Übung im Öffentlichen Recht mit Europabezug – SS 2012 Lösungen – Europarecht Fall 8 Europarecht Lösungsanmerkungen zu: EuGH, Rs. C-110/05, Urt. v. 10.02.2009 – Kommission / Italien Prüfung: Vereinbarkeit von Art. 56 StVO mit Art. 34 AEUV Die Kommission beantragt mit ihrer Klage die Feststellung, dass die Republik Italien dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 34 AEUV verstoßen hat, dass sie das Ziehen von Anhängern durch Kradfahrzeuge in Art. 56 StVO verboten hat. I. Anwendungsbereich der Art. 28 ff. AEUV Zunächst müsste der Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 28 II AEUV eröffnet sein. Nach Art. 28 II Alt. 1 AEUV wird vorausgesetzt, dass die fragliche nationale Maßnahme Waren betrifft, die aus den EU-Mitgliedstaaten stammen. Weiterhin muss – als ungeschriebene Bedingung der Warenverkehrsfreiheit – ein grenzüberschreitender Bezug innerhalb der EU festzustellen sein. 1. Anhänger, die für Kradfahrzeuge konzipiert wurden, stellen Produkte von wirtschaftlichem Wert dar, die Gegenstand von Handelsgeschäften sein können. Es ist des Weiteren anzunehmen, dass in einzelnen Mitgliedstaaten der Union derartige Anhänger hergestellt werden, um auf dem italienischen Markt angeboten werden zu können; dieser Umstand wird im Besonderen durch die Beschwerde des Münchner Unternehmens Power-Trailer belegt. Somit aber berührt die Norm des Art. 56 StVO Produkte, die ihren Ursprung in der Union haben (Art. 28 II Alt. 1 AEUV) und einen grenzüberschreitenden Kontext besitzen. 2. Wenn der Vertreter Italiens moniert, dass ein konkreter grenzüberschreitender Bezug fehle, so ist zu erwidern: Da Art. 56 StVO eine abstrakt-generelle Regelung darstellt, findet sie für eine unbestimmte Anzahl von Situationen und Personen Anwendung. Daher muss es als ausreichend erachtet werden, wenn sie – wie oben dargelegt – im Allgemeinen geeignet ist, den grenzüberschreitenden Verkehr von EU-Produkten zu tangieren. Da auch keine unionsrechtlichen Sonderregelungen einschlägig sind, ist der Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit gemäß Art. 28 AEUV eröffnet. II. Schutzumfang des Art. 34 AEUV Es ist zu untersuchen, ob die Vorschrift des Art. 56 StVO unter den Schutzumfang des Art. 34 AEUV subsumiert werden kann. 1. Zunächst verlangt Art. 34 AEUV, dass eine vertikale Wirkung gegeben ist, also eine mitgliedstaatliche Regelung oder Praxis Gegenstand ist. Das Decreto Legislativo 285 der Republik Italien vom 30.04.1992 – und somit auch der darin enthaltene Art. 56 – stellt, wie der Name suggeriert, eine gesetzgeberische Maßnahme dar, die dem Mitgliedstaat Italien zuzurechnen ist. 1 Übung im Öffentlichen Recht mit Europabezug – SS 2012 Lösungen – Europarecht 2. Der Schutzumfang des Art. 34 AEUV umfasst im Warenhandel zwischen den Mitgliedstaaten zum einen mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen, zum anderen alle Maßnahme gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen. Darüber hinaus ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Eingriffsverbot – a fortiori – auch auf offene und versteckte Diskriminierungen nach dem Warenursprung zu erstrecken. Eine Diskriminierung de jure läge vor, wenn die gegenständliche (italienische) Norm des Art. 56 StVO in direkter oder zumindest indirekter Weise an den Warenursprung anknüpfen würde. Hier legt Art. 56 StVO generell fest, dass nur Automobile, nicht aber Kradfahrzeuge Anhänger mitführen dürfen; ob jene Kradfahrzeuge aus Italien selbst oder aber aus dem EUAusland stammen, spielt keine Rolle. Aus diesem Grunde ist festzuhalten, dass Art. 56 StVO ohne Unterscheidung nach der Herkunft der Anhänger anwendbar ist. 3. Eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung läge vor, wenn die Einfuhr der fraglichen Anhänger gänzlich verboten würde oder aber in sonstiger quantitativer Hinsicht eine Beschränkung erführe. Art. 56 StVO statuiert, dass Kradfahrzeuge keine Anhänger mitführen dürfen; die Einfuhr der Anhänger nach Italien wird weder verboten noch ihrer Menge nach begrenzt. Eine mengenmäßige Restriktion im Sinne des Art. 34 AEUV liegt mithin nicht vor. 4. Der Schutzumfang des Art. 34 AEUV würde aber auch berührt, wenn es sich um eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung handelte. Gemäß der Judikatur in der Rechtssache Dassonville (1974, dort Rdnr. 5) muss jede mitgliedstaatliche Regelung, die geeignet ist, den Handel innerhalb der Union unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell, zu behindern, als eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung qualifiziert werden. Die Dassonville-Formel soll die Entstehung eines sog. „Dual Burden“ verhindern und damit das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung realisieren. In anderen Worten: Wird ein Gegenstand in einem Mitgliedstaat der Union rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht, so soll er grundsätzlich in allen anderen EU-Mitgliedstaaten vermarktungsfähig sein. Die seitens der Kommission gerügte Vertragsverletzung betrifft Anhänger, die eigens zum Anhängen an Kradfahrzeugen konzipiert wurden und in anderen Mitgliedstaaten der EU (als Italien) rechtmäßig hergestellt wurden. Wenn ein italienischer Verbraucher aber weiß, dass er (s)ein Kradfahrzeug nicht mit einem – eigens dafür konzipierten – Anhänger verwenden darf, so wird er praktisch kein Interesse daran haben, einen derartigen Anhänger zu kaufen. Art. 56 StVO ist daher durchaus geeignet, eine potenzielle Einfuhrbeschränkung im Sinne der Dassonville-Rechtsprechung darzustellen. 5. Die Republik Italien wendet an dieser Stelle allerdings ein, dass die fragliche Norm Modalitäten (der Verwendung) betreffe und demzufolge nach der Rechtssprechung „Keck & Mithouard“ aus dem Schutzumfang des Art. 34 AEUV herausfalle. In der Rechtssache „Keck & Mithouard“ (1993, dort Rdnr. 16) grenzte der Gerichtshof die weite Auslegung der Dassonville-Formel ein und stellte fest: Nationale Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten verbieten oder beschränken, sind nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne der Dassonville-Formel zu beschränken, soweit diese Bestimmungen den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten der EU de jure wie de facto in der gleichen Weise berühren. 2 Übung im Öffentlichen Recht mit Europabezug – SS 2012 Lösungen – Europarecht Hier ist zunächst festzuhalten, dass die Vorschrift des Art. 56 StVO nicht auf die Beschaffenheit des Produkts „Krad-Anhänger“ Bezug nimmt. Sie betrifft aber auch nicht die Modalitäten des Verkaufs dieser Gegenstände; allerdings wird das erste Kriterium der Keck-Formel auf die sog. Modalitäten der Verwendung in analoger Weise angewandt. Wird nämlich der Terminus der Modalitäten auf diese Weise „offen gehalten“, ermöglicht er eine Weiterentwicklung der Keck-Judikatur auf neue Phänomene, wie z. B. auf die sog. Verwendungsregelungen. Oben wurde bereits erläutert (unter II. 2.), dass Art. 56 StVO weder offen noch versteckt nach der Herkunft der Anhänger differenziert und mithin de jure keine Ungleichbehandlung vorliegt. Es ist aber zu prüfen, ob die Regelung der italienischen Straßenverkehrsordnung nicht de facto zu einer Ungleichbehandlung italienischer und ausländischer Produkte führt oder zumindest ein Marktzugangshindernis bewirkt. Hat ein Verbot der Verwendung eines Erzeugnisses, wie oben erläutert (unter II. 4.), spürbaren Einfluss auf das Verhalten eines Verbrauchers, so wirkt es sich zugleich in erheblicher Weise auf den Marktzugang der Ware aus. Indem Art. 56 StVO die Nachfrage nach „Krad-Anhängern“ verhindert, führt er nämlich zugleich ein Marktzugangshindernis herbei. Daher liegt eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung vor, die nach Art. 34 AEUV verboten ist. Die Argumentation der Republik Italien konnte somit in diesem Punkt widerlegt werden. III. Rechtfertigungsebene Das fragliche Verbot könnte aber durch einen der in Art. 36 S. 1 AEUV aufgezählten Gründe des Gemeinwohls oder durch (sonstige) zwingende Erfordernisse im Sinne der Judikatur „Cassis de Dijon“ (1979, dort Rdnr. 8) gerechtfertigt sein. 1. Die Republik Italien führt zunächst an, die Rechtfertigung könne bereits durch einen Rekurs auf Art. 36 S. 1 AEUV gelingen. Allerdings ist nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Berufung auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung nur dann möglich, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdungslage gegeben ist, die Grundinteressen der Gesellschaft berührt. Die Gewährleistung der Sicherheit des Straßenverkehrs stellt zwar zweifelsfrei einen anerkannten Gemeinwohlbelang dar; sie erreicht aber – im Unterschied zur Garantie der Menschenwürde oder der rechtsstaatlichen Grundsätze – nicht die „Schwelle“ eines solchen Grundinteresses. 2. Hilfsweise nimmt die Republik Italien Bezug auf die „ungeschriebene“ Rechtfertigungsebene nach der Cassis-Formel. Sie betrifft (de jure) unterschiedslos geltende Regelungen und besagt, dass Hemmnisse für den EU-Binnenhandel, die sich aus den Unterschieden nationaler Regelungen ergeben, insoweit hingenommen werden müssen, soweit jene Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen des Gemeinwohls zu dienen. Dass die Vorschrift des Art. 56 StVO (de jure) diskriminierungsfrei gilt, wurde bereits oben (unter II. 2.) erläutert. Des Weiteren ist die Gewährleistung der Sicherheit des Straßenverkehrs ein öffentliches Interesse, das staatlichen Schutz verdient. Zu prüfen ist aber schließlich, ob die Ausgestaltung der Norm dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen kann. 3 Übung im Öffentlichen Recht mit Europabezug – SS 2012 Lösungen – Europarecht Indem Art. 56 StVO die Kombination „Kradfahrzeug – Anhänger“ gänzlich untersagt, ist sie sicherlich geeignet, die Sicherheit des Straßenverkehrs zu erhöhen. Derartige Anhänger stellen bei ihrem Einsatz an Kradfahrzeugen sowohl für die Fahrer wie auch für andere Verkehrsteilnehmer besondere Gefahren dar, da sie Stabilität und Bremsverhalten des Gespanns deutlich beeinträchtigen. Hinsichtlich der Ebene der Erforderlichkeit ist der Republik Italien zunächst insoweit zuzustimmen, als der angeführte Beurteilungsspielraum den Mitgliedstaaten seitens des Gerichtshofs tatsächlich eingeräumt wird. Insbesondere bedeutet der Umstand, dass ein Mitgliedstaat strengere Vorschriften erlassen hat als ein anderer Mitgliedstaat, nicht per se, dass dessen Vorschriften unverhältnismäßig wären. Auch ist es zutreffend, dass einem Mitgliedstaat nicht die Befugnis abgesprochen werden kann, das Ziel der Sicherheit des Straßenverkehrs durch die Einführung von Regeln zu verwirklichen, die von den jeweiligen Fahrern leicht verstanden und angewandt, von den zuständigen Behörden wiederum leicht kontrolliert werden können. Weitergehenden Anforderungen – wie z. B. eine Klassifizierung der einzelnen Straßen nach Gefahrentypen – würden das Erforderlichkeitsgebot eindeutig zu Lasten der Mitgliedstaaten und ihrer Verkehrspolitik „überspannen“. Es ist daher festzustellen, dass das für Kradfahrzeuge geltende Verbot, einen Anhänger mitzuführen, aus Gründen der Sicherheit des Straßenverkehrs gerechtfertigt werden kann. Die Republik Italien hat dadurch, dass sie das Ziehen von Anhängern durch Kradfahrzeuge in Art. 56 StVO verboten hat, nicht gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 34 AEUV verstoßen. Die Klage der Kommission ist abzuweisen. Ass. iur. A. Brigola, wiss. Mitarb. 4