SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 WISSEN - Manuskriptdienst „Angriff

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SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 WISSEN - Manuskriptdienst
„Angriff auf die Gelenke Die Volkskrankheit Rheuma“
Autorin und Sprecherin: Ulrike Till
Redaktion: Sonja Striegl
Sendung: Mittwoch, 17. November 2010, 8.30 Uhr, SWR2
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O-Ton 1 - Irmgard Grossmann:
Also es ist ja oft so, dass ein Schub grad so über Nacht kommt; am Tag vorher kann’s
einem noch ganz ordentlich gehen, und morgens wachst Du auf und ach Gott, was ist
denn jetzt los - die Hände dick, die Ellenbogen, die Knie, die ganzen Gelenke
angeschwollen, und Du kommst einfach kaum aus dem Bett, Du bist einfach hilflos da.
Autorin:
Irmgard Grossmann aus Freudenstadt leidet seit mehr als 40 Jahren an entzündlichem
Gelenkrheuma - in den akuten Phasen beherrscht die Krankheit ihr ganzes Leben:
O-Ton 2 - Irmgard Grossmann:
Man kann keine Flasche mehr öffnen, man kann morgens nicht die Zähne putzen, man
kann keine Tür richtig öffnen, weil ich die Klinke nicht fassen kann; man kommt die
Treppe nicht runter, wenn die Knie verschwollen oder eingeschränkt sind, und so ist
eigentlich der Alltag manchmal ganz ganz schwer, was man dann nicht gerne nach
außen so trägt.
Ansage:
„Angriff auf die Gelenke - Die Volkskrankheit Rheuma“. Eine Sendung von Ulrike
Till.
Autorin:
Rund zehn Millionen Deutsche leiden an rheumatischen Erkrankungen - nicht nur ältere
Patienten, sondern auch viele Jüngere und sogar Kinder sind betroffen. Rheuma ist ein
Sammelbegriff für eine ganze Reihe von Krankheiten, die sich in zwei Hauptgruppen
unterteilen lassen: zum einen der altersbedingte Gelenkverschleiß, also die klassische
Arthrose. Zum anderen die große Gruppe der entzündlichen rheumatischen
Erkrankungen; sie sind für die Betroffenen besonders belastend. Ursache ist hier nicht
die mechanische Abnutzung der Gelenke, sondern Immunzellen, die den eigenen
Körper angreifen. Diese Erkrankungen können auch die Haut, die Augen oder innere
Organe befallen. Zu den rheumatischen Autoimmunerkrankungen zählt auch die
rheumatoide Arthritis, an der Irmgard Grossmann schon als Jugendliche erkrankt ist. Die
Bezeichnung „Rheuma“ kommt vom griechischen Wort für „fließen“ - in früheren
Jahrhunderten dachte man, dass kalter Schleim in die Gelenke fließt und so die
Beschwerden verursacht. Heute ist klar, dass neben einer genetischen Veranlagung bei
den entzündlichen Formen von Rheuma vor allem eine fehlgesteuerte Immunabwehr
eine Schlüsselrolle spielt. Professor Andreas Radbruch, Leiter des Deutschen RheumaForschungszentrums in Berlin, erklärt, wie sich das Immunsystem gegen den Körper der
Patienten richtet:
O-Ton 3 - Andreas Radbruch:
Es kann nicht mehr zwischen selbst und fremd unterscheiden, und wendet sich jetzt
gegen Strukturen des Gelenkes, die es angreift. Und da die Strukturen aber nicht
weggehen wie vielleicht bei einer Bakterieninfektion - da sind die Bakterien irgendwann
nicht mehr da, dann gibt das Immunsystem auch wieder Ruhe - aber bei der
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rheumatischen Entzündung gibt das Immunsystem keine Ruhe, und die Krankheit wird
chronisch.
Autorin:
Je früher Rheuma entdeckt wird, desto besser lässt sich die Krankheit behandeln. Doch
weil Rheuma so viele Facetten hat, sind viele Hausärzte mit der richtigen Diagnose
überfordert. Im Schnitt wird eine rheumatoide Arthritis erst nach mehr als einem Jahr
erkannt; beim Morbus Bechterew, der allmählichen Versteifung der Wirbelsäule, dauert
es sogar sechs Jahre. Die Betroffenen müssten viel schneller zu erfahrenen Fachärzten
überwiesen werden, kritisiert die Professorin Erika Gromnica-Ihle, Rheumatologin und
Präsidentin der Deutschen Rheuma-Liga:
O-Ton 4 - Erika Gromnica-Ihle:
Wir haben es ja zu tun mit hundert, und manche sagen sogar vierhundert,
verschiedenen rheumatischen Erkrankungen. Das ist also eine riesige Zahl. Und für
viele Erkrankungsgruppen gibt es zwar gleiche Ursachenmuster - aber es gibt ja auch
rheumatische Erkrankungen, die innere Organe betreffen. Oder rheumatische
Erkrankungen, die Gefäße betreffen, wie die Vaskulitiden. Die muss man erst mal
kennen, die muss man auseinanderhalten.
Autorin:
Noch schwieriger wird es für die Ärzte, wenn Patienten an mehreren rheumatischen
Erkrankungen zugleich leiden - so wie Anne Müller, 58, aus Rottenburg:
O-Ton 5 - Anne Müller:
Ich hab rheumatoide Arthritis, ich hab Fibromyalgie, ich hab Arthrose - und alles
zusammen ist fast nicht erträglich. Ich nehme in der Zwischenzeit sehr starke
Schmerzmittel, ich nehme Opiate. Und die nehm ich täglich.
Autorin:
Mit 40 hatte die ehemalige Buchhalterin ihren ersten Rheumaschub - bald waren die
Beschwerden so schlimm, dass sie ihren Beruf aufgeben musste. Um die richtige
Diagnose hat Anne Müller damals regelrecht gekämpft - auch heute noch ein typisches
Schicksal vieler Rheumapatienten:
O-Ton 6 - Anne Müller:
Ich wurde überall als Simulantin hingestellt. Mein Hausarzt hat mir immer gesagt, Sie
haben kein Rheuma, lassen Sie mich endlich in Ruhe damit. Und mein Orthopäde hat
mir immer gesagt, ich müsse in die Richtung gehen. Und da hab ich zu meinem
Hausarzt gesagt: Wenn Sie mich nicht zum Rheumatologen schicken, dann such ich mir
einen anderen Arzt.
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Autorin:
Die Kriterien für eine Überweisung zum Facharzt sind eigentlich klar; jeder Hausarzt
sollte sie kennen. Am besten ist es aber für die Patienten, wenn sie diese Regeln auch
selbst im Kopf haben, meint Erica-Gromnica-Ihle:
O-Ton 7 - Erika Gromnica-Ihle:
Die Regeln bestehen darin, dass mehr als zwei Gelenke entzündlich verändert sind.
Dass das mehr oder weniger symmetrisch auftritt; dass die Entsprechenden eine
Morgensteifigkeit haben, die länger als eine Stunde dauert. Und wenn das über sechs
Wochen lang andauert, dann ist der Weg zum Rheumatologen unverzichtbar.
Autorin:
Möglichst innerhalb von drei Monaten sollte bei Patienten mit diesen Symptomen die
Behandlung beginnen - soweit die Theorie. Tatsächlich müssen manche Patienten bis
zu einem halben Jahr auf einen Termin warten, und dazu oft noch weite Wege in Kauf
nehmen. Im ländlichen Raum findet man nur ganz selten Fachärzte für Rheumatologie,
und selbst in Großstädten ist der Bedarf viel höher als das Angebot. Nach Schätzungen
der Rheuma-Liga bräuchte Deutschland doppelt so viele Rheumatologen - in der
Medizinerausbildung aber spielt die Fachrichtung kaum eine Rolle; außerdem scheitert
so manche Praxiseröffnung an bürokratischen Hürden: in jeder Stadt ist nur eine
bestimmte Zahl von Internisten erlaubt - wenn dieses Kontingent zum Beispiel von
Kardiologen und Diabetologen schon erfüllt ist, kann sich kein Rheumaspezialist mehr
niederlassen. Außerdem werden notwendige Untersuchungen zu schlecht vergütet,
bemängelt die Professorin Ina Kötter, Leiterin der Rheuma-Ambulanz am Uniklinikum
Tübingen:
O-Ton 8 - Ina Kötter:
Rheumapatienten sind eben sehr aufwendig, man braucht eigentlich sehr viel Zeit für die
Anamnese, für die Untersuchung, für das Gespräch über die Medikamente, das ist ja
gerade bei chronischen Erkrankungen sehr wichtig. Und das wird eben sehr schlecht
bezahlt für Kassenpatienten. Da gibt’s Pauschalen, die relativ niedrig sind, und mit
denen relativ viel nicht abgedeckt ist: zum Beispiel ein Gelenkultraschall, eine sehr
schöne Methode, um früh eine Arthritis zu erkennen und auch den Verlauf schnell zu
beurteilen. Und das ist zum Beispiel mit der Pauschale abgegolten, das heißt, das
kriegen die Kollegen nicht extra bezahlt. Das dauert aber im Schnitt mindestens zwanzig
Minuten.
Autorin:
Da es so wenige Rheuma-Experten gibt, ist es besonders wichtig, dass auch Hausärzte
die Symptome richtig zuordnen können. Manche verlassen sich dabei immer noch auf
einen einfachen Bluttest, der den sogenannten Rheuma-Faktor bestimmt. Dabei werden
Antikörper im Serum gemessen -- doch die Werte führen zu keinem eindeutigen
Ergebnis: gerade ältere Patienten haben manchmal einen hohen Rheuma-Faktor,
obwohl sie gar nicht an Rheuma erkrankt sind. Und umgekehrt bleibt der Wert bei
manchen Rheumatikern ein Leben lang negativ; die Krankheit ist bei ihnen also auf
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diesem Weg nicht nachweisbar. Deshalb setzen Mediziner verstärkt auf eine andere
Untersuchung, den CCP-Test. Auch dieser Test misst die Konzentration von
Antikörpern: in diesem Fall gegen Cyklische Citrullinierte Peptide. Der hochspezifische
Test bedeutet einen entscheidenden Fortschritt in der Diagnostik, findet Dr. Marc
Schmalzing, Rheumatologe am Uniklinikum Tübingen:
O-Ton 9 - Marc Schmalzing:
Zum Beispiel bei der rheumatoiden Arthritis hat sich dieser Test gegen CCP-Antikörper
als wesentlich nützlicher erwiesen. Und wenn wir diese Auto-Antikörper nachweisen und
eben auch hohe Werte nachweisen, dann hilft das uns sehr viel weiter. Dann ist es
erstens schon mal sehr viel wahrscheinlicher, dass der Patient tatsächlich eine
rheumatoide Arthritis hat und nicht irgendeine andere Gelenkserkrankung. Und wir
können dann auch vorhersagen, dass er eine schlechtere Prognose hat, was seinen
Gelenkschutz oder die Gelenkzerstörung anbelangt.
Autorin:
Gerade Patienten mit einer ungünstigen Prognose brauchen eine besonders intensive
Therapie. Seit einigen Jahren kommt in schweren Fällen eine spezielle Form von
Medikamenten zum Einsatz, die Biologika. Sie haben die Rheumabehandlung
revolutioniert: denn zum ersten Mal ist damit ein gezielter Angriff auf die zerstörerischen
Immunzellen möglich, die im Körper von Rheumakranken wüten. Zwar ist auch mit
dieser modernsten Waffe im Kampf gegen die Krankheit keine Heilung möglich. Doch
zumindest die Symptome lassen sich damit in den meisten Fällen wirksam bekämpfen.
Deshalb hält auch der Berliner Rheumaforscher Andreas Radbruch diesen Ansatz für
einen Meilenstein in der Therapie:
O-Ton 10 - Andreas Radbruch:
Man nimmt also jetzt Bausteine des Immunsystems. Man nutzt aus, dass das
Immunsystem sehr genau Sachen erkennen kann und dann bildet es Antikörper, die
erkennen nur eine ganz bestimmte Zielstruktur, nichts anderes. Und man macht jetzt
solche Antikörper, die die Botenstoffe der Entzündung ganz gezielt angreifen und
neutralisieren. Zum Beispiel den Tumor-Nekrose-Faktor, einen ganz wesentlichen
Botenstoff der Entzündung. Und wenn diese Antikörper an ihn angedockt haben, dann
kann der nicht mehr funktionieren. Und die Entzündung wird zum Stillstand gebracht.
Autorin:
Allerdings ist die Behandlung mit Biologika sehr teuer, außerdem haben die Mittel eine
Reihe von Nebenwirkungen. Gerade bei älteren Patienten kann der Einsatz wegen
erhöhter Infektionsgefahr zu riskant sein. Deshalb verordnet auch die Präsidentin der
Rheuma-Liga, Erica Gromnica-Ihle, diese Medikamente erst dann, wenn die
Standardbehandlung versagt:
O-Ton 11 - Erika Gromnica-Ihle:
Bei vielen Patienten reicht eine Behandlung mit herkömmlichen Medikamenten.
Hauptmedikament ist das Methotrexat, ein Basistherapeutikum, was auch das
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Immunsystem beeinflusst - nicht so gezielt, sondern Sie müssen sich vorstellen, beim
MTX wird mit einer Kanone auf das Immunsystem geschossen, und mit den Biologika
schießen Sie mit der Pistole, ganz genau auf eine Stelle im Immunsystem. Das ist der
große Unterschied. Aber für viele Patienten mit Rheuma reicht die Behandlung mit MTX.
Autorin:
Die Therapie greift jedoch nur bei entzündlich bedingtem Rheuma - Arthrose dagegen,
der meist altersbedingte Abbau von Gelenkknorpel, wird üblicherweise mit sogenannten
nicht-steroidalen Anti-Rheumatika behandelt. Das sind Schmerzmittel wie Ibuprofen
oder Diclofenac, die dabei helfen sollen, dass die Patienten sich überhaupt wieder
bewegen können. Denn nur so lassen sich die noch vorhandenen Knorpelreste erhalten.
Übergewicht, Fehlstellungen der Gelenke, Verletzungen und starke Beanspruchung
können zu Arthrose führen. Einmal zerstörte Gelenke sind unwiederbringlich verloren in vielen Fällen hilft irgendwann nur noch der Einsatz einer Gelenkprothese; am
häufigsten sind Operationen an Knien und Hüften. Fortgeschrittene Arthrose ist für die
Betroffenen enorm belastend - im Gegensatz zu manchen Formen von entzündlichem
Rheuma ist der Gelenkverschleiß aber nicht lebensbedrohlich. Wenn jedoch das eigene
Immunsystem Gelenke und andere Körperteile angreift, kann Rheuma in extremen
Fällen sogar zum Tode führen. Zum Beispiel bei der systemischen Sklerose, wörtlich
heißt das „harte Haut“: bei dieser seltenen Auto-Immunerkrankung aus der Gruppe der
Kollagenosen wird das Bindegewebe immer härter - und zwar zum einen äußerlich, vor
allem an Händen und Füßen; zum anderen aber auch im Körperinneren. Besonders
gefährdet ist das Bindegewebe von Lunge, Speiseröhre und Magen; auch Nieren und
Herz können betroffen sein. Bei einer ausgeprägten systemischen Sklerose, die auf
Medikamente nicht reagiert, droht irgendwann Multiorganversagen. Reinhold Ölmeyer
aus Memmingen hat das vor zwei Jahren nur dank einer hochriskanten Behandlung mit
eigenen Stammzellen überlebt:
O-Ton 12 - Reinhold Ölmeyer:
Also da ging’s mir wirklich so schlecht, ich konnte kaum mehr laufen und kaum mehr
essen, der ganze Mechanismus war eigentlich schon gestört, also es war wirklich zwölf,
nicht fünf vor zwölf. Da war nimmer viel da. Und dann hab ich die Hochdosischemo
bekommen für diese Stammzellentransplantation. Da haben wir eigentlich nach drei
Wochen schon gemerkt, wie sich die Haut verändert, zum Positiven, und da kam bei mir
so ein richtiges Lebensgefühl wieder auf, jetzt geht’s aufwärts; und da ging’s Kämpfen
los, und ich denk, so haben wir’s wieder hinbekommen.
Autorin:
Die autologe Stammzelltransplantation kommt sonst vor allem bei Patienten mit
Blutkrebs zum Einsatz; bei Rheumatikern wagen Ärzte die gefährliche Therapie nur,
wenn alle anderen Mittel versagen. In einem ersten Schritt werden die blutbildenden
Stammzellen im Knochenmark zum Wachstum angeregt, und dann in einer Art
Blutwäsche entnommen. Danach beginnt die entscheidende zweite Phase der
Behandlung: mit einer hochdosierten Chemotherapie wird das Immunsystem des
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Patienten nahezu komplett heruntergefahren. Der Rheumatologe und Hämatologe Marc
Schmalzing hat die Methode am Uniklinikum Tübingen schon mehrfach eingesetzt:
O-Ton 13 - Marc Schmalzing:
Dann geben wir einen Tag später die eigenen Stammzellen wieder zurück, die wandern
ins Knochenmark und bauen dann die Blutbildung und eben auch das Immunsystem
neu auf. Die Idee wäre, dass sie es komplett neu aufbauen, aber das ist das, was uns
wahrscheinlich eben doch nicht gelingt. Aber es gelingt uns doch soweit, dass die
Patienten danach von ihrer Erkrankung doch wesentlich besser dastehen; sie haben
einfach weniger Beschwerden, haben weniger Befall, die entzündliche Aktivität ist oft
gestoppt und die Patienten brauchen danach wesentlich weniger oder vielleicht sogar
gar keine Medikamente mehr.
Autorin:
Die Stammzelltherapie ist die einzige Möglichkeit, Rheuma tatsächlich zu heilen - bisher
sind allerdings nur wenige Patienten mit der radikalen Methode behandelt worden. Denn
weil die Kranken eine Zeitlang ohne funktionierendes Immunsystem auskommen
müssen, ist die Therapie lebensgefährlich; einige Patienten sind dabei an Infektionen
gestorben. Andererseits ist die Erfolgsbilanz beeindruckend: zwei Drittel der
Behandelten blieben auch nach mehr als zehn Jahren frei von Rheuma. Jetzt suchen
Mediziner nach Wegen, wie sich das Immunsystem ganz gezielt nur in Teilen
ausschalten und neu starten lässt - das ist jedoch derzeit noch reine
Grundlagenforschung. Zur Behandlung von Rheuma setzen Ärzte aber nicht nur auf
neue Wirkstoffe und experimentelle Therapien: auch sanfte Methoden spielen eine
wichtige Rolle, sagt Erica Gromnica-Ihle:
O-Ton 14 - Erika Gromnica-Ihle:
Die wichtigste begleitende Therapie neben den Medikamenten ist die Bewegung. Und
das ist Kälte oder Wärme. Und da gibt es einen Grundsatz: wenn das Gelenk sehr dick
und sehr heiß ist, dann kommt Kälte drauf, und wenn das Gelenk eher arthrotisch
verändert ist, dann kommt Wärme drauf. Aber Sie können nicht ein entzündliches
Rheuma heute nur mit Schlamm, oder nur mit Kälte oder die Arthrose nur mit Wärme
behandeln, das ist nicht richtig.
Autorin:
Die meisten Rheumatiker sind also auf Medikamente angewiesen - doch wie gut die
Mittel wirken, hängt auch davon ab, ob die Kranken die Behandlung mit gezieltem
Bewegungstraining unterstützen. Wenn Gelenk-Knorpel kaum noch belastet werden,
schreitet der Abbau durch Verschleiß oder aggressive Immunzellen noch schneller
voran.
ATMO 1: Szene Rheumagymnastik / Musik
Leichte Grätschstellung…beide Arme zur Decke, bisschen recken und strecken.
Bisschen seitliche Rumpfmuskulatur dehnen, genau. Fast die Decke berühren, ganz
lang machen - auch zur Seite, fast den Partner seitlich berühren wollen…
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Autorin:
Für Gesunde sind die Übungen ganz einfach - die acht Rheumapatienten aber müssen
sich bei ihrem wöchentlichen Training in Rottenburg sichtlich anstrengen; manchen tut
jede Bewegung weh. Anne Müller organisiert für die Rheuma-Liga im Raum Tübingen
eine ganze Reihe solcher Gymnastikstunden - sie weiß aus eigener Erfahrung, wie
wichtig es ist, sich trotz steifer Gelenke dazu aufzuraffen:
O-Ton 15 - Anne Müller:
Man muss den eigenen Schweinehund überwinden, und wirklich mitmachen. Vor allem
Arthrosepatienten haben sehr viele Schmerzen, und die müssen trotz Schmerzen sich
weiter bewegen, sonst wird das immer noch schlimmer. Andererseits wird natürlich auch
gesagt, man soll nicht unbedingt bis in den Schmerz rein arbeiten, besser man nimmt
sich vorher zurück.
Autorin:
Im Zweifelsfall lieber schonen - das galt lange Zeit als Goldene Regel der
Rheumagymnastik. Eine Studie der Universität Halle-Wittenberg bringt dieses Motto
jetzt ins Wanken: bei rund 400 Patienten mit chronischer Polyarthritis und
Wirbelsäulenrheuma war ein intensives einstündiges Konditionstraining dreimal in der
Woche wirksamer als die herkömmliche Behandlung mit sanfter Gymnastik und
physikalischen Anwendungen. Zirkeltraining mit Kraft- und Koordinationsübungen,
Spiele wie Federball und Softball, und schweißtreibendes Radeln auf dem Ergometer
sorgten bei der Mehrzahl der Probanden dafür, dass die Beweglichkeit deutlich
verbessert wurde - und gleichzeitig auch das psychische Wohlbefinden stieg. Der
Tübinger Rheumatologe Marc Schmalzing warnt allerdings davor, nun sämtlichen
Rheumakranken ein solches Intensivtraining zu verordnen:
O-Ton 16 - Marc Schmalzing:
Es wird nicht jeder von einer besonders anstrengenden und ‚unschonenden‘
Physiotherapie profitieren. Und es gibt einfach auch hier wieder große Unterschiede,
welche Erkrankungen eher von einer physiotherapeutischen oder anderen Maßnahme
profitieren, und welche eben nicht. Zum Beispiel Patienten, die eine Spondyloarthritis
haben, das ist die Erkrankungsgruppe, zu der letztlich auch der Morbus Bechterew
gehört, und die häufig Entzündungen der Wirbelsäule haben, da hat die Physiotherapie
eine wesentlich höhere Bedeutung als bei anderen Erkrankungen. Die Patienten
müssen halt verhindern, dass es zu Einsteifungen kommt, müssen da gegenarbeiten, da
ist der Wert der Physiotherapie auch sehr sehr gut belegt.
Autorin:
Doch ganz gleich, wie das Training konkret aussieht: am meisten profitieren die
Patienten offenbar, wenn sie die Übungen nicht alleine zu Hause, sondern gemeinsam
mit anderen Betroffenen ausführen. Dann sind sie motivierter; außerdem erfüllen die
Gymnastikgruppen eine wichtige soziale Funktion: Rheumakranke fühlen sich
ernstgenommen, tauschen Tipps und Erfahrungen aus. Deshalb kritisiert die RheumaLiga auch die Taktik vieler Krankenkassen, die nach einer Weile keine Kurse mehr
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finanzieren - den Patienten wird gesagt, sie sollten doch nun auf eigene Faust
weiterüben. Auch stationäre Programme zur Rehabilitation werden inzwischen oft nur
nach langer Auseinandersetzung erstattet; ambulante Anwendungen fallen gleichfalls oft
dem Rotstift zum Opfer. Das trägt mit dazu bei, dass Rheumatiker verstärkt nach
Möglichkeiten suchen, ihre Beschwerden selbst zu lindern: zum Beispiel durch eine
veränderte Ernährung. In einigen Studien hat sich gezeigt, dass eine mediterrane Kost
mit viel Fisch und Gemüse die Beschwerden etwas verbessern kann - ein echter
Durchbruch ist über veränderte Essgewohnheiten aber nicht zu erzielen:
O-Ton 17 - Marc Schmalzing:
Der Einfluss der Ernährung wird häufig überbetont. Weil das halt auch sowas ist, wo
man halt selber das Gefühl hat, man kann wieder Kontrolle über eine Erkrankung
bekommen, wo man das Gefühl hat, dass sie einen so schicksalshaft trifft und wo man
halt eben Kontrollverlust eher erlebt. Aber was sich immer wieder gezeigt hat in Studien
ist, dass wohl Alkohol einen schützenden Effekt hat vor Rheuma. Und zwar
wahrscheinlich sogar unabhängig von der Menge. Das Problem ist dann natürlich, dass
man dann halt nicht sich daran erfreuen wird, wenn man kein Rheuma hat, und dafür
dann eine schwere Leberzirrhose oder schwere Gehirnerkrankungen und so weiter.
Autorin:
Verhindern lässt sich der Ausbruch einer rheumatischen Erkrankung also weder über
die Ernährung noch mit Sport - beides kann nur den Verlauf der Krankheit positiv
beeinflussen. Vor allem entzündliches Rheuma schreitet ohne die richtigen
Medikamente rasch voran: das ist besonders für Kinder und Jugendliche eine große
Gefahr - 16 bis 17.000 Minderjährige leiden hierzulande an rheumatoider Arthritis und
verwandten Immunstörungen. Weil sie noch im Wachstum sind, kann Rheuma bei ihnen
zu massiven Schäden führen; genauso groß wie die körperlichen Schwierigkeiten ist die
psychische Belastung. Heute gibt es endlich Selbsthilfegruppen und Elternkreise, die die
betroffenen Familien unterstützen - früher jedoch waren junge Rheumapatienten überall
Außenseiter. Irmgard Grossmann war noch ein Teenager, als bei ihr vor mehr als vierzig
Jahren entzündliches Gelenkrheuma festgestellt wurde - die körperlichen Schmerzen
sind bis heute geblieben, innerlich aber hat sie als Jugendliche am meisten unter der
Krankheit gelitten:
O-Ton 18 - Irmgard Grossmann:
Als es erkannt war, war ich ja achtzehneinhalb Jahre alt, da war ich in der RheumaKlinik, da waren lauter Erkrankte zwischen 60 und 80. Ich bin da immer gehänselt
worden, mein Gott in dem Alter hat man ja noch kein Rheuma. Und das war für mich
einfach auch psychisch so schlimm, weil ich nicht gewusst hab, wie soll das
weitergehen. Alles ist über mich hereingebrochen, und ich hatte keine Möglichkeit, mich
zu informieren, auch die Mitmenschen, die Eltern, im Beruf, die Freunde - keiner wusste,
was das ist, und ich kam mir ganz alleine auf der Welt vor, so schlimm war’s.
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Autorin:
Inzwischen hat sich zwar vieles verbessert - doch immer noch werden rheumakranke
Kinder meist viel zu spät behandelt, und stoßen in ihrem Umfeld auf Unverständnis. Als
Sprecherin der Rheuma-Liga Freudenstadt bekommt Irmgard Grossmann deshalb viele
Anrufe von verzweifelten Eltern:
O-Ton 19 - Irmgard Grossmann:
Das große Problem ist ja auch immer, die Kinder sind zwölf Jahre alt, gebe ich meinem
Kind diese starken Medikamente? So kommen sie immer und fragen. Einmal haben sie
Angst von der Zukunft her, kann meine Tochter noch Kinder kriegen, was hat’s sonst für
Nebenwirkungen; es bestehen unheimlich viele Ängste. Auf der anderen Seite sieht man
auch wieder in der Schule, wenn der Lehrer nicht informiert ist, was ja oft der Fall ist,
oder überhaupt nicht weiß, was Rheuma ist, mein Kind, das zieht sich zurück, es kann
nicht am Sport teilnehmen, es kann die schwere Schultasche nicht tragen und und und,
so bestehen ganz ganz viele Probleme.
Autorin:
Bei einem Drittel der Kinder gehen die rheumatischen Beschwerden in der Pubertät
zurück und verschwinden allmählich ganz; ein weiteres Drittel der jungen Patienten
spricht gut auf die Behandlung an - beim letzten Drittel jedoch kommt es zu
gravierenden Langzeitschäden. Das hängt auch damit zusammen, dass kindliches
Rheuma häufig noch schwerer zu diagnostizieren ist als das gleiche Krankheitsbild beim
Erwachsenen. Marc Schmalzing ist von Hause aus Erwachsenen-Rheumatologe, hat in
der Jugendsprechstunde am Uniklinikum Tübingen jedoch auch Erfahrungen mit jungen
Patienten gesammelt - und staunt immer wieder, wie wenig sie sich die Krankheit
anmerken lassen:
O-Ton 20 - Marc Schmalzing:
Das Tückische ist, dass sie am Anfang sehr wenig eingeschränkt sind, weil Kinder den
Schmerz nicht so differenziert wahrnehmen wie Erwachsene, und vielleicht auch nicht
so stark wahrnehmen. Oder auch wesentlich besser kompensieren können. Also die
nehmen dann eine Schonhaltung ein, wo sie den Schmerz kaum spüren, und das ist
etwas, was mich als Erwachsenenrheumatologen, als ich dann das erste Mal diese
Jugendsprechstunde gemacht hab, auch völlig überrascht hat. Dass die Beschwerden
der Kinder und teilweise auch der Jugendlichen relativ gering sind - und wenn man dann
genau nachguckt, zum Beispiel mit Röntgen, Ultraschall oder Kernspin, sieht man dann
teilweise schon sehr starke Entzündungen, oder sieht man schon teilweise
Gelenkschäden, wo man sie nie erwartet hätte, wenn man da so mit der Einstellung
eines Erwachsenenrheumatologen rangeht.
Autorin:
Doch Kinderärzte mit der Fachrichtung Rheumatologie sind schwer zu finden, der
Mangel ist noch viel größer als bei Rheumaexperten für Erwachsene. Wenn eine Familie
dann endlich einen Spezialisten gefunden hat, kommt mit dem 18. Geburtstag der
jugendlichen Patienten unweigerlich der Einschnitt: die Kassen zahlen ab dann nur noch
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für die Behandlung bei einem Erwachsenen-Rheumatologen. Um den oft schwierigen
Übergang zu erleichtern, gibt es inzwischen in einigen Zentren sogenannte „transition“Sprechstunden mit einem Team von Fachärzten für alle Altersgruppen. Erica GromnicaIhle, Präsidentin der Rheuma-Liga, fordert noch viel mehr solcher Einrichtungen, denn
viele Teenager erleben den abrupten Wechsel in die Erwachsenenmedizin als
traumatisch:
O-Ton 21 - Erika Gromnica-Ihle:
Da ist auch die ganze Herangehensweise eine andere. Die Eltern werden in der Regel
nicht mehr hinzugezogen, der Kranke muss selber mehr Verantwortung übernehmen.
Und wir wissen aus Erhebungen in Deutschland, dass bei jedem zweiten, der als Kind
Rheuma bekommen hat, die Behandlung beim Übertritt ins Erwachsenenalter nicht
mehr fortgeführt wird. Und in ein paar Jahren ist er in einem ganz schweren Schub, weil
die Behandlung nicht fortgesetzt wurde.
Autorin:
Kinder und Erwachsene mit Rheuma sind auf eine kontinuierliche Therapie angewiesen
- das könnte sich aber eines Tages ändern, hofft Andreas Radbruch, Leiter des
Deutschen Rheuma-Forschungszentrums. Der Wissenschaftler setzt darauf, dass es mit
neuen Wirkstoffen gelingt, das Gedächtnis der fehlgesteuerten Immunzellen dauerhaft
zu löschen:
O-Ton 22 - Andreas Radbruch:
Wenn wir es schaffen, die Teile des Immunsystems zu identifizieren, die im Hintergrund
dieses Gedächtnis für die Krankheit aufrechterhalten, auch bei Patienten, die mit allen
heute verfügbaren Therapien behandelt werden, austherapiert sind sozusagen, dass wir
dann eine realistische Chance haben, die Krankheit zu heilen. In einer Zeitspanne, die
man natürlich niemandem versprechen kann. Aber es sind auf der ganzen Welt viele
Forschergruppen in dieser Richtung unterwegs. Und ich müsste mich sehr wundern,
wenn nicht der Fortschritt in der Medikamentenentwicklung in genau diese Richtung
gehen würde, und vielleicht wir auch das alle noch erleben werden.
Autorin:
Die Tübinger Rheumatologin Ina Kötter hält diese Prognose allerdings für viel zu
optimistisch. Sie verweist darauf, dass in den letzten Jahren zwar immer mehr über die
Rolle bestimmter Zelltypen beim Angriff auf die Gelenke bekannt geworden ist gleichzeitig sind aber auch immer neue Probleme bei der Suche nach einem möglichen
Heilmittel zu Tage getreten:
O-Ton 23 - Ina Kötter:
Man entdeckt immer mehr Bausteine und Hinweise, wie es zur Entstehung dieser
Krankheiten kommt, aber auf der anderen Seite entdeckt man natürlich auch immer
mehr, dass das nicht so einfach ist. Dass die nicht eine Ursache haben, sondern dass
ein Krankheitsbild bei verschiedenen Patienten verschiedene Ursachen haben kann.
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Und das macht das Ganze natürlich immer mehr komplex und natürlich dann auch
immer schwieriger zu durchschauen und da therapeutisch einzugreifen.
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