Gesellschaft begreifen

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Dass zweitens junge Menschen länger allein oder länger in einer
nicht formell als Ehe deklarierten Partnerschaft leben und dass für
Ehen das Scheidungsrisiko angestiegen ist, hat ebenfalls nichts mit
Werteverfall und Egoismus zu tun. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade
weil die Wertigkeit von Partnerschaft, also das darauf gerichtete Anspruchsniveau, gestiegen ist, bindet man sich nicht so schnell und
geht, wenn die Partnerschaft es nicht mehr »wert« ist, aufrechterhalten zu werden, schneller wieder auseinander.
Gleiches gilt drittens für den Tatbestand, dass weniger Kinder –
und diese später – in die Welt gesetzt werden. Weil man Kinder,
deren Lebensumstände und Erziehung, wichtiger nimmt als früher,
zögert man länger mit der Realisierung des Kinderwunsches und
begrenzt die Zahl der Kinder, die man liebevoll versorgen und aufmerksam erziehen will.
Zu beiden Beispielen wäre noch viel mehr zu sagen – aber sie sollen
hier ja nicht mehr als andeuten, wie soziologisches Wissen unser
Alltagswissen über gesellschaftliches Geschehen bereichern und immer wieder auch korrigieren kann.
Schon diese beiden Schlaglichter auf die scheinbaren Segnungen
des Mehr-Wissens beziehungsweise den angeblichen Verfall von
Partnerschaften illustrieren beispielhaft, mit welcher Art von Einsichten die Soziologie das Alltagswissen aufklären kann – hier ein
paar weitere knapp skizzierte Beispiele für soziologische Aufklärung:
– Die Soziologie kann Irrtümer im Faktenwissen über Gesellschaft
korrigieren und falsche Ursachen- und Wirkungsbehauptungen
zurechtrücken. Sind Ausländer wirklich krimineller als Deutsche,
wie oft zu hören ist? Die Statistiken scheinen das erst einmal zu
bestätigen. Aber wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass
die ausländische Bevölkerung in Deutschland überproportional in
den unteren Einkommensgruppen zu finden ist; und wenn man
die Ausländer dann mit den weniger gut verdienenden Deutschen
vergleicht, stellen sich die Kriminalitätsraten ziemlich ähnlich dar.
Nicht das Ausländer-Sein, sondern das geringe Einkommen prädestiniert offenbar zur Kriminalität – wobei auch mit diesem zutreffenderen Befund die soziologischen Fragen eigentlich erst anfangen, denn schließlich wird nicht jeder arme Schlucker zum
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Dieb. Immerhin kann die Soziologie schon hiermit bekannte
Schnellschüsse mancher populistischer Politiker als solche entlarven.
– Die Soziologie vermag gesellschaftliche Trends aufzudecken, die
noch gar nicht in das Alltagswissen eingegangen sind, weil sie sich
schleichend vollziehen oder weil die Medien noch nicht auf sie
aufmerksam geworden sind. Der berühmte Kinsey-Report machte
die Amerikaner in den späten 1940er Jahren mit den Mitteln soziologischer Umfrageforschung darauf aufmerksam, dass sie allesamt viel »perverser« in ihren Sexualpraktiken sind, als sie es sich,
fest im Griff kirchlicher Propaganda und nachbarschaftlich gepflegter Fassaden der Wohlanständigkeit, je hätten träumen lassen: »Ich bin ja gar nicht der Einzige weit und breit, der sich
mehrmals in der Woche selbstbefriedigt – statistisch gesehen tun
es zwei meiner drei ebenfalls verheirateten Nachbarn auch.«
– Die Soziologie entzaubert allerdings auch immer wieder die angeblichen Erfolgs-Storys, die wir uns bei der Verbesserung beklagenswerter gesellschaftlicher Zustände gerne einreden (lassen). Sie
zeigt auf, dass die Chancen von Frauen, in Führungspositionen zu
gelangen, nach wie vor weit geringer sind als die von Männern;
und bereits Anfang der 1970er Jahre wurde die »Illusion der
Chancengleichheit«4 der so genannten »bildungsfernen« Bevölkerungsgruppen soziologisch entlarvt. Dass ein Arbeiterkind durch
eigene Bildungsanstrengungen den sozialen Aufstieg schafft, ist
nach wie vor meistens eine Lebenslüge.
– Die Soziologie ist in der Lage, hintergründige Ursache-WirkungsZusammenhänge auszubuchstabieren, die durchaus bekannten
Phänomenen, für die aber viel zu simple Erklärungen kursieren,
zugrunde liegen. Siehe nur die oben angesprochenen Märchen, die
über Scheidungen und Kinderlosigkeit in die Welt gesetzt worden
sind! Und wenn Friedhelm Neidhardt uns an der RAF die unbehagliche Wahrheit vor Augen führt, dass jemand nicht etwa aufgrund bestimmter besonderer Persönlichkeitsmerkmale wie der
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Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron, 1971: Die Illusion der Chancengleichheit.
Stuttgart: Klett.
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Herkunft aus einem streng protestantischen Elternhaus zum Terroristen wird, sondern jeder aufgrund soziologisch fassbarer biographischer Eigendynamiken in eine solche »Karriere« hineinrutschen kann, hätten wir uns das auch in unseren kühnsten Albträumen nicht vorstellen können.5
– Die Soziologie deckt verborgene soziale Nützlichkeiten von Phänomenen auf, die allgemein nur als wertlos, unmoralisch oder gar
schädlich gelten. So spricht Niklas Luhmann davon, dass es in allen Arten von Organisationen eine »brauchbare Illegalität« gibt,6
etwa den »kleinen Dienstweg«, der zwar nicht den Regeln entspricht und den zu gehen oder gegangen zu sein man im Zweifelsfall stets tapfer abstreiten muss, der aber vieles auch im Sinne
der Organisation erleichtert und beschleunigt.
Zu diesem Buch
Mit diesem Buch wird Ihnen eine »Einladung zur Soziologie«7 offeriert. Zwei Zielgruppen möchten wir ansprechen: Zum einen wenden
wir uns an diejenigen Zeitungsleser und an gesellschaftlichen Fragen
Interessierten, die es genauer wissen wollen – die sich nicht mit den
Beschreibungen und Erklärungen gesellschaftlicher Zustände zufriedengeben, die ihnen von Medien, Politikern und Stammtisch frei
Haus geliefert werden. Um den Slogan einer bekannten überregionalen Tageszeitung für die ins Auge gefassten Leserinnen und Leser die-
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Friedhelm Neidhardt, 1981: Über Zufall, Eigendynamik und Institutionalisierbarkeit absurder Prozesse. Notizen am Beispiel einer terroristischen Gruppe. In:
Heine von Alemann/Hans Peter Thurn (Hg.), Soziologie in weltbürgerlicher Absicht.
Festschrift für René König zum 75. Geburtstag. Opladen: Westdeutscher Verlag,
S. 243–257.
Niklas Luhmann, 1964: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker
& Humblot, S. 304–314.
Diese Absicht kann man gar nicht besser formulieren, als den Titel eines jahrzehntelang viel gelesenen Buches des großen US-amerikanischen Soziologen
Peter L. Berger (Invitation to Sociology. A Humanistic Perspective. New York 1963:
Anchor Books) zu übernehmen.
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ses Buches zu variieren: »Dahinter steckt immer ein nachdenklicher
Kopf.« Zum anderen wenden wir uns sowohl an Interessierte am Studienfach Soziologie als auch an Studienanfänger. Ihnen möchten wir
die Frage beantworten, die für eine Studienfachentscheidung noch
immer an erster Stelle stehen sollte: Mit welchem Faszinationspotenzial wartet die Soziologie als studierbare Wissenschaftsdisziplin auf?
Beiden Zielgruppen – an gesellschaftlichen Fragen und am Studienfach Interessierten – möchten wir »unsere« Wissenschaft näherbringen. Wir laden dazu ein, Gesellschaft zu begreifen. Wer bereit ist,
einmal genau hinzuschauen, wird erkennen: Soziologisch Fassbares
verbirgt sich in unzähligen gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Phänomenen, und wer sich der Soziologie zuwendet, kann eine
sehr spannende Zeit erleben.
Der Soziologe Michael Burawoy sprach in seiner »presidential
address« als Vorsitzender der amerikanischen Soziologen-Fachgesellschaft vor wenigen Jahren davon, die Soziologie müsse wieder stärker
eine »public sociology« werden, sich also gezielt den großen Fragen,
die hier und heute in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit diskutiert
werden, stellen – und sie sollte Fragen, die eigentlich gestellt werden
müssten, aber vergessen oder totgeschwiegen werden, aufwerfen.8
Die »public sociology« ist beileibe nicht die ganze Soziologie, doch
ohne diese Zielrichtung bleibt das Fach letztlich akademisch-steril –
oder, noch schlimmer, die Soziologie wird zur Geheimwissenschaft,
die allenfalls in Think Tanks mittels unter Verschluss gehaltener Expertisen die Großen und Mächtigen dabei berät, wie sie uns noch
besser manipulieren können.
Die Autorinnen und Autoren, die an diesem Buch mitgewirkt haben, tragen, wie wir finden, auf gelungene Weise – und ganz im Sinne
Michael Burawoys – zur Popularisierung ihrer Wissenschaft bei. Hier
liegt also keine Einführung, kein systematischer oder enzyklopädischer Überblick über Gegenstände, Theorien oder Methoden des
Faches vor – es sind »Appetithappen«! Wir haben Kolleginnen und
Kollegen eingeladen, auf die beiden Fragen,
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Michael Burawoy, 2005: For Public Sociology. In: Soziale Welt Jg. 56 (H. 4),
S. 347–374.
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– warum Soziologie sie fasziniert und
– warum soziologisches Wissen gesellschaftlich wichtig ist,
persönliche Antworten zu geben. Die Beiträge zeigen an je eigenen
Arbeitsgebieten und Interessenschwerpunkten – pars pro toto – auf,
was das soziologische »Gesellschaft begreifen« bedeutet.
Das Inhaltsverzeichnis vermittelt bereits einen Eindruck von der
Themenvielfalt dessen, was im Folgenden geboten wird. Von der
Frage, warum Menschen zum Islam konvertieren, bis zur allgegenwärtigen und offenbar unaufhaltsamen Beschleunigung des Lebens in
der modernen Gesellschaft reicht der Bogen – ohne dass damit das
thematische Gesamtspektrum der Soziologie abgedeckt wäre. »Kleine«, unscheinbare Phänomene wie die Schwierigkeiten und Praktiken,
mit denen man kommunikativ die eigene Kompetenz, etwa als Ärztin
oder Frisör, demonstriert, kommen ebenso zur Sprache wie »große«,
gesellschaftsübergreifende Strukturen sozialer Ungleichheit. Auch die
Herangehens- und Darstellungsweisen der Beiträge sind sehr unterschiedlich – ganz wie es für das Fach charakteristisch ist. Einige Beiträge stützen sich auf statistische Daten, andere auf biographische
Interviews oder sorgfältige Beobachtungen von Alltagssituationen;
manche Beiträge sind als theoretische Überlegungen angelegt, die an
sozialphilosophische Reflexionen grenzen. Teils ist ein persönliches
moralisches oder politisches Engagement des Soziologen erkennbar,
teils wird gerade auf eine Distanz von allen Arten der Bewertung der
betrachteten Phänomene geachtet. Eine bunte Mischung also! Wir
machen zwar mit der von uns gewählten Reihenfolge der Beiträge
einen Vorschlag, wie sie gelesen werden könnten; aber jede Leserin
und jeder Leser kann zwanglos auch irgendwo in der Mitte oder am
Ende anfangen zu lesen.
Wir haben die Autorinnen und Autoren gebeten, auch ihren persönlichen Bezug zu dem Thema, das sie vorstellen, anzudeuten. Dies
ist üblicherweise in wissenschaftlichen Texten nicht gefragt, aber uns
ging es darum – wiederum beispielhaft – vorzuführen, wie ein Interesse an soziologischen Fragen entstehen kann und welche Wege
Menschen zur Soziologie führen können. Die Autorinnen und Autoren vermitteln hier, mehr oder weniger explizit, ganz Unterschiedliches, weil es sich um ganz unterschiedliche Menschen handelt, wie
auch aus den jeweiligen Kurzinformationen zum wissenschaftlichen
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