.. KULTUR Theater Die ewige Kindermörderin H. PÖLKOW FOTOS: B. UHLIG SPIEGEL-Redakteur Urs Jenny über Medea und Edith Clevers Berliner „Medeia“ Berliner Schaubühnen-Medeia Clever: „Welche Ströme der Qual hast du den Menschen gesandt!“ aß eine Frau ihre beiden Kinder eigenhändig umbringt, als furchtbarsten Vorwurf gegen den Mann und Vater, der sich von ihnen abwenden wollte: das ist ein Verbrechen, das keine Erklärung braucht. Es versteht sich. Als es sich das letzte Mal hierzulande ereignete, vor drei Wochen in dem pfälzischen Ort Waldmohr, wurde es von der Frankfurter Allgemeinen auf knapp 50 Zeilen abgetan, in Bild auf gut 30: Kein geheucheltes Mitgefühl, keine geheuchelte Emp örung, auch in der Süddeutschen nur 20 Zeilen mit dem AP-Fazit, „nach vorläufiger Einschätzung eines Psychiaters komme verminderte Schuldfähigkeit oder gar Schuldunfähigkeit in Frage“. Das versteht sich. Für jeden Theaterliebhaber, für jeden, der sich einen Rest klassischer Bildung durchs Leben gerettet hat, heißt die Frau, die ihre beiden Kinder tötet, um den treulosen Mann zu strafen, ein für allemal Medea, auch Medeia. Sie mag nicht die erste gewesen sein, doch sie ist die berühmteste. Medea war, in der Männerwelt der antiken Heldensagen, in manchem Sinn die einzige Heldin überhaupt. Eine Abenteurerin, die im unsteten Lauf ihres Lebens weit herumkam; eine Landesverräterin; eine Zauberin, Wunderheilerin, Giftmischerin, Hexe: Weil sie von den Gestaden des Schwarzen Meeres kam, wollte man sie nicht überall als rechte Griechin anerkennen. Ohne Medea wäre der größte Raubzug der klassischen Antike, die Erbeutung D des Goldenen Vlieses durch die Argonauten, schmählich gescheitert; sie hat, damit es gelang, ihren eigenen Bruder in Stücke geschnetzelt. Die Einnahme der feindlichen Stadt Iolkos, die sich alle Argo-Helden zusammen nicht zutrauten, brachte Medea im Alleingang zustande. Medea trat mutig noch in reiferen Jahren gegen die Nymphe Thetis zu einer Schönheitskonkurrenz an; und sie war, was ihr nicht vergessen sei, die einzige Erdenfrau, die sich den sexuellen Belästigungen durch Gottvater Zeus resolut widersetzte. Nun also Edith Clever. Die Berliner Schaubühne hat schon seit einer Weile für sich die Antike zum ProgrammSchwerpunkt erklärt: Sich abwenden von den Miseren der Gegenwart heißt das wohl und Erbauung suchen bei vermeintlichen Ewigkeitswerten. Dem „Orestes“ von Euripides, den Andrea Breth vor einem Jahr herausbrachte, ließ man eine szenische Fassung von Platons „Symposion“ folgen, und letzte Woche nun war, als Regisseurin und Star, Edith Clever dran mit der euripideischen „Medeia“. Eine lange ersehnte Heimkehr! Seit Mitte der achtziger Jahre hatte die Clever sich durch den Mythen-Trümpel Hans-Jürgen Syberberg von der Schaubühne weg zu eigenbrötlerisch-langwierig-elitären Deklamationsséancen entführen lassen – und als Heimkehr-Ereignis, wertfrei, wurde nun ihre Premiere gefeiert. Wie das so Berliner Art ist. Ach, die Erinnerung an viele unvergleichliche Clever-Momente in der großen Schaubühnen-Zeit, an Gorki- und Tschechow- und Strauß-Rollen, besonders aber an ihr Wehe-Geheul als Königinmutter Agaue, die den eigenen Sohn in Stücke gerissen hat, in den „Bakchen“ von Euripides und an ihren schmetternden Zorn als Gattenmörderin Klytämnestra in der „Orestie“ von Aischylos. Wer könnte eine Medea sein, wenn nicht Edith Clever? Sie ist es, in der Tat, unbestreitbar, in aller orgelnden Großartigkeit, aber sie ist es, obwohl die Regisseurin Edith Clever der Schauspielerin Edith Clever einen engen, starren, sie ins Virtuosenhafte hochtreibenden Spielstil vorgibt. Es herrscht da durch und durch eine Kunstfrömmigkeit, die nicht will, daß diese Medeia auch nur das Geringste gemein habe mit der Unglücklichen aus Waldmohr/Westpfalz. Die Clever gefällt sich als Edelseele, die es kaum über die Lippen bringt, ihren Gatten auch einmal ein Schwein zu nennen. Ein Frauenprojekt. Susanne Raschig hat dafür einen abstrakt schwarzweißen Bühnenraum und archaisch schwere Kostüme entworfen; Robyn Schulkowsky hat spröd elegisch die Chorlieder komponiert und setzt selbst am Schlagzeug scharfe Akzente. Die Regisseurin jedoch läßt den Chor, ein Quintett junger Sängerinnen, nicht agieren, sondern baut ihn statuarisch in einer Versenkung vor der Bühne auf; und die Hauptdarstellerin gibt sich damit zufrieden, daß DER SPIEGEL 6/1996 183 ihre Gegenspieler in gebührendem Abstand Stellung beziehen und ihr aus voller Brust entgegentönen. All das nähert die Aufführung einer schwerfälligen, oratorischen Zelebration an; und dabei werden nicht nur die theaterhaften äußeren Effekte minimiert, es verflüchtigt sich auch die innere Dramatik. Nicht mehr der Schmerz will hier empfunden sein, nur noch die Kunstform des Schmerzes. Medea war keine Täterin, bei der verminderte Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit in Frage kam. Sie hat, als ihr Mann Jason sie verstieß, um sich in Korinth einer königlichen neuen Braut zuzuwenden, dieser ein vergiftetes Kleid geschenkt, das sie samt ihrem Vater in einer Feuerlohe umkommen ließ. Durch nichts aber ist ihr schaurig-tragischer Nachruhm so geprägt wie durch den anschließenden Kindermord. Dabei, merkwürdig, haben die alten Griechen sich durch Jahrhunderte die Medea-Geschichte erzählt und weitererzählt und in Tragödien abgehandelt, ohne daß es zu diesem schrecklichen Höhepunkt kam. Erst spät hat der Dramatiker Euripides, um dem alten Stoff einen neuen, schär- Das eheliche Doppelbett als Kriegsschauplatz im Dramen-Mittelpunkt feren Kick zu geben, den Kindermord hinzuerfunden. Euripides brachte dem Mythischen nie viel Verehrung entgegen; er manipulierte die überkommenen Sagen oft so, daß sogar die Götter darin eine miese Figur machten, und geriet deshalb in Verdacht, überhaupt ein gottloser Freigeist zu sein. Seine „Medeia“ gilt als die „modernste“ unter allen antiken Tragödien, weil hier nicht ein obskures Götterkomplott oder das Wohl eines Königreichs auf dem Spiel steht, sondern zum erstenmal das eheliche Doppelbett als Kriegsschauplatz zum Dramen-Mittelpunkt wird – der Ehekrach, die Scheidungsschlacht, der Horror der Monogamie, der das Ende des letzten Chorlieds das Fazit singt: „O du Quelle der Qual,/ Welche Ströme der Qual/ Hast du den Menschen gesandt!“ Medea ist nie irgendwo für eine ihrer Taten vor Gericht gestellt worden. Als über den Kindermord-Skandal in Korinth ein wenig Gras gewachsen war, hat sie den König von Athen geheiratet, einen Mann namens Aigeus, und ihm einen Thronfolger geboren. Das Athener „Medeia“-Uraufführungspublikum anno 431 v. Chr. muß ziemlich verblüfft gewesen sein, diesen Aigeus ganz unerwartet als Wandersmann auf den Bühnenschauplatz Korinth stiefeln zu sehen, natürlich genau .. KULTUR Regisseure Duelle im Schwitzkasten Die Theater-Entdeckung Stephan Kimmig inszeniert Musils „Schwärmer“ uch mit falschen Genies läßt sich mitunter echter Rummel machen. Weit hinter den hohen Bergen jedenfalls, in der steirischen Landeshauptstadt Graz, hält sich Marc Günther, Schauspieldirektor der örtlichen Provinzbühne, allerhand auf seinen Spürsinn zugute: „Wir lassen die jungen Leute ran“, sagt der allezeit gutgelaunte Mann, „im Glücksfall kommt die halbe deutschsprachige Theaterwelt angereist – und wenn es schiefgeht, dann merkt es hier ja eh’ fast keiner.“ Regisseure wie Leander Haußmann, Christoph Schlingensief und Martin Kusej haben der engen Grazer Theaterwelt in den vergangenen Jahren jede Menge Radau und ein wenig Glamour beschert; Günthers neuestes Nachwuchs-Fundstück heißt Stephan Kimmig und ist immerhin schon 36 Jahre alt. Kimmig ist in Stuttgart aufgewachsen und hat in München ein bißchen Schauspielerei gelernt, er war kurz mal Assistent am Berliner Schiller-Theater und hat dann jahrelang im holländischen A Schriftsteller Musil „Entsetzliche Sinnlichkeit“ W. M. WEBER an dem Tag, als sich dort alles Unheil zusammenbraut. Medeia verwickelt ihn elegant in ein Gespräch und listet ihm den Eid ab, sie als Gast, wenn sie je nach Athen käme, stets in Ehren zu halten: So sichert sie sich schon vor der Mordtat, die sie eben plant, ein Asylland mit Nichtauslieferungsgarantie. Und indem sie sich dann mitfühlig bei Aigeus einschmeichelt, den die kränkelnde Gattin und deren Kinderlosigkeit bekümmern, wirft sie mit atemraubender Dreistigkeit schon den Köder nach einem neuen Ehemann aus. Freilich, freilich: Edith Clever in der Schaubühne tut das alles nicht. Bei ihr ist nur atemraubend, wie sie sogar in dieser Werbungsszene hinter ernster, geschmerzter Getragenheit die ganze tiefere Infamie oder Ironie des Euripides zum Verschwinden bringt. In ihrem Spiel schwingt stets das Bewußtsein mit, auf der Höhe einer der großen Tragödien des Abendlandes zu stehen; ihre Medeia gibt sich so erhaben über jeden unschönen Verdacht, als wäre damit ein Hosenbandorden der Schauspielkunst zu gewinnen. Natürlich triumphiert das herrliche Metallische der Cleverschen Deklamationskunst in ihren Verzweiflungs- und Haß- und Trauerkoloraturen. Sie röhrt und schmettert, trompetet und tremoliert; und doch bleibt alles ein manierierter Hochkunst-Alleingang, oft auf der Kippe von großer Geb ärde zu bloßer Pose. Medea hat keine Sterbeszene. Sie ist von den Göttern – wer weiß, warum – in den Stand der Unsterblichen erhoben worden, die immerdar auf den Elysischen Gefilden lustwandeln, und hat dort den schönsten aller Helden geheiratet, Achilleus. Natürlich geschah das, bevor ihr Euripides den Kindermord anhängte. Er gab damit der ganzen zweiten Hälfte seines Dramas einen auch nach gut 2400 Jahren noch mächtigen (wenn auch in der Schaubühne sehr abgemilderten) Furor. Und doch bleiben Fragen. Wäre der ungetreue Jason mit dem gräßlichen Tod seiner neuen Frau nicht vernichtend genug gestraft gewesen? Und hätte Medeia, die am Ende des Stücks mit den Leichen der Söhne entflieht, die beiden nicht auch lebend mit sich in Sicherheit bringen können? In früheren Zeiten ging die Sage ja so, daß gar nicht Medea die Kinder tötete, vielmehr wurden im Zorn auf die Mutter die unschuldigen Kleinen von den Bürgern Korinths gesteinigt. Dieser Frevel lastete lang und schwer auf dem Ruf der Stadt, und so sagt eine sinnige SagenFußnote: Die Korinther haben dem Euripides die Summe von 15 Talenten in Silber bezahlt, damit er den Mythos umdichtete und ihre Stadt freisprach von aller Schuld. Auch das versteht sich, und es gelang. „Schwärmer“-Star Poisel (r.) in Graz Schwebebalken-Kunststücke im Salon Eindhoven gelebt und gearbeitet. Derzeit inszeniert er regelmäßig in Stuttgart und neuerdings auch in Heidelberg. Im vergangenen Oktober aber landete er beim alljährlichen „steirischen herbst“-Festival seinen ersten Grazer Coup: Nach allen Regeln der Bebilderungskunst zerlegte er einen ziemlich schauderhaften Text, den die FestivalMacher wohl in schierem Irrwitz zur Uraufführung angenommen hatten. Der Verleger des Autors drohte mit einem Prozeß (was immer gut ist fürs Geschäft), die Kritiker dagegen staunten – auch die Originalvorlage sei Schrott, dafür aber könne man hier einen höchst begabten Regisseur entdecken. Dem Theatermacher Kimmig, der ein leiser und bedächtiger Mensch ist, scheint derlei Lob ein bißchen peinlich zu sein. Er habe keine Lust, den bildertrunkenen Wüterich zu spielen. „Statt die Zuschauer mit Effekten zuzuknallen, will ich auf der Bühne mit möglichst wenig auskommen“, sagt er und streicht sich dabei eine Strähne seines schwarzen Zottelhaars hinter den Bügel der Hornbrille, „am besten mit nichts“. Kimmigs jüngster Streich, der am vergangenen Samstag im Grazer Schauspielhaus Premiere hatte, kommt diesem Ideal ziemlich nahe. Mehr als drei Stunden lang geistern da eine Handvoll Menschen über eine nahezu leere, von riesigen schwarzen Vorhängen begrenzte Bühne – mal zwischen unbenutzten Garderobenständern, mal um vier im DER SPIEGEL 6/1996 185