Kataloge und Essays | Band 6 Doppelt im Visier Bettina van Haaren / Barbara Welzel (Hrsg.) Kataloge und Essays | Band 6 Impressum Dortmunder Schriften zur Kunst Kataloge und Essays | Band 6 Doppelt im Visier Kunst und Wissenschaft vor Ort in der Immanuelkirche in DortmundMarten und in der Zeche Zollern II/IV in Dortmund-Bövinghausen Doppelt im Visier Kunst und Wissenschaft vor Ort in der Immanuelkirche in Dortmund-Marten und in der Zeche Zollern II/IV in Dortmund-Bövinghausen Mit Beiträgen von Bettina van Haaren, Silke Rüsche, Hannah Sobbe und Barbara Welzel Bettina van Haaren / Barbara Welzel (Hrsg.) Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellungen in der Stadtkirche St. Reinoldi, Dortmund 22. Januar 2009 - 6. Februar 2009 Immanuelkirche, Dortmund 29. April 2009 - 20. Mai 2009 Projektleitung: Bettina van Haaren, Silke Rüsche und Barbara Welzel Mit Beiträgen von Bettina van Haaren, Silke Rüsche, Hannah Sobbe und Barbara Welzel Abb./Cover: Sabrina Schmid, Holger Küper Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. ISBN 978-3-8370-7877-0 Mit freundlicher Unterstützung der TU Dortmund und der Gesellschaft der Freunde der Universität Dortmund e.V. © 2009 Dortmunder Schriften zur Kunst Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Dortmunder Schriften zur Kunst unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gestaltung: Matthias Geise, Holger Küper in Zusammenarbeit mit Frank Georgy, kopfsprung.de Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt Anna Christina Basalla Anne Bekker Lena Bergdoll Lena Eißen Dorota Ficner Thomas Föllmer Melanie Glade Magdalena Goutoranova Stefan Gutsche Marc Hengstebeck Elza Javakhishvili Jeannine Koenig-Gorontzi Fabian Kreutzkamp Holger Küper Lisa Magdalena Müller Katharina Peick Diana Pownug Anna Reich Natalie Roeder Sabrina Schmid Hannah Sobbe Maja Springer Miriam Theis Imke Tonnat Verana Madeleine Voss Eva Willenbrink Larissa Zwetzschler Marina Zwetzschler Doppelt im Visier Bettina van Haaren und Barbara Welzel Das Projekt führt künstlerisches Arbeiten und Kunstgeschichte, mithin zwei zentrale Arbeitsbereiche des Seminars für Kunst und Kunstwissenschaft der TU Dortmund und zugleich des Fachstudiums Kunst an zwei Orten zusammen: in der Immanuelkirche in Dortmund-Marten und in der Zeche Zollern II/IV in Dortmund-Bövinghausen. Zwei aufeinander bezogene Seminare im Sommersemester 2008 boten einen erkenntnisreichen Dialog zwischen verschiedenen Zugängen und Darstellungsweisen, der künstlerischen und der wissenschaftlichen Perspektive. Sie verknüpfen langjährig aufgebaute Profile der beiden Arbeitsbereiche. Zwei wesentliche Ziele des Arbeitsbereiches Graphik sind die zeichnerische Erkundung Dortmunds und gleichzeitig die Herstellung von größtmöglicher Öffentlichkeit für die künstlerischen Arbeiten der Studierenden. Wer Räume, Architektur, Dinge und Menschen zeichnerisch untersucht hat, speichert sie besser. So gab es in den letzten Jahren graphische Projekte an vielen Stellen Dortmunds: in historischen und modernen Industriegebieten, im Zoo, im Theater und in der Oper, in der DASA, in Museen wie dem Industriemuseum Zeche Zollern oder dem Museum für Kunst und Kulturgeschichte, im Naturkundemuseum, im Rombergpark und seinem Tropenhaus, am Bahnhof oder in der Dortmunder Actienbrauerei. Gleichzeitig ist es in der graphischen Lehre 6 ein Anliegen, die künstlerischen Ergebnisse der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Einige Studentinnen und Studenten nehmen an nationalen und internationalen Ausstellungen teil. Verschiedene gemeinsame Ausstellungen fanden im Dortmunder Raum statt. Immer wieder wurden die Ausstellungen von Katalogen begleitet. So liegen nun sieben Kataloge mit graphischen Arbeiten von Dortmunder Kunststudierenden vor. Sie vereinen hervorragende Arbeiten. Ein Schwerpunkt kunsthistorischen Arbeitens an der TU Dortmund ist die Beschäftigung mit Erinnerungsorten. Die Route Industriekultur, mit der quer durch das Ruhrgebiet Denkmale dieser wichtigen und prägenden Epoche der Region erschlossen werden, umfasst die verschiedensten Zeugnisse der Produktion, des Verkehrs und des Wohnens. Doch fehlen ihr zentrale Monumente, zentrale Erinnerungsorte des Industriezeitalters: die bedeutenden Kirchenbauten, die für die immer zahlreicher werdenden Menschen im Ruhrgebiet gebaut wurden. Gerade diese Bauten sind besonders anschauliche Zeugnisse der Bevölkerungsexplosion, wurden sie doch entweder als Erweiterungsbauten der mittelalterlichen Kirchen oder – für die vielen Auspfarrungen – als große Neubauten errichtet. Das Projekt will zunächst die beiden Erinnerungsorte überhaupt bekannt machen, es möchte zum Erschließen der Kirchenbauten 7 Erinnerungstopographie Ruhrgebiet: Industriekultur oder Kultur des Industriezeitalters Barbara Welzel als Kulturdenkmale beitragen und schließlich die visuelle Erschließung der Räume bereichern: Welche Perspektiven nehmen Wissenschaft und Kunst ein? Weder das Seminar, noch die beiden Ausstellungsstationen und der Katalog hätten ohne Unterstützung realisiert werden können: In der Immanuelkirche in Dortmund-Marten danken wir Pfarrer Christian Höfener-Wolf und Frau Brunhilde Köhler, in Zollern II/IV dem stellvertrenden Museumsdirektor Dr. Thomas Parent, in der Stadtkirche St. Reinoldi Pfarrer Michael Küstermann. Für die finanzielle Förderung des Katalogdrucks danken wir der TU Dortmund und der Gesellschaft der Freunde der Universität Dortmund e.V.; zahlreiche künstlerische Arbeiten wurden von Frau Vanessa Feldhaus aus der Fakultät Raumplanung fotografiert; das Seminar begleitete Silke Rüsche M.A.; den Katalog gestalteten Matthias Geise und Holger Küper, wie immer unterstützt von Frank Georgy. Allen gilt unser herzlicher Dank. Bettina van Haaren und Barbara Welzel Dortmund, im November 2008 8 Die Zeche Zollern II/IV in Dortmund-Bövinghausen und die Immanuelkirche in Dortmund-Marten entstanden in denselben Jahren des beginnenden 20. Jahrhunderts, die Zeche wurde 1905 fertiggestellt, die Kirche 1908. Während jedoch die inzwischen stillgelegte und musealisierte Zeche einen festen Platz im öffentlichen Gedächtnis der Region einnimmt, ist die Kirche weniger bekannt, ihre Rolle in einer Erinnerungstopographie des Ruhrgebietes weniger gesichert. Die Stilllegung der Zechen und anderer Industrieanlagen im Ruhrgebiet wurde nicht nur als sozialer Einschnitt wahrgenommen, der in Arbeitsbiographien, Familien- und Bevölkerungsstrukturen und auch in der Wirtschaft wirksam wurde, sondern ebenso als landschaftliche und kulturelle Veränderung der Region. Der Pott qualmte nicht mehr. Riesige Areale, die von Industrie besetzt gewesen waren, wurden zu Brachen, industrielle Anlagen wurden abgetragen, verfielen, neue Nutzungen wurden und werden gesucht. Hier, um es in wenigen Stichworten abzukürzen, setzte die Industriedenkmalpflege ein. Sie stellte, ausgehend von Zollern II/IV in Dortmund, dem ersten Industriedenkmal in NRW, Areale, Bauten, Produktionsanlagen und Verkehrswege unter Schutz: Orte, die – wie musealisierte Objekte – funktionslos geworden waren, wurden nun zu Besichtigungsorten. Erstmals betraten Frauen die Produktionsstätten, erhielten Zugang zur ehemaligen Arbeitswelt ihrer Männer, Väter und Söhne. Die Stille, die heute viele dieser Stätten überzieht, die Natur, die sich mancherorts – wenn auch verlangsamt – ausbreiten darf, die pittoreske Inszenierung von Maschinen und Maschinenteilen, prägen Bilder dieser Orte, die zugleich für Erinnerung und Vergessen stehen: Unterschutzstellung einer ausgestorbenen Welt. Gegenwärtig laufen mindestens zwei Stränge der Nutzung dieser Orte parallel: Auf der einen Seite leisten ehemalige Industriearbeiter Zeitzeugenarbeit, sie führen durch die Anlagen, erklären das Funktionieren der Maschinen, der Förderanlagen et cetera. Museale Arrangements verstetigen diese Dokumentation. Auf der anderen Seite entstehen Areale der meist gehobenen Freizeitkultur sowie Ansiedlungen so genannter Kreativwirtschaft, für welche die Industrieanlagen vor allem Kulisse und Atmosphäre abgeben. Das soeben in der Kohlenwäscherei der Zeche Zollverein in Essen-Katernberg – demjenigen Ensemble, welches als Leuchtturm der Industriekultur zum UNESCO-Weltkulturerbe erhoben worden ist – eröffnete Ruhrmuseum markiert einen Knotenpunkt dieser Welten: Ästhetische Arrangements, Geschichte und Kultur sowie Dokumentation kommen hier zusammen – und es wird sich zeigen müssen, welches Profil hier künftig entwickelt wird. Zollern II/IV in DortmundBövinghausen ist Zentrale des Westfälischen Industriemuseums, das die Industriekultur mit musealen Präsentationen, Archiven und 9 Forschung am authentischen Ort für das kulturelle Gedächtnis sichern soll. Die Region wurde mit einer „Route Industriekultur“ überzogen. Diese legt ein Netz von Geschichten und Geschichte über das Land, markiert Stätten – und schreibt ein Narrativ des Industriezeitalters fest, das im 19. und 20. Jahrhundert geschaffene Orte (und schwerpunktmäßig die Arbeitswelt von Männern) erfasst. Industriekultur in dem hier gepflegten Wortsinn ist etwas gänzlich anderes als – und diese gilt es freizulegen – Kultur des Industriezeitalters. Das soziale und kulturelle Leben im Industriezeitalter besaß – wie schon in der Vormoderne und wohl außerhalb der Großstädte bis weit ins 20. Jahrhundert – als wichtigen Kristallisationspunkt das Leben in den Pfarrgemeinden. In den Kirchen wurden Kinder getauft, Ehen geschlossen, hier fanden die Begräbnisse statt. Zentrale Ereignisse und Rituale der individuellen Biographie wie des familiären Lebens von Frauen und Männern waren an die Kirchen gebunden. Viele Menschen nahmen regelmäßig an Gottesdiensten teil, die allermeisten strukturierten zumindest den Jahreskreis entlang der christlichen Hochfeste, besuchten jedes Jahr wieder an Weihnachten den Gottesdienst. Zahlreiche Vereine verwoben korporatives mit kirchlichem Leben, es gab Gruppierungen wie Kirchenchöre und christlich-soziale Arbeitervereine. Vor allem kann der Beitrag, den die Kirchen zur Integration der Zuwanderer leisteten, wohl kaum überschätzt werden. Hinter Schlagworten wie „Bevölkerungsexplosion“ steckt die schlichte Tatsache, dass sich vielerorts die Ansässigen einer weit größeren Zahl von Zuwanderern gegenüber sahen. Und so durchzieht eine andere Route neben der Route Industriekultur das Revier: die – bisher nicht markierte – Route der Kirchenbauten für die Menschen des Industriezeitalters. Kirchen wie diejenige in Dortmund-Huckarde wurden vergrößert, 10 Gemeinden wurden ausgepfarrt und geräumige Kirchen wie in Dorstfeld und Marten neugebaut. In der Immanuelkirche sollten 1.100 Menschen Platz finden können. In Huckarde wurde die mittelalterliche Kirche im ausgehenden 19. Jahrhundert zu klein; Gutachter forderten, dass man den 360 Quadratmetern noch einmal 400 hinzufügen müsse, um den sonntäglichen 800 Gottesdienstbesuchern angemessen Raum zu geben. Gleichzeitig mit den Industrieanlagen wurden also Kirchen gebaut. Namhafte Architekten wurden für die Kirchenbauten gewonnen, man stritt um Architekturkonzepte, beauftragte bedeutende Ausmalungen, Glasfenster et cetera. Technische Errungenschaften wurden selbstverständlich integriert. So ist die evangelische Kirche in Asseln ein Zeugnis der Elektrifizierung im Raum Dortmund, die Lampen sind Beispiele eines Kunsthandwerkes, das für die neuen Anforderungen nach gestalterischen Lösungen suchte. Ein Weiteres kommt hinzu. Mit den Kirchen, auch dann noch, wenn Gemeinden ausgepfarrt und Bauten neu errichtet wurden, sind Räume benannt, die die jeweilige Gegenwart mit Jahrhunderte alter Geschichte und Tradition verbanden. Die Zuwanderer des Industriezeitalters fanden Orte vor, an denen sie aufgenommen und in die Ortsgeschichte integriert wurden. Während die Produktionsstätten dem Fortschritt verpflichtet waren, überspannten die Kirchen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es kann kein Zweifel bestehen: Ohne diese Orte, ohne die Kirchen, bleibt die Erinnerungstopographie des Ruhrgebiets unvollständig. Allerdings stellen Kirchen als Erinnerungsorte andere Anforderungen als stillgelegte Zechen, sie sind vielschichtiger. An diesen Orten durchdringen sich gegenwärtiges kirchliches Leben und die kulturelle Erinnerung an vergangene Epochen, durchdringen sich Bekenntnis und säkulares Denkmal. Kirchen sind keine Museen im eigentlichen Sinn des Wortes, sie werden nicht besucht, um aus dem Gebrauch genommene Objekte zu besichtigen. In ihnen finden Gottesdienste statt, sie sind weiterhin „in Betrieb“. Und doch hat der Strukturwandel auch die Kirchen erreicht, ist die Zahl der Gemeindemitglieder zurückgegangen, werden die im Bevölkerungswachstum neugebauten Kirchengebäude nicht mehr gefüllt, können die Kosten für den Unterhalt von den Gemeinden nicht mehr aufgebracht werden. So soll knapp ein Drittel der Kirchengebäude des Ruhrbistums aufgegeben werden. Die evangelische Kirche steht vor gleichen Problemen. Seit dem 19. Jahrhundert sind Kirchen, die Gebäude und ihre Ausstattungen, doppelt codierte Orte. Sie sind Gotteshäuser. Und sie sind zugleich Kulturdenkmale. Dieser Kulturbegriff ist – inzwischen auch juristisch gefasst in den Denkmalgesetzen, in den Definitionen der UNESCO et cetera – ein säkularer. Er besagt, dass diese Monumente neben ihrer Bekenntnisfunktion im christlichen Glauben Erbe aller Menschen sind. Die Anerkennung als „Denkmal“ bedeutet für die Besitzer, also bei den Kirchen für die Gemeinden, immer auch ein Stück Souveränitätsverzicht. In den Kirchengebäuden und ihren Ausstattungen sind Geschichte und Kultur Europas aufsuchbar für alle Menschen. In diesem Sinne auch sind die Kirchen verpflichtende Erinnerungsorte Europas. Für eine historische verankerte Topographie sind sie unverzichtbar. Man geht wohl nicht fehl, wenn man gegenwärtig von einer Neukartierung der Landschaft, der Erinnerungstopographie gerade im Ruhrgebiet spricht. Diese Neuformation wird in den nächsten Jahren an Dynamik gewinnen – nämlich dann, wenn die Zeitzeugen der Industriekultur sterben, wenn die Erinnerung an die Industrie vollständig in andere Gedächtnismedien überführt werden muss. An dieser Epochenschwelle geht es noch einmal darum, ob Industriekultur oder Kultur des Industriezeitalters erinnert werden soll. Literaturauswahl Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006 Gold vor Schwarz. Der Essener Domschatz auf Zollverein, hg. von Birgitta Falk. Katalog der Eröffnungsausstellung des Ruhr Museums, Essen 2008; hier vor allem das Vorwort „Gold vor Schwarz: Das Mittelalter im Ruhrgebiet und der Domschatz auf Zollverein“ von Ulrich Borsdorf und Heinrich Theodor Grütter, S. 12-18 Barbara Welzel Professorin für Kunstgeschichte an der TU Dortmund. Veröffentlichungen zur deutschen und niederländischen Kunstgeschichte des 15. bis 17. Jahrhunderts und zu sammlungsgeschichtlichen Fragen, zur Hofkultur, zur spätmittelalterlichen Stadtkultur und zum kulturellen Gedächtnis sowie zu Kunstgeschichte und Bildungsfragen. Thomas Schilp und Barbara Welzel (Hg.), Mittelalter und Industrialisierung. St. Urbanus in Huckarde (Dortmunder Mittelalter-Forschungen 12), Bielefeld 2009 (erscheint im Mai 2009), hierin vor allem die Beiträge von Thomas Parent zu „Sakralbauten als historische Quellen zur Industriegeschichte Dortmunds und des Ruhrgebiets“ sowie Klaus Tenfelde zu „Religion und Religiosität der Arbeiter im Ruhrgebiet“ Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisation und Geopolitik, München u.a. 2003 11 Intensität und höchste Aufmerksamkeit Bettina van Haaren Zeichnen bedeutet Intensität und höchste Aufmerksamkeit. Direkter als in jedem anderem Medium werden zugleich Körpergefühle und Gedanken sichtbar. Ein Zeichner sucht in jeder Arbeit nach dem Neuen und nach formaler Schlüssigkeit. Begabung ist dabei nur ein Teil der Voraussetzung. Es gilt, das Eigene zu behaupten, gleichzeitig aber beweglich zu bleiben durch Impulse. Routine, Langeweile oder allzu großer Gewissheit des Zieles muss ständig entgegengewirkt werden. Bildideen entstehen im Machen. Dieses bedeutet ein ständiges Zweifeln, denn alles Neue zerstört einen Teil der alten künstlerischen Konzepte. Ein Wachsen gelingt über das Wechselspiel zwischen rationaler Kontrolle und dem Zulassen von Unbewusstem, Unvorhergesehenem. Eine Möglichkeit zur Veränderung in der Zeichnung eröffnen Ortswechsel. Neue Raumzusammenhänge und damit neue Wirklichkeits-Ausschnitte können optisch und inhaltlich herausfordern. Fast dreißig Kunststudierende setzten sich im Sommersemester 2008 künstlerisch mit zwei sehr unterschiedlichen Dortmunder Kulturdenkmälern auseinander: der Zeche Zollern II/IV und der Immanuelkirche. Hauptinteresse war eine subjektive Positionierung, die über Anschauung, atmosphärisches Erleben und kunsthistorisches Wissen gelang. Parallel fand die notwendige Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen künstlerischen 12 Kontext statt. Die Ergebnisse sind weniger dokumentierend als vielmehr formal und inhaltlich spielend und körperlich erfahrend. Es ging darum, ein Erkenntnisinteresse herauszufiltern und die Notwendigkeit der persönlichen Objektauswahl sichtbar zu machen. Im fremden Umfeld entdeckten die Studierenden Bekanntes, das durch neue Verbindungen überraschte. Ausschnitte aus diesen individuellen Entwicklungen sind hier dokumentiert. Es finden sich Positionen zwischen Registrieren, dinglichem Isolieren, gestischem Beleben, spielerischem Verändern des Sichtbaren oder dem tastenden Untersuchen der eigenen Innenwelt nach dem optischen Erlebnis. Auffällig ist, dass viele Studierende versuchten, die vorgefundenen Architekturen zu beleben, und bewegte Formen und Strukturen erzeugten. Die Dingwelt wurde durch subjektive Anmutungen und Ausdruckswillen verändert und damit Widerspiegelung von inneren Zuständen und Ideen. Es galt, formale Probleme zu lösen: Raumillusion zu schaffen, graphische Gewebe zu bilden, Spannung zwischen den Bildelementen herzustellen, Rhythmik zu erzeugen, die Blattfläche zu organisieren, das Papierweiß als bewusste Leerform zu aktivieren, den Stift konzentriert und gleichzeitig unverkrampft zu führen sowie Materialien gezielt einzusetzen. Die Medienvielfalt ist groß und macht deutlich, dass viele Studierende die direkte ding- 13 liche und sinnliche Wahrnehmung vor den Objekten brauchten. Andere wiederum benötigten die zeitliche und räumliche Distanz, um auf das Gesehene zu reagieren. So finden sich reine, autonome Zeichnungen, malerische Mischtechniken, Druckgraphisches, digitale Bildbearbeitungen und auch zwei Videos. Die KunststudentInnen hatten leichteren Zugang zur Zeche mit ihren gewaltigen Außengeländen. Hier wurden Maschinen, der Förderturm, Wagen oder Gleise zu den bevorzugten Bildobjekten. Die Immanuelkirche regte vor allem zur Beschäftigung mit dem Ornament an, das sich dingunabhängig verselbständigte. Im Folgenden sollen nun verschiedene Annäherungsmöglichkeiten an die beiden Orte beschrieben und einige höchst eigenständige Positionen näher betrachtet werden. Für viele Kunststudentinnen ist die lineare Konstruktion dominierendes Ausdrucksmittel. Hoch präzise verschachtelt etwa Magdalena Goutoranova Bauteile zu unbekannten Systemen. Die an Bauzeichnungen erinnernden Arbeiten werden von dunklen Graphitlinien Ebenen überspringend durchzogen, sodass sich die ursprüngliche Funktion der Bildmotive und ihre Proportionen verlieren. Stattdessen ergeben sich Pläne für unrealisierbare Bauten. Ähnlich Marina Zwetzschler: Aus der Beobachtung des Förderturmes heraus erschafft sie kristalline Gebilde, mal objekthaft, mal über die Bildfläche verteilt. Zwei graphische Ebenen in unterschiedlichen Grauwerten verflechten sich komplex. Sabrina Schmid erzeugt mit Liniengerüsten extreme Tiefenillusion. Ihre isolierten Gebäudeteile bestechen durch höchste Präzision, Vielfalt in der Raumorganisation und durch die Vermeidung von jeglichem Anekdotischen. Anna Reich macht vor allem Ornamente der Immanuelkirche zu ihrem Thema. Die Musterbänder und -kreise ohne begrenzende Ortserklärung 14 erzeugen durch Veränderung der Richtung Raumwirkung. Hier gelingen erstaunliche Umdeutungen ins Pflanzliche. Auch Hannah Sobbe konzentriert sich auf das räumliche Spiel mit Musterbändern und Ketten. Ausgesprochen fein beobachtend fädelt, wickelt und hängt sie diese Gliederbänder in ihre Formate. Der Wechsel zwischen Flächigkeit und sparsamer Raumerfahrung macht diese Arbeiten zum Erlebnis. Auf Eva Willenbrink trifft dies ebenfalls zu. Sie kombiniert jedoch die Raum schaffende Linie mit ungegenständlich erscheinenden, rötlichen Gebilden. Diese ergeben sich aus der Beobachtung von Rost und abgeplatzten Farbpartien. Wie aufgehängt oder durchstochen werden die nur ganz leicht modulierten Formen durch die Linien in Spannung gesetzt. Bei den bisher beschriebenen Positionen fand sich die Linie hoch präzise, manchmal fast technisch eingesetzt. Die Ergebnisse waren durch systematisierendes Spiel und Abstraktion gekennzeichnet. Eine andere Gruppe von Studierenden verbindet sowohl der Wechsel von Linie und Fläche als auch der comic-artige Witz. Anne Bekker lässt mit kräftigem Strich figürlich wirkende Fahrzeuge agieren. Ähnlich ironisch lassen sich Fabian Kreutzkamps Arbeiten lesen: Seine aus Maschinen und Kirchenmobiliar gewonnenen Formen wollen sich unbekümmert immer wieder zu Roboter-artigen, Zähne bleckenden Wesen fügen. In Thomas Föllmers Zeichnungen wird etwa das Tor der Maschinenhalle zum Monster oder verbinden sich die zeichnenden Kommilitonen mit gesehenen Raumobjekten. Ausgesprochen skurril auch die Umdeutung von Elza Javakhishvili: Ihre Kirchenbänke werden zur Prozession von gebeugten Gestalten. Natalie Roeder erzählt witzig und mehrperspektivisch mit spröden Pinsellinien von Menschen und Wagen. Einige Studierende fanden in der Kombination von Linie und Struktur ihre Ausdrucksmöglichkeit. So schraffiert und umfährt Verena Voss sensibel eine Gruppe von Weihnachtsfiguren, die sich in einer Kiste verstaut fand. Es ergibt sich eine eigenartige Gesprächssituation in seltsamer räumlicher Umgebung. Lena Eißen verwandelt Maschinen in Animalisches. Bei Larissa Zwetzschler bildet die gestische Struktur in fremdem Violett einen guten Kontrast zu den präzise beschriebenen Maschinenteilen. Völlig aus der Struktur heraus im Übergangsbereich zur Malerei arbeitet Lena Bergdoll. Wunderbare Gespinste aus Verdichtungen, Durchlässigkeiten und Kratzspuren geben atmosphärische Raumsituationen wieder. Die hoch differenzierte Farbigkeit wird durch Schwarztöne gehalten. Einige Studierende wählten als Medium das Druckverfahren. Während Anna Christina Basalla Musterhaftigkeit nicht nur durch Punktfelder oder Streifungen sondern auch Hochdruckstempel in spannende, Designartige Kompositionen einfügt oder Marina Zwetzschler kühle, digitale Reflexionsgebilde mit Graphitzeichnung verbindet, arbeiten Dorota Ficner und Katharina Peick ausschließlich am Rechner. Dorota Ficner spielt mit eingescannten, zeichnerischen Strukturen und schichtet die Gebäudeteile, Rollen, Gleise, Fahrzeuge oder Kräne digital übereinander: ein hoch interessantes Farb- und Formenspiel aus Plakativem und Raumelementen. Katharina Peick schneidet dagegen Scherenschnitt-artig Maschinenteile aus und fügt sie rhythmisch auf das Papierweiß. Zwei völlig unterschiedliche Filme sind Ergebnis der Auseinandersetzung mit der Zeche. Holger Küper erzählt in seinem dokumentarischen Video „Heinz Männchen“ von Helligkeitserzeugung unter Tage. Der Film zeigt ihn selbst in skurriler Arbeitskleidung beim Basteln einer Laterne und der Freude am Einsatz dieser bei der Abwärtsfahrt. Holger Küper beeindruckt durch inszenierte Naivität, verzögerte Bilder, strenge Sparsamkeit und hintergründigen Humor. Thomas Föllmers Video ist in der Bildauffassung seinen Zeichnungen sehr nah: Er sucht mit der Kamera Dinge, die sich durch partielle Pixelstruktur, Unschärfe oder rhythmische Wiederholung verwandeln. So entsteht ein höchst subjektiver und von Assoziationen begleiteter Blick auf die Objektwelt der Zeche. Die Vielfalt der künstlerischen Ergebnisse dieses Seminars ist angedeutet. Die Arbeiten zeigen starke Eigenpositionierungen und die Kenntnis zeitgenössischer Zeichnung. Zeichnen aus Neugier und Fragehaltung wird sichtbar. In der Umwelt- und Umfeldbetrachtung, in der Weltaneignung – hier nun über die Orte Zeche Zollern II/IV und Immanuelkirche – ging es darum, unkonventionelle, rezeptfreie Ausdrucksformen zu entwickeln, Klischees abzubauen und den eigenen künstlerischen Weg weiter zu verfolgen. Dies scheint gelungen. Bettina van Haaren 1961 geboren in Krefeld; 1981 – 1987 Studium der Bildenden Kunst an der Universität Mainz; seit 2000 Professur für Zeichnung und Druckgraphik an der Universität Dortmund; seit 1986 zahlreiche Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen im In- und Ausland, Preise und Stipendien. 15 16 Dorota Ficner 17 18 Dorota Ficner 19 20 Anne Bekker 21 22 Stefan Gutsche Larissa Zwetzschler 23 24 Larissa Zwetzschler 25 26 Melanie Glade Lisa Magdalena Müller Jeannine König-Gorontzi 27