E INLEITUNG 15 Dass zweitens junge Menschen länger allein oder länger in einer nicht formell als Ehe deklarierten Partnerschaft leben und dass für Ehen das Scheidungsrisiko angestiegen ist, hat ebenfalls nichts mit Werteverfall und Egoismus zu tun. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade weil die Wertigkeit von Partnerschaft, also das darauf gerichtete Anspruchsniveau, gestiegen ist, bindet man sich nicht so schnell und geht, wenn die Partnerschaft es nicht mehr »wert« ist, aufrechterhalten zu werden, schneller wieder auseinander. Gleiches gilt drittens für den Tatbestand, dass weniger Kinder – und diese später – in die Welt gesetzt werden. Weil man Kinder, deren Lebensumstände und Erziehung, wichtiger nimmt als früher, zögert man länger mit der Realisierung des Kinderwunsches und begrenzt die Zahl der Kinder, die man liebevoll versorgen und aufmerksam erziehen will. Zu beiden Beispielen wäre noch viel mehr zu sagen – aber sie sollen hier ja nicht mehr als andeuten, wie soziologisches Wissen unser Alltagswissen über gesellschaftliches Geschehen bereichern und immer wieder auch korrigieren kann. Schon diese beiden Schlaglichter auf die scheinbaren Segnungen des Mehr-Wissens beziehungsweise den angeblichen Verfall von Partnerschaften illustrieren beispielhaft, mit welcher Art von Einsichten die Soziologie das Alltagswissen aufklären kann – hier ein paar weitere knapp skizzierte Beispiele für soziologische Aufklärung: – Die Soziologie kann Irrtümer im Faktenwissen über Gesellschaft korrigieren und falsche Ursachen- und Wirkungsbehauptungen zurechtrücken. Sind Ausländer wirklich krimineller als Deutsche, wie oft zu hören ist? Die Statistiken scheinen das erst einmal zu bestätigen. Aber wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass die ausländische Bevölkerung in Deutschland überproportional in den unteren Einkommensgruppen zu finden ist; und wenn man die Ausländer dann mit den weniger gut verdienenden Deutschen vergleicht, stellen sich die Kriminalitätsraten ziemlich ähnlich dar. Nicht das Ausländer-Sein, sondern das geringe Einkommen prädestiniert offenbar zur Kriminalität – wobei auch mit diesem zutreffenderen Befund die soziologischen Fragen eigentlich erst anfangen, denn schließlich wird nicht jeder arme Schlucker zum 16 U WE S CHIMANK /N ADINE M. S CHÖNECK Dieb. Immerhin kann die Soziologie schon hiermit bekannte Schnellschüsse mancher populistischer Politiker als solche entlarven. – Die Soziologie vermag gesellschaftliche Trends aufzudecken, die noch gar nicht in das Alltagswissen eingegangen sind, weil sie sich schleichend vollziehen oder weil die Medien noch nicht auf sie aufmerksam geworden sind. Der berühmte Kinsey-Report machte die Amerikaner in den späten 1940er Jahren mit den Mitteln soziologischer Umfrageforschung darauf aufmerksam, dass sie allesamt viel »perverser« in ihren Sexualpraktiken sind, als sie es sich, fest im Griff kirchlicher Propaganda und nachbarschaftlich gepflegter Fassaden der Wohlanständigkeit, je hätten träumen lassen: »Ich bin ja gar nicht der Einzige weit und breit, der sich mehrmals in der Woche selbstbefriedigt – statistisch gesehen tun es zwei meiner drei ebenfalls verheirateten Nachbarn auch.« – Die Soziologie entzaubert allerdings auch immer wieder die angeblichen Erfolgs-Storys, die wir uns bei der Verbesserung beklagenswerter gesellschaftlicher Zustände gerne einreden (lassen). Sie zeigt auf, dass die Chancen von Frauen, in Führungspositionen zu gelangen, nach wie vor weit geringer sind als die von Männern; und bereits Anfang der 1970er Jahre wurde die »Illusion der Chancengleichheit«4 der so genannten »bildungsfernen« Bevölkerungsgruppen soziologisch entlarvt. Dass ein Arbeiterkind durch eigene Bildungsanstrengungen den sozialen Aufstieg schafft, ist nach wie vor meistens eine Lebenslüge. – Die Soziologie ist in der Lage, hintergründige Ursache-WirkungsZusammenhänge auszubuchstabieren, die durchaus bekannten Phänomenen, für die aber viel zu simple Erklärungen kursieren, zugrunde liegen. Siehe nur die oben angesprochenen Märchen, die über Scheidungen und Kinderlosigkeit in die Welt gesetzt worden sind! Und wenn Friedhelm Neidhardt uns an der RAF die unbehagliche Wahrheit vor Augen führt, dass jemand nicht etwa aufgrund bestimmter besonderer Persönlichkeitsmerkmale wie der —————— 4 Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron, 1971: Die Illusion der Chancengleichheit. Stuttgart: Klett. E INLEITUNG 17 Herkunft aus einem streng protestantischen Elternhaus zum Terroristen wird, sondern jeder aufgrund soziologisch fassbarer biographischer Eigendynamiken in eine solche »Karriere« hineinrutschen kann, hätten wir uns das auch in unseren kühnsten Albträumen nicht vorstellen können.5 – Die Soziologie deckt verborgene soziale Nützlichkeiten von Phänomenen auf, die allgemein nur als wertlos, unmoralisch oder gar schädlich gelten. So spricht Niklas Luhmann davon, dass es in allen Arten von Organisationen eine »brauchbare Illegalität« gibt,6 etwa den »kleinen Dienstweg«, der zwar nicht den Regeln entspricht und den zu gehen oder gegangen zu sein man im Zweifelsfall stets tapfer abstreiten muss, der aber vieles auch im Sinne der Organisation erleichtert und beschleunigt. Zu diesem Buch Mit diesem Buch wird Ihnen eine »Einladung zur Soziologie«7 offeriert. Zwei Zielgruppen möchten wir ansprechen: Zum einen wenden wir uns an diejenigen Zeitungsleser und an gesellschaftlichen Fragen Interessierten, die es genauer wissen wollen – die sich nicht mit den Beschreibungen und Erklärungen gesellschaftlicher Zustände zufriedengeben, die ihnen von Medien, Politikern und Stammtisch frei Haus geliefert werden. Um den Slogan einer bekannten überregionalen Tageszeitung für die ins Auge gefassten Leserinnen und Leser die- —————— 5 6 7 Friedhelm Neidhardt, 1981: Über Zufall, Eigendynamik und Institutionalisierbarkeit absurder Prozesse. Notizen am Beispiel einer terroristischen Gruppe. In: Heine von Alemann/Hans Peter Thurn (Hg.), Soziologie in weltbürgerlicher Absicht. Festschrift für René König zum 75. Geburtstag. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 243–257. Niklas Luhmann, 1964: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot, S. 304–314. Diese Absicht kann man gar nicht besser formulieren, als den Titel eines jahrzehntelang viel gelesenen Buches des großen US-amerikanischen Soziologen Peter L. Berger (Invitation to Sociology. A Humanistic Perspective. New York 1963: Anchor Books) zu übernehmen. 18 U WE S CHIMANK /N ADINE M. S CHÖNECK ses Buches zu variieren: »Dahinter steckt immer ein nachdenklicher Kopf.« Zum anderen wenden wir uns sowohl an Interessierte am Studienfach Soziologie als auch an Studienanfänger. Ihnen möchten wir die Frage beantworten, die für eine Studienfachentscheidung noch immer an erster Stelle stehen sollte: Mit welchem Faszinationspotenzial wartet die Soziologie als studierbare Wissenschaftsdisziplin auf? Beiden Zielgruppen – an gesellschaftlichen Fragen und am Studienfach Interessierten – möchten wir »unsere« Wissenschaft näherbringen. Wir laden dazu ein, Gesellschaft zu begreifen. Wer bereit ist, einmal genau hinzuschauen, wird erkennen: Soziologisch Fassbares verbirgt sich in unzähligen gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Phänomenen, und wer sich der Soziologie zuwendet, kann eine sehr spannende Zeit erleben. Der Soziologe Michael Burawoy sprach in seiner »presidential address« als Vorsitzender der amerikanischen Soziologen-Fachgesellschaft vor wenigen Jahren davon, die Soziologie müsse wieder stärker eine »public sociology« werden, sich also gezielt den großen Fragen, die hier und heute in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit diskutiert werden, stellen – und sie sollte Fragen, die eigentlich gestellt werden müssten, aber vergessen oder totgeschwiegen werden, aufwerfen.8 Die »public sociology« ist beileibe nicht die ganze Soziologie, doch ohne diese Zielrichtung bleibt das Fach letztlich akademisch-steril – oder, noch schlimmer, die Soziologie wird zur Geheimwissenschaft, die allenfalls in Think Tanks mittels unter Verschluss gehaltener Expertisen die Großen und Mächtigen dabei berät, wie sie uns noch besser manipulieren können. Die Autorinnen und Autoren, die an diesem Buch mitgewirkt haben, tragen, wie wir finden, auf gelungene Weise – und ganz im Sinne Michael Burawoys – zur Popularisierung ihrer Wissenschaft bei. Hier liegt also keine Einführung, kein systematischer oder enzyklopädischer Überblick über Gegenstände, Theorien oder Methoden des Faches vor – es sind »Appetithappen«! Wir haben Kolleginnen und Kollegen eingeladen, auf die beiden Fragen, —————— 8 Michael Burawoy, 2005: For Public Sociology. In: Soziale Welt Jg. 56 (H. 4), S. 347–374. E INLEITUNG 19 – warum Soziologie sie fasziniert und – warum soziologisches Wissen gesellschaftlich wichtig ist, persönliche Antworten zu geben. Die Beiträge zeigen an je eigenen Arbeitsgebieten und Interessenschwerpunkten – pars pro toto – auf, was das soziologische »Gesellschaft begreifen« bedeutet. Das Inhaltsverzeichnis vermittelt bereits einen Eindruck von der Themenvielfalt dessen, was im Folgenden geboten wird. Von der Frage, warum Menschen zum Islam konvertieren, bis zur allgegenwärtigen und offenbar unaufhaltsamen Beschleunigung des Lebens in der modernen Gesellschaft reicht der Bogen – ohne dass damit das thematische Gesamtspektrum der Soziologie abgedeckt wäre. »Kleine«, unscheinbare Phänomene wie die Schwierigkeiten und Praktiken, mit denen man kommunikativ die eigene Kompetenz, etwa als Ärztin oder Frisör, demonstriert, kommen ebenso zur Sprache wie »große«, gesellschaftsübergreifende Strukturen sozialer Ungleichheit. Auch die Herangehens- und Darstellungsweisen der Beiträge sind sehr unterschiedlich – ganz wie es für das Fach charakteristisch ist. Einige Beiträge stützen sich auf statistische Daten, andere auf biographische Interviews oder sorgfältige Beobachtungen von Alltagssituationen; manche Beiträge sind als theoretische Überlegungen angelegt, die an sozialphilosophische Reflexionen grenzen. Teils ist ein persönliches moralisches oder politisches Engagement des Soziologen erkennbar, teils wird gerade auf eine Distanz von allen Arten der Bewertung der betrachteten Phänomene geachtet. Eine bunte Mischung also! Wir machen zwar mit der von uns gewählten Reihenfolge der Beiträge einen Vorschlag, wie sie gelesen werden könnten; aber jede Leserin und jeder Leser kann zwanglos auch irgendwo in der Mitte oder am Ende anfangen zu lesen. Wir haben die Autorinnen und Autoren gebeten, auch ihren persönlichen Bezug zu dem Thema, das sie vorstellen, anzudeuten. Dies ist üblicherweise in wissenschaftlichen Texten nicht gefragt, aber uns ging es darum – wiederum beispielhaft – vorzuführen, wie ein Interesse an soziologischen Fragen entstehen kann und welche Wege Menschen zur Soziologie führen können. Die Autorinnen und Autoren vermitteln hier, mehr oder weniger explizit, ganz Unterschiedliches, weil es sich um ganz unterschiedliche Menschen handelt, wie auch aus den jeweiligen Kurzinformationen zum wissenschaftlichen