden, sich an der Führung des Landes zu
beteiligen.
Um das bislang Gesagte noch einmal aufzugreifen und mit Blick auf den derzeitigen
Stand der albanischen Gesellschaft zusammenzufassen: Sehen sie die Epoche des
Kommunismus in Albanien als eine verlorene Zeit an?
Nein, das glaube ich nicht. Denn neben den großen Mängeln, die es im ganzen
sozialistischen Lager gab und die am System lagen, hatte dieses auch viele positive
Seiten. Dazu zähle ich im politisch-moralischen Bereich eine Solidarität, die groß war,
weil die Menschen in einer Gemeinschaft lebten. Auch leistete es einen wichtigen
Beitrag zur Emanzipation der Frauen – gerade bei uns auf dem Balkan, wo die Frauen
eher isoliert waren. Ebenso trug es zur Entwicklung der Schulen, der Kultur und
ähnlicher Bereiche bei. In der Zeit Ahmed Zogus 21 und bis 1944 gab es in Albanien nur
sieben Mittelschulen, während in der sozialistischen Zeit 370 Mittelschulen und 12
Universitäten errichtet wurden – vorher hatten wir gar keine Universität! Ebenso gab es
nun das Opern- und Balletttheater, das Volkstheater, ein Filmstudio, das jährlich 14
Spielfilme produzierte, und viele andere Einrichtungen. Noch heute kommt unsere
Elektrizität aus den damals entstandenen Wasserkraftwerken, während in den letzten
15 Jahren keine Kraftwerke mehr gebaut wurden.
Von der kulturellen Entwicklung profitierte die Musik, vor allem aber die Literatur. Vor
der Zeit des Sozialismus war keiner unserer Schriftsteller in eine andere Sprache
übersetzt worden, so dass die Welt ihn kennen lernen konnte. Aber in dieser Zeit kam
es zu Übersetzungen, und unsere Literatur fand in der Welt, fand in Deutschland
Verbreitung und machte unsere Schriftsteller bekannt. Das zeugt von einem hohen
Niveau. Übersetzt wurden nun auch Werke von den Anfängen der albanischen Literatur,
von Autoren aus dem Mittelalter oder der Zeit Ahmed Zogus bis hin zu denjenigen aus
der Epoche des Sozialismus. Dies hat eine bedeutende Rolle gespielt.
Demnach ist die sozialistische Phase ein bedeutender Entwicklungsschritt für das Land
in Richtung Modernisierung gewesen. Aber zugleich war sie doch eine Phase der
Isolierung, und dies in höherem Maße als bei den anderen osteuropäischen Ländern.
War die Möglichkeit der Albaner, mit der übrigen Welt zu kommunizieren, denn nicht
sehr eingeschränkt – trotz der Bekanntschaft, die diese mit einigen albanischen Autoren
nun machen konnte?
Sie haben Recht, was das Albanien ab den 60er Jahren betrifft. Die Isolierung war
tatsächlich sehr streng. Allerdings wurde immer noch Handel getrieben, und dies sowohl
mit westlichen wie mit den sozialistischen Ländern. Obwohl nur vermittelt durch andere,
gab es eine Kommunikation mit der Außenwelt. Unsere Kunstensembles, wie das
21
Ahmed Zogu (1895-1961), als Zogu I. von 1928-1939 bis zur italienischen Besetzung König der
Albaner, 1946 formell abgesetzt; war 1923/24 Ministerpräsident und 1925-1928 Staatspräsident
Albaniens, bevor er sich zum König ausrufen ließ.
64
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Staatsensemble für Volkslieder und Volkstänze, traten im Ausland auf, etwa in
Frankreich, und in Paris und Rom wurde eine archäologische Ausstellung gezeigt.
Es gab also eine gewisse Kommunikation. Wir sind leider zu sehr daran gewöhnt, nur in
Schwarz-Weiß zu denken und eine Sache rundweg abzulehnen. Manche fragen sogar:
Hat es in der Zeit des Sozialismus Liebe gegeben? Wenn man nicht liebt, zeugt man
keine Kinder. Wir haben genug von solchen Fragen, und nur diese hat man noch nicht
gestellt: Habt ihr in der Zeit des Sozialismus Kinder zur Welt gebracht?
Sie plädieren also dafür, die Zeit des Sozialismus differenziert zu betrachten. Ist es so,
dass es Werte aus dieser Zeit gibt, die für Sie von Bedeutung sind?
Ja, der Sozialismus hatte auch gute Seiten. Rückständige und mittelalterliche Sitten
wurden zurückgedrängt, es gab keine Blutrache mehr. Die Menschen mussten nicht
versteckt in ihren vier Wänden leben, die Diktatur duldete eine solche Selbstisolation
nicht. Die Familien waren gefestigter als heute. Die Menschen war eher
gleichberechtigt, es gab keine großen Lohnunterschiede. Dies hat freilich zu einer
gewissen Rückständigkeit angesichts der heutigen Welt geführt, denn in der
kapitalistischen Gesellschaft sind die Lohnverhältnisse anders.
Positiv war damals auch die Solidarität der Menschen untereinander, die sich darauf
gründete, dass alle gemeinsam arbeiteten – und das taten sie. In der Zeit des
Sozialismus bemühten sich die Kommunisten, gute traditionelle Seiten unseres Volkes
zu nutzen wie diese Solidarität, die in bestimmten Momenten unserer Geschichte immer
wieder auftauchte. Heute kritisieren wir jenes System wegen der Diktatur und anderer
Dinge. Auf dem Gründungsparteitag der Sozialistischen Partei, auf dem sie sich den
neuen Namen gab, war ich der erste, der aufstand, um das System, Enver Hoxha und
die Diktatur zu kritisieren. Alle übrigen Delegierten sprangen mir an den Hals. Natürlich
habe ich meine Kritik nicht freudig geäußert, vielmehr mit einem gewissen Schmerz.
Warum hatte es so kommen müssen, warum war vieles umsonst, vergeblich gewesen?
Aber nicht alles, nicht die ganze Zeit des Sozialismus war umsonst gewesen. Auch das
Mittelalter war nicht umsonst. In jedem System lassen sich positive Elemente finden.
Eigentlich hätte es im Mittelalter keinen Cervantes geben dürfen, aber es gab ihn
tatsächlich, es gab den Don Quijote, es gab die deutschen Nibelungen, es gab große
Maler, die eben aus jener Zeit stammten, nicht aus der modernen, heutigen Zeit. Der
Sozialismus war ein System, das in der einen Hälfte Europas errichtet wurde. So etwas
geschah auch in der Zeit Karls des Großen. Hat Karl der Große etwa ganz Europa durch
den Krieg zu vereinigen gesucht?
65
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Bulgarien
Sergej Stanischew, Ministerpräsident der Republik Bulgarien
Sergej Stanischew ist seit August 2005 Ministerpräsident Bulgariens. Er studierte
Geschichte und Politikwissenschaft in Moskau und ist promovierter Historiker.
Stanischew trat der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) bei und engagierte sich für
deren Modernisierung und Westausrichtung. 2001 wurde er Vorsitzender und
Fraktionschef der oppositionellen BSP im Parlament. Nach der Wahl 2005 gelang es den
Sozialisten im Bündnis mit anderen Parteien ihren Spitzenkandidaten Stanischew zum
Ministerpräsidenten zu machen. Während des Wahlkampfs hatte Stanischew auch die
durch den EU-Beitritt notwendigen Reformen in den Mittelpunkt gestellt.
Herr Ministerpräsident, Sie stammen aus einer kommunistischen Familie. Hat das Ihre
Entscheidung für eine politische Karriere beeinträchtigt oder wurden Sie anderweitig
beeinflusst? Sie haben sich ja erst recht spät für die Politik entschieden.
Ja, erst nach der Wende in Bulgarien. Das hängt damit zusammen, dass ich Geschichte
studierte und mit einem Thema über die Geschichte Russlands im 19. Jahrhundert
promovierte. Nach der Promotion hat sich herausgestellt, dass in Bulgarien aufgrund
der Veränderungen in den 90er Jahren und unter den chaotischen Bedingungen des
Übergangs in der Anfangszeit keine großen Aussichten auf eine akademische Karriere
bestanden. Zunächst war ich eine Zeit lang freiberuflich als Journalist für internationale
Themen tätig und schrieb über die Situation in den Ländern des westlichen Balkans,
über Russland und über einige andere Regionen, die zu jener Zeit gerade interessant
waren. So gelangte ich in die Position eines Experten in der Abteilung Außenpolitik der
Sozialistischen Partei.
Was die Rolle meiner Familie anbelangt – nun, in Bulgarien ist die Familie für die
politische Orientierung von großer Bedeutung. Es gibt Leute, die ihrer Familientradition
gemäß kontinuierlich seit 1920 oder 1940 dem einen oder dem anderen politischem
Flügel angehören. Diese Zugehörigkeit beeinflusst das Wahlverhalten der Kinder und
Enkelkinder, weil es die Familie ist, die eine vertraute Atmosphäre schafft und die Werte
einer jeden Persönlichkeit gestaltet.
Als Historiker haben Sie ja einen – auch zeitlich – weiten Überblick über politisches
Geschehen. War dies für Sie von Bedeutung? Gibt es eine historische Persönlichkeit
oder einen Politiker, die oder den Sie als Ihr Vorbild ansehen?
Ich würde nicht sagen, dass ich ein bestimmtes Vorbild habe. Historiker zu sein ist für
einen Politiker aber gewiss von großem Vorteil. Man hat grundlegende Informationen
und kennt die unterschiedlichen Geschehnisse, man weiß, was in verschiedenen
Ländern und in verschiedenen Zeitabschnitten passiert ist. Dies schärft den Blick auf
das, was heute passiert.
66
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Wenn wir nun doch eine bestimmte Person nennen wollen, so denke ich, dass Vasil
Levski 22 als Apostel der nationalen Wiedergeburt und der nationalen
Befreiungsbewegung ein wichtiges Vorbild für jeden Bulgaren sein kann. Er war auch
ein sehr interessanter Politiker und Denker in der Zeit der Befreiungskämpfe gegen die
osmanische Unterdrückung, als er seine Visionen für die Zukunft Bulgariens in der
Öffentlichkeit bekannt machte. Interessant und wichtig ist doch, dass Levski sich genau
in jener Zeit, in der sich in ganz Europa nationale Bewegungen ausbreiteten, Bulgarien
als ein tolerantes Land vorstellte, in dem jeder Bürger, unabhängig von seiner Religion
und ethnischen Zugehörigkeit, sich wohl fühlen und gleichberechtigt sein sollte.
Hatten Sie denn keine politischen Ziehväter, die Sie in die Politik einführten und Ihr
politisches Denken wesentlich mitgestalteten?
Nein, die hatte ich nicht. Natürlich konnte ich in meiner Kindheit beobachten, wie
Politik, wenn auch gleichsam hinter einem Vorhang verborgen, funktioniert, und ich
denke, dass dadurch meine heutiger Blickwinkel eine gewisse Erweiterung erfährt. Auf
diese Weise ist man bei Erfolgen weniger euphorisch, weil man weiß, dass es nach
jedem Sieg wieder sehr viele Herausforderungen und viele neue Probleme gibt, die
gelöst werden müssen.
Sie hatten in der Bulgarischen Sozialistischen Partei die Position eines Experten für
Außenpolitik inne. Danach haben Sie als Sekretär für Internationale Angelegenheiten in
derselben Partei in hohem Maße dazu beigetragen, dass die BSP in die Sozialistische
Internationale aufgenommen wurde. Sind für Sie, besonders in Ihrer Position als
Ministerpräsident Bulgariens, die Werte der Sozialdemokratie in der heutigen Zeit noch
von Bedeutung?
Natürlich sind sie das. Sie haben eine Bedeutung in der modernen Welt, und sie haben
eine Bedeutung für mich und meine Stellung als Ministerpräsident. Jede politische Partei
beteiligt sich an Wahlen, um bestimmte Machtpositionen zu erlangen und ihre Visionen,
ihre Prioritäten und ihre grundlegenden Werte einzubringen. Natürlich wissen wir alle,
wie sehr sich die Welt nach der Abschaffung des Eisernen Vorhangs und dem Zerfall des
ehemaligen sozialistischen Systems im Ostblock in den letzten 15 oder 16 Jahren
verändert hat. Diese Zäsur wirkte sich auch auf die westlichen Länder und auf
Westeuropa aus, die sich in Richtung Globalisierung entwickelt haben.
Die Globalisierung scheint doch ein objektiver Prozess zu sein, dem man sich in
wirtschaftlicher Hinsicht gar nicht entziehen kann. Welche Rolle sollen da noch
sozialdemokratische Werte spielen?
22
Vasil Levski, eigentlich Vasil Ivanov Kunchev (1837-1873), Führer der bulgarischen
Nationalbewegung gegen die Herrschaft der Osmanen. 1858-1864 ein Mönch, setzte Levski sich
schon bald für die Unabhängigkeitsbewegung ein und versuchte, eine Erhebung in Bulgarien zu
organisieren. 1872 wurde er von den Osmanen gefasst und später hingerichtet.
67
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Problematisch ist, dass die Globalisierung als ein rein ökonomisches Phänomen
wahrgenommen wird, das nur den eigenen Regeln gehorcht. Aber gerade für jeden
Sozialdemokraten und jeden Sozialisten auf der Welt ist es nun sehr wichtig, einen Weg
zu finden, die Globalisierung gegenüber der vor den globalen Herausforderungen
stehenden Menschheit sozialer und verantwortungsvoller zu gestalten. Wir sehen doch,
was um uns herum passiert: in vielen Ländern wächst die Armut. Die Kluft zwischen
reichen und armen Ländern wird mit der Globalisierung noch größer. In ein und
demselben Land – und dies trifft auch für die Länder der Dritten Welt zu – gibt es
inzwischen verschiedene, nebeneinander bestehende Welten. Es gibt Inseln moderner
Entwicklung und eine reiche Gesellschaftsschicht, aber zugleich wird man Zeuge einer
gravierenden Armut, von Krankheiten und vielen anderen Problemen.
Aus diesem Grund sollte jeder Sozialdemokrat die Gelegenheiten nutzen, die in der
globalen Welt mit ihren größeren Möglichkeiten einer internationalen Kooperation
reichlich vorhanden sind. Ich glaube auch, dass heute in der globalen Welt gerade der
Internationalismus – ein grundlegender Wert und ein Prinzip der sozialen Demokratie –
wichtig ist. Wir können beobachten, wie die sozialdemokratischen Parteien und die
Partei der Europäischen Sozialisten das Globale Progressive Forum einrichten, eine sehr
wichtige Veranstaltung, in der Angehörige aus dem politischen Links-Mitte-Feld
zusammen mit Nichtregierungs- und Umweltorganisationen die Weltprobleme
diskutieren. Wir Sozialdemokraten suchen unseren eigenen Weg und eigene Antworten,
denn mit den Veränderungen in der Wirtschaft müssen sich auch die politischen
Parteien ändern. Hinzu kommt, dass manchmal gerade die sozialdemokratischen
Parteien Reformen durchführen, die, bezogen auf den alten Begriff der
Wohlfahrtsgesellschaft, nicht typisch sozialdemokratisch sind. Wir müssen pragmatisch
sein und uns den veränderten Umständen anpassen, aber wir dürfen dabei auf keinen
Fall unsere Werte und Grundsätze vergessen. Vielmehr müssen wir sie mit den neuen
Realitäten in Einklang bringen und neue Mechanismen finden, ihnen in einer
veränderten Welt Geltung zu verschaffen.
Können Sie, wenn wir von Werten sprechen, diese präzisieren? Welches sind die
grundlegenden Werte und Prinzipien Ihrer Partei?
Nun, eines der Grundprinzipien jeder sozialistischen Partei ist die Solidarität – Solidarität
zwischen den Menschen, zwischen den Bürgern. Das ist besonders in unserer heutigen
Zeit von größter Wichtigkeit, wo wir doch Zeugen einer Atomisierung der Welt werden,
in der jedes Individuum nur noch um das eigene Überleben und für den eigenen Erfolg
unter marktwirtschaftlichen Bedingungen kämpft – eine Welt, in der ein Teil unserer
Grundwerte verloren gegangen ist. Das ist die traurige Wahrheit, und mit ihr muss man
sich befassen, denn ich glaube nicht, dass ultraliberales, nur am freien Markt
orientiertes Handeln die Probleme lösen kann. Im Gegenteil, es ist im Allgemeinen nicht
dazu geeignet, das Problem der sozialen Integration und der Effizienz einer Gesellschaft
zu lösen.
Sie erwähnten, welche Bedeutung die traditionellen Familienwerte in der bulgarischen
Gesellschaft und auch für Sie persönlich haben. Spielt die Lehre der Orthodoxen Kirche
68
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
bei der Entwicklung dieser Werte für Sie persönlich oder auch für die bulgarische
Gesellschaft als Ganzes eine Rolle? Ist die Religion immer noch ein Faktor?
Ja, ich glaube schon, dass sie eine Rolle spielt. Meiner Meinung nach ist sie dabei eher
ein kultureller als ein religiöser Faktor, denn mir scheint, dass die Bulgaren als Nation –
etwa wenn man sie mit den Griechen vergleicht – nicht besonders religiös sind. Aber
meiner Auffassung nach hat die Bulgarische Orthodoxe Kirche dennoch eine sehr
wichtige Rolle in der Entwicklung der bulgarischen Nation gespielt. Das Hauptverdienst
der Kirche ist, während der 500 Jahre langen Fremdherrschaft – fremd auch vom
religiösen Gesichtspunkt her, waren die osmanischen Türken doch bekanntlich Moslems
– entscheidendend zur Erhaltung der bulgarischen Nation und Nationalität wie auch der
bulgarischen Kultur beigetragen zu haben.
Auch die Anfänge der nationalen Befreiungsbewegung selbst liegen in ihrem Kampf für
die Befreiung der Kirche, war es im osmanischen Reich doch die Griechisch-Orthodoxe
Kirche, die alle Christen zu vertreten hatte. Damit stand am Anfang die Wiedergeburt
der Kirche mit all den Erinnerungen an das mittelalterliche bulgarische Königreich, mit
dem Unterricht in bulgarischer Sprache, dem Alphabet, der Literatur usw. Dann kam die
nächste Phase, die bereits erwähnte Bewegung für die Befreiung der Kirche, die ihr als
Institution Unabhängigkeit verschaffen wollte. Erst später erfolgte dann der Schritt zur
nächsten Etappe in der nationalen Befreiungsbewegung.
Hier hat die Bulgarische Kirche offensichtlich eine wichtige Rolle für das
Nationalbewusstsein und die nationale Unabhängigkeitsbewegung gespielt. Aber was
könnte sie zur heutigen Situation beitragen, wo es weniger um nationale Befreiung,
sondern um die Gestaltung zwischen- und übernationaler Strukturen geht?
Eine meiner Ansicht nach sehr wichtige Eigenschaft kommt darin zum Vorschein, dass in
der Orthodoxen Kirche die Toleranz hoch geschätzt und als immanenter Wert
berücksichtigt wird. Dies ist ein gerade Bulgarien kennzeichnendes Phänomen, waren
doch sogar im Mittelalter weder ketzerische Bewegungen noch andere Rivalen der
Kirche religiöser Verfolgung ausgesetzt. Falls doch, geschah dies selten – ein deutlicher
Gegensatz etwa zur Katholischen Kirche. Für Bulgarien war in jener Zeit religiöse
Verfolgung nicht gerade charakteristisch, und besonders wichtig ist, dass sich eine
solche Haltung erst später, nach dem Beginn der nationalen Befreiungsbewegung
entwickelte.
Die Toleranz hat in der Gesellschaft Bulgariens eine starke Tradition und einen hohen
Stellenwert. Genau hier, im Zentrum von Sofia, können Sie im Umkreis von 500 Metern
einen orthodoxen Dom, eine muslimische Moschee und eine Synagoge sehen, die damit
in friedlicher Koexistenz nahe beieinander liegen. Hier haben wir eine bedeutende
Eigenart Bulgariens, die auf den Werten der Toleranz zwischen den verschiedenen
Religionen und ethnischen Gruppen basiert. Während des Zweiten Weltkriegs, als
Bulgarien mit dem nationalsozialistischen Deutschland verbunden war, hat es neben
Dänemark als eines der wenigen Länder Europas, die vom faschistischen Regime
besetzt oder mit ihm verbunden waren, seine Juden gerettet, und zwar unter dem
starken Druck der orthodoxen Kirche, der bulgarischen Öffentlichkeit und der
69
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Widerstandskräfte, die zu dieser Zeit aktiv waren. Ich denke, angesichts dieser
interessanten Phänomene gilt es zu ermitteln, welche wichtige Rolle eben diese Werte,
welche die Jahrhunderte überstanden haben, in der modernen Geschichte spielen. Und
was gerade nach 1990 bemerkenswert ist und trotz aller Probleme und schlechten
Erfahrungen meiner Meinung nach auf eine positive Seite unseres Landes verweist, ist
die Tatsache, dass wir ein gut ausgewogenes ethnisches Modell haben. Die
verschiedenen Religionen und ethnischen Gruppen sind gut miteinander verbunden,
was die politische Entwicklung des Landes oder ihre Beteiligung an der sozialen
Entwicklung der Gesellschaft betrifft.
Die Orthodoxe Kirche ist ein Teil der historischen Erbschaft des Landes, ein anderer die
Jahrzehnte des Sozialismus. Wenn Sie die Politik und die Werte aus der Zeit des
Kommunismus mit den heutigen vergleichen, wie würden Sie diese beschreiben und
worin sehen Sie die hauptsächlichen Unterschiede?
Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass die menschlichen Werte und Prinzipien sehr alt,
fast altertümlich sind. Die Zehn Gebote Gottes sind sehr gut formuliert. Wenn wir jetzt
auf die neueste Geschichte Bulgariens und besonders auf die kommunistische Zeit
blicken, werden Sie bemerken, dass die Gebote der Kommunisten den Zehn Geboten
der christlichen Religion sehr ähnlich sind. Das ist auch der Grund, warum ich sie als
grundlegende Werte betrachte, die sich gerade nicht mit der Zeit ändern.
Das heißt, die Werteorientierung hat sich gar nicht geändert? Angesichts des großen
Umbruchs der letzten eineinhalb Jahrzehnte ist eine solche Aussage erstaunlich.
Selbstverständlich gibt es Dinge, die sich verändern, besonders in der Politik, zumal es
in der Zeitspanne von 1989 bis 1994 im Grunde keine Politik im Sinne eines
pluralistischen politischen Systems gab. Die kommunistische Partei war keine Partei, da
der Definition nach eine Partei etwas ist, was die gemeinsamen Interessen eines Teils
der Gesellschaft vertritt. Die kommunistische Partei dagegen war geschaffen worden,
die ganze Gesellschaft zu vertreten, und von diesem Gesichtspunkt aus war sie keine
politische Partei. Aus meiner Sicht war sie eher ein Teil der Verwaltung des totalitären
Systems. Sehr viele Leute besaßen keine linken Neigungen, Überzeugungen oder Werte,
sie waren nur deshalb in der Partei, weil dies eine Voraussetzung, ja die unvermeidliche
Bedingung war, in der Verwaltung oder in irgendeinem anderen Bereich Karriere zu
machen. Tatsächlich vollzogen nach 1990, als die Leute die Freiheit hatten, selbst zu
wählen, sehr viele der formellen Mitglieder der Kommunistischen Partei einen fast schon
extremen Wechsel ins rechte politische Spektrum.
Andererseits bin ich der Meinung, dass die Sozialistische Partei sich in den letzten 15
Jahren nicht einfach nur zur Mitte hin bewegt hat. Natürlich lassen sich gewisse Punkte
in unserem Programm, in unserer Politik usw. ausmachen. Aber mir scheint, die
Sozialistische Partei entwickelte sich auch in eine andere Richtung und in einer ganz
anderen Hinsicht. Sie wurde von einer Partei, die Teil des Staates war, zu einer normalen politischen Partei, sie öffnete sich der bürgerlichen Gesellschaft, und insofern
70
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
dies eine ganz andere Entwicklung ist, beeinflusste sie die Aktivitäten und die Politik der
Partei selbst.
Sie erwähnten einen der Grundwerte der Sozialdemokratie: die Solidarität. Zugleich
sprachen Sie von der in Atome zerfallenen Gesellschaft. Glauben Sie, dass es gerade der
jüngeren Generation an Solidarität fehlt und deshalb weniger Interesse an der Politik,
der Parteiangehörigkeit und an aktiven Positionen in der Gesellschaft besteht?
Ja, ich sehe das schon so, dass es in der jungen Generation weniger Solidarität gibt. Die
Gesellschaft in Bulgarien hat sich tatsächlich sehr verändert, in vielen Bereichen zum
Guten, doch in mancher Hinsicht auch zum Schlechten. Das ist es, was ich bereits
erwähnt habe, die übermäßig verbreitete ultraliberale Denkweise und der extreme
Marktliberalismus. Es herrscht das Prinzip vor, jeden anderen als einen Konkurrenten
anzusehen und sich in Acht nehmen und selbst konkurrenzfähig sein zu müssen. Dieses
Prinzip beinhaltet etwas sehr Schlechtes, gehen doch die grundlegenden und nationalen
Werte der Solidarität und gegenseitigen Hilfeleistung allmählich verloren, und ich glaube
nicht, dass das gut ist.
Würden Sie den jungen Leuten empfehlen, selbst in die Politik zu gehen? Wie, glauben
Sie, könnte man diese jungen, zunehmend unpolitischen Leute für die Politik
interessieren, an was müsste man appellieren?
Junge Leute sollten nur dann in die Politik gehen, wenn sie auch etwas verändern
wollen. Immer, wenn ich jungen Leuten begegne und sie zu kritisieren beginnen, was in
der Öffentlichkeit passiert, dann versuche ich ihnen zu erklären, dass die einzige
Möglichkeit, etwas zu verändern, die Politik ist. Denn die Politik ist überall. Wer etwas
verändern will, muss sich als Mitglied des Gemeinderats bewerben oder in eine Partei
eintreten, um ihre Politik zu beeinflussen und sie in die Richtung, die man selbst will, zu
bewegen. Der nächste Schritt wäre, ins Parlament zu gehen, und diesen Weg müsste
man dann fortsetzen, denn die Politik ist überall und steht in jedem Moment mit
unserem Leben in Berührung. Die Entscheidungen des Gemeinderats, die
Entscheidungen des Parlaments, der Regierung – sie betreffen jeden, sie beeinflussen
die Art, wie die Gesellschaft organisiert, wie das Ausbildungssystem oder unser
Gesundheits- und Sozialsystem beschaffen ist. Das alles ist sehr wichtig, und ich
bemerke das wachsende Interesse der jungen Leute für die Sozialistische Partei. Das
lässt sich auch bei den Wahlen, in den Wahlergebnissen und in der Struktur der Wähler,
die links gewählt haben, verfolgen.
Ist die Sozialistische Partei wieder zunehmend interessant für junge Menschen in
Bulgarien? Beim Zusammenbruch des Sozialismus waren es doch andere politische
Kräfte, denen die Jugendlichen sich zuwandten.
Tatsächlich findet derzeit ein umfassender Verjüngungsprozess der Wähler der
Sozialistische Partei statt. Ich halte das für ganz normal. Sehen Sie, es ist völlig
verständlich, dass in den frühen 90er Jahren, als die demokratischen Veränderungen in
Bulgarien begannen, die junge Generation für die rechts-zentristischen politischen
71
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Formationen und für die Union der Demokratischen Kräfte war, weil diese die Wende
repräsentierten. In jenem Moment war die Öffnung unserer Gesellschaft gegenüber der
westlichen Demokratie und der Marktwirtschaft wirklich eine Revolution. Deshalb
schlossen sich die meisten jungen Leute meiner Generation politisch den Mitte-RechtsParteien an. Die meisten waren dann ziemlich enttäuscht von dem, was passierte, hatte
man doch versprochen, dass alles, was am sozialistischen System gut war, erhalten
bleibe, soziale Sicherheit, freier Zugang zur Ausbildung und solche Dinge, aber natürlich
auch, dass die Bulgaren in der Lage sein würden zu reisen und ihre Ferien auf den
Kanarischen Inseln zu verbringen. Das waren die Erwartungen, die man geschürt hatte.
Die Tatsache, dass gerade die junge Generation von den Wirtschaftsreformen am
meisten betroffen war, führte später dann zur Enttäuschung, und viele junge Menschen
kamen zu den Linken zurück.
Traditionsgemäß ist eben der linke Flügel die verändernde Kraft in der Gesellschaft. Die
sozialistischen Parteien sind nun einmal die Parteien, die das Unrecht und die
Ungleichheit nicht hinnehmen wollen. Sie akzeptieren nicht, dass es Leute gibt, die von
der Gesellschaft ausgeschlossen sind; dass die Geburt sie dazu verurteilt, nur weil sie
arme Eltern hatten. Ohne Ausbildung und arm sein, ohne gute Arbeit und ohne die
Chance zu reisen, das ist für die Sozialistischen Parteien nicht akzeptabel. Ich glaube,
dass es das ist, was die jungen Menschen jetzt verändern wollen. Sie wollen die Freiheit
haben, aktiv zu werden, sie brauchen die Möglichkeit, ihre Talente zu entfalten. Und das
kann allein auf der Basis des freien Marktes niemals passieren.
Bulgarien führt schon seit zehn Jahren Beitrittsverhandlungen mit der EU. Das setzt
viele Veränderungen voraus im Bereich der Gesetzgebung, der Implementierung der
Richtlinien usw. Aber dabei handelt es sich eher um den formalen Aspekt des Beitritts.
Lässt sich dagegen auch irgendein Einfluss auf die bulgarische Gesellschaft feststellen,
auf ihre Wertvorstellungen, Verhaltensweisen, Denkweisen?
Die Reformen, die bei uns durchgeführt wurden, lassen sich zum größten Teil durch den
Willen und die Entschlossenheit, der EU beizutreten, erklären. Das ist das hohe Ziel, das
sich unsere Gesellschaft gesetzt hat: wieder in die europäische Familie aufgenommen
zu werden, und zwar in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht. Wie Sie
wissen, ist Bulgarien im Hinblick auf die Mitgliedschaft in der EU äußerst optimistisch,
mehr als viele andere Länder in Europa. Das mag damit zusammenhängen, dass wir
noch nicht Teil der Union sind. Manche Leute betrachten den EU-Beitritt mit den Augen
eines Konsumenten, indem sie glauben, dass die EU, wenn wir nur erst einmal Mitglied
sind, automatisch unsere Probleme lösen wird – was natürlich nicht geschehen wird,
schließlich ist die EU keine Wohltätigkeitsorganisation.
Die Mitgliedschaft in der EU bedeutet also nicht nur Vorteile, sie ist auch mit vielen
unterschiedlichen Herausforderungen verbunden. Sind da nicht auch Enttäuschungen zu
befürchten, die dann zu ganz anderen Reaktionen der Bulgaren führen könnten?
Ich sehe in ihrem Optimismus grundsätzlich einen sehr positiven Trend, weil dies zeigt,
dass der Wille zum Beitritt in die Europäischen Union sehr stark ist und hier ein breiter
72
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Konsens herrscht. Das unterstützt viele Reformen, die in unserer Gesellschaft
durchzuführen sind. Außerdem sind die Anforderungen und die Bedingungen seitens der
Europäischen Union ein Ansporn für die bulgarische Gesellschaft und die bulgarische
Staatsverwaltung, für die Politiker und alle Institutionen im Land. Im Laufe dieses
Prozesses werden wir uns und die bei uns geltenden Regeln verändern. Gerade deshalb
glaube ich, dass der Beitritt für Bulgarien von Vorteil und wichtig ist, auch weil sich
damit der Prozess der Abtrennung von den beherrschenden Mächten vollenden wird,
weil es zu einer besseren Überwachung der Institutionen durch die Bürger und zur
Einführung klarer Marktregeln kommen wird, die für jeden gültig sind. Wenn klare
Regeln gelten, beeinflusst dies jedes Mitglied der Gesellschaft. Und genau dieser
Prozess ist in Bulgarien zu sehen.
Meiner Ansicht nach sind die Bulgaren, was Veränderungen betrifft, sehr flexible und
anpassungsfähige Leute. Seit vielen Jahren sind wir Zeugen der schwierigen Debatten
in Deutschland anlässlich der Rentengesetzreform und einiger anderer Reformen in der
Sozialgesetzgebung. In Bulgarien dagegen haben wir im Laufe von 15 Jahren eine
Vielzahl von Reformen gewaltigen Ausmaßes durchgeführt. Das war eine grundlegende
Veränderung in der Gesellschaft, doch wir haben das überstanden und uns angepasst.
Und jetzt gibt es im Rahmen des neuen Systems, in dem die Einwohnerzahl zu wachsen
beginnt, Bulgaren, die diesen Wandel mitvollzogen haben und in der neuen Gesellschaft
erfolgreich arbeiten und leben können.
Wird sich Bulgarien an die Kriterien von Kopenhagen für die Annährung an die
Europäische Union halten? Transformationsgesellschaften, die ohnehin gewaltige
Anstrengungen auf sich zu nehmen haben, sind zusätzlich mit Anforderungen
konfrontiert, die ihnen von außen gestellt werden. Sind hier nicht Schwierigkeiten zu
erwarten?
Nun, wir haben es hier mit einem anhaltenden Prozess zu tun. Es ist richtig, dass wir
uns jetzt in der schwierigsten Phase der Umsetzung befinden. Doch Bulgarien hat
bemerkenswerte Fortschritte in der Implementierung der Kriterien für die Mitgliedschaft
in der EU gemacht und bewies während dieser ganzen Zeit, dass es ein Land ist, das die
Schwierigkeiten meistern und bewältigen kann – und dies genau in einer äußerst
angespannten Phase, in der sich zeigt, dass die EU selbst interne Probleme hat
aufgrund der beiden fehlgeschlagenen Referenden und des Mangels an
Finanzperspektiven und entsprechender Abkommen. Trotz aller Schwierigkeiten erfüllte
Bulgarien seine Verpflichtungen recht zügig. Natürlich gab es eine gewisse Verzögerung
und sogar einen Stillstand wegen der bulgarischen Parlamentswahlen, da die
Wahlkampagnen liefen und keiner den politischen Willen aufbrachte, die vereinbarten
Reformen durchzuführen. Aber nach den Wahlen haben wir nun eine neue Regierung,
die im Parlament breite Unterstützung genießt und sich auf die drei größten Fraktionen
und Parteien stützt. Wir brauchen diese Unterstützung, wir müssen den politischen
Willen und die politischen Kräfte bündeln, um die notwendigen Reformen durchzuführen
und die europäischen Kriterien vor dem Datum unserer vollen Mitgliedschaft in der EU
zu erfüllen.
73
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Die von Ihnen erwähnten zwei Volksbefragungen in Frankreich und in den Niederlanden
lassen erkennen, dass es gegenüber der Erweiterung Bedenken gibt. Welche
Auswirkung hat das auf Bulgarien und die anderen Balkanländer?
Wir sind ein Land im Durchgangsstadium, ein Land, das den Beitrittsvertrag schon
unterschrieben hat. Derzeit findet in den Ländern der Europäischen Union der
Ratifizierungsprozess der Erweiterungsverträge statt, aber die Frage nach der Aufnahme
Bulgariens ist, wie ich glaube, schon entschieden. Die ganze Spannung dreht sich nur
noch darum, ob wir bereits im Januar 2007 in die Union aufgenommen werden oder ob
sich die Aufnahme um ein Jahr verschiebt. Das Endergebnis wird dies nicht
beeinflussen. Bulgarien wird zur Europäischen Union gehören, und ich denke, dass sich
daraus auch Vorteile für die EU ergeben, schließlich sind wir keine Bettler, die nur
darauf warten, dass ihre Probleme mit Mitteln der europäischen Fonds gelöst werden.
Wird der Beitritt Bulgariens auch für die EU Positives bringen?
Bulgarien kann einen inhaltlichen Beitrag leisten, indem es mit seinen 15 Jahren
Stabilität und erfolgreichen Reformen der ganzen Region als gutes Beispiel dient. Fragt
man nach der Zukunft der Länder des westlichen Balkans, so bin ich überzeugt, dass
die Mitgliedschaft Bulgariens ab Januar 2007 ein äußerst wichtiges und ermutigendes
Signal für deren Entwicklung sein wird. Wir wissen ja, dass nach den ethnischen
Konflikten und den Kriegen, die in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien
ausbrachen, die Demokratie und die Entwicklung der Marktwirtschaft noch schwach und
zerbrechlich sind. Auch der Frieden ist in diesen Ländern noch äußerst fragil; es gibt zu
viele Streitfragen in der Region. Die Gesellschaften und die Politiker dieser Länder
verfolgen aus unmittelbarer Nähe und mit großer Aufmerksamkeit, welches Schicksal
auf Bulgarien, „den guten Schüler“ auf dem Balkan, zukommt. Und sie werden auch
verfolgen, inwieweit Europa seine Verpflichtungen Bulgarien gegenüber erfüllen wird.
Daher könnte für diese Länder und ihre Entwicklung eine Verschiebung der Aufnahme
Bulgariens als ein negatives Signal aufgefasst werden.
74
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Meglena Kuneva, Ministerin für Europäische Angelegenheiten
Dr. Meglena Shtilianova Kuneva war Ministerin für Europäische Angelegenheiten in der
Regierung von Simeon Sakskoburggotski und übt dieses Amt auch in der neuen
Regierung Stanischew aus. Sie ist designierte EU-Kommissarin Bulgariens ab 2007. Die
promovierte Rechtswissenschaftlerin arbeitete im Hochschulbereich wie auch für den
Bulgarischen Rundfunk. 1990 bis 2001 war sie juristische Beraterin des Ministerrats und
arbeitete bei Gesetzesvorlagen im Umwelt-, Informations- und anderen Bereichen mit.
Seit 2001 im Parlament, ist sie seither für die Verhandlungen mit der EU und für
europäische Angelegenheiten zuständig.
Zuerst möchten wir Ihnen zu Ihrer Wiederernennung zur Ministerin für Europäische
Integration gratulieren, womit auch die Kontinuität der europäischen Politik Bulgariens
in der Phase vor dem Beitritt in die Europäische Union gewährleisten ist. Sie wurden
zum ersten Mal im Jahr 2001 in der Regierung des Ministerpräsidenten Simeon
Sakskoburggotski zur Ministerin für Europäische Integration ernannt. Wie kamen Sie in
die Politik?
Als im Jahr 2001 einige meiner Kollegen von der Juristischen Fakultät der Universität
Sofia den Vorschlag machten, mich zu nominieren, war meine erste Reaktion: „Nein,
warum gerade ich?“ Dann aber, als ich mich Tag für Tag mit dieser Möglichkeit
auseinander setzte, nahm ich den Vorschlag schließlich doch an, da ich zu der Einsicht
gelangte, dass der richtige Zeitpunkt – ein reiferes Stadium der demokratischen
Entwicklung – gekommen war, um Verantwortung für die Entwicklung des Landes zu
übernehmen.
Ich bin von Beruf Rechtsanwältin, eine ausgebildete Juristin, und ich bin der
Überzeugung, dass dies, zumindest für mich, der beste Beruf ist. Ich habe
Umweltschutzrecht studiert, und meine Dissertation handelte über die rechtlichen
Aspekte des Umweltschutzes. Vielleicht hat dies irgendeine tiefere Bedeutung, denn die
Arbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes ist eine Sache der Gesinnung. Sie ist nicht
auf rein rechtliche Fragen beschränkt, vielmehr muss man bisweilen kämpfen, um das
zu erreichen, woran man glaubt. Für mich ist die Arbeit auf dem juristischen Gebiet
damit auch eine Frage der eigenen Überzeugung hinsichtlich dessen, was gesetzlich und
was gesetzwidrig, was richtig und was falsch ist. Darüber hinaus gibt es zwischen dem,
was ich heute tue, und meinem Beruf als Juristin viele Verbindungslinien, lässt sich doch
die Gesellschaft tatsächlich durch rechtliche Methoden und Verfahren verändern.
Man trägt Verantwortung und erfüllt die daraus entstehenden Verpflichtungen nicht nur
als Mitglied einer regierenden Partei, sondern auch durch die Arbeit im Parlament, ja
durch jegliche politische Beteiligung, die einem demokratischen Staatswesen
angemessen ist. Schon während meiner Arbeit als juristische Beraterin des Ministerrats
war ich eng mit der Politik verbunden, aber dies doch hauptsächlich vom Standpunkt
des Staates aus gesehen in dem Sinne, ob und inwiefern meine Lösungsvorschläge und
Empfehlungen für das Land richtig und gut waren.
75
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Inzwischen gehöre ich aber zu denjenigen Politikern, die in die Strukturen einer Partei
einbezogen sind, und ich bin sehr zufrieden, dass unsere Partei als eine liberale Partei
der Mitte Aufnahme im politischen Spektrum gefunden hat.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie vor 2001 nie daran gedacht, aktiv in
die Politik zu einzutreten. Gab es für Sie dennoch Mentoren oder Vorbilder, die Ihre
politische Karriere und Ihr politisches Leben beeinflusst haben?
Nun, meine Familie hat im Bereich der Politik äußerst bittere Erfahrung gemacht. Auch
wenn sie an den politischen Ereignissen keineswegs mit besonderer Aktivität teilnahmen
und nur im Dienst des Landes standen, haben die Familien meiner beiden Eltern durch
die Politik sehr gelitten. Aus diesem Grund war die Vorstellung, mich am politischen
Leben des Landes zu beteiligen, nicht gerade attraktiv. Trotzdem kam ich letztlich zu
dem Entschluss, dass nun der richtige Zeitpunkt sei, denselben Weg zu beschreiten, für
den sich im Grunde viele der demokratisch gesinnten Menschen in Bulgarien
entschieden haben. Dieser Weg bedeutet, das politische Leben neuen Ideen und guten
demokratischen Praktiken gegenüber zu öffnen.
Ich lese viel über die Zeit vor der so genannten sozialistischen Revolution in Bulgarien,
also vor 1944. Aus dieser Zeit habe ich tatsächlich einige Persönlichkeiten als Vorbilder
für mich entdeckt. Demgegenüber bin ich aber noch nie in Versuchung geraten, mir aus
der sozialistischen Periode meines Landes Vorbilder oder Modelle zu nehmen. Ich
befasse mich eingehend mit der Geschichte Bulgariens, und ich versuche, stolz auf die
Geschichte des freien Bulgarien – des Bulgarien vor 1944 – zu sein und mich nicht
angesichts meiner Familie, meiner Eltern und meiner Freunde schämen zu müssen. Das
sind ungefähr die Umrisse meiner politischen Vorbilder. Natürlich bin ich auch stark von
der Persönlichkeit des vorigen Ministerpräsidenten Simeon Sakskoburggotski 23
beeinflusst worden. Meiner Meinung nach ist er ein wirklich außergewöhnlicher Mensch,
der viel für die politische Kultur und die politische Vielfalt Bulgariens geleistet hat.
Sie sind Mitglied einer zentristischen Partei. Was bedeutet dies für Ihre politische Arbeit,
was sind für Sie die hauptsächlichen Werte bei Ihrer Tätigkeit in dieser Partei?
Selbstvertrauen. Wenn ich die Werte, die ich für maßgeblich ansehe, mit einem Wort
ausdrücken sollte, so würde ich es Selbstvertrauen nennen. Das bedeutet Vertrauen in
sich selbst, Vertrauen in die eigene Fähigkeit, auf die Dinge Einfluss zu nehmen und der
Gesellschaft das zu geben, was jeder von uns mit den Mitteln des modernen Staates für
die Leute, die sich in einer benachteiligten Lage befinden, leisten muss. Das gehört zur
persönlichen Verantwortung jedes einzelnen Mitglieds unserer Gesellschaft. Diese
knappe, aber klare Definition kann, wie ich glaube, der breiten Öffentlichkeit die
liberalen Ideen erklären. Freilich gibt es noch viele andere Aspekte liberaler
23
Simeon Sakskoburggotski (*1937), auch Simeon von Sachsen-Coburg-Gotha. Sakskoburggotski
wurde 1946 als letzter bulgarischer Zar (Simeon II.) mit Abschaffung der Monarchie abgesetzt und
ging in das Spanien Francos ins Exil. Erstmals 1996 nach Bulgarien zurückgekehrt, gründete er
2001 die Nationale Bewegung Simeon II. und wurde infolge eines hohen Wahlsieges von 2001 bis
2005 Ministerpräsident.
76
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Wertvorstellungen, die sich auf eine liberale Wirtschaftsordnung, eine liberale
Sozialpolitik oder eine liberale EU-Politik beziehen. Aber diese sind etwas komplizierter.
Meiner Meinung nach zeichnet es einen Liberalen als Politiker aus, dafür einzutreten,
dass man den Bedürfnissen des Landes mit den eigenen Kräften zu entsprechen sucht
und nicht auf den Staat wartet, bis dieser sich so weit entwickelt hat, dass er den
anderen Gesellschaftsmitgliedern entsprechende Sozialleistungen anzubieten vermag.
Es gilt, Verantwortung zu übernehmen, und zwar unverzüglich. So lassen sich unsere
hauptsächlichen Werte beschreiben. Freilich kann man nicht alles auf einmal tun, und
wir wollen im Grunde keine abrupten Veränderungen unterstützen. Aber nach unserer
Vorstellung wird das Land, wenn man die Marktwirtschaft mit einer angemessenen
sozialen
Sensibilität
und
doch
mittels
der
Initiative
jedes
einzelnen
Gesellschaftsmitglieds weiter entwickelt, anders aussehen.
Es ist nicht zuletzt die Aufgabe der Politik zu definieren, was Solidarität im Rahmen der
Gesellschaft, aber auch was Freiheit und Gerechtigkeit bedeuten. Können Sie uns
erläutern, welche Auffassung Ihre Partei von Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit hat?
Diese Werte, die Sie hier ansprechen, sind diejenigen, die uns als aufrechte Europäer
bestimmen. Durch den Rechtsstaat gesicherte Gerechtigkeit – das ist ein Synonym von
Staatlichkeit, das ist im Grunde der Begriff, den wir heute vom Staat haben. Vielleicht ist
es sogar ein Synonym von Zivilisation. Ohne Gerechtigkeit, ohne Rechtsordnung wäre
das ganze Gebilde der Europäischen Union überhaupt nicht möglich. Ohne Gerechtigkeit
kann es keine Verständigung geben. Wir können innerhalb der bulgarischen Gesellschaft
ohne eine an Recht und Gesetz gebundene Wirtschaft, ohne ein an Recht und Gesetz
gebundenes soziales Leben oder ohne die übrigen rechtsstaatlichen Aspekte der
Gesellschaft keine Verständigung erzielen. Eine strikt rechtliche Grundlage ist für einen
Staat der einzige Weg zu einem gesunden gesellschaftlichen Leben.
Sie haben nun bereits die Europäische Union angesprochen und auf die unverzichtbare
Grundlage einer funktionierenden Rechtsordnung hingewiesen. Aber im Zuge der
Referenden zur Annahme der Europäischen Verfassung haben sich in Frankreich und
den Niederlanden erhebliche Schwierigkeiten abgezeichnet. Glauben Sie, dass dies eine
Auswirkung auf die Länder der nächsten Erweiterungsrunde haben könnte und vielleicht
den Integrationsprozess verlangsamt? Wie sehen Sie in dieser Hinsicht die Zukunft der
Balkanländer?
Ich bin hier sehr optimistisch, weil der Europäische Rat am 3. Oktober dem
Erweiterungsprozess einen neuen Impuls gegeben hat. Gleichzeitig darf man nicht
vergessen, dass die Erweiterung als politisches Projekt für die gesamte Europäische
Union sehr wichtig ist. Als Vertreterin Bulgariens in den Beitrittsverhandlungen kann ich
nur hervorheben, dass mein Land nach all den schwierigen Gesetzesreformen, den
tiefgreifenden Veränderungen und dem institutionellen Aufbau nun ganz anders
aussieht als davor. Bulgarien ist ein Ort, an dem sich viel besser leben lässt als noch zu
Beginn der Beitrittsverhandlungen.
77
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Dieser Prozess bietet auch benachbarten Ländern eine gute Perspektive, denn er weist
jedem Land, das dieselben Werte hegt und pflegt und das die Kraft aufbringt, diesen
ganzen Prozess zu durchlaufen, eine prinzipielle Möglichkeit auf. Das Schwierigste daran
ist vielleicht, in all diesen Jahren der langwierigen Verhandlungen den Enthusiasmus
aufrechtzuerhalten. Aber wenn man es hinter sich hat und die Schwierigkeiten
überwunden sind, dann ist der Gewinn für das Land enorm. Ich glaube, Sie können das,
obwohl man es nicht direkt vergleichen kann, auch im Osten Deutschlands sehen. Dort
lässt sich beobachten, wie die Versprechen jetzt verwirklicht werden, wenngleich es für
die Ostdeutschen ein bisschen einfacher war, denn sie wurden ohne dramatische
Verhandlungen zu einem Bestandteil der EU. Aber man kann sehen, wie sich dort die
Lage wirklich verändert hat, seit es ein normales europäisches Land ist.
Wenn man den Blick darauf richtet, um welche Länder sich die EU in Zukunft erweitern
könnte oder erweitern wird, stellt sich die Frage nach dem gemeinsamen Fundament
der Union. Haben Länder wie Bosnien und Herzegowina oder die Türkei dieselben Werte
wie die zentraleuropäischen Länder, oder sehen Sie hier Differenzen?
Es ist nicht nur wichtig, wie die Geschichte der europäischen Vergangenheit gelesen
wird, sondern auch, wie wir die Geschichte der europäischen Gegenwart formulieren.
Ich bin der Meinung, dass wir viel Gemeinsames haben. Europa macht aus, dass die
Europäische Union ein politisches Projekt ist. Dies setzt gemeinsame Werte voraus, aber
auch, sich für diese Werte einzusetzen, was schwieriger ist, als sich nur für diese oder
jene Seite unserer gemeinsamen Geschichte zu interessieren oder zu behaupten, dass
irgendein Land zu einem bestimmten Zeitpunkt für ganz Europa von großer Bedeutung
gewesen sei, weil es mit einem Buch, einer Entdeckung oder etwas Ähnlichem einen
wesentlichen Beitrag zur europäischen Entwicklung geleistet habe. Das reicht heute
nicht mehr aus. An dem politischen Projekt Europas teilzunehmen bedeutet weit mehr,
und dieses „Mehr“ bezieht sich auf die Zukunft, nicht auf die Vergangenheit.
Europa ist heute mehr denn je ein politisches Projekt. Es ist ein Projekt, das mit unseren
Einstellungen zu tun hat: zum Kyoto-Protokoll oder zu genetisch veränderten
Organismen; zu der Frage, ob wir bereit sind, auf die nationalen Kompetenzen zu
verzichten und sie dem Europäischen Parlament zu übergeben; ob wir bereit sind, die
Regeln qualifizierter Mehrheitsentscheidungen oder der Anonymität zu akzeptieren,
wenn zum Beispiel Beschlüsse über die Steuerpolitik in Europa gefasst werden. In vielen
Nationalstaaten ist die Zustimmung hierzu immer noch problematisch. Auch das ist eine
Seite Europas, ein Bestandteil der staatlichen Reife zum Eintritt in die Union. Wie der
politische Dialog innerhalb der einzelnen Länder geführt wird, ist auch eine Frage der
Werte.
Die EU ist ein offenes Projekt, denn es ist auf die Gegenwart Europas gerichtet, nicht
auf die Vergangenheit. Oft begründen wir mit geographischen oder historischen
Argumenten unseren Anspruch, ein Teil von Europa zu sein, aber das reicht nicht aus.
Gerade jetzt müssten wir so etwas wie eine europäische Berufung haben. Aber
eigentlich ist die Bezeichnung „Europäer“ fehl am Platz: wir müssten als Mitglieder der
Europäischen Union berufen sein, was eine tiefere Bedeutung hat. Sie haben mit Recht
78
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
auf die Problematik der Europäischen Verfassung verwiesen: es handelt sich um eine
Prüfung für Europa.
Wenn Europa ein politisches Projekt der Zukunft ist, stellt sich die Frage nach denen,
die am meisten von dieser Zukunft betroffen sind. Denken Sie, dass junge Leute eine
größere Rolle in der Politik spielen sollten? Wie schafft man es, mehr junge Leute in die
Politik mit einzubeziehen?
Hier stoßen wir erneut auf die Frage nach Vorbildern. In unserer Partei haben wir eine
ausreichend große Zahl junger Minister gehabt, und das Durchschnittsalter unserer
parlamentarischen Fraktion in der letzten Volksversammlung wie auch das der letzten
Regierung war am niedrigsten. Der frühere Ministerpräsident hat oft im Scherz gesagt,
dies sei seinetwegen, um sein hohes Alter zu kompensieren. In Wahrheit ist es der
liberalen Partei „Nationale Bewegung Simeon II.“ gelungen, eine große Anzahl junger
Leuten an sich zu ziehen. Viele von ihnen haben ihre Ausbildung im Ausland
abgeschlossen. Darin, so scheint mir, folgen wir dem Modell anderer Länder, etwa
unserem Nachbarn Griechenland. Die Griechen haben begonnen, ihre gebildeten und
erfolgreichen Landsleute im Ausland dazu aufzufordern, sich im eigenen Land zu
engagieren und an der Verwaltung teilzunehmen.
Im Übrigen glaube ich, dass man nur in seinem Heimatland richtig zufrieden sein kann,
denn dort kann man nicht nur etwas für sich selbst oder für seine Familie tun, sondern
auch für die eigene Heimat. Dies gilt besonders für die erste Emigrantengeneration.
Vielleicht ändert sich die Situation nach der ersten Generation, aber ein Gefühl von der
eigentlichen Bedeutung seiner Handlungen erfährt man nur hier, in der Heimat. Zudem
lebt hier die Familie, und sogar die Bulgaren, die im Ausland ansässig sind, suchen in
ihrer Heimat nach Anerkennung. Ich habe viele Freunde, die im Ausland arbeiten, dort
eigene Unternehmen gegründet haben und ein ziemlich stabiles Leben führen. Aber
wenn wir in Bulgarien zusammenkommen, suchen sie gerade hier nach der
Anerkennung dafür, dass sie wirklich erfolgreich sind und dass ihre Anstrengungen auch
für die anderen eine Bedeutung haben. Der einzige Weg, die Bulgaren im Ausland
wieder mit ihrer Heimat zu vereinen, besteht darin, sie einzuladen, für die Heimat zu
arbeiten. Wenn sie sicher sind, dass sie sich in der Heimat verwirklichen können, dann
werden sie, davon bin ich überzeugt, auch wieder zurückkehren.
79
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Jeliasko Hristov, Vorsitzender der KNSB
Dr. Jeliasko Hristov ist Vorsitzender der Konföderation der Unabhängigen
Gewerkschaften in Bulgarien (KNSB). Der Gründungskongress der KNSB fand 1990
statt, nachdem sich der Zentralrat der bulgarischen Gewerkschaften aufgelöst hatte.
Hervorgegangen aus dem alten Gewerkschaftssystem, ist die KNSB mit derzeit rund
600.000 Mitgliedern – 1993 waren es noch 1,6 Millionen – der größte
Gewerkschaftsbund. Die KNSB ist Mitglied des Internationalen Bundes Freier
Gewerkschaften und des Europäischen Gewerkschaftsbundes.
Herr Hristov, Sie sind Vorsitzender des Zusammenschlusses der Unabhängigen
Gewerkschaften in Bulgarien und stehen damit im öffentlichen Leben. Was sind die für
Sie entscheidenden Wertvorstellungen? Was gehört für Sie zum Menschsein?
Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der die christlichen Tugenden großgeschrieben
wurden. Ehrlichkeit und Anstand, Liebe, Güte und Barmherzigkeit, Achtung und
Toleranz gegenüber der Meinung, der Einstellung und dem Verhalten der anderen,
Engagement und Verantwortungsbewusstsein – das sind die Wertvorstellungen, mit
denen ich erzogen wurde. Ich schätze Familie und Freundschaft hoch ein, und ich hasse
Doppelzüngigkeit und Verrat. Später, insbesondere als ich mich für die Anliegen der
Gewerkschaften als meinen Beruf und meine Berufung entschieden habe, kamen
Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität hinzu. Das sind alles Werte, dank deren sich
Europa aus den Ruinen eines verheerenden Krieges wieder aufrichten, die Konfrontation
überwinden und das Vereinte Europa von heute schaffen konnte. Ohne Freiheit,
Demokratie und Humanismus ist die Entwicklung der Gesellschaft undenkbar.
Der wahre Mensch, jemand, der eine Persönlichkeit darstellt, zeichnet sich meines
Erachtens durch eine gewisse Dynamik aus und ist ein engagierter Fachmann auf
seinem Gebiet, er ist jemand, der sich ständig zu vervollkommnen sucht, der
verantwortungsvoll, kooperativ und tolerant gegenüber der Vielfalt ist, ein stark
entwickeltes Pflichtgefühl besitzt und den der Kummer und das Leid der anderen
berühren.
Mit diesem breiten Fundament an Werten stehen Sie an der Schnittstelle von Politik,
Gesellschaft und Wirtschaft. Gibt es einen bulgarischen oder ausländischen Politiker
oder eine sonstige Persönlichkeit, der oder die bei der Ausprägung dieser
Wertvorstellungen einen großen Einfluss auf Sie hatte?
Abgesehen von meinen Eltern und meiner Familie, hatte den größten Einfluss auf
meinen Werdegang als Mensch und Persönlichkeit der Freiheitsapostel Vasil Levski 24 mit
seiner Hingabe, Uneigennützigkeit und Tapferkeit, mit seinem echten und erhabenen
24
Vasil Levski, eigentlich Vasil Ivanov Kunchev (1837-1873), Führer der bulgarischen
Nationalbewegung gegen die Herrschaft der Osmanen. 1858-1864 ein Mönch, setzte Levski sich
schon bald für die Unabhängigkeitsbewegung ein und versuchte, eine Erhebung in Bulgarien zu
organisieren. 1872 wurde er von den Osmanen gefasst und später hingerichtet.
80
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Patriotismus. Was meine berufliche Tätigkeit betrifft, so waren mir zwei führende
Persönlichkeiten der deutschen Gewerkschaftsbewegung – Hans Böckler 25 und Ernst
Breit 26 – ein frühes Beispiel für die Aufarbeitung und Entwicklung der
gewerkschaftlichen Werte, und infolge dieses Vorbildes war meine künftige
Zugehörigkeit zur Sache der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer in Bulgarien
prädestiniert.
Als Vorsitzender der größten Gewerkschaft in Bulgarien war ich stark davon
beeindruckt, wie sich die zwei großen Deutschen Konrad Adenauer und Hans Böckler im
Nachkriegsdeutschland die Hand reichten. Und das nicht im Geiste des Populismus,
nicht um sich Ruhe zu verschaffen und den bloßen Anschein eines sozialen Friedens
hervorzurufen, sondern um gemeinsam ein Sozialmodell zu entwerfen und zu errichten,
das mit all seinen immanenten Gegensätzen zwischen Arbeit und Kapital und seinen
dennoch angemessenen Regelwerken, die für eine Ausgewogenheit in der Gesellschaft
sorgten, dringend geboten war.
Meine Begegnung mit Ernst Breit 1999 in Sofia wird mir ständig in Erinnerung bleiben.
Vor allem beeindruckte mich seine Zuversicht, dass man auch in Krisenzeiten auf die
soziale Gerechtigkeit setzen muss und die Gewerkschaften kein Recht haben, vor
welchen Herausforderungen auch immer zurückzuweichen, dass sich sowohl im
wirtschaftlichen als auch im sozialen Bereich selbst in schwierigen Zeiten Erfolge
zeitigen lassen, wenn die Sozialpartner zueinander halten. Josef Gruber, der Leiter der
Außenstelle der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sofia, übte ebenfalls einen Einfluss auf
mich aus.
Von den bulgarischen Politikern möchte ich Ivan Kostov 27 , Peter Stojanov 28 und Georgi
Parvanov 29 nennen. Auch wenn Ivan Kostov in einer für Bulgarien schicksalhaften Zeit
25
Hans Böckler (1875-1951), seit 1894 Gewerkschafter und Mitglied der SPD; saß von 1928-1933
im Reichstag; nach 1945 am Wiederaufbau der Gewerkschaften beteiligt und ab 1949 Vorsitzender
des DGB. Nach ihm ist die Hans-Böckler-Stiftung des DGB benannt.
26
Ernst Breit (*1924), Gewerkschafter; seit 1957 Mitglied der SPD, 1971-1982 Vorsitzender der
Deutschen Postgewerkschaft und 1982-1990 des DGB.
27
Ivan Kostov (*1949), bulgarischer Politiker. Nach seiner Hochschultätigkeit wurde er 1990 für die
Union der Demokratischen Kräfte (bulgarisch SDS) ins Parlament gewählt und Ende des Jahres in
der Koalitionsregierung aus SDS und der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP, Nachfolgepartei
der KP) Finanzminister. 1997 wurde er, gestützt auf das Wahlbündnis „Vereinigte Demokratische
Kräfte“ der SDS mit mehreren kleineren Parteien, Ministerpräsident Bulgariens, nach den
Parlamentswahlen 2001 aber von Simeon Sakskoburggotski, dem früheren Simeon II., der erst
kurz davor eine eigene Wahlplattform gegründet hatte, abgelöst.
28
Petar Stojanov (*1952), bulgarischer Politiker, 1997-2002 Staatspräsident. Der Anwalt Stojanov
war als Mitglied des SDS 1991/92 stellvertretender Justizminister; ab 1994, inzwischen
stellvertretender Vorsitzender der Partei, gehörte er dem Parlament an. 1997 wurde er als
Kandidat der bürgerlichen Opposition zum Staatspräsidenten gewählt.
29
Georgi Parvanov (*1957), bulgarischer Politiker, seit 2002 Staatspräsident. Parvanov ist seit
1981 Mitglied der Bulgarischen Sozialistischen Partei. 1994 war er stellvertretender Vorsitzender,
1996-2002 Vorsitzender der BSP. Seit 1994 Abgeordneter, löste er nach den
Präsidentschaftswahlen 2001 Stojanov in dessen Amt ab.
81
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
an der Spitze einer rechten Regierung stand, als es galt, unpopuläre Maßnahmen zu
ergreifen, hatte er doch eine staatsmännische Denkweise und war sich der großen
Bedeutung des sozialen Dialogs und der Rolle der Gewerkschaften im Zuge der
Reformierung der Gesellschaft bewusst. In dieser Periode haben wir gemeinsam die
neuen Sozial- und Arbeitsgesetze Bulgariens geschaffen, und zwar im Sinne des
modernen europäischen Sozialmodells. Ernst Breit hat mir Mut gegeben, Emilio
Gabaglio 30 moralische Unterstützung.
Aber angesichts Ihrer Wertehaltung als Gewerkschafter – wenn man die jetzige
Situation im Lande betrachtet, gewinnt man doch das Gefühl, dass jeder vor allem an
sich denkt. Ist das ein Phänomen des Übergangs und hat vielleicht damit zu tun, dass
die früheren Beschränkungen der Freiheit im Kommunismus nun weggefallen sind, oder
ist es charakteristisch für die Bevölkerung auf dem Balkan?
Diese Feststellung trifft tatsächlich zu, und das macht mir große Sorgen. Ich halte den
Umstand für bedenklich, dass die alten Werte vernichtet wurden, ohne dass sich
zwischenzeitlich neue etabliert haben. Der Schock, den der Fall der Berliner Mauer für
Millionen bedeutete, führte zu einer Verwirrung der Werte, zur völligen Ablehnung alles
Alten und zu dem Versuch, sich von der Vergangenheit gänzlich abzunabeln. Bei einem
Großteil der Menschen verwandelten sich der einst propagierte Kollektivismus, die
behauptete Einheit individueller, kollektiver und öffentlicher Interessen und das durch
Bewusstsein oder durch konformistische Anpassung eingeübte kollektive Verhalten in ihr
Gegenteil, den Individualismus. Ich befürchte, dass der Individualismus in seinen
irrationellen Formen zunehmend im Wertesystem unserer Gesellschaft dominieren wird
und dass er auf die Familie übergreift, die für uns Bulgaren von alters her von großem
Wert ist, aber nun immer mehr zerrüttet wird. Für viele werden Rücksichtslosigkeit,
Egoismus oder Flegelhaftigkeit geradezu zu Tugenden. Aber eine solche Wertehaltung
ist von den europäischen Werten weit entfernt.
Allerdings glaube ich nicht, dass der Individualismus ein Charakteristikum der
Bevölkerung auf dem Balkan ist, das man dann als gegeben hinnehmen müsste. Er ist
vielmehr ein Ergebnis des Übergangs, bei dem die Lasten ungleichmäßig verteilt sind
und nun, nachdem sich der Staat von seinen paternalistischen Funktionen immer weiter
zurückzieht, jeder auf seine eigene Weise versucht, mit der Situation fertig zu werden,
auch wenn er dabei manchmal die Interessen anderer verletzt. Dieses Ausbleiben einer
wahren Solidarität steht in Konflikt mit den Grundlagen der Gewerkschaftsbewegung.
Wenn man diese Diagnose einer zunehmend egoistischen Gesellschaft erstellt, fragt
man sich doch, wie mit dieser Problematik umzugehen ist. Sehen Sie in diesem
Zusammenhang positive Werte und Wertvorstellungen aus der kommunistischen Zeit,
die beim derzeitigen Wandel von Gesellschaft und Wirtschaft hilfreich sein könnten,
auch gerade für Sie und Ihre gewerkschaftliche Arbeit?
30
Emilio Gabaglio (*1937), Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschafter, seit 1991 zum
Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes gewählt.
82
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Hier in Bulgarien scheint mir das nicht angebracht. Die Begriffe „Freiheit“, „Solidarität“
und „Gerechtigkeit“ besaßen auch bei den Entscheidungsträgern in den
kommunistischen Gesellschaften großes Ansehen, aber sie blieben hohle Phrasen,
trugen nichts zur Veränderung bei und wurden nicht zu Werten der Gesellschaft. Die
„Solidarität“ strahlte einen ideologischen Primitivismus aus, die „Gerechtigkeit“ bestand
in Belehrung und Gleichheit in Armut, und der Begriff „Freiheit“ ist niemals im Kontext
der Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen interpretiert worden.
Eine Neuentdeckung von Werten ist immer ein schwieriger Prozess, doch in den
Übergangsjahren nahm dies für große Gesellschaftsschichten dramatische und
schmerzhafte Züge an. Es ist schwierig, ein Fünftel der erwerbsfähigen Bevölkerung,
das jetzt arbeitslos ist, davon zu überzeugen, dass Vollbeschäftigung in der
Marktwirtschaft eine Chimäre ist. Wie kann man in den 35 bis 40 % der in Elend und
Armut lebenden Menschen den Glauben wecken, dass sie doch noch den richtigen
Ausweg finden können und die Öffentlichkeit mit ihrem Schicksal solidarisch ist, wenn
die Polarisierung zwischen Arm und Reich solch drastische Ausmaße annimmt? Diese
Menschen sind nicht frei, sie können sich der menschlichen Würde nicht erfreuen, weil
sie mit den täglichen Sorgen und Ängste um ihr und ihrer Familien Überleben belastet
sind. Sie sind auch nicht imstande, Verantwortung zu tragen, weil nur freie Menschen
verantwortungsvoll sein können.
Ich sage dies voller Schmerz, aber ohne eine Spur Sehnsucht nach der Vergangenheit.
Der historisch einzig mögliche Vergleich mit dem Kommunismus ist fürchterlich, denn
für viele war es damals kennzeichnend, gleichgültig und an die Unfreiheit gewöhnt zu
sein. Wenn wir uns heute unter den Bedingungen einer realen politischen Demokratie
mit der Unfreiheit abfänden, käme dies einem Selbstmord gleich.
In gewisser Hinsicht freilich bildeten die sagenhafte Ausdauer der Bulgaren und ihr
Glaube, dass auch ohne ihr entscheidendes Eingreifen alles in Ordnung gebracht werde,
ein günstiges Umfeld für den politischen Übergang, für das Vermeiden von Gewalt und
Blutergießen. Sie trieben mit ihm aber auch einen bösen Scherz – denn ein Großteil der
bulgarischen Gesellschaft hat es nicht vermocht, seine Wertvorstellungen zu
überdenken, und die Zivilgesellschaft ist unterentwickelt geblieben.
Bedeutet das, dass es aus der Zeit des Kommunismus nichts gibt, das sie heute
vermissen?
So pauschal kann man das nicht sagen. Ich denke, wir müssen unsere Vergangenheit
mit einer gewissen Vorsicht behandeln. Ich bin ein Gegner der beiden extremen
Herangehensweisen an unsere jüngere Geschichte, deren eine alles, was war, radikal
ablehnt, während die andere sich nach der Vergangenheit sehnt und sie ohne jegliche
Aufarbeitung akzeptiert. Unter den Bedingungen autoritärer Staatlichkeit gab es im
Kommunismus mehr Sicherheit für das Leben, es gab in gewisser Hinsicht Ordnung,
Staatlichkeit und Institutionalität. Ich kann nicht akzeptieren, dass heute das
Gesundheitssystem, das Bildungswesens oder die Sicherheit zu Waren werden, was für
die meisten Menschen in unserem Land „Luxuswaren“ bedeutet. Ich kann es nicht
akzeptieren, dass es in unserem Lande mittlerweile etablierte Arbeitsverhältnisse gibt
83
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
mit Einstellungen ohne Verträge und Sozialversicherungen, mit ausbleibender Bezahlung
der Löhne und Gehälter im Wert von Hunderten Millionen Leva, mit 15-16stündigem
Arbeitstag, ausbleibender Bezahlung der Überstunden, mit der massenhaften Verletzung
von Arbeits-, ja sogar von Menschenrechten, mit vorherrschenden Bedingungen eines
wilden Kapitalismus, unter denen Tausenden von Frauen in den Werkstätten
griechischer und türkischer Unternehmer arbeiten. So etwas hat es bislang nicht
gegeben, und dabei befinden wir uns doch heute im 21. Jahrhundert und wollen nach
Europa.
Mit Europa haben Sie ein wichtiges Stichwort gegeben. Ihr Land wird bald ein Mitglied
der EU sein, nachdem es einen vielschichtigen Prozess durchlaufen hat, um die
Aufnahmebedingungen zu erfüllen. Haben Sie das Gefühl, dass bei den
Beitrittsverhandlungen die alten EU-Mitglieder Beschlüsse gefordert haben, die in
Wahrheit für Ihr Land gar nicht geeignet sind?
Ja, das stimmt. Hier könnte man auf die geforderte Stilllegung des Atomkraftwerks
„Koslodui“ verweisen, liegen doch Expertenprognosen vor, die vor den negativen Folgen
für die Energiewirtschaft und den damit zusammenhängenden ungünstigen sozialen
Auswirkungen – steigende Strompreise, Rückgang der Beschäftigung und Abbau von
Arbeitsplätzen – warnten. Ein weiteres Beispiel ist die Annahme einer 7jährigen
Übergangsregelung für die Freizügigkeit der Menschen aus den Beitrittsländern.
Ein Teil der bevorstehenden Probleme resultiert aus der einseitigen Form der
Beitrittsverhandlungen. Im Grunde gibt es keine Verhandlungen, vielmehr werden den
Beitrittsländern gewisse Regeln vorgeschrieben und lediglich über die Modalitäten und
Fristen verhandelt. Dies könnte, insbesondere nach dem Beitritt, in einigen Sektoren
ungünstige Folgen haben. Die Erfahrungen aus früheren Beitritten zeigen, dass damals
die Verhandlungen sanfterer Natur waren.
Offen gesagt habe ich das Gefühl, dass es in der letzten Zeit an europäischer Solidarität
mangelt, vor allem seitens des „alten Europa“ gegenüber den neuen Beitrittsländern.
Dies ist besonders dann besorgniserregend, wenn wir in unserem neuen Europa mehr
als einen gemeinsamen Warenmarkt und als ein System der kollektiven Sicherheit sehen
wollen. Nach der Ablehnung der Europäischen Verfassung bei den Referenden in
einigen EU-Ländern stellt sich nun die Frage, welche Einstellung die EU-Bürger zum
Beitritt Bulgariens haben, in schärferer Form. Andererseits sind die Ängste der
Menschen dort um ihr Vermögen, ihre Arbeitsstelle und die soziale Sicherheit durchaus
verständlich.
Sie heben die unmittelbaren Schwierigkeiten des Beitrittprozesses für Ihr Land und
seine Gesellschaft hervor. Aber wenn man den Blick noch einmal auf die grundlegende
Ebene der Werte richtet, was hat dieser Prozess Bulgarien hier an Positivem oder
Negativem gebracht?
Bulgarien hat am 25. April den EU-Beitrittsvertrag unterzeichnet. Ohne Zweifel ist dies
eine historische Chance für unser Land – aber eine Chance, die ein hohes Maß an
Verantwortlichkeit und Engagement verlangt. Regierung, Wirtschaft und die
84
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
verschiedenen Arbeitssektoren stehen vor zahlreichen Herausforderungen. Die
Beitrittsverhandlungen und die Anstrengungen, die Bulgarien zur Erfüllung der
ökonomischen und sozialen Kriterien auf sich genommen hat, haben zweifelsohne dazu
beigetragen, das Land in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft umzugestalten.
Der Anschluss an die Werte des vereinten Europa – Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit –
wird freilich ein Prozess sein, der Zeit braucht. Dabei müssen wir uns die Möglichkeit
offen halten, die sozialen Rechte aller Bulgaren, zu denen sich unser Land durch die
Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta verpflichtet hat, wahrzunehmen. Wir, die
KNSB und ich persönlich als ihr Vorsitzender, wollen uns nach wie vor für den sozialen
Dialog, für die Arbeits-, Sozial- und Gewerkschaftsrechte, für die Gewährleistung
gerechter Arbeitsbedingungen und für eine würdige Lebensperspektive aller
bulgarischen Bürger einsetzen, denn andernfalls können wir kein Teil des vereinten
Europa sein.
Aber wie kann Ihr Land es schaffen, diese Grundhaltung und Werteorientierung in
seiner Gesellschaft zu etablieren, in der Demokratie und Marktwirtschaft erst seit
einigen Jahren einen Platz haben?
Meiner Ansicht nach reicht eine bloße Popularisierung nicht aus. Diese Werte müssen
konkret durch bestimmte institutionelle und administrative Mechanismen zur Geltung
und Anwendung gebracht werden. Die Demokratie als politische Ordnung ist
undenkbar, wenn ihr nicht eine angemessene Wirtschaftsordnung entspricht, würde
doch sonst die Freiheit als Wert an Inhalt verlieren, denn was heißt politische Freiheit
ohne wirtschaftliche Freiheit.
Bei der Frage um die menschliche Freiheit als solche geht es nicht um die Erklärungen
von Vorhaben und Absichten, sondern um die Gestaltung einer Politik, die dem
einzelnen Bürger die Erfüllung seiner wichtigsten wirtschaftlichen und sozialen
Bedürfnisse sichert. Wir setzen auf mehr Freiheit und soziale Gerechtigkeit, auf
wirtschaftliche Stabilisierung und mehr Sicherheit. Das lässt sich aber nur erreichen,
wenn wir uns selbst täglich für den Aufbau der Zivilgesellschaft einsetzen und die
Haltung eines aktiven Bürgers einnehmen. Wir können hier nicht mit Hilfe von außen
rechnen; niemand kann uns diese Arbeit abnehmen. Es muss klar sein, dass wir einen
europäischen Lebensstandard nicht umsonst erhalten werden, sondern dass wir ihn
durch Bürgerbewusstsein und unseren Einsatz selbst erreichen müssen. Der Beitritt in
die Europäische Union ist kein Wochenendausflug, die Umsetzung der
gesamteuropäischen Werte wird viel Anstrengung, Talent und Willenskraft abverlangen,
damit die Menschen der Balkanländer, zu denen auch wir Bulgaren gehören, ihren
Beitrag zum großen europäischen Projekt leisten können.
Aber um noch einmal auf Ihre konkrete Frage zurückzukommen: Ich bin nicht der
Ansicht, dass die Beitrittsverhandlungen irgendwelche negativen Werte für Bulgarien
mit sich gebracht haben. Wie bereits gesagt, sind unsere Probleme bei den
Wertvorstellungen mit dem Transitionsprozess in unserem Land verbunden.
85
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Betrachten wir doch die Sache aus der umgekehrten Perspektive, da sie ja schon von
dem Beitrag der Balkanländer zu Europa gesprochen haben: Welche Werte Bulgariens
werden sich Ihrer Meinung nach positiv auf die anderen EU-Mitglieder auswirken?
Das bulgarische Identitätsbewusstsein und seine Bedeutung für Europa stützt sich ohne
Zweifel auch auf die Vergangenheit des Landes. Der bulgarische Staat existiert schon
seit über 1300 Jahren, und bereits Ende des 9. Jahrhunderts hat Bulgarien zwei
bedeutungsvolle Schritten – die Bekehrung zum Christentum und die Übernahme des
slawischen Schrifttums – unternommen, die als seine ersten Integrationsschritte
anzusehen sind. Die Heiligsprechung der Schöpfer des bulgarischen Alphabets und ihre
Ernennung zu Schutzpatronen Europas ist etwas, das wir Europa geben könnten.
Bulgarien hat Europa und der Welt John Atanasoff, den Erfinder des Computers, sowie
viele hervorragende Sänger und Musikinterpreter gegeben. Die bulgarische Folklore und
das „Mysterium der bulgarischen Stimmen“ imponieren nach wie vor durch
Vollkommenheit und Einmaligkeit. Ein weiterer Beitrag unseres Landes wird ohne
Zweifel das Beispiel multiethnischer Toleranz sein, eine Toleranz, die es ermöglicht,
trotz Differenzen in kultureller Vielfalt zusammenzuleben und Geistesgröße zu
bewahren; ebenso das große intellektuelle Potential der Bulgaren und besonders der
Jugend. Zugleich bin ich mir bewusst, dass sich ohne geteilte Verantwortung, allein mit
einem individuellen und nationalen Selbstbewusstsein keine gemeinsamen europäischen
Werte aufbauen lassen.
Sie haben eben auf das große Potential der bulgarischen Jugend verwiesen. Dies
impliziert, dass diese Jugend am Transformations- und Integrationsprozess einen
wesentlichen Anteil nehmen sollte. Aber auf der anderen Seite haben die Parteien in
Südosteuropa beachtliche Schwierigkeiten, junge Menschen für eine politische
Betätigung zu gewinnen. Was muss hier geschehen, damit sich dies ändert?
Sie haben Recht, tatsächlich interessieren sich immer weniger junge Menschen für
Politik und politische Parteien. Ähnlich steht es auch um die Gewerkschaften. Wir
müssen alles tun, damit sie uns glauben und begreifen, dass sie nicht manipuliert und
für eigennützige Zwecke benutzt werden. Die Jugend darf sich nicht ausgenutzt
vorkommen. Vielmehr sollten wir ihr zu der Überzeugung verhelfen, dass sie die
Geschicke des Landes tatsächlich mitbestimmen und an den genannten Prozessen
teilnehmen kann. Die Politiker müssen von Lügen, Unwahrheiten, Populismus, billigen
Versprechungen und schönen Losungen Abstand nehmen. Die Jugendlichen brauchen
keine schmeichelnden Worte, sondern aktives Handeln, durch das ihr jetziges Leben,
und zwar hier in Bulgarien, besser wird, damit sie nicht aus Sorge um ihren Unterhalt
auswandern müssen.
Eine Erklärung für dieses Phänomen scheint mir der sich ausbreitende Individualismus
zu sein, von dem wir bereits sprachen. Der einzelne Bürger und insbesondere die
jungen Leute sind immer weniger bereit, sich als Teil einer politischen, beruflichen oder
sonstigen Gemeinschaft zu betrachten. Dies führt zum Rückzug von den politischen
Parteien und auch von den Gewerkschaften. Offensichtlich braucht die politische Klasse
in Bulgarien eine neue politische Kultur des Kompromisses und des Konsenses anstelle
86
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
des Hochmuts und der Aggression im politischen Leben, eine Zuwendung zu den realen
Problemen der Menschen und ein offenes Ohr für die Probleme der Jugend.
Der Beitritt Bulgariens in die EU steht im größeren Zusammenhang der Globalisierung,
mit der sich die Länder dieser Welt konfrontiert sehen. Spielen in diesem Zeitalter der
Globalisierung Ihres Erachtens Werte wie Solidarität, Freiheit und Demokratie noch eine
Rolle?
Im Grunde zielt Ihre Frage darauf, ob diese Werte im Zeitalter der Globalisierung nicht
eine Utopie sind. Die Globalisierung mit allen ihren ökonomischen Vorteilen hat zugleich
eine zutiefst gespaltete Welt entstehen lassen, und zwar nicht nur zwischen Habenden
und Habenichtsen, zwischen Reichen und Armen, sondern auch zwischen Zonen des
Friedens und Zonen der Konflikte. Sie schafft eine Welt und eine Lebensführung, die
immer unsicherer und vom Zufall abhängig sind, eine gnadenlose, jeglicher Solidarität
beraubte Welt, eine Welt mit ihrem eigenen Wertesystem, das freilich von sozialer
Gerechtigkeit weit entfernt ist.
Diese neuen Realitäten sind wahrhaftig eine gewaltige Herausforderung für Werte wie
Freiheit, Solidarität und Demokratie. Aber meiner Meinung nach wächst gerade deshalb
ihre Bedeutung, weil die neuen Möglichkeiten, welche die Globalisierung bietet,
durchaus auch für einen anhaltenden Zuwachs und die Verbesserung der
Lebensbedingungen der meisten Menschen genutzt werden könnten und müssten. Mehr
denn je brauchen wir eine globale Zusammenarbeit, um Alternativen insbesondere zu
Hunger, Armut, Krankheiten und Kriminalität zu ermitteln. Daher unterstützen wir auch
voll die Forderung der ILO und der internationalen Gewerkschaften nach einer
„Globalisierung mit humanem Gesicht“, nach einer Globalisierung in Richtung
Wachstum, soziale Gerechtigkeit und Stabilität. Und wir wollen weiterhin Druck auf die
Regierung ausüben, was die übernommenen Verpflichtungen im Zusammenhang mit
den Entwicklungszielen des neuen Jahrtausends 31 betrifft.
31
Damit dürften die infolge der von den Mitgliedsstaaten der UNO verabschiedeten
Millenniumserklärung im Jahr 2001 formulierten Millenniums-Entwicklungsziele gemeint sein.
87
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Mazedonien
Radmila Šekerinska, ehem. Stellvertretende Premierministerin der Republik
Makedonien
Radmila Šekerinska war zwischen dem 1. November 2002 und August 2006
Stellvertretende Premierministerin der Republik Mazedonien und in der Regierung mit
der Europäischen Integration und der Koordination ausländischer Hilfe betraut. Sie war
von 1995 bis 1999 Vorsitzende der Sozialdemokratischen Jugend Mazedoniens und bis
1999 Zweite Vorsitzende des Sozialdemokratischen Bundes Mazedoniens (SDMS). 19961998 Mitglied des Stadtrats von Skopje, saß sie von 1998 bis 2002 für den SDMS im
mazedonischen Parlament und nahm Funktionen in ihrer Fraktion wie auch in
verschiedenen parlamentarischen Ausschüssen wahr. Nach ihrem Studium der
Elektrotechnik hatte sie zunächst als Assistentin im Hochschulbereich gearbeitet; 2004
gewann sie den Preis des Weltwirtschaftsforums und wurde Mitglied der Young Global
Leaders. Das Gespräch fand am 12. Oktober 2005 in Skopje statt.
Politik kann definiert werden als die Einflussnahme auf die Ordnung und die Gestaltung
des Gemeinwesens aufgrund bestimmter Wertvorstellungen und ausgehend von einem
konkreten Menschenbild. Wie sind Ihre Wertvorstellungen und wie ist Ihr Menschenbild?
Sie
fragen
mich
nach
der
Motivation
als
Politikerin.
Nun,
in
Transformationsgesellschaften ist die Politik kein besonders geschätzter Beruf. Oft
haben europäische Kollegen mich gefragt, was mich dazu bewogen habe, diesen
undankbaren und schlecht angesehenen Beruf zu ergreifen. In meiner Antwort ging ich
oft von der These aus, dass unser persönliches Leben unsere ganz eigene Wahl ist. Die
Frage der Zukunft und der Entwicklung eines Landes ist hingegen eine Frage der
gemeinsamen Wahl. Ich habe mich in einer Zeit der Krise und der schwerwiegenden
Transformation unserer Gesellschaft entschieden, an diesem Prozess der Veränderung
mitzuwirken.
Schon in der Vergangenheit wollte ich mich nicht einfach mit dem Zustand, in dem wir
uns befanden, zufrieden geben. Mazedonien brauchte Veränderungen und braucht sie
immer noch. Über diese Frage herrscht Konsens. Dabei stellen sich jedoch zwei Fragen.
Die erste: Welche Veränderungen? Die zweite: Wer soll diese Veränderungen
unterstützen? Zu diesen beiden Fragen gibt es verschiedene Standpunkte. Meiner
Meinung nach ist eine besonders schlechte Erbschaft des Sozialismus und des
ehemaligen jugoslawischen Staatsverbandes unsere Passivität als Bürger.
Das sage ich, ohne eine hundertprozentige Kritikerin des Sozialismus zu sein. In diesen
50 Jahren hat Mazedonien sich stark verändert. Wir haben uns aus einem vorwiegend
landwirtschaftlich geprägten und nur ungenügend gebildeten Land zu einer Gesellschaft
entwickelt, in der Bildung ein bedeutende Rolle spielt. Aber vor allem in den letzten
20 Jahren des Sozialismus hat sich die Bevölkerung Mazedoniens wie vermutlich auch
die der anderen Teilrepubliken daran gewöhnt, dass jemand anderer für sie die
Entscheidungen trifft. Das ist zum einen sehr undemokratisch. Zum anderen, und das
ist meiner Meinung nach noch schlimmer, beschreibt es einen Zustand ausgeprägter
88
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Konformität: Ich entscheide nichts, also trage ich auch keine Verantwortung. Genau
hier, glaube ich, fand die tiefstgreifende der Reformen statt, die wir in den letzten
15 Jahren hatten – die Bereitschaft, persönlich und gemeinsam Verantwortung zu
übernehmen. Ich denke, die wichtigste Aufgabe, welche die Politiker in dieser Region
und in dieser Zeit haben, ist es, eine Perspektive zu definieren, an ihr zu arbeiten und
für die Unterstützung der entsprechenden Veränderungen in der Gesellschaft zu sorgen.
Verantwortliches Handeln ist für Sie offensichtlich einer der zentralen Kategorien im
heutigen politischen Leben Mazedoniens. Wertvorstellungen sind beispielsweise aber
auch Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität. Gibt es, neben dem bislang Gesagten,
Wertvorstellungen, die Ihnen besonders wichtig sind?
Wenn ich meine Antwort noch weiter ausgeführt hätte, hätte ich versucht, ein
Gleichgewicht zwischen dem Prinzip der individuellen Verantwortung und demjenigen
der Solidarität zu finden. Aber ich habe mich entschieden, Ihnen diese Antwort zu
geben, weil ich der Meinung bin, dass uns gerade das, was ich beschrieben habe, im
Moment am meisten fehlt. Für mich persönlich gehört zu den grundlegenden Werten
auch die Chancengleichheit, die nur durch das Solidaritätsprinzip möglich ist. Das Prinzip
der Chancengleichheit kann man bei uns in verschiedener Hinsicht betrachten. Bislang
war in der politischen Rhetorik die Fokussierung auf das Ethnische dominant, also
Chancengleichheit für die Angehörigen aller ethnischen Gruppen. Das ist für Mazedonien
sicherlich sehr wichtig. Es gibt keine stabile multiethnische Gesellschaft – die ohnehin
sehr schwierig ist – ohne Chancengleichheit. Aber das Prinzip beinhaltet noch mehr, es
muss auch auf die Geschlechter bezogen werden und sozial sein. Natürlich sind Freiheit
und Menschenrechte auch für mich grundlegend, aber wenn ich wählen könnte, würde
ich sagen, dass das Prinzip der Chancengleichheit für mich persönlich sehr wichtig ist.
Wenn man einen Vergleich zu früheren Zeiten zieht, sagen wir vor 20 oder 30 Jahren –
lässt sich hier ein Wandel der Wertvorstellungen in der Gesellschaft erkennen oder sind
diese im Wesentlichen gleich geblieben?
Das ist eine schwierige Frage. In der Politik analysieren wir Tag für Tag und vergessen
dabei, 20 oder 30 Jahre zurückzublicken. Aber da wir eine Gesellschaft in der
Übergangsphase sind, gibt es noch keine endgültige Antwort. Einige Bereiche der
Gesellschaft haben sich sehr schnell, andere haben sich überhaupt nicht verändert. So
war das Solidaritätsprinzip ein wesentliches Merkmal der mazedonischen Gesellschaft
und ist es auch geblieben. Dagegen sind die Prinzipien Freiheit, Menschenrechte und
Demokratie meiner Meinung nach erst jetzt akzeptiert worden. Wenn man die
mazedonische Gesellschaft und ihre Schwächen analysiert, so scheint sie mir die
typischen Schwächen der anderen europäischen Gesellschaften zu haben, nur sind diese
Probleme bei uns viel ausgeprägter.
Das Positive an der mazedonischen Gesellschaft ist – und ich meine damit nicht das
„ethnische Konzept“ – die große Offenheit, die gegenüber dem Anderen innerhalb der
eigenen Gesellschaft, aber auch darüber hinaus besteht. Insofern ist sie also nicht
xenophob, wenngleich zwischen den ethnischen Gruppen ein gewisses Maß an
89
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Misstrauen und Angst herrscht. Das lässt sich auf den Einfluss der Ereignisse um uns
herum und die zahlreichen Konflikte auf dem Balkan zurückführen. Aber alle Umfragen
in der mazedonischen, der albanischen und anderen kleineren ethnischen
Gemeinschaften zeigen, dass kein Interesse besteht, irgendwelche radikalen, extremen
oder militärischen Lösungen oder Konflikte zu unterstützen. Das ist eine gute
Grundlage, und in einem solchen Staat ist es wichtig, durch eine bessere
Kommunikation zwischen den ethnischen Gemeinschaften ein tieferes Vertrauen zu
schaffen.
Kommen wir doch zu Ihnen als Politikerin zurück. Wir haben schon einiges über Ihre
Motivation gehört. Aber wie gelangten Sie letztendlich in die Politik?
Das geschah tatsächlich ganz zufällig und ungeplant. Nicht mal mein Abschluss hat
etwas mit Politik zu tun. Ich bin Elektroingenieurin und habe als wissenschaftliche
Assistentin an der Fakultät für Elektrotechnik der Universität Skopje gearbeitet. Meine
beruflichen Pläne gingen deshalb auch eher in Richtung einer akademischen und
technischen Laufbahn. Als ich Mitglied der politischen Partei SDSM wurde, hatte ich
zunächst nur die Absicht, deren Politik zu unterstützen, war ich doch der Überzeugung,
dass man in solchen Umbruchszeiten Parteien beistehen müsse, die rationale und keine
radikalen Lösungen anbieten. Das war 1992, als ich die Aktivitäten einiger Abgeordneter
des SDSM unterstützt habe. Aber die Entwicklung ging dann dahin, dass ich mich
langsam immer intensiver mit Politik beschäftigte. Bis 2002 wollte ich nicht zugeben,
dass die Politik mein Beruf ist, aber nun kann ich das nicht mehr leugnen.
Gibt es für Sie, auch wenn sie nach Ihren Aussagen eher allmählich und unabsichtlich
die berufliche Laufbahn einer Politikerin einschlugen, Vorbilder oder Mentoren für ihr
eigenes politisches Engagement?
Wir sind ein kleines Land, und deshalb gibt es kein wirklich gut funktionierendes System
politischer Mentoren. Als ich 1992 in die Politik ging, war der SDSM keine Partei, die
viele Jugendliche anzog, da diesen Anfang der 90er Jahre eine härtere Rhetorik gefiel.
Uns wenigen, die wir Parteimitglieder wurden, widmete die Parteiführung viel
Aufmerksamkeit. Der jetzige Staatspräsident, der derzeitige Finanzminister und unser
Botschafter in Athen waren damals in der Parteiführung, und sie haben uns geholfen
und in die Politik eingeführt.
Würden Sie denn heute den jungen Menschen empfehlen, in die Politik zu gehen und
sich dort zu engagieren?
Denjenigen, die wirklich etwas tun möchten, empfehle ich es von ganzem Herzen. Viele
meiner Freunde, meiner Kollegen und der Menschen, die ich schätze, sagen mir, dass
sie nicht in die Politik gehen würden, weil es ein unehrlicher oder undankbarer Beruf sei
und weil Politik oft nur als Kampf um persönliche Interessen erscheine. Wenn aber
solche Leute, die dies stört und die einen solchen Zustand ändern möchten, nicht in die
Politik gehen, dann kann es nur bergab gehen. Ich provoziere dann gerne und sage: Es
ist natürlich am einfachsten, beiseite zu stehen, zu beobachten und zu kritisieren. Wer
90
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
meint, dass die politische Szene in Mazedonien frische Kräfte braucht, muss auch bereit
sein, darin zu investieren.
Die Politik ist ein Beruf, der dich 24 Stunden am Tag und 365 Tage pro Jahr in Anspruch
nimmt. In diesem Sinne ist er undankbar. Wenn ich im nächsten Geschäft Brot kaufen
gehe, bin ich immer noch Politikerin und muss aufpassen, wie ich mich verhalte, mit
wem ich spreche und was ich sage. Manchmal ist das schon belastend. Aber
andererseits kann man in der Politik innerhalb kurzer Zeit mehr Erfahrungen sammeln
als in einem anderen Beruf. In diesen 10 Jahren habe ich so viele Menschen getroffen,
so viele Erfahrungen gemacht, so vieles gehört und gesehen, wozu ich in einem
anderen Beruf vermutlich 30 Jahre gebraucht hätte.
Als Politikerin sind Sie für Ihre Effektivität und Effizienz besonders bekannt. Wenn Sie
an Tugenden denken, welche sollte ein guter Politiker unbedingt mit sich bringen?
Braucht es da nicht ein wenig Klugheit, Tapferkeit, Besonnenheit und
Gerechtigkeitsempfinden?
Es gibt drei wesentliche Eigenschaften, ohne die überhaupt nichts geht. Erstens braucht
man Entschlossenheit, zweitens muss man zuhören können, und drittens muss man bei
der eigenen Arbeit im weitesten Sinne des Wortes ehrlich sein. Es gibt viele ehrliche
Politiker, die zu keinen Ergebnissen kommen, weil sie keine Entscheidungen treffen. Es
gibt auch Politiker, die leicht Entscheidungen treffen, aber nicht auf die Meinungen der
anderen hören. Sie können dann zwar Teil eines Teams sein, es wird ihnen aber nicht
gelingen, in führende Positionen zu gelangen. Auch sehr wichtig ist, das habe ich noch
nicht erwähnt, dass ein Politiker seine Eitelkeit kontrollieren muss. Wir sind ständig in
den Medien präsent, und wenn wir bisweilen Fehler in der Politik machen und sie dann
nicht zugeben, sondern sie verheimlichen, um unsere Eitelkeit zu schützen, ist das ganz
schlecht. Man sollte schon zu Beginn sagen: Auch mir können Fehler unterlaufen, aber
ich werde versuchen, dass es so wenige wie möglich bleiben. Damit das dann aber auch
der Fall ist, muss man ein offenes Ohr für die Meinungen der anderen haben.
Wie wichtig ist für Sie – als Politikerin und als Mensch – Gerechtigkeit? Welchen
Stellenwert hat Sie bei Ihnen?
Für mich persönlich – und ich hoffe auch für viele andere Politiker und Bürger der
Republik Mazedonien – ist Gerechtigkeit ein Konzept, das uns von klein auf beigebracht
wurde, sowohl durch die Literatur, die wir gelesen, als auch die Filme, die wir gesehen
haben. Ihre Helden führten oft beispielhaft vor, dass die Gerechtigkeit ein Modell ist,
dass sich immer lohnt. Sie muss die Grundlage sein, auf der wir uns als Persönlichkeit
entwickeln. Sie ist nicht nur ein menschliches, sondern auch ein gesellschaftlich
rationales Konzept.
Ich möchte nun gerne auf die europäische Integration Mazedoniens zu sprechen
kommen. Denken Sie, dass Mazedonien für eine EU-Mitgliedschaft schon reif ist, oder
sind noch viele Schritte notwendig, um das Land an die EU heranzuführen?
91
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Um es ganz ehrlich und offen zu sagen: Im Moment hat Mazedonien nicht die Reife, um
ein Mitglied der EU zu werden. Mazedonien ist aber bereit für den Status eines EUBeitrittslandes. Ich möchte ihnen meinen Standpunkt mit Hilfe des Konzepts der
Gerechtigkeit, von dem wir gerade sprachen, erklären. Bei einem Teil der Bürger der
Republik Mazedonien gibt es eine gewisse Tendenz, an die europäische Gerechtigkeit zu
appellieren, damit dem Land ein Beitrittsstatus zugesprochen wird. In solchen
Situationen sagen wir, dass Mazedonien in den 15 Jahren seiner Selbstständigkeit stets
ein loyaler und treuer Partner der EU war. In jeder Krise, in der die EU eingriff, hat
Mazedonien ihr seine Hilfe angeboten und diese Zusage auch eingehalten. Wir stellten
unser Land den Militär- und Polizeimissionen der EU als Stützpunkt zur Verfügung und
nahmen Flüchtlinge aus mehreren unserer Nachbarstaaten auf.
Aber ich bin nicht der Meinung, dass dies unser einziges Argument ist, und ich glaube
auch nicht, dass es ausreicht. Natürlich fände ich es gerecht, wenn die EU auf den
mazedonischen Antrag positiv reagiert. Aber wir müssen die EU und die Mitgliedsstaaten
auch davon überzeugen, dass unser Beitritt sinnvoll ist. Mazedonien hat sich gewaltig
verändert und erfüllt nun den größten Teil der Kriterien für die EU-Mitgliedschaft. Es hat
eine recht stabile Wirtschaft, die aber noch nicht ausreichend wettbewerbsfähig ist. Das
war aber schon ein Problem vieler Aufnahmeländer – auch die früheren Berichte der
Kommission über die Beitrittsländer, die 2004 Mitgliedstaaten wurden, bemängelten
dies. Aber die Verhandlungen und die diesen Ländern gestellten Bedingungen haben zu
großen Veränderungen in ihnen geführt, und zum Zeitpunkt ihres Beitritts waren sie
dann bereit. Kurzum: wir sind für die neuen Bedingungen, für eine starke Kontrolle
durch die EU, aber auch für eine Entscheidung, die Mazedonien unterstützen wird.
Sehen Sie die EU angesichts der gescheiterten Referenden zur Verfassungsfrage in
Frankreich und den Niederlanden in einer Krise? Und wenn es so ist, glauben Sie dann,
dass dies Auswirkungen auf den Balkan haben wird?
Es ist offensichtlich, dass die EU sich derzeit einer Selbstprüfung unterzieht. Das zeigt
sich in mehreren Ländern ganz deutlich, und ich denke, dass bei solch komplexen
Strukturen, wie sie die EU hat, dies etwas ganz Natürliches ist. Betrachten wir die
letzten 50 Jahre des europäischen Kontinents, so könnten wir sie als eine Epoche
mehrerer kleinerer Revolutionen und einer gewaltigen, aber stillen Revolution
beschreiben. Diese Revolution hat den ganzen Kontinent transformiert, und sie hat auch
Probleme aufgeworfen.
Die EU versucht Antworten zu finden auf die Fragen, wie weit die Erweiterung gehen
und auf welchen Grundprinzipien und –werten sie beruhen soll: auf Effizienz, Macht
oder Solidarität, oder auf allen drei zusammen?
Weder teilen alle Mitgliedstaaten dieselbe Geschichte, noch haben sie die gleichen
Traditionen oder Gewohnheiten. Hier kamen Zweifel an die Oberfläche, die dann im
Ratifizierungsprozess behandelt werden mussten. Mir scheint, die beiden Referenden
haben auf den Erweiterungsprozess einen negativen Einfluss, war doch der Erfolg der
Osterweiterung das Ergebnis einer starken und selbstbewussten EU. Es war klar, dass
92
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Deutschland und Frankreich die Führung übernahmen, das Konzept definierten und
dann alles taten, damit es erfolgreich angewandt wurde.
Für diese Union wäre der Balkan nach der Klärung einiger Statusfragen unter dem
Gesichtspunkt der Erweiterung eine Kleinigkeit gewesen. Mazedonien hat insgesamt 2
Millionen Einwohner. Wenn es morgen Mitgliedstaat werden würde, bekäme niemand
irgendwelche negativen Effekte dieser Entscheidung zu spüren. Aber es handelt sich um
eine größere Entscheidung: Was passiert mit dem Balkan? Es gibt weder eine
strategische noch eine politische Rechtfertigung für die These, dass die EU ohne den
Balkan vollständig sein könnte. Der Preis eines nicht integrierten Balkans wäre viel
höher als der Preis seiner Integration. Deshalb ist die Entscheidung der EU,
Verhandlungsgespräche mit Kroatien zu beginnen, positiv zu bewerten, und wir hoffen,
dass es ein Zeichen dafür ist, dass der Prozess weitergeht.
93
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Teuta Arifi, stellv. Vorsitzende der Partei DUI und Parlamentarierin
Als Professorin für Multikulturelle Studien an der Universität Tetovo tätig, ist Dr. Teuta
Arifi zugleich die zweite Vorsitzende der Demokratischen Union für Integration, der
2002 gegründeten albanischen Partei in der Republik Mazedonien, und derzeit
Abgeordnete im Parlament. Sie ist eine der bekanntesten politischen Figuren der
mazedonischen Albaner, Vorsitzende des parlamentarischen Komitees für Internationale
Beziehungen und Mitglied der Delegation des mazedonischen Parlaments im Europarat.
Als Wissenschaftlerin wie auch als Politikerin widmet sie sich besonders dem Thema der
albanischen Minderheit in Mazedonien sowie der Frage nach der Gleichstellung der
Geschlechter. Das Gespräch fand am 13. Oktober 2005 in Skopje statt.
Frau Dr. Arifi, Sie sind als Wissenschaftlerin und als Politikerin aktiv. Wenn man Politik
als die Einflussnahme auf die Ordnung und die Gestaltung des Gemeinwesens aufgrund
bestimmter Wertvorstellungen und eines konkreten Menschenbildes definiert – welche
sind ihre Wertvorstellung und ihr Menschenbild?
Wichtig sind für mich Ehrlichkeit und Fleiß, dass man offen über anstehende Fragen
spricht, direkt ist und immer für die gleichen Rechte für alle kämpft. Das sind meine
persönlichen Werte, für die ich mich auch schon eingesetzt habe, bevor ich Politikerin
geworden bin.
Was mein Menschenbild betrifft, so sehe ich den wesentlichen Unterschied zwischen
dem Menschen und den anderen Lebewesen im menschlichen Gewissen. Das
Hauptmerkmal des Menschen ist sein Gewissen ist, dieser Punkt ist für mich das
Wichtigste.
Sie sind Abgeordnete der noch jungen Partei „Demokratische Union für Integration“, die
sich auf die albanische Bevölkerungsgruppe Mazedoniens stützt. Wie steht Ihre Partei
zu den sozialdemokratischen Werten – natürlich gibt es diese Werte auch bei anderen
politischen Parteien– Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität?
Im Programm unserer Partei haben wir vier Grundwerte festgeschrieben: Gleichheit,
Chancengleichheit, Solidarität und Freiheit. Wie Sie sehen, teilen wir die Werte, die Sie
genannt haben.
Glaube und Religion waren früher oft von großer Bedeutung für die Herausbildung der
Werte in einer Gesellschaft, und teils sind sie dies auch noch heute, wenngleich ihr
Gewicht in den westlichen Gesellschaften doch deutlich zurückgegangen ist. Wie groß
ist Ihrer Ansicht nach die Rolle von Glaube und Religion in der heutigen mazedonischen
Gesellschaft?
Prinzipiell ist die Religion ein wichtiger Teil jeder Gesellschaft. Als Teil des Lebens aller
Menschen hat sie sicherlich Einfluss darauf, welche Werte sich in einer Gesellschaft und
damit in den Beziehungen der Menschen untereinander herausbilden. Hier scheint mir
der Wert der Solidarität besonders wichtig. In unserem Parteiprogramm dagegen – und
dies bedeutet in den politischen Vorstellungen, die wir haben und die wir vermitteln
94
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
wollen – treten wir für das Konzept einer säkularen Gesellschaft und eines säkularen
Staates ein. Wir sind also für die Trennung von Staat und Glaube, da unserer Meinung
nach nur säkulare Gesellschaften sich als tolerante Gesellschaften gestalten lassen. Das
gilt insbesondere für multikonfessionelle Gesellschaften.
Wie bereits angedeutet, sind Sie Mitglied einer noch jungen, erst 2002 gegründeten
Partei. Wie sah Ihr Einstieg in die Politik aus?
Eigentlich bin ich Universitätsprofessorin und komme damit aus dem akademischen
Leben. Zwar habe ich auch schon früher politische Texte geschrieben, war aber nie
Mitglied einer politischen Organisation. In die Politik kam ich, als nach der
Unterzeichnung des Rahmenabkommens von Ohrid 2001 und damit der Beendigung des
Konflikts 32 klar wurde, dass die Menschen, die Teil der damaligen Guerilla waren, auch
am politischen Leben mitwirken mussten. Zum anderen war offensichtlich, dass der
politische Block der Albaner neuer politischer Kräfte bedurfte, die sich für die
vollständige Umsetzung des Abkommens von Ohrid und seiner Werte einsetzen würden.
Meiner Meinung nach sollten die Intellektuellen auch an den politischen Bewegungen
und dem politischen Leben mitwirken, da die Politik intellektuelle Werte und
Einstellungen braucht.
Gibt es Personen, die Sie als Vorbilder oder Mentoren in Ihrer politischen und
akademischen Laufbahn stark beeinflusst haben?
Im akademischen Leben war der von mir hochgeschätzte Professor Ferid Muhić mein
Mentor. Er betreute mich im Laufe meines akademischen Werdeganges vom Studium
bis hin zur Promotion. Muhić ist einer der berühmtesten Philosophen der Region und
war zur Zeit des Kommunismus für seine Standpunkte hinsichtlich der Toleranz und des
interethnischen Zusammenlebens bekannt. Deshalb war er für mich in meinem
persönlichen und politischen Werdegang, aber auch als Intellektuelle ein Vorbild.
Natürlich habe ich auch viele politische Ideen aus internationalen Texten übernommen,
ohne allerdings Vorbilder nennen zu können. Ich habe Werke von Henry Kissinger, von
dem ich viel lerne, und Winston Churchill gelesen, und ich tue das immer noch.
Uns geht es in unseren Gesprächen mit Politikern der Region um die Werte, die hinter
dem politischen Handeln stehen. Um hier noch einmal auf die schon genannten
sozialdemokratischen Ideale zurückzukommen – was verbinden Sie mit diesen? Ihre
Partei scheint mir ja eine deutliche sozialdemokratische Ausrichtung zu haben.
Persönlich bin ich sozialdemokratisch eingestellt und bestehe darauf, dass auch die
Partei eine solche Orientierung einschlägt. Zwar distanzieren wir uns in der Partei von
32
Das am 13. August 2001 unter Vermittlung von EU und den USA in Ohrid unterzeichnete
Abkommen zwischen Vertretern der albanischen und der slawischen Bevölkerung Mazedoniens
beendete den durch Aktionen extremistischer albanischer Freischärler im Nordwesten des Landes
entstandenen Konflikt. Die Demokratische Union für Integration (DUI) wurde Ende Mai 2002
gegründet und trat im November desselben Jahres in eine Koalitionsregierung mit dem
Sozialdemokratischen Bund für Mazedonien (SDSM) ein.
95
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
einer rein ideologischen Orientierung, da es zu früh scheint, sich auf eine bestimmte
Richtung festzulegen, aber ich halte die sozialdemokratische Idee für die richtige, und
wir sollten sie uns stärker zu Eigen machen. Für mich sind die Werte der
Sozialdemokratie – also die sozialen Rechte, der Aspekt der Behandlung der Ausländer,
der Anderen und der Frauen –progressive Werte, die wir fördern sollten. Als politische
Partei haben wir sehr viel im Bereich der ethnischen Rechte getan und tun dies immer
noch; die Diskussionen um die ethnische Orientierung scheint für uns also besonders
schwerwiegend zu sein. Aber ich bin überzeugt, dass eine politische Partei eine
ideologische Linie – sei es links, rechts oder in der Mitte – haben muss. Wir werden
auch innerhalb unserer Partei zunehmend mehr ideologische Diskussionen haben und
uns nicht auf den ethnischen Aspekt und die interethnischen Rechte beschränken
können.
Mit dem Aspekt der interethnischen Beziehungen und der Rechte ethnischer Gruppen
haben Sie eine zweifellos zentrale Frage der politischen Entwicklung Mazedoniens in den
letzten Jahren genannt. Was wird in dieser Hinsicht in Ihrer Partei diskutiert? Wie
stellen Sie sich das Zusammenleben der ethnischen Gemeinschaften vor?
Für unseren politischen Auftrag war es eine große Herausforderung, einen gesetzlichen
Rahmen zu schaffen, der, ausgehend vom Abkommen von Ohrid, die ethnischen
Beziehungen und die ethnischen Rechte in Mazedonien umfassend und abschließend
regelt. Die hauptsächlichen Fragen drehten sich in dieser Zeit um die Hochschulbildung
in albanischer Sprache und die Universität Tetovo; um die Dezentralisierung, die zwar
eine politische Frage ist, aber eine ethnische Dimension hatte; um die Verwendung der
Sprache, etwa der albanischen Sprache im Reisepass und in anderen Unterlagen; um
die Frage der ethnischen Fahnen, die auch eine ethnische Frage ist. All dies war für
unser politisches Mandat von hoher Priorität. Das wird sich aber in Zukunft ändern, weil
wir diese Fragen langsam abgeschlossen und sie mit positiven Rechtsnormen geregelt
haben.
Wenn Sie mich nach unseren Vorstellungen über das Zusammenleben der ethnischen
Gruppen in Mazedonien fragen – natürlich setzen wir uns für ein Mazedonien ein, in
dem alle ethnischen Gemeinschaften integriert sind. Wir machen uns aber auch für die
Gleichbehandlung und die gleichen Rechte und Chancen für alle stark, also für das
Prinzip der Nichtdiskriminierung, das die Gestaltung einer integrierten Gesellschaft
überhaupt erst ermöglicht.
Sehen Sie sich in Ihrer Partei bei der Durchsetzung dieser Rechte als ausschließliche
oder doch hauptsächliche Interessenvertretung der eigenen Minderheit oder ethnischen
Gemeinschaft, also der Albaner, oder verstehen Sie sich als Vorkämpferin für die Rechte
aller ethnischen Gemeinschaften, die in Mazedonien leben?
Wir sind der Ansicht, dass wir, indem wir uns für unsere eigenen Rechte einsetzen, dies
auch für die Rechte der anderen tun. In unserem politischen Programm steht, dass wir
auch mit den anderen ethnischen Gemeinschaften in Mazedonien Partnerschaften
bilden. Das Rahmenabkommen von Ohrid bietet Möglichkeiten und gleiche Chancen für
96
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
alle ethnischen Gemeinschaften. Wenn wir uns beispielsweise für gleiche und faire
Beschäftigungsmöglichkeiten der ethnischen Gemeinschaften im öffentlichen Bereich,
etwa bei der Polizei, einsetzen, erfolgt diese Beschäftigung proportional zum
Prozentsatz der jeweiligen ethnischen Gruppe an der Bevölkerung. Das wären für die
Albaner 25 Prozent, für die anderen ethnischen Gemeinschaften entsprechend ihrem
Anteil an der Gesamtbevölkerung. Wenn man sich also für Minderheitenrechte einsetzt,
kann man dies nicht nur für die eigene Volksgruppe tun, sondern teilt diese Werte mit
den anderen. Unser Ansatz ist es, dass diese Werte und Rechte für alle gelten müssen.
Obwohl es das Rahmenabkommen von Ohrid nicht vorsah, haben wir auch unterstützt,
dass die persönlichen Daten auf der zweiten Seite des Reisepasses in der Muttersprache
des Inhabers eingetragen werden. Aber nur, wenn dieser es wünscht.
Vielleicht haben manche Bedenken, dass damit ihre ethnische Angehörigkeit gleich zu
erkennen ist und ihnen ein Stempel aufgedrückt wird: Du gehörst zu dieser oder jener
Gruppe.
Das kann sein, aber ich denke, dass die Menschen die Möglichkeit haben sollen, die
Daten in ihrem Pass in der eigenen Sprache eintragen zu lassen – und zwar als ein
Recht, das sie in Anspruch nehmen können. Darüber, dass die Daten auf der ersten
Seite des Passes auch in albanischer Sprache stehen können, gehen die Meinungen
auseinander. Manche befürchten, dass dies zu Diskriminierungen führen kann. Darauf
möchte ich antworten, dass die ethnische Zugehörigkeit wie ein Kreuz ist, das man
tragen muß und das manchmal durchaus schwer sein kann. Aber man kann auch stolz
darauf sein und für tolerante Beziehungen in der Gesellschaft einstehen. Die anderen
werden sich in zwei Jahren daran gewöhnen, dass es Menschen mit Pässen und Daten
in einer anderen Sprache gibt. Das ist nicht so schlimm und auch nicht das Ende der
Welt.
Nachdem wir uns über einige grundlegende innermazedonische Fragen unterhalten
haben, möchte ich nun auf die Europäische Union zu sprechen kommen. Glauben Sie,
dass Ihr Land für eine Mitgliedschaft in der EU schon reif ist?
Mein Land ist sicherlich nicht reif genug, um 2006 Vollmitglied der EU zu werden. Es ist
aber reif genug, um Anfang 2006 Beitrittsland zu werden.
Was verbinden Sie mit dem Kandidatenstatus? Warum ist das so wichtig für Sie?
Wir werden bei den Reformen ein schnelleres, zügigeres Tempo haben. Wir werden
mehr und stärkere Partnerschaften haben. Als Beitrittsland bekommen wir Zugang zu
Fonds für die Unterstützung der inneren Reformen, was für unsere Bürger ein wichtiges
Signal wäre. Die Bürger Mazedoniens haben eine lange Zeit der Unruhe, aber auch eine
der Stabilisierung des Landes nach dem Konflikt hinter sich. Ungeachtet dessen, dass
uns noch viele Jahre schwieriger Arbeit bevorstehen, ist unser Ziel klar: die EUMitgliedschaft, und aus den genannten Gründen ist sie sehr wichtig für uns. Darüber
hinaus hätte sie für die Region eine große Bedeutung, würde sie doch signalisieren,
dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben und dass es sich lohnt, sich für
97
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Stabilität und Frieden, für eine multiethnische Gesellschaft und entsprechend für die
Umsetzung des Rahmenabkommens von Ohrid als einen klaren Weg Mazedoniens in die
EU einzusetzen.
Politische Beobachter in Ihrem Land sprechen von einem ziemlich fragilen Staat. Sehen
Sie das ebenso, dass der derzeitige Zustand noch sehr zerbrechlich ist? Besteht
möglicherweise die Gefahr, dass ethnische Spannungen wieder aufflammen könnten?
Ich bin nicht der Auffassung, dass unser Staat oder unsere Gesellschaft besonders fragil
sind, schließlich haben wir es geschafft, die schwierigsten Zeiten zu überwinden. Wenn
wir jedoch eine negative Antwort bekommen, wenn der Eindruck entsteht, dass es im
Prozess unserer NATO- und EU-Mitgliedschaft keine Fortschritte gibt und unsere
Interessen nicht anerkannt werden – dann, so befürchte ich, wird dies ein falsches
Signal aussenden. Denn es würde bedeuten, dass wir uns umsonst für das
Funktionieren einer multiethnischen Gesellschaft eingesetzt haben.
Die politische Klasse in Deutschland ist der Ansicht, dass viele der Probleme auf dem
Balkan durch eine mittelfristige EU-Integration endgültig gelöst werden können. Teilen
Sie diese im Grunde ja recht optimistischen Erwartungen?
Ja, durchaus. Es ist sehr wichtig, dem Balkan eine europäische Perspektive zu geben,
denn die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft ist die Antwort auf alle ethnischen
Probleme und all die negativen Projektionen, die ethnische und territoriale
Lösungsansätze vorschlagen. Für die Balkanländer gibt es keine andere Perspektive als
die europäische. Freilich müssen wir unsere Arbeit und unsere Aufgaben hier erledigen,
aber ebenso erwarten wir von den Institutionen in Brüssel eine gerechte und positive
Antwort. Die Region und gerade Mazedonien nach dem Abkommen von Ohrid ist ein
Standort, in den die Internationale Staatengemeinschaft sehr viel investiert hat, was
den Frieden und die Gestaltung einer neuen Gesellschaft betrifft – ob es sich nun um
finanzielle Mittel, um Soldaten, den Prozess der Entwaffnung oder die Bildung neuer
Werte handelt. All das sind faktisch Direktinvestitionen der Internationalen
Staatengemeinschaft, insbesondere der EU, und deshalb gehen wir davon aus, dass sie
ihre Investitionen auch schützen wird.
Wenn wir nun nicht allein die Präsenz von Soldaten oder Europol betrachten, sondern
auch die von Nichtregierungsorganisationen, die Veränderungen der NGOs hier im
Lande auf Druck der EU oder die Förderung durch die EU – welchen Einfluss hat die
Internationale Gemeinschaft auf die Veränderungen der mazedonischen Gesellschaft der
letzten 15 Jahre gehabt? Hat sich dadurch auch das Wertesystem verändert?
Die Präsenz der Internationalen Gemeinschaft gehört meiner Ansicht nach mit zum
Besten, was Mazedonien passieren konnte. Eine gewisse internationale Präsenz hatten
wir bereits nach der Selbstständigkeit des Staates, aber ich denke, dass der
Interventionismus im Sinne Woodrow Wilsons für Mazedonien sehr wichtig war, weil er
uns direkt vor einem Bürgerkrieg verschonte. Dass die Internationale
Staatengemeinschaft in unseren Konflikt im Gegensatz zu anderen Konflikten in der
Region umgehend intervenierte, trug wesentlich dazu bei, dass wir unsere Gesellschaft
98
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
nach dem Konflikt stabilisieren konnten. Deshalb schätze ich die Rolle der
internationalen Staatengemeinschaft äußerst positiv ein, und ihre Präsenz habe ich nie
als eine Art Druck verstanden. Ganz im Gegenteil – es war der Wunsch, uns zu helfen,
damit wir so schnell wie möglich Mitglied des Clubs der Länder werden, die diese Werte
teilen: die Demokratie, die Menschenrechte, gleiche Rechte für alle trotz der
Verschiedenheiten, die Entwicklung der Toleranz. Natürlich müssen dazu diese Werte
auch Teil unseres umfassenden und politischen Systems sein, und ich denke, dass dies
allen einleuchtet.
Aber ist das bei der Gesellschaft, bei der normalen Bevölkerung auch so angekommen?
Hat sich aufgrund dieses Einflusses das Denken in der Bevölkerung in den letzten 15
Jahren tatsächlich verändert?
Sehen wir uns doch die neuesten Umfragen an. Über 80 Prozent der Bürger sprechen
sich für eine EU-Mitgliedschaft aus, wollen also die europäischen Werte sowohl aus
politischen als auch selbstverständlich aus wirtschaftlichen Gründen teilen. Dabei lässt
sich ein positiver Wandel feststellen, wenn wir die Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft
betrachten. Unmittelbar nach dem Konflikt war sie bei der albanischen Bevölkerung mit
80 Prozent sehr hoch, dagegen bei der mazedonischen sehr niedrig, was auf die
unterschiedliche Wahrnehmung des Konflikts und der internationalen Intervention
zurückzuführen ist. In den jüngsten Umfragen dagegen sind 70 Prozent beider
Bevölkerungsgruppen für eine NATO-Mitgliedschaft Mazedoniens. Wahrscheinlich haben
wir lange Zeit gebraucht, um diese Werte zu akzeptieren. Die Bürger haben eine
positive Meinung über die Internationale Staatengemeinschaft, aber sie haben natürlich
nicht täglichen Kontakt mit ihren Vertretern, so wie wir. Sie haben jedoch die positiven
Wirkungen der zahlreichen internationalen Projekte zu spüren bekommen, und das wird
sicherlich auch in Zukunft so sein, wenn es mehr internationale und ausländische Investitionen geben wird.
Frau Arifi, Sie sind zu einer Zeit ins politische Leben getreten, als dies aufgrund der
Konflikte in der mazedonischen Gesellschaft kein einfaches Terrain war. Was zeichnet
Ihrer Auffassung nach einen guten Politiker aus? Welche Eigenschaften sollte er oder
sie haben?
Das ist eine recht philosophische Frage, die etwas Nachdenken erfordert. Zunächst
sollte ein guter Politiker seinen Beruf ernst nehmen und nicht als eine Möglichkeit
ansehen, sich in kurzer Zeit persönlich zu profilieren oder aus den Tiefen der
Anonymität in die große Öffentlichkeit aufzusteigen. Ein guter Politiker ist jemand, der
die Politik als die Kunst des Möglichen versteht und versucht, mit demokratischen
Instrumenten das Bestmögliche für seine Wähler und die Bürger seines Staates
durchzusetzen. Ein guter Politiker ist jemand, der sich für die Rechte aller Menschen
einsetzt, auch für die Rechte derer, die anders sind als er. In seinem Mandat versucht
er etwas zu machen, was vor ihm niemand getan hat – er muss ein bisschen
revolutionärer sein als die anderen, auch wenn das für ihn in seiner Partei nicht sehr
angenehm ist. Aber dafür lohnt es sich, Politiker zu sein. Ein guter Politiker kann die
anderen davon überzeugen, dass seine Politik die beste ist – auch in der Praxis. Er steht
99
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
den politischen Gegnern direkt gegenüber, ist stark und überzeugt mit Argumenten. In
seiner Partei ist er ein kritischer Geist und nimmt gegenüber der Arbeit seiner
Parteigenossen eine kritische Haltung ein. Schließlich sollte ein guter Politiker
Kompromisse machen können, damit die beste Lösung erreicht wird. Aber er darf nie
bei seiner Persönlichkeit und seinen menschlichen Werten Kompromisse eingehen.
100
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Mirjana Borota-Popovska, St.-Cyril-Methodius-Universität
Dr. Mirjana Borota-Popovska leitet am Institut für soziologische, politische und
rechtliche Studien der St.-Cyril-Methodius-Universität in Skopje das Zentrum für
Entwicklung der menschlichen Ressourcen. Neben der Organisation und Teilnahme an
zahlreichen Forschungsprojekten und weiterer Hochschultätigkeit führte sie auch
Trainingsprogramme für Management in den Bereichen der freien Wirtschaft, der
öffentlichen Verwaltung und in Nichtregierungsorganisationen durch. Das Gespräch fand
am 12. Oktober in Skopje statt.
Frau Dr. Borota-Popovska, Sie sind Leiterin des Zentrums für die Entwicklung des
Managements und der menschlichen Ressourcen. Können Sie uns schildern, was die
Schwerpunkte Ihrer Untersuchungen sind?
Am Institut für soziologische, politische und juristische Forschung beschäftige ich mich
mit der Untersuchung der Managerpraxis und der damit verbundenen Werte. Die letzte
Untersuchung befasste sich anhand eines repräsentativen Beispiels damit, welche
Einstellung Beschäftigte zu ihrer Arbeit haben. So wurde etwa untersucht, wie die
Arbeitsplätze und das Arbeitssystem gestaltet sind. Ergebnisse der Studie, die sich
vergleichen lassen, beziehen sich etwa auf Macht und Einfluss, die Arbeitswerte, die
Leistungen, Frauen als Beschäftigte und Managerinnen und die Kommunikation
innerhalb des Betriebes.
Eine andere und neuere Untersuchung widmet sich der Dezentralisierung als einem sehr
aktuellen und wichtigen Prozess. Konkret wurde untersucht, was die Bürger von der Dezentralisierung halten und ob sie glauben, dass die Leistungen in der Gemeinde sich
verbessern werden. Der Dezentralisierungsprozess begann offiziell am 1. Juli 2005 mit
der Übertragung von Gebäuden, Grundstücken und ähnlichen Dingen. Zwar wurde das
Gesetz über die Dezentralisierung bereits 2001 verabschiedet, das Gesetz über die
Finanzierung der Gemeinden jedoch erst später. Deshalb bezog sich eine ganze Reihe
der Fragen auf die Einschätzung der Bürger, ob es bisher schon gewisse
Veränderungen, Verbesserungen der Dienstleistungen und eine Annäherung der
Gemeindeverwaltungen an die Bürger gegeben hat und ob die Menschen eine positiv
Meinung darüber haben. Im Ergebnis zeigte sich, dass es keine Unterschiede
hinsichtlich der Beurteilung der einzelnen Zuständigkeiten gab. Vielmehr haben die
Bürger immer die gleiche Meinung über alle Zuständigkeiten der Gemeinde und
wünschen, dass alle Dienstleistungen besser werden.
Wenn ich vielleicht direkt hierzu eine Frage stellen darf? Wie weit steht Ihrer Ansicht
nach dieses Ergebnis mit einer Haltung in der Gesellschaft in Verbindung, vom Staat
weiterhin ein sehr großes Maß an Leistungen zu erwarten? Da scheint es doch eine sehr
passive Haltung in der Bevölkerung zu geben, die vor allem auf das Handeln des
Staates setzt, ohne selbst aktiv zu werden, und die, was die Untersuchung zeigt, sehr
viel mehr Dienstleistungen erwartet. Heißt das nun mindestens so viel öffentliche
Leistungen wie im Kommunismus vor 15 Jahren, oder haben wir heute doch eine
andere Haltung?
101
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Wir haben keine Haltung, die nur darauf abzielt, öffentliche Leistungen in Anspruch zu
nehmen. Ich bin der Auffassung, dass die Bürger sich dessen bewusst sind, was
kommunale Selbstverwaltung bedeutet. Das kann man anhand der Antworten zu einem
weiteren Komplex der genannten Studie aufzeigen. Es wurde gefragt, ob die Bürger
bereit seien, bei Entscheidungen und ihrer Implementierung mitzuwirken. Dabei wurden
die Fragen bewusst nach einer Mitwirkung auf rein ehrenamtlicher Basis gestellt. Es war
also klar, dass nicht einmal die entstandenen Kosten erstattet würden. Interessant sind
die Ergebnisse, weil ganze 40 % bereit waren, ehrenamtlich mitzuwirken.
Wir versuchten dann, diese Antworten mit den sozialen Strukturen in Verbindung zu
setzen, um zu sehen, welche Bürger bereit sind, an diesen Prozessen mitzuwirken.
Teilweise ist es bei uns zu einer Verzerrung der Ziele gekommen, indem manche
Bürgermeister, die gewisse Aktivitäten einleiteten, die Partizipation der Bürger mehr als
eine Möglichkeit verstanden, politisch Punkte zu sammeln oder bestimmte soziale
Probleme kurzfristig aus der Welt zu schaffen. Früher wurden Sozialhilfebezieher für
Reinigungsarbeiten und andere Aktivitäten in der Stadt eingesetzt, wofür sie eine
Vergütung erhielten. Der Grundgedanke ist jedoch, dass die Gemeinde, wenn sie die
Partizipation der Bürger erhöhen will, das intellektuelle Kapital aktivieren muss.
Aus diesem Grund waren unsere Ergebnisse bei derjenigen Gruppe besonders
interessant, die über ein intellektuelles Kapital verfügt: das sind Arbeitslose mit
Hochschulabschluss, Studenten, Beschäftigte im öffentlichen Sektor und andere
Beschäftigte mit Hochschulabschluss in der Wirtschaft. Die Ergebnisse zeigen, dass sie
alle bereit sind, an der Arbeit der Kommune mitzuwirken. Die Arbeitslosen und die
Studenten erklärten sich sogar bereit, so viel Zeit wie erforderlich einzubringen. Aber
auch die Beschäftigten im öffentlichen Sektor und die in der freien Wirtschaft sagten,
dass sie bereit seien, sich in der Kommune zu engagieren und bis zu einer Woche ihrer
Freizeit dafür zu opfern.
Diese Zahlen sind vielleicht ein Beleg dafür, dass das Verantwortungsbewusstsein der
Bürger gestiegen ist und sie nicht mehr erwarten, dass ein anderer alles für sie macht,
sondern dass sie bereit und willig sind, sich zu engagieren. Ich befürchte, dass
demgegenüber bei den Institutionen selbst das Wissen und die Bereitschaft, die
Menschen zur Mitwirkung zu motivieren, geringer sind. So haben wir die Bürger auch
gefragt, ob sie denn über die Übertragung der Zuständigkeiten an die Gemeinden
informiert worden seien. Aber Informationen erhielten sie vielleicht durch das
Fernsehen und einen Teil der Zeitungen, kaum jedoch von ihren Kommunen oder vom
Ministerium für die kommunale Selbstverwaltung. Leider muss ich daraus schließen,
dass die Institutionen nur wenig bereit sind, die Bürger zu aktivieren.
Das sind interessante Ergebnisse. Bedeutet dies nun, dass die Bevölkerung Mazedoniens in den letzten 15 Jahren der Transition auf der Ebene der Werte und Einstellungen selbst einen Transformationsprozess durchlaufen hat und nun bereit ist, mehr Verantwortung zu übernehmen, als das im Kommunismus noch üblich war? Bedeutet dies,
dass die Bevölkerung in einem neuen Mazedonien der Demokratie, der zivilgesellschaftlichen Aktivität angekommen ist?
102
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Ja, ich denke, dass das der Fall ist. Aber dieses Engagement und diese Teilnahme
sollten Gegenstand einer gut koordinierten und durchdachten Aktion sein. Ich weise
noch einmal auf die Untersuchung hin. So habe ich etwa erwartet, dass die
Nichtregierungsorganisationen am besten über diese Prozesse informieren würden, da
viele NGOs zu diesem Zeitpunkt gegründet worden sind. Aber entgegen meinen Erwartungen haben die NGOs am wenigsten informiert. Ich vermute, dass die NGOs sich eher
an potentiellen Gebern und weniger an der Umsetzung wirklicher Aktivitäten orientieren.
Das klingt nach einer engen Anbindung der NGOs an die Wirtschaft, nach einer regelrechten NGO-Industrie!
In diese Richtung geht es. Das kann man kritisieren, aber viele NGOs haben keine
ständigen Finanzierungsquellen oder Kontakte zu staatlichen Behörden, für die sie bestimmte Aktivitäten durchführen oder kontrollieren würden. Möglicherweise findet das
Verhalten mancher NGOs hier seine Gründe und kann insofern gerechtfertigt werden.
Persönlich bin ich der Auffassung, dass dieser Sektor nicht differenziert genug ist. Aber
alles braucht seine Zeit und einen Zuwachs an Erfahrung.
Wir sprachen nun von den Werten und Einstellungen der Bevölkerung Mazedoniens und
konnten hierbei durchaus Positives feststellen. Gibt es Ihrer Auffassung nach in diesem
Bereich Unterschiede zwischen den verschiedenen Ethnien in Mazedonien?
Ich vermute, dass es hier durchaus Unterschiede gibt. Die Grundwerte der beiden
großen Bevölkerungsgruppen Mazedoniens, der Mazedonier und der Albaner, ihre religiösen Überzeugungen und die inneren Werte der jeweiligen ethnischen Gruppe
unterscheiden sich mit Sicherheit. In meinen Untersuchungen berücksichtigte ich auch
die ethnische Zugehörigkeit. Nun richteten sich unsere Fragen ja auf die Wünsche der
Bürger nach Verbesserungen für ihre Zukunft, nach Veränderungen und einer
Mitwirkung an der Arbeit in der Kommune. Aber hier gab es bei der ethnischen
Zugehörigkeit interessanterweise keinen Unterschied, entscheidend war vielmehr, ob
der oder die Befragte Student, Arbeiter oder Beschäftigter im öffentlichen Sektor oder in
der freien Wirtschaft war. Mich überraschte, dass die Hausfrauen in Mazedonien am
wenigsten an der Arbeit der Gemeinde teilnehmen wollen und hier den geringsten
Prozentsatz der Befragten aufweisen, manchmal noch niedriger als der bei den
Rentnern. Aber zwischen den ethnischen Gruppen lässt sich hier kein Unterschied
ausmachen.
Vorhin haben Sie von unterschiedlichen Grundeinstellungen und Grundwerten der
ethnischen Albaner und der Mazedonier gesprochen. Wenn diese Unterschiede nicht in
der Einstellung gegenüber einem Engagement in der Gemeinde liegen, wo lassen sie
sich dann festmachen? Gibt es sie überhaupt?
Hierzu kann ich auf Untersuchungen verweisen, die in der letzten Zeit in Mazedonien
stattfanden. So wurde beispielsweise an unserem Institut die Meinung der Albaner und
der Mazedonier über die politischen Parteien, die Politik allgemein und die politische
103
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Kultur untersucht. Das Soros Institute Open Society hat zuletzt eine zum Thema Multikulturalismus in Mazedonien veröffentlicht.
Aber kommen wir noch einmal zu der vorigen Frage zurück, ob die Bürger erwarten,
dass nur die Institutionen handeln sollen. Unsere Untersuchungsergebnisse scheinen
darauf hinzuweisen, dass dies nicht mehr so ohne weiteres der Fall ist. Nun lässt sich
dies mit einer anderen Untersuchung in Verbindung bringen, die deutlich macht, dass
die Institutionen, in denen noch ein altes Verwaltungssystem dominiert, selbst aktiver
werden müssen. Damit sind auch Wirtschaftsbetriebe gemeint, die sich in ihrem Aufbau
nicht von der Verwaltung einer öffentlichen Behörde, eines Ministeriums oder einer
Kommune unterscheiden. Die Struktur und der innere Aufbau der Betriebe entsprechen
nicht den Anforderungen der Arbeit und der Situation draußen in der modernen Welt.
Und die Arbeiter in den Betrieben schätzen den Wert ihrer Arbeit und ihre Leistung
höher ein als in anderen Ländern – aus verschiedenen, teils auch psychologischen
Gründen, aus Überlastung oder auch aus Angst vor der eigenen Ersetzbarkeit. All das
zeugt von der enormen Trägheit unserer Institutionen, sowohl der öffentlichen
Behörden als auch derjenigen der freien Wirtschaft. Es ist sehr schwierig, Innovationen
aus dem Bereich des Managements einzubringen.
Wenn man die Zahlen aus Korea, Japan und den USA mit denen aus Mazedonien
vergleicht, so spricht vieles dafür, dass die Leute im Grunde mental nicht konkurrenzfähig oder konkurrenzwillig sind.
Ja, das kann sein, aber man darf nicht die institutionelle Ebene übersehen. Auch wenn
die Menschen etwas ändern wollen, ist immer eine institutionelle Unterstützung erforderlich. Das ist ein zentraler Aspekt des Managements. Im früheren Jugoslawien
wurden Abteilungen für das Personalmanagement entwickelt, die rein administrative
Funktionen ausübten und nur Urlaubs- und Krankentage registrierten. Es gab aber auch
eine andere Entwicklung, insbesondere in Slowenien und Kroatien, und unsere Experten
wussten das. Man hat versucht, die Erkenntnisse aus der Praxis in den USA in die
Abteilungen für das Personalmanagement einfließen zu lassen.
Leider sind wir in den letzten 15 Jahren Zeugen der umgekehrten Entwicklung
geworden hin zu Abteilungen, welche die Beschäftigten nur registrieren. Dabei ist der
Aspekt der positiven, der aktivierenden Praxis verloren gegangen. Meiner Auffassung
nach hat das Personalmanagement immer dann große Vorteile, wenn man strategische
Veränderungen umsetzen möchte, und zwar unabhängig davon, ob das im Staat, in der
kommunalen Selbstverwaltung oder im Geschäftsleben ist. Eine Ebene der Veränderung
ist die individuelle, eine zweite Ebene ist die Organisation und die dritte ist die
Umgebung. Meiner Meinung nach haben wir derzeit ein Defizit auf der
Organisationsebene. Es fehlt eine institutionelle Grundlage.
Ich wage die These zu formulieren, dass die politische Transformation in Mazedonien
ziemlich rapide vor sich gegangen ist, aber die mentale Transformation noch weit
hinterherhinkt. Stimmen Sie dieser These zu?
104
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Ich möchte noch einmal betonen, dass jede Transition und jeder neue Wert zuerst
institutionalisiert werden müssen, und zwar als rechtliche oder als moralische Norm. Mir
scheint, dass wir in beiden Bereichen Schwächen haben und uns noch in einer Phase
des Suchens befinden.
Aber fehlt da neben der rechtlichen oder moralischen Richtlinie nicht auch die Umsetzung? Genügt es, rechtliche und moralische Normen zu haben, wenn die
Implementierung nicht stattfindet?
Ihr Einwand stimmt – eine rechtliche Implementierung bedeutet nicht nur, dass eine
Norm gesetzt, sondern auch, dass sie umgesetzt wird. Wenn sie eingehalten wird, ist es
gut so. Wenn sie aber nicht eingehalten wird, muss man vor Gericht gehen, um ihre
Einhaltung zu erzwingen.
Ist die Lage nicht noch schlimmer? Was ist, wenn die Norm besteht, aber der Staat
nicht in der Lage ist, für die Implementierung zu sorgen? Ist damit der Niedergang der
Werte und der Moral nicht sehr viel schneller besiegelt, als wenn es die Norm gar nicht
gegeben hätte?
Das ist eine interessante Frage, und vielleicht ist ihre Aussage ja richtig. Aber der Staat
ist nicht nur oben, sondern auch unten. Damit meine ich, dass es sich in unserer Situation um Menschen handelt, die sich sehr schwer selbst organisieren oder
organisieren lassen. Zum Beispiel haben wir im Geschäftsleben keine Berufsverbände
mit eigenen Werten und Organisationsstrukturen, die sich an die eigenen Werte halten
und ihren Mitgliedern Legitimität geben. Gäbe es solche Organisationen, hätten diese
Verbände dann das Recht, diejenigen auszuschließen, die sich nicht an die Normen
halten.
Vielleicht kann man Ihre Frage bejahen, es kann tatsächlich zu einem schnellen Zerfall
und Niedergang der Werte kommen. Aber auf der anderen Seite ist es auch möglich,
das eine Restrukturierung stattfindet und die Motivation für den Aufbau von
Interessenvertretungen aufkommt, die dann beginnen, diese Werte zu respektieren. Ich
hoffe, dass das die positiven Seiten sind, die daraus resultieren können. Die negativen
sind uns allen ohnehin schon bekannt.
Vielleicht hat das Problem, über das wir sprechen, mit der Korruption zu tun, die in
Ihrer Gesellschaft offensichtlich ein Problem darstellt. Sehen Sie eine Möglichkeit, die
Korruption in absehbarer Zeit zu reduzieren? Wie müsste man da vorgehen?
Ja, ich sehe durchaus eine Möglichkeit – einerseits als Bürgerin, andererseits als
jemand, der sich damit beschäftigt, mit welchen Elementen man die Performanz eines
Unternehmen verbessern kann. Die Praxis zeigt, dass man in Unternehmen, wo es korrupte Elemente gibt, leicht auch Praktiken für ihre Bekämpfung einführen kann. Ebenso
sind wir Zeugen davon, wie Staaten erfolgreich gegen die Korruption vorgehen. Die
Korruption ist ein Problem, und wenn man sie nicht bekämpft, kann sie bedrohliche
Ausmaße annehmen und zum Zerfall der Gesellschaft führen. Das ist eine Tatsache, mit
der sich dieser Staat ernsthaft auseinander setzen muss.
105
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Ich kenne Beispiele dafür, wie man den Diebstahl in einem Betrieb reduzieren kann;
dazu gibt es schon viele praktische Erfahrungen. Man weiß, dass es einem viel schwerer
fällt, ein Werkzeug aus dem Betrieb zu schaffen, wenn auf ihm der Name des
Beschäftigten steht, der dafür verantwortlich ist. Das Verhältnis zum Werkzeug ist dann
wie zu einer Person, die wir kennen und mit der wir beim Stehlen konfrontiert werden.
Der Betrieb dagegen ist etwas Abstraktes und etwas Fernes, entsprechend ist auch das
Verhältnis zu ihm anonym. Man sollte also zu einem Werkzeug eine Beziehung wie zu
einer Person aufbauen und nicht wie zu etwas Unbekanntem.
Dasselbe sollte auch für einen Staat gelten, der Gerichte, Polizei und Gefängnisse hat.
Der Staat muss gegen die Korruption kämpfen. Es gibt Lösungen und viele praktische
Möglichkeiten, aber bei den politischen Entscheidungsträgern muss auch der Wille
bestehen, sie umzusetzen und auf die eigenen Vorteile, die sie haben, zu verzichten.
Wenn wir von der EU positive Signale erhalten, wird, so glaube ich, auch der Wille,
diese Lösungsansätze umzusetzen, größer sein. Man sieht auch schon konkrete
Maßnahmen bei den Regierungseliten, die dies in Angriff nehmen möchten. Meiner
Auffassung nach ist manchmal das Formale wichtiger als der Inhalt. Es ist uns allen klar,
dass manche Staaten, auch Bulgarien und Rumänien, Verfahren und Regeln der EU
teilweise nur formal akzeptiert haben. Aber diese formale Anerkennung ist ein Schritt
vorwärts zur tatsächlichen Anerkennung der entsprechenden Angelegenheiten. Es ist
besser, irgendeine Praxis oder Regel zu haben, als gar keine. Es gibt Situationen, in
denen die Leute der Umsetzung einer Maßnahme eher zustimmen, wenn auf die
Autorität der EU verwiesen und behauptet wird, dass diese es von uns verlangt. Die
Autorität der EU ist bei uns sehr groß. Das kann man ausnutzen und in eine positive
Praxis umwandeln, und es ist dann leichter, als wenn man nur sagt, dass etwas gut für
Mazedonien ist. Und wenn diese Normen dann zunächst nur der Form nach institutionalisiert werden – die EU hat dann schon ihre Mittel und Wege, aus dieser Form
einen Inhalt und etwas Substanzielles zu machen.
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Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Sašo Ordanoski, Journalist
Sašo Ordanoski leitet das Zentrum für Strategische Forschung und Dokumentation der
Zeitschrift Forum. Er hat Journalismus studiert und ist als Chefredakteur des Forum
einer der bekanntesten mazedonischen Journalisten. Seine politischen Analysen über die
Geschehnisse in Mazedonien und dem früheren Jugoslawien sind auch einem
internationalen Publikum bekannt geworden. Ebenso arbeitete er als Leiter des
mazedonischen Fernsehens und für die Weltbank und war Berater verschiedener
internationaler Organisationen. Ordanovski ist einer der Gründer von Transparency
International in Mazedonien und sitzt in verschiedenen regionalen und internationalen
Kommissionen von Berufs- und Nichtregierungsorganisationen, die sich den Bereichen
Medien, Demokratie, Sicherheit und regionale Kooperation widmen. Das Gespräch fand
am 12. Oktober in Skopje statt.
Herr Ordanoski, Mazedonien ist ein Land, dessen Unabhängigkeit gerade einmal 14
Jahre dauert. Der autonome Staatsbildungsprozess ist also noch relativ jung. Zugleich
haben Konflikte zwischen den ethnischen Gruppen Mazedoniens in den letzten Jahren in
Europa Aufmerksamkeit erregt. Können Sie uns vor diesem Hintergrund sagen, welche
Werte der mazedonischen Verfassung zugrunde liegen?
Die Verfassung der Republik Mazedonien ist tatsächlich eine der modernsten in Europa,
weil sie vor etwas mehr als 10 Jahren verabschiedet und danach einige Male geändert
worden ist. An ihrer Ausarbeitung waren die anerkanntesten ausländischen Experten
beteiligt, und der Entwurf wurde von mehreren Vorsitzenden der größten europäischen
Verfassungsräte unter Leitung des Vorsitzenden des französischen Verfassungsgerichts,
Herrn Badingter, einer Bewertung unterzogen. Das war Anfang der neunziger Jahre,
und damals herrschte die Meinung, dass gemessen an ihren Verfassungen nur zwei der
damaligen ex-jugoslawischen Teilrepubliken die Kriterien für eine Selbstständigkeit
erfüllten: das waren Slowenien und Mazedonien.
Die Verfassung spiegelt die mazedonische Realität wider. Sie definiert den Staat als
unitären und souveränen Staat seiner Bürger, die in einer multiethnischen und
multikulturellen Gesellschaft leben. Sie schützt alle Minderheiten- und Menschenrechte
und die anderen Rechte, auf welche die Menschen in den modernen europäischen
Staaten Anspruch haben. Im Bereich der Minderheitenrechte hat diese Verfassung
höhere Standards als 90 Prozent der europäischen Verfassungen, einschließlich der
deutschen. Und sie hat entwickelte Mechanismen, um diese Minderheitenrechte zu
gewährleisten. Ohne eine bestimmte, sehr spezifische Art der Abstimmung können die
prinzipiellen Grundlagen, auf denen der Staat basiert, nicht geändert werden.
Mazedonien definiert sich auch als Sozialstaat, also ein Staat, in dem das Recht auf
Arbeit garantiert wird. Ebenso wird das Recht auf eine gesunde und saubere Umwelt
garantiert sowie Dutzende von anderen Rechten, die zum Korpus der modernen
europäischen und internationalen Verfassungserrungenschaften gehören: das Recht auf
Demokratie, auf demokratische Wahlen, das Recht, für ein Amt zu kandidieren und
gewählt zu werden, das Recht auf Schutz vor Folter, vor politischem und anderem
Druck und weitere, für einen modernen demokratischen Rechtsstaat typische Rechte.
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Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Nun sind Verfassung und Verfassungswirklichkeit ja nicht immer identisch. Können Sie
die Werte, die der Verfassung zugrunde liegen, noch einmal präzisieren und
beschreiben, wie sich diese Werte in den letzten 40 bis 50 Jahren entwickelt haben?
Wie war es früher und wie ist es heute?
Natürlich stellt sich immer die Frage, was mit auf solch hohem Niveau definierten und in
der Verfassung empfohlenen Rechten in der Praxis passiert. Wie werden sie umgesetzt?
Mazedonien hat in den letzten 10 bis 15 Jahren einige Erfahrungen gemacht, da
mehrmals in die Verfassung eingegriffen und wichtige Artikel geändert wurden, um ein
normales Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Ich denke, dass Mazedonien heute
aufgrund seiner Verfassung die einzige funktionierende multiethnische Demokratie auf
dem Balkan ist.
Um auf Ihre Bitte einer Präzision der Werte zu kommen – ich bin keine Experte für
Verfassungsrecht und kann sie nicht der Reihe nach aufzählen. Aber man kann sie in
der Verfassung nachlesen. Es gibt jedoch zwei wesentliche Veränderungen, die sich auf
die verfassungsrechtliche Definition Mazedoniens beziehen, einmal im Hinblick auf die
Zeit vor den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, und einmal auf diese neunziger
Jahre selbst. Zunächst haben wir Anfang der neunziger Jahre das politische und
wirtschaftliche System des Landes geändert; aus einer kommunistischen wurde eine
demokratische und marktwirtschaftliche Gesellschaft. Diese Veränderung fand natürlich
auch in der Verfassung ihren Niederschlag. Später haben wir dann in der aktuellen
Verfassung den multiethnischen Charakter des Staates hervorgehoben. Im Gegensatz
zur vorherigen Verfassungsordnung, in der neben den anderen Minderheiten das
mazedonische Volk als Staatsvolk definiert wurde, sind das heute die Bürger
Mazedoniens.
Für die deutsche Sozialdemokratie und auch nach dem Verständnis vieler Menschen
sind die wichtigsten Werte, die mit der Gestaltung eines Gemeinwesens in
Zusammenhang stehen, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Wird das in Mazedonien
auch so gesehen? Wie werden hier Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität näher
definiert?
Ich kann Ihnen jetzt keine exakte verfassungsrechtliche Definition dieser Begriffe
geben, dazu müsste ich zuerst die Verfassung lesen. Aber das sind gewiss drei wichtige
Elemente, die in der Verfassung als Werte der neuen Gesellschaft festgeschrieben
werden – Werte, die auch schon in der vorherigen mazedonischen Verfassung enthalten
waren, heute aber, soweit ich sehe, Realität sind, besonders was ihre politischen
Elemente betrifft. Die politische Freiheit ist etwas, das in unserer heutigen Demokratie
verfassungsrechtlich gewährleistet ist.
Sie haben Mazedonien als multiethnischen und multikulturellen Staat beschrieben.
Spielen Religion und Glauben in der heutigen gesellschaftlichen Entwicklung
Mazedoniens eine große Rolle?
Nein. Der Glaube ist ein von der Verfassung geschützter Bereich und gehört zu den
Menschenrechten und -freiheiten. Man hat also das Recht, seinen Glauben frei zu
108
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
praktizieren. Er ist wichtig für das Privat- und Familienleben, aber im politischen und im
gesellschaftlichen Bereich nimmt der Glaube keine Schlüsselrolle ein, er entwickelt nicht
die Aktivitäten und Energien, um die gesellschaftliche Handlungsorientierung wesentlich
beeinflussen zu können.
Wenn sie an die Politiker Ihres in seiner politischen Selbständigkeit doch noch jungen
Landes denken, würden Sie da sagen, dass man Vertrauen in sie haben kann? Folgen
sie gewissen Tugenden, so wie wir sie kennen? Sind sie besonders besonnen,
besonders klug? Werden die Kriterien, die man allgemein an Politiker anlegt, auch in
Mazedonien erfüllt?
Die Politiker hierzulande genügen vielen wichtigen Kriterien, an denen man Politiker in
Europa und in der Welt misst. Aber manche wichtige und unabdingbare Kriterien
erfüllen sie nicht. Man muss sehen, dass diese Politikern alle einer Generation
angehören, welche die schwierige fünfzehnjährige Transformation des Staates erlebt
hat. Diese Transformation war besonders kompliziert, weil es ja nicht nur um eine
ideologische Transformation ging, sondern auch um die Etablierung eines souveränen,
aus dem jugoslawischen Staatsverband hervorgegangenen Staates und, in unserem
besonderen Fall, um die Etablierung der Souveränität der mazedonischen Nation. Das
ist ein schwieriger und komplizierter Prozess mit vielen Höhen und Tiefen, mit Erfolgen
und Misserfolgen.
Solch eine dichte und komplexe politische Aufgabe zehrt an den Kräften der Politiker
und nimmt sie stark in Anspruch. Ihre Glaubwürdigkeit, Legitimität und Integrität sind
schneller verbraucht als in einem normal funktionierenden Staat wie zum Beispiel
Deutschland. Wir haben es hier mit einem historischen Prozess zu tun. In dieser
Situation, in der die Institutionen noch nicht die gleiche Funktionalität besitzen, wie dies
in Ländern mit langer Tradition der Fall ist, müssen die Politiker auch die Defizite der
Institutionen kompensieren, die nicht oder nicht vollständig funktionieren. Hinzu kommt,
dass ihre Parteien sich in der Gründungs-, Aufbau und Stabilisierungsphase befinden.
Das alles nimmt die Politiker stark in Anspruch.
Könnte man dies auch so ausdrücken, dass viele mazedonische Politiker moralisch noch
nicht gefestigt genug sind?
Sie sind es nicht weniger als die Politiker in der Bundesrepublik Deutschland.
Das bedeutet, dass sie allmählich eine politische Kultur erreicht haben, die mit der
politischen Kultur in Zentraleuropa vergleichbar ist?
Ja, auf jeden Fall. Zwar nutzen Politiker jede Gelegenheit, sich sehr autokratisch zu
verhalten, wenn man das zulässt. Sie nutzen jede Chance, um sich für ihre Partei
anstatt für den Staat einzusetzen. Einige von ihnen sind korrupt, genauso wie deutsche
Politiker, nur handelt es sich bei uns um geringere Beträge als in Deutschland. Aber das
Entscheidende ist doch das Funktionieren der Gesamtgesellschaft, welche die Politiker
ständig kontrollieren und ihre „Kreativität“ einschränken muss, damit sie die Grenzen
des Anstands und der Moral nicht überschreiten.
109
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Natürlich sage ich das mit einer gewissen Ironie. Ich bin einer der Begründer von
Transparency International in Mazedonien, der internationalen Organisation, welche die
Korruption bekämpft. Ich kann ihnen glaubwürdig bestätigen, dass es heute in
Mazedonien viel schwieriger ist, ein korrupter Politiker zu sein, als noch vor 10 Jahren.
Ein bestimmtes Maß an Kontrolle, das öffentliche Bewusstsein, die Medien als
Wachhunde, die Untersuchungsverfahren und die Institutionen lassen es nicht zu, dass
Gelder und Kompetenzen noch so leicht wie vor 10 oder 15 Jahren missbraucht werden.
Der wesentliche Unterschied zu den Politikern in Deutschland ist, dass sie dort, wenn sie
erwischt werden, ins Gefängnis kommen. Bei uns sind wir noch nicht so weit, aber wir
geben uns Mühe.
Wenn ich Sie richtig verstehe, haben die Menschen in Mazedonien zunehmend
Vertrauen in die staatliche Entwicklung und in die politische Klasse. Welche Vorstellung
haben Sie von der Zukunft Ihres Landes? Welche Rolle sollte Mazedonien – auch im
Hinblick auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union – auf dem Balkan spielen,?
In die politische Klasse haben die Bürger kein großes Vertrauen, das habe ich so nicht
behauptet. Als Experte für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP)
untersuche ich das Vertrauen der mazedonischen Bevölkerung in die politischen
Institutionen. Wenn man die Antworten der Menschen auf solche Fragen analysiert,
wird rasch klar, dass die Gründe ihrer Unzufriedenheit und damit der mangelnden
Legitimität der Politiker vor allem im sozioökonomischen Bereich liegen. Wenn es um
diesen besser bestellt wäre, dann wäre auch das Vertrauen größer.
Was die Rolle Mazedoniens auf dem Balkan betrifft, kann man das Land als eine katena
mundi, als regionalen Kreuzungspunkt der Welten bezeichnen, als Verbindungsstelle
zwischen dem Norden und dem Süden und zwischen dem Osten und dem Westen.
Mazedonien gehört auch zu den Ländern, die, wenn die Probleme ein bestimmtes Maß
übersteigen, nicht implodieren, sondern explodieren. Während in Bosnien zehn Jahre
lang ein Bürgerkrieg toben kann, ohne dass der Konflikt auf die Nachbarländer
übergreift, ist dies in Mazedonien nicht der Fall. Unsere Tektonik potentieller
Auseinandersetzungen bezieht immer auch die Nachbarländer mit ein. Deshalb ist die
Stabilität Mazedoniens entscheidend für die Stabilität des Balkans.
Natürlich ist Mazedonien nicht das einzige Land in der Region mit dieser Eigenschaft. In
dieser Hinsicht ist zum Beispiel auch Serbien ein sehr wichtiges Land, von dessen
Stabilität und Fortschritt die Stabilität der gesamten Region abhängt. Da Mazedonien ein
kleines Land ist – und nach der Definition Hegels schöpfen die kleinen Länder ihre
Stabilität von ihren Nachbarn –, beeinflussen die Nachbarstaaten die Stabilität unseres
Landes. Eine Reihe von Faktoren kann Mazedonien nicht selbst kontrollieren, wenn die
Nachbarstaaten das Land destabilisieren möchten. Das hat sich schon mehrfach gezeigt,
das letzte Mal 2001, als der Konflikt in unserem Land in hohem Maße von den Nachbarn
110
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
ermöglicht, inspiriert und unterstützt wurde. 33 Deshalb sind die Stabilität Mazedoniens
wie auch das Funktionieren seines multiethnischen Modells für die ganze Region äußerst
wichtig. Paradoxerweise kann aber dieses multiethnische Modell selbst einige
Nachbarstaaten gefährden, die in ihren Verfassungen Staatsnationen definiert haben.
Obwohl der ganze Balkan multiethnisch ist, gibt es hier immer noch Staaten wie
Griechenland, die keine ethnischen Minderheiten anerkennen. Deshalb bedroht die
Entwicklung multiethnischer Demokratien die Grundlagen ihrer Verfassungsordnung,
weil es ihre Minderheiten motiviert, für ihre kulturellen und politischen Rechte zu
kämpfen.
Europa und die Europäische Union sind nicht zuletzt ein Modell dafür, dass solche
Konflikte friedlich gelöst werden können. Wie sieht das in Mazedonien aus? Hat sich der
Staat inzwischen so weit gefestigt, dass man künftig von einer friedlichen Lösung dieser
Konflikte ausgehen kann?
Mazedonien hat schon bisher und auch in Zeiten großer Herausforderungen den Willen
bewiesen, Konflikte friedlich zu lösen. Unsere Verfassung und unsere Gesetze
ermöglichen einen Prozess friedlicher Eindämmung und Lösung solcher Konflikte, und
ich denke, dass alle relevanten politischen Kräfte im Land von dieser Idee absolut
überzeugt sind. Sie werden hier niemanden finden, der politische Konflikte und
Missverständnisse jeglicher Art mit Gewalt lösen möchte. Deshalb blieb Mazedonien ja
auch von den starken Zerstörungen und inneren Turbulenzen verschont, die in anderen
Balkanländern zu Kriegen mit Hundertausenden von Toten geführt haben.
Wichtig ist auch, dass Mazedonien von Anfang an verstanden hat, von welch großer
Bedeutung die Internationale Staatengemeinschaft bei der Unterstützung der Stabilität
des Landes und der Lösung von Konflikten und potenziellen Konfliktsituationen ist.
Meiner Meinung nach kann nur ein von außen importiertes Problem zur Destabilisierung
des Landes und zum Konflikt führen. Wir leben in einer Region, in der wichtige Fragen
wie die Souveränität, die innere Ordnung oder die Stabilität einiger Staaten, die Grenzen
oder die durch den Balkan verlaufenden Kanäle des organisierten Verbrechens noch
nicht gelöst sind.
Wenn es tatsächlich äußere Faktoren sind, die Mazedonien und seine Stabilität
gefährden, bedeutet dies dann, dass die Menschen in Mazedonien ein Wertesystem
haben, dem gemäß sie bereit sind, in einer multiethnischen Gesellschaft zu leben und
sich auch gegenseitig zu respektieren? Haben die Umstände der letzten 10 oder 15
Jahre, also der Transformationsphase mit ihren Problemen der Korruption, der
organisierten Kriminalität und des wirtschaftlichen Niedergangs, nicht auch zu einer
Veränderung der Werte in der Gesamtgesellschaft geführt?
33
Ordanovski bezieht sich hier auf den von albanischen Extremisten mit ihren Aktionen im
Nordwesten des Landes ab Frühjahr 2000 ausgelösten Konflikt zwischen dem albanischen und dem
slawischen Bevölkerungsteil Mazedoniens.
111
Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
Mazedonien ist nicht erst seit den letzten Jahren, sondern seit Jahrhunderten
multiethnisch, hat also eine jahrhundertealte Tradition des Zusammenlebens. In den
letzten 15 Jahren wurden der rechtliche und der politische Rahmen angepasst, um die
multiethnischen Elemente des Lebens aller Menschen in Mazedonien zu schützen und zu
fördern. Vor allem tat man das, um sich an die zahlreichen und detaillierten Regeln und
Prinzipien der EU anzupassen. Das geschah in einer sehr turbulenten Zeit, als in
anderen Balkanländern um solche Fragen Krieg geführt wurde. Das derzeitige Niveau
des politischen Verständnisses zwischen den ethnischen Gruppen in Mazedonien und
der praktische Umgang miteinander verdienen also allen Respekt. Bereits seit 15 Jahren
haben wir durchgehend eine multiethnische Regierung, und schon seit 10 Jahren
kontrollieren Vertreter der Minderheiten in der Regierung über 50 Prozent des
Staatshaushalts. Stellen Sie sich so etwas in Frankreich oder in Großbritannien vor!
Denken Sie an das Rahmenabkommen von Ohrid 34 : Mazedonien ist nicht der einzige
Staat, der nach einem Konflikt einen solchen Vertrag unterzeichnet hat – es ist aber der
einzige Staat, der so einen Vertrag auch umgesetzt hat! Die vereinbarten Punkte
werden im geplanten Tempo realisiert. Dieses Tempo hängt aber auch von den
sozialen, politischen und historischen Umständen der Minderheiten ab. Zum Beispiel
lassen sich in einer Minderheit nicht auf einmal 500 ausgebildete Juristen finden und
einstellen, sondern man muss sie zuerst ausbilden. Aber alle Schlüsselelemente des
Vertrags wurden umgesetzt, und das Vereinbarte wird im entsprechenden Zeitraum
ohne größere soziale und politische Turbulenzen implementiert.
Wenn Sie mich fragen, gibt es in der Mehrheitsbevölkerung, also unter den ethnischen
Mazedoniern, keine wirklichen Extremisten oder Radikalen wie in den Niederlanden oder
in Frankreich. Sie sind politisch nicht relevant und auch nicht als Gruppe organisiert. Es
ist nicht ihr eigenes Verdienst, dass sie nicht auf der politischen Bühne auftreten,
sondern das Ergebnis des politischen Handelns der anderen politischen Kräfte. Man darf
zwar die Nationalisten auf dem Balkan nie unterschätzen, aber hier in Mazedonien ist ihr
Spielraum sehr begrenzt, und dies nicht nur formal, sondern als Ergebnis der Kultur und
der politischen Praxis im Land. In der Krise 2001 hatten wir keinen einzigen zivilen
Zwischenfall, keinen einzigen.
Analysiert man die vorhandenen Daten, so sieht man, dass die Gesellschaft zwar geteilt
ist, die Grundwerte jedoch respektiert werden. Betrachten wir die so genannte Aktivität
der ethnischen Vorurteile. Bei uns ist sie mit 1 bis 1,5 Prozent sehr gering, und hier
unterscheiden sich die Mazedonier von den anderen Völkern auf dem Balkan erheblich.
Fragt man nach der Bereitschaft, etwas gegen die Albaner oder die Mazedonier zu
unternehmen, dann sieht man, dass dies auf weniger als 1 Prozent der Bevölkerung
zutrifft. Und wenn es zu einer Situation käme, in der sie wirklich etwas tun sollten, wäre
dieses Prozentsatz noch geringer. In Bosnien, Serbien, Kroatien, Griechenland und
Bulgarien ist ganz anders. Das ist ein Beweis für die langjährige, jahrhundertealte
34
Das am 13. August 2001 in Ohrid unterzeichnete Abkommen zwischen Vertretern der
albanischen und der slawischen Bevölkerung Mazedoniens sollte den bereits genannten, 2000
entstandenen Konflikt beilegen.
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Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
multiethnische Tradition zwischen den Menschen, und auf dieser nachweisbaren
Tatsache basiert meiner Meinung nach auch der multiethnische mazedonische Staat.
Das sind interessante und bedeutsame Umstände, bei denen wir uns noch lange
aufhalten könnten. Wenn ich Sie jedoch richtig verstanden habe, war der Konflikt 2001
ein historischer Ausrutscher in einer sonst friedlich zusammenlebenden multiethnischen
Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Trennungen und die Segregation, die 2001
stattgefunden haben, sind also nicht von Dauer?
Obwohl ich Experte für den Konflikt 2001 bin, haben wir nicht die Zeit, um über Details
zu sprechen. Aber die Analysen hinsichtlich der Teilnehmer des Konflikts, der
wichtigsten Austragungsorte und der Zusammensetzung der UÇK zeigen eindeutig, dass
der Konflikt von außen ins Land importiert wurde. Im Grunde genommen begann er als
ein Kampf um kriminelle Interessen, transformierte sich aber in der zweiten Phase sehr
schnell in einen Kampf um Gebiete mit dem Ziel, ihn mit Hilfe des internationalen
Faktors zu einem Kampf um die Menschenrechte zu machen. In seiner Endphase, also
mit dem Abkommen von Ohrid, förderte er die interethnischen Beziehungen im Land. In
diesem Sinne trug er zur Verbesserung der interethnischen Beziehungen bei,
wenngleich alle Fragen aus dem Abkommen ohnehin schon auf der Agenda des
Prozesses der mazedonischen EU-Integration standen. Den größten Teil dieser Fragen
hätte man auch ohne diesen Konflikt in der politischen Diskussion der Jahre nach 2001
behandelt. Ausgelöst haben den Konflikt aber Personen, die nicht in Mazedonien leben;
keiner der Hauptakteure der UÇK kam aus Mazedonien.
Die eigentliche Frage ging eher dahin, ob die Segregation, die nach dem Konflikt
zwischen den beiden Bevölkerungsgruppe, also zwischen den Albanern und den
Mazedoniern, stattgefunden hat, sich im Laufe der nächsten Jahre wieder auflösen wird.
Wird man wieder problemlos zusammenleben, oder wird die Segregation nachhaltig und
von Dauer sein?
In Mazedonien wird es noch lange Jahre Spannungen in den mazedonisch-albanischen
Beziehungen geben. Der Abbau dieser Spannungen wird von zwei Faktoren abhängen.
Erstens von der wirtschaftlichen Situation im Land. Immer wenn sie schlecht ist, werden
diese Spannungen steigen, in wirtschaftlich besseren Zeiten werden sie dagegen
nachlassen. Der zweite Faktor ist das Niveau und das Tempo der Integration
Mazedoniens in der Region und in der EU, und zwar aufgrund der schon erwähnten
Faktoren, die Mazedonien nicht allein kontrollieren kann. Je weiter sich der Kosovo,
Serbien und Albanien Europa annähern, umso mehr wird auch der Druck auf
Mazedonien und dessen ethnische Situation nachlassen. Das ist kein militärischer, aber
ein sozialer und kultureller Druck und betrifft auch den freien Personenverkehr. 2001
war das Jahr, als die albanisch-mazedonische Beziehungen eskalierten. Heute jedoch
leben wir in einem institutionell gefestigten, funktionierenden Staat, in dem Konflikte in
diesen Beziehungen kanalisiert und in einer politisch zugelassenen Weise gelöst werden.
Es ist ganz normal, dass es zu Spannungen und Auseinandersetzungen kommt, sie
verbleiben aber alle im Rahmen der bestehenden staatlichen Institutionen und der
Zivilgesellschaft.
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Werte und Politik Die EU und der Südosten Europas
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