Theoretische Empirie - Beck-Shop

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suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1881
Theoretische Empirie
Zur Relevanz qualitativer Forschung
Bearbeitet von
Stefan Hirschauer, Herbert Kalthoff, Gesa Lindemann
Originalausgabe 2008. Taschenbuch. 454 S. Paperback
ISBN 978 3 518 29481 9
Format (B x L): 10,9 x 17,8 cm
Gewicht: 270 g
Weitere Fachgebiete > Ethnologie, Volkskunde, Soziologie > Soziologie > Empirische
Sozialforschung, Statistik
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Suhrkamp Verlag
Leseprobe
Kalthoff, Herbert / Hirschauer, Stefan / Lindemann, Gesa
Theoretische Empirie
Zur Relevanz qualitativer Forschung
Herausgegeben von Herbert Kalthoff, Stefan Hirschauer und Gesa Lindemann
© Suhrkamp Verlag
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1881
978-3-518-29481-9
suhrkamp taschenbuch
wissenschaft 1881
Die Welt der Soziologie besteht, so scheint es, aus zwei klar voneinander
getrennten Bereichen: aus dem Bereich der Theorie und dem der Empirie.
Offenkundig wird dies an den Bezeichnungen universitärer Lehrstühle, bei
Stellenausschreibungen und an der Konzeption von Lehrbüchern. Man ist
entweder Theoretiker oder Empiriker. Ausgangspunkt der in diesem Band
versammelten Beiträge ist die Praxis der qualitativen Sozialforschung und
damit eine empirische Tradition, die in den letzten zwanzig Jahren das
Bild der Soziologie grundlegend verändert hat: Sie erforscht die Lebens­
welten moderner Gesellschaften und stellt sie in einem neuen Licht dar.
In diesem Band erkunden Empiriker und Theoretiker der Soziologie die
Spannung und wechselseitige Durchdringung von Theoriebildung und
empiri­scher Forschung, um das Verhältnis von Theorie und Empirie neu
zu be­stimmen.
Herbert Kalthoff ist Professor für Soziologie an der Johannes GutenbergUniversität Mainz; Stefan Hirschauer ist Professor für Soziologie an der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Gesa Lindemann ist Professorin
für Soziologie an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg.
Theoretische Empirie
Zur Relevanz qualitativer Forschung
Herausgegeben von
Herbert Kalthoff, Stefan Hirschauer
und Gesa Lindemann
Suhrkamp
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1881
Erste Auflage 2008
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages
reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag nach Entwürfen von
Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim
Printed in Germany
ISBN 978-3-518-29481-9
1 2 3 4 5 6 – 13 12 11 10 09 08
Inhalt
Stefan Hirschauer, Herbert Kalthoff und Gesa Lindemann
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Kalthoff
Einleitung: Zur Dialektik von qualitativer Forschung
und soziologischer Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
8
Theoriekonstruktionen und Empirieentwürfe
Karin Knorr Cetina
Theoretischer Konstruktivismus. Über die Einnistung
von Wissensstrukturen in soziale Strukturen . . . . . . . . . . . . 35
Armin Nassehi
Rethinking Functionalism. Zur Empiriefähigkeit
systemtheoretischer Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Gesa Lindemann
Theoriekonstruktion und empirische Forschung . . . . . . . . . 107
Wolfgang Ludwig Schneider
Systemtheorie und sequenzanalytische
Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Theorie-Empirie-Passungen
Stefan Hirschauer
Die Empiriegeladenheit von Theorien und
der Erfindungsreichtum der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Andreas Reckwitz
Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische
und methodologische Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
Hubert Knoblauch
Sinn und Subjektivität in der qualitativen Forschung . . . . 210
Stephan Wolff
Wie kommt die Praxis zu ihrer Theorie? Über einige
Merkmale praxissensibler Sozialforschung . . . . . . . . . . . . . . 234
Die empirische Genese von theoretischen Konzepten
Heinz Bude
Das »Serendipity Pattern«. Eine Erläuterung
am Beispiel des Exklusionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
Jörg Strübing
Pragmatismus als epistemische Praxis. Der Beitrag
der Grounded Theory zur Empirie-Theorie-Frage . . . . . . . . . 279
Udo Kelle
Strukturen begrenzter Reichweite und empirisch
begründete Theoriebildung. Überlegungen
zum Theoriebezug qualitativer Methodologie . . . . . . . . . . . . 312
Die Theoretisierung empirischer Beobachtungen
Werner Rammert
Technographie trifft Theorie. Forschungsperspektiven
einer Soziologie der Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Thomas Scheffer
Zug um Zug und Schritt für Schritt. Annäherungen an
eine transsequentielle Analytik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
Mechthild Bereswill und Peter Rieker
Irritation, Reflexion und soziologische Theoriebildung . . . 399
Elke Wagner
Operativität und Praxis. Der systemtheoretische
Operativitätsbegriff am Beispiel ethischer Medizinkritik . 432
Hinweise zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . 449
Vorwort
In der Soziologie ist die qualitative Forschung lange in einem Ge­
gensatz zur standardisierten Sozialforschung diskutiert worden.
Diese Polarisierung war vor allem dadurch motiviert, daß man auf
beiden Seiten ein Label für das ›Andere‹ der quantifizierenden Sozi­
alforschung suchte: eine kaum überschaubare Vielfalt von Ansätzen,
Forschungsstrategien, Verfahrensweisen und Erkenntniszielen.
Statt des notorisch asymmetrischen Gegensatzes in Methodenfra­
gen stellt dieser Band in den Vordergrund, daß man die ›qualitativ‹
genannten Forschungsstrategien vor allem in ihrer Verknüpfung mit
der soziologischen Theoriebildung sehen muß. Die vorliegende
Sammlung ist im Zuge der Ausdifferenzierung einer eigenen Sekti­
on ›Qualitative Methoden‹ im Rahmen der Deutschen Gesellschaft
für Soziologie entstanden und umfaßt ausgewählte Beiträge zweier
Tagungen über den Zusammenhang von »Qualitativer Forschung
und soziologischer Theoriebildung«: einer Tagung an der Universi­
tät Bielefeld im Mai 2005 sowie eines DFG-Rundgesprächs an der
Ludwig-Maximilians-Universität München im Juli 2006. Neben
den hier versammelten Autorinnen und Autoren sprachen Jörg
Bergmann, Christel Hopf, Bettina Heintz und Stefan Kutzner. Wir
verstehen den Band als einen Denkanstoß, über den eingelebten
Dualismus der Profession hinauszukommen, der Theoretiker und
Empiriker unterscheidet, und meinen, daß es die qualitative For­
schung ist, die genau dies zu leisten imstande ist.
Zu danken ist an dieser Stelle all den Kolleginnen und Kollegen,
die an der Fertigstellung dieses Bandes auf die eine oder andere
Weise durch Anregungen und Kritik, Unterstützung und Hilfe
beteiligt waren. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und ihre
Gutachter ermöglichten durch eine großzügige Finanzierung den
konzentrierten und produktiven Gedankenaustausch im Rahmen
der Münchener Tagung. Jörg Bergmann und Armin Nassehi ist für
die Ausrichtung der Bielefelder bzw. Münchener Tagung ganz herz­
lich zu danken.
Stefan Hirschauer, Herbert Kalthoff, Gesa Lindemann
Herbert Kalthoff
Einleitung: Zur Dialektik von
qualitativer Forschung
und soziologischer Theoriebildung
Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker. Als
Theoretiker bezeichne ich jemanden, der ein allge­
meines System errichtet […] und es in immer glei­
cher Weise auf unterschiedliche Bereiche anwendet.
Das ist nicht mein Fall. Ich bin ein Experimentator in
dem Sinne, daß ich schreibe, um mich selbst zu ver­
ändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor.
(Foucault 1996: 24)
1. Qualitative Forschung:
Theorie und Empirie im Gespräch
Das Fach Soziologie ist in seinem Kern in zwei Sphären geteilt: ›die
Theorie‹ und ›die Empirie‹. Unübersehbar ist diese Teilung bei der
Denomination von Lehrstühlen, Stellenausschreibungen und Lehr­
büchern. Man ›ist‹ – gut erkennbar für die Gegenseite – Theoretiker
oder Empiriker. Auf der einen Seite steht die Arbeit an Begriffen,
Konzepten, Modellen, Systemen, auf der anderen Seite die Arbeit
mit empirischen ›Daten‹. Theorie und Empirie bilden ein Begriffs­
paar und stehen sich seit der Etablierung des Fachs antithetisch ge­
genüber. Das Begriffspaar repräsentiert für die Mitglieder des Fachs
und für sein Publikum ein Modell der Soziologie, das Zuständig­
keiten und Reichweiten klar trennt und jeweils der einen oder an­
deren Seite zurechnet. Zu beobachten ist einerseits, daß Theoretiker
ihre Theorien gegen eine empirische Infragestellung immunisieren,
indem sie eine indifferente Haltung gegenüber empirischen Daten
einnehmen; andererseits pflegen Empiriker eine Theorievorsicht,
da man eine Subsumierung von Forschung unter allzu hermeti­
Meinen Dank an Stefan Hirschauer und Gesa Lindemann für ihre Anregungen
und Kritik. Das Projekt »theoretische Empirie« basiert auf geteilten Vorstellungen
über die Funktion qualitativer Forschungsprozesse und Forschungsresultate inner­
halb der Soziologie.
sche Theorieansätze zu vermeiden trachtet. Die Begriffe ›Theorie‹
und ›Empirie‹ bezeichnen damit zwei weitgehend separierte sozio­
logische Wissenspraktiken, die auf unterschiedlichen Materialien,
Relevanzen, philosophischen Traditionen und Diskursen gründen.
Die Bezugspunkte für Theorie sind Texte, Texte über Texte und ein
Korpus von Klassikern; ihre Orientierungspunkte sind klassische
und moderne Autoren; ihre Praxis ist Lektüre und Synthese; ihr
Emblem ist das Buch. Bezugspunkte für Empirie sind Wirklichkei­
ten ›dort draußen‹ sowie ihre internen Relationen und Dynamiken;
sie erfordern schriftliche Darstellungsformen sowie methodisches
und analytisches Wissen. Ihr Emblem ist eine Rhapsodie von ›Roh­
daten‹.
So weit, so bekannt. Wie alle Dualismen führt auch derjenige
von Theorie und Empirie in seiner Klischeehaftigkeit eine Reihe
von Unschärfen mit sich. Auf den zweiten Blick zeigt er sich näm­
lich primär motiviert durch einen bestimmten Typ empirischer So­
zialforschung (die standardisierende) und durch einen bestimmten
Typ der Theoriebildung, den man ›selbstreferentiell‹ nennen kann
(vgl. Lindemann in diesem Band). Schwer zu plazieren in diesem
Dualismus ist hingegen das weite Feld der qualitativen Forschung
in der Soziologie. Deren enger Theoriebezug gehört seit jeher zu
den Voraussetzungen und den Resultaten jener Forschung. Eben­
jener Theoriebezug ist Gegenstand der Beiträge dieses Bandes. Sein
Titel – »theoretische Empirie« – bringt diese Forschungshaltung
zum Ausdruck. Er knüpft damit an Diskurse an, die die Notwen­
In der Geschichte der Soziologie findet sich eine Vielzahl solcher Gegensatzkon­
struktionen wie etwa Mikro/Makro, Kultur/Natur, Struktur/Handlung. In »Sat­
telzeiten« (Koselleck) soziologischer Theoriebildung finden Umkehrungen statt,
und damit verlieren diese Gegensätze ihren den soziologischen Diskurs bestim­
menden Charakter (vgl. Knorr Cetina/Cicourel 1981).
Bei Simmel (1916/17: 33) bezeichnet der Begriff »theoretische Empirie« eine Form
von Empirie, in der Wirklichkeit dargestellt werden kann: »Fassen wir nämlich
den Begriff der empirischen Welt in seinem weitest möglichen Sinne, so ist er ein
Abstraktum, das eine Reihe empirischer Welten unter sich begreift: da es nicht nur
eine theoretische Empirie gibt, sondern auch eine religiöse, eine werthafte, eine
künstlerische, so besteht nicht nur eine wirkliche Welt in dem praktischen Sinne
des Wortes, sondern auch eine religiöse, eine wissenschaftliche, eine künstlerische.
Alle diese Welten haben prinzipiell den gleichen Inhalt, aber ganz verschiedene
Grundmotive bringen ihn in diese ganz verschiedenen Gesamtformungen. Keine
von diesen ist von sich aus der Mischung oder Kreuzung mit den andern fähig, da
eine jede ja schon den Weltstoff seinem ganzen Umfange nach einschließt.«
digkeit betonen, Empirien und Theorien nicht getrennt zu denken
(etwa Merton 1968: 139 ff., 156 ff.; Bourdieu 1979: 228 ff.). Dieses
Ineinanderverwobensein von theoretischer und empirischer For­
schung und damit die Theoriehaltigkeit qualitativer Forschung
beschäftigt die Beiträge dieses Bandes. Sie arbeiten gemeinsam
daran, der dichotomischen Entgegensetzung von theoretischer und
empirischer Arbeit ihre selbstverständliche Geltung zu entziehen
und den (empirischen) Sinn soziologischer Theorien neu zu be­
stimmen. Die Differenzen werden also neu befragt, ihre Konturen
genauer ausgelotet und die Systematik von Theorie und Empirie in
den Blick genommen.
Bildlich läßt sich der dadurch hergestellte Austausch als ein Ge­
spräch vorstellen, in dem sich Empirien und Theorien gegenseitig
informieren. Informieren bedeutet zunächst einmal, jemanden über
eine Sache zu benachrichtigen oder in Kenntnis zu setzen. Man
weiß dann, daß beispielsweise ein soziales Phänomen empirisch
oder theoretisch so oder so gesehen werden kann. Diese sich ge­
genseitig informierende Kommunikation läßt sich als eine neutrale
Vermittlung von Wissen oder Perspektiven verstehen; man nimmt
dann an, daß Information Transparenz ermöglicht. Man kann aber
auch annehmen, daß hier mehr im Spiel ist und daß dieses Sichgegenseitig-Informieren eine Wirkung ausübt, die die Gegenseite
nicht so beläßt, wie sie ist. Nimmt man die Wirkung in den Blick,
die empirische und theoretische Forschungen aufeinander ausüben,
dann ist von einer Ausrichtung oder Formatierung der empirischen
Forschung durch Theorie respektive der theoretischen Forschung
durch Empirie auszugehen. Erinnert sei an dieser Stelle an Heideg­
ger (1997: 203), der über die Wirkung der Information schreibt:
»Indem jedoch die Information in-formiert, d. h. benachrichtigt,
formiert sie zugleich, d. h. sie richtet ein und aus.«
Ziel dieses Bandes ist es also, diese zweigeteilte Welt und das,
was in ihr vorgesehen ist, einem zweiten Blick auszusetzen. Erörtert
werden Fragen erstens nach dem Status von Theorien und dem
Status empirischen Materials und zweitens nach der Perspektivität,
die in die Theorien oder Methoden eingelassen ist. Mit dem ersten
Joas/Knöbl (2004: 13 ff.) spezifizieren die Verknüpfung von Theorie/Empirie mit
dem von Jeffrey Alexander (1982: 2 f.) entwickelten Kontinuum, dessen Pole »me­
taphysische« und »empirische Umwelt« bilden. Dazwischen finden sich Begriffe
angeordnet wie »Modelle«, »Konzepte«, »Klassifikationen«, »Beobachtungen«.
10
Fragenkomplex zielen die Beiträge darauf zu klären, in welches Ver­
hältnis Theorien und Empirien gerückt werden können und ob sie
eine jeweils ›starke‹ oder ›schwache‹ Stellung einnehmen. Eine star­
ke Stellung der Empirie meint etwa, daß das empirische Material
den Theorien, mit denen es gelesen wird, auch widersprechen kann;
eine starke Stellung der Theorie meint, daß der Sinn der Empirie
durch die Sicht einer Theorie bestimmt wird. Die Beiträge disku­
tieren ferner, wie die Forschungsverfahren angelegt sein müssen,
damit empirische Materialien überhaupt widersprechen können.
Welche Sensibilität und Kreativität müssen die Verfahren freisetzen
und ermöglichen, damit die Empirie einer Theorie widersprechen
kann? Welche Theoriearchitektur operiert in diesem Zusammen­
hang ›offener‹, welche ›geschlossener‹? Wie sind diese Theorien be­
schaffen? Der zweite Fragenkomplex zielt darauf zu klären, welche
Perspektiven in den Grundannahmen der Theorien und der me­
thodischen Verfahren enthalten sind und wie diese sich in der For­
schungspraxis bemerkbar machen oder durchsetzen. Wie kann also
die qualitative Forscherin entscheiden, welche Theorie(n) sie nutzt
und welche empirischen Fakten sie mit welchen (theoriehaltigen)
Beobachtungen generiert?
2. Theorie – aber welche?
Was aber ist Theorie? Auf diese Frage hat es wissenschaftsgeschicht­
lich betrachtet verschiedene Antworten gegeben: In der griechischen
Philosophie stand theoria für eine Praxis der Anschauung, die Zeit
und Muße voraussetzte – modern gesprochen also: Handlungsent­
lastung. Theorie im Sinne des Kritischen Rationalismus meint ein
System von Sätzen, die u. a. falsifizierbar, wertfrei und nachprüfbar
sein müssen und den Begriffen der deduktiven Logik verpflichtet
sind (vgl. Popper 1966): also Abstraktion von Details, Allgemeingül­
tigkeit und Generalisierung von Aussagen, die einer Überprüfung
standhalten. Theorien haben hier den Status von Gesetzesaussagen.
Gesellschaftstheorien (etwa Kritische Theorie oder Systemtheorie)
zielen dagegen auf die Gesamtheit oder Totalität des Sozialen und
In den Worten von Niklas Luhmann: »Universalität der Gegenstandserfassung in
dem Sinne, daß sie als soziologische Theorie alles Soziale behandelt und nicht nur
Ausschnitte« (Luhmann 1984: 9; Herv. im Orig.).
11
formulieren Aussagen, die empirisch kaum zu falsifizieren sind und
innerhalb des Theoriediskurses auch nicht diese Funktion überneh­
men. Wissenschaftstheoretische Metadiskurse schließlich operieren
normativ, indem sie verbindlich die Prinzipien zu klären und zu
kanonisieren suchen, die eine Theorie zu einer wissenschaftlichen
Theorie machen und damit eine Differenz zu Alltagstheorien ein­
führen. Es sind genau diese metatheoretischen Diskurse, die für
manchen Beobachter die Einheit des Faches herstellen und garan­
tieren (vgl. etwa Alexander 1982: 64 ff.; Sibeon 2004: 12 ff.).
Ich schlage für die weitere Diskussion vor, drei Perspektiven auf
soziologische Theorien zu differenzieren: Unterscheiden kann man
die Betrachtung von
1. Theorien als beobachtungsleitenden Annahmen,
2. Theorien als aus empirischem Material entwickelten
Kategorien,
3. Theorien als beobachtbaren sozialen Phänomenen.
Theorien als beobachtungsleitende Annahmen legen fest, was der Ge­
genstand soziologischer Forschung sein und wie empirische Daten
erzeugt werden sollen. Sie setzen die Auswahl des Gegenstandes und
sorgen damit für eine Perspektivität von Forschung sowie für ihre ge­
richtete Orientierung und Aufmerksamkeit. Beobachtungsleitende
Annahmen klären also (temporär) die Frage, wie die Beschaffenheit
sozialer Ordnung soziologisch zu verstehen und zu erforschen ist.
Theorien als beobachtungsleitende Annahmen konstituieren For­
schung in dieser ›Wechselwirkung‹ von Grundannahmen über das
Soziale und Erforschung des Sozialen (Lindemann in diesem Band;
Reckwitz 2000: 38 ff.). Soziologische Forschungsmethoden sind in
diese Konstellation ›eingebettet‹: Sie setzen theoretische Annahmen
über die soziale Welt um, die sie empirisch-theoretisch beobachten,
und sie reflektieren Ergebnisse, die im Lichte dieser theoretischen
Annahmen Sinn ergeben oder auch irritieren können. Selbst wenn
nicht allgemein festzulegen ist, wie beobachtungsleitende Annah­
men und Forschungsergebnisse im Einzelfall einander bestätigen
oder irritieren, so haben diese Annahmen zugleich die Funktion,
qualitative Forscher ›von den Sachen zurück‹ (Blumenberg 2007) zu
bringen. Dies bedeutet, daß sie die Suche sowohl nach einem deut­
lichen empirischen Datum als auch nach dessen Systematik oder
Gestalt ausrichten.
Aus empirischem Material entwickelte Theorien sind am Gegen­
12
standsbereich oder ›Fall‹ orientierte Theorien (im Sinne Mertons
[1968: 39 ff.]: middle range theories): Sie haben substantiellen Cha­
rakter, wenn sie sich auf vergleichbare Fälle beziehen und die we­
sentlichen Bedingungen der Kategorie aufzeigen, die aus dem em­
pirischen Material gewonnen wurde. Sie haben formalen Charakter,
wenn sie gegensätzliche Fälle vergleichen und damit die Bereiche
ausdehnen, die der Kategorie empirisch zugrunde liegen. Formale
Theoriebildung dehnt die substantielle Theorie aus, indem sie auf
die Integration von Gegensätzen und die Vergleiche verschiedener
Bereiche abzielt. Durch diese Strategie der Maximierung wird Ge­
neralisierbarkeit erhöht und Validität erzeugt.
Schließlich sind Theorien selbst Teil der Gesellschaft, die sie
beobachten und beschreiben, und damit ein »kulturelles Ereignis«
(Pfeiffer u. a. 2001): Theorien als beobachtbare soziale Phänomene,
die die Welt mit erzeugen, die sie beschreiben. Als solche sind sie
soziologisch analysiert worden etwa als ein Kampf um wissenschaft­
liche Reputation (vgl. Bourdieu 1979), als Ergänzung empirischer
Forschung (Luhmann 1998) oder als eine kulturelle Praxis, die einer
ganz eigenen Logik folgt (Collins 1985).
Die Vorstellung, soziologische Forschung münde in eine integrie­
rende Theorie, ist durch zwei Bewegungen abgelöst worden: erstens
durch die Ausdifferenzierung von Theorieschulen und zweitens
durch die Diffusion von Theorie in andere Felder. Die Soziologie in
Deutschland wurde in den 1950er Jahren wesentlich bestimmt durch
die Kritische Theorie (u. a. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno),
die kritisch-rationalistische Kölner Schule (u. a. Leopold von Wiese,
René König) und die Philosophische Anthropologie (u. a. Helmuth
Plessner, Arnold Gehlen) (vgl. Fischer 2006). In den 1970er Jahren
folgten weitere Schulenbildungen durch die Theorie kommunika­
tiven Handelns (Jürgen Habermas) und durch die Systemtheorie
(Niklas Luhmann); beide Theorieprojekte nahmen sowohl deut­
sche als auch anglo-amerikanische Theorietraditionen auf, etwa den
Symbolischen Interaktionismus und die Ethnomethodologie. Ab
den 1970er Jahren setzte dann eine breite Rezeption verschiede­
ner französischer Theorietraditionen ein, durch die Debatten über
strukturalistische und poststrukturalistische oder auch postmoder­
ne Theorien initiiert wurden. Schließlich folgten die Rezeption und
Weiterentwicklung mikrosoziologischer Theorien und die beiden
ganz verschiedenen Herausforderungen der klassischen soziologi­
13
schen Handlungstheorie durch den Rational-Choice-Ansatz und die
Actor-Network Theory. Das Feld soziologischer Theorie ist also keine
Einheit, sondern ein Terrain von Auseinandersetzungen, Neu- und
Wiederentdeckungen, das – neben einer eigenen Infrastruktur (Pu­
blikationsorgane beispielsweise) – eigene Sprachspiele und damit
Lebensformen und Vorstellungswelten herausgebildet hat.
Zu konstatieren ist ferner, daß theoretische Bemühungen und
Fragestellungen aus dem alten Kernbereich soziologischer Theo­
rie in benachbarte Felder abgewandert sind, insbesondere in die
Kultur- und Wissenschaftssoziologie, von denen das Fach in den
zurückliegenden Jahren wesentliche Theorieimpulse erhielt. Man
denke nur an jüngere Beiträge zur Praxistheorie (beispielsweise
Reckwitz 2000, Schatzki 1996), zur Zeitlichkeit (beispielsweise
Rosa 2005; Zerubavel 2003) oder zur Rolle technischer Artefakte
(beispielsweise Latour 1994). Die Arbeit an soziologischer Theorie
hat sich damit in zwei Strömungen ausdifferenziert: zum einen die
selbstreferentiellen, theoriehistorisch informierten Diskussionen
von Theoriearchitekturen, Begrifflichkeiten und philosophischen
Hintergründen (»Wieviel Hegel steckt in Luhmann?«), die der
Ordnung, Klärung und Integration von Phänomenen im Kontext
einer Theoriesprache dienen; zum anderen stärker empiriefähige
Sozialtheorien auf der Basis einer systematischen oder zufälligen
Beobachtung von sozialen Praktiken, Diskursen, symbolischen
Formen oder gesellschaftlichen Phänomenen wie Körper, techni­
sche Dinge, Ungleichheiten, Tod, kreative Klasse, Prekariat usw.
(etwa Bude/Lantermann 2006).
Die Arbeit an und Entwicklung von Theorien ist dabei nicht un­
abhängig von den allgemeinen Tendenzen und Prozessen zu verste­
hen, die eine gesellschaftliche Formation kennzeichnen. In sozio­
logischen Theorien über Gesellschaft und soziale Realität kommt
diese Formation – wie gebrochen auch immer – zum Ausdruck. Die
Zum Alterungsprozeß soziologischer Theorien notierte schon William James:
»First, you know, a new theory is attacked as absurd, then it is admitted to be
true, but obvious and insignificant; finally it is seen to be so important that its
adversaries claim that they themselves discovered it« (James 1907: 76).
Die Wissenschaftsforschung zeigt darüber hinaus, daß die ›Auswanderung des
Theoretischen‹ auch die Grenzen der Wissenschaft überschreitet. Theorien diffun­
dieren in technische Objekte, Apparaturen und Organisationsmodelle. Auch an­
dere mächtige Institutionen als die Wissenschaft können theoretisch phantasievoll
agieren (vgl. Knorr Cetina in diesem Band).
14
soziologische Rede von der bürgerlichen oder nachbürgerlichen
Gesellschaft, von der modernen oder postmodernen Gesellschaft
ist daher nicht allein als Beitrag zum Verständnis von Gesellschaf­
ten zu verstehen, sondern auch als Reaktion auf gesellschaftliche
Formationen. Mit anderen Worten: Soziologische Theorien sind
doppelt gerahmt, erstens durch das Feld soziologischer Theorien,
in dem sie sich in Abstand und Nähe zu anderen Theorien positio­
nieren, und zweitens durch die Gesellschaftsform, auf die sie sich
einen Reim zu machen suchen. Schließlich gilt es zu bedenken, daß
die Arbeit an und mit einer Theorie immer auch eine Investition in
diese Theorie darstellt, die nicht beliebig wiederholt werden kann.
Dies liegt auch daran, daß die Theorieinvestition den Investieren­
den an seine Investition bindet und die Überzeugung hervorbringt,
daß die Investition eine gute und richtige Entscheidung gewesen
ist. Die soziale Welt erscheint im Lichte derjenigen Theorie, in die
man investiert hat, genau so wie die Theorie sie darstellt und sicht­
bar macht, weil sonst die Investition in diese Theorie sinnlos würde.
Diese Kontextierung bedeutet wiederum, daß soziologische Theo­
rie nicht als Repräsentationsidiom verstanden werden kann, so als
würde sie Gesellschaft oder gesellschaftliche Umstände auf realisti­
sche Weise abbilden: Theorien sind keine wörtlichen Übersetzun­
gen gesellschaftlicher Wirklichkeit, sondern Vorschläge, diese mit
der theoretischen Begrifflichkeit zu sehen und zu begreifen.
Die Soziologie ist also durch eine eigentümliche Gemengelage
bestimmt: Gesellschafts- oder Sozialtheorien operieren mit un­
terscheidbaren Annahmen (vgl. Lindemann in diesem Band), die
Arbeit mit den Daten konstituiert ihren Erfindungsreichtum (vgl.
Hirschauer in diesem Band), die Arbeit an der Theorie ihre metho­
disch-empirische Neuausrichtung (vgl. Nassehi in diesem Band).
Für die qualitative Forschung ist – wie gesagt – der traditionelle
Theoriebegriff fragwürdig, denn er privilegiert eine Form, in der
Theorie auftritt, und zwar als eine der theoretischen Logik folgende
Modellierung von Gesellschaft, Sozialität oder sozialen Phänome­
nen.
15
3. Qualitative Forschung – aber welche?
Wie verhält sich hierzu nun die qualitative Forschung und ihre Em­
pirie? Ein zentrales Merkmal qualitativer Forschung ist ihr starker
Empiriebegriff. Dieser impliziert den Abschied von der Annahme,
die eigene Gesellschaft sei der Soziologie ein immer schon vertrau­
ter, verstandener und auch verfügbarer Gegenstand. Die »Illusion
des unmittelbaren Verstehens« (Pierre Bourdieu) von Kulturen
durch ihre flüchtige Beobachtung wird substituiert durch eine em­
pirische Erforschung sozialer Lebenswelten. Ausgangspunkt der
Praxis soziologischen Theoretisierens ist hier das durch Methoden
generierte empirische Datum. Hiermit verbunden ist das Verständ­
nis, daß die Soziologie das Fremde und das Bekannte in der eigenen
Gesellschaft befragt. Dies ganz im Sinne von Max Weber, der schon
1917 anmerkte: »Die spezifische Funktion der Wissenschaft scheint
mir gerade umgekehrt, daß ihr das konventionell Selbstverständ­
liche zum Problem wird« (Weber 1988: 502). An die Stelle anek­
dotischen Wissens über soziale Lebenswelten tritt eine empirisch
offensive Forschung, die die vordergründigen Betrachtungen von
Randbedingungen sozialer Prozesse durch eine detaillierte empi­
rische Analyse ebendieser sozialen Praktiken und Wirklichkeiten,
Dynamiken und Details ersetzt. Nur wenn die Soziologie genau
weiß – so das Credo qualitativer Forscherinnen und Forscher –, was
jeweils in den Lebenswelten vor sich geht, kann sie auch empirisch
valide Auskunft geben.
Spricht man von ›qualitativer Forschung‹, muß man freilich
immer eine kaum zu bändigende Diversität und Heterogenität im
Auge behalten. Zumindest vier Forschungsfelder lassen sich unter­
scheiden: 1. eine interviewbasierte Forschung, deren zentrale analy­
tische Einheit das Individuum ist (exemplarisch: die Biographiefor­
schung); 2. eine interaktionsanalytische Forschung, deren zentraler
Gegenstand die ›Wechselwirkung‹ zwischen Dyaden und Triaden
ist (exemplarisch: die Konversationsanalyse); 3. eine ethnographi­
sche Forschung, deren wesentliche Kategorien Situation, Lokalität
und Kontext sind; und 4. eine diskursanalytische Forschung, de­
ren analytische Einheiten Diskursformationen und Netzwerke sind
(exemplarisch: die historische Soziologie).
Hierzu ausführlich beispielsweise Atkinson u. a. (2001); Gubrium/Holstein (2002);
Emerson u. a. (1995); Wooffitt (2005). Gegen einen Methodologismus qualitativer
16
Quer zu diesen vier Feldern finden sich zum einen mehr oder we­
niger stark konturierte Forschungsansätze (wie die Objektive Her­
meneutik, Wissenssoziologien oder die dokumentarische Methode
der Interpretation), zum anderen zeichnen sich mindestens drei
Denkströmungen in bezug auf wissenschaftstheoretische Fragen ab.
Für die erste hat qualitative Forschung die Funktion, Ergebnisse
zu erzielen, die weitgehend den Gütekriterien der standardisierten
Forschung entsprechen; für die zweite bemißt sich ihre Relevanz
an neuen, überraschenden und Wissen explizierenden Ergebnissen;
und schließlich erinnert eine dritte Strömung immer wieder an den
realitätskonstituierenden Charakter soziologischer Methoden und
führt damit ein reflexives Moment in die Forschungspraxis ein.
Zentrale Differenz dieser (und anderer) Perspektiven ist der Me­
thodenbegriff. Vertreter der ersten Richtung (vgl. Kelle 1994) set­
zen in ihrer Forschung ein tendenziell positivistisches Methoden­
verständnis um und folgen damit einem starken Methodenbegriff:
Methoden sind diesem Verständnis zufolge neutrale Verfahren,
die das empirische Vorgehen unabhängig von den Forschungsge­
genständen relativ stark vorgeben und festlegen (etwa die Abfolge
von Forschungsfrage, Operationalisierung, Erhebung und Analyse
von Daten). Soziologische Forschungsmethoden sind hier von den
Forschungsgegenständen getrennte und von ihnen abstrahierende
Verfahren der Datenerzeugung. Die erste Richtung kennzeichnet
sowohl ein starker Methodenbegriff als auch eine Dekontextuali­
sierung von Methode und Forschungsgegenstand; sie zentriert den
Gegenstand in der Methode und macht durch diese Methodisie­
rung die Ergebnisse ›intersubjektiv nachprüfbar‹.
Die zweite Denkströmung plädiert dagegen für eine Rekontex­
tualisierung des Verhältnisses von Methoden und Forschungsge­
genständen: Sie dezentriert das Verhältnis von Subjekt und Objekt
der Forschung und tritt damit die Kontrolle über den Forschungs­
prozeß tendenziell ab; ihren prominenten Ausdruck findet diese
Perspektive in der Kritik am »Methodenzwang« (Feyerabend 1983).
Dagegen rückt man die Beschaffenheit der Forschungsgegenstän­
de in das Zentrum methodischer Überlegungen und geht damit
auf Distanz zu kodifizierten und kanonisierten Methoden. Dieses
Forschung verstehe ich mit Schütz (1970: 315) soziologische Forschungsmethoden
nicht als unsere ›Lehrerinnen‹ oder ›Lehrer‹, sondern als unsere ›Schülerinnen‹ und
›Schüler‹. Von guten Schülern kann man bekanntlich lernen.
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Plädoyer für eine sensible Methodologie (Blumer 1954), die nicht
eine Methode anwendet, sondern sich durch den Gegenstand, den
sie erforschen will, definiert, räumt den Individuen, Gruppen oder
Dingen ein Mitsprache- und auch Entscheidungsrecht ein, ohne
dabei eine starke Autorschaft des forschenden Soziologen aufzuge­
ben (vgl. Hirschauer 2001). Es ist die Verknüpfung methodischer
Dezentrierung und starker Autorschaft, die diese Richtung kenn­
zeichnet.
Die dritte Denkströmung konfrontiert den soziologischen Beob­
achter mit der Frage nach dem Verhältnis von durch Forschungs­
methoden erzeugter Empirie und sozialer Realität. Im Anschluß
an die Performativitätsdebatte in den Kulturwissenschaften (etwa
Wirth 2002; Butler 1997) lautet hier das Argument, daß die For­
schungsmethoden den empirischen Gegenstand konstituieren, mit
dem es die Soziologie dann zu tun hat. Demnach machen Metho­
den Realitäten nicht in realistischer Weise sichtbar, sondern zeigen,
wie sie – im Lichte der verwendeten Methoden – vorgestellt werden
können. Hierdurch nimmt man den Umstand in den Blick, daß
die qualitativen Forschungsmethoden mit ihren Produkten nicht
Realität darstellen, sondern einen spezifischen Blick auf sie und auf
sich selbst erzeugen. Der Beitrag, den die Forschungsmethoden
zur Konstituierung von Empirie leisten, liegt u. a. in den jeweils
eingesetzten Medien begründet. Daher sind die Texte oder Bilder,
die qualitative Forscher produzieren, im Sinne von Stephan Wolff
(2006) aktive Dinge, die ihre eigene Wirkung auf die ausüben, die
sie hervorbringen und die mit ihnen umgehen. Man kann hier ein
Argument von Jonathan Crary (1996: 36) über die Funktionsweise
optischer Geräte aufnehmen: Für den Beobachter verdecken diese
Geräte den Herstellungsprozeß ihrer Bilder, Texte etc. Übertragen
auf die qualitative Forschung bedeutet dies, daß ihre Produkte (ih­
re Daten), die sie mit Hilfe technischer Geräte (etwa Audio- und
Video­geräten) erzeugt, den Erzeugungskontext ignorieren. Ich
meine, daß der starke Stellenwert des Empirischen durch eine Nei­
gung auszubalancieren ist, die die Relation von Daten und Ge­
nerierungsprozeß reflexiv mitführt. Denn was sich dem Forscher
als »Datum« darbietet, ist etwas durch den Forschungsprozeß »Ge­
machtes«: Faktum und Fiktion werden einander deutlich angenä­
hert (vgl. Geertz 1987).
Wie aber läßt sich über Wirklichkeit sprechen, wenn diese nicht
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neutral repräsentiert werden kann? Die Antwort auf diese Frage war
eine Umstellung der Forschung hin zu einer Mischung aus erkennt­
nistheoretischem Relativismus und Skeptizismus, der mit den eige­
nen blinden Flecken der empirischen Forschung im Wechsel von
Dokumentarismus und Reflexivität umzugehen weiß (vgl. Kalthoff
2006; Mohn 2002). Beobachten läßt sich somit eine Relativierung
soziologischer Theorie und Empirie.
4. Theoretische Rahmungen qualitativer Forschung
In ihrer Forschungspraxis bezieht sich qualitative Forschung auf
sehr unterschiedliche Theorietraditionen der Soziologie wie etwa
auf Wissenssoziologie und Konstruktivismus, auf Phänomenologie
und Hermeneutik, auf Pragmatismus und Symbolischen Interak­
tionismus, auf die Actor-Network Theory oder auf philosophische
Hintergrundtheorien wie die Sprachphilosophie Wittgensteins
oder das Praxisverständnis Heideggers (siehe Wolff in diesem
Band). Was diese verschiedenen Theoriebezüge anzeigen, ist, daß
es nicht eine Theorie, sondern eine Vielzahl von Theorien gibt, die
empirische Forschung anleiten und zur Analyse empirischer Be­
funde verwendet werden. Das, was sichtbar gemacht und analysiert
werden kann, ist von diesen Theoriebezügen, die ein Verständnis
von Welt formulieren, gar nicht zu trennen. Das bedeutet auch,
daß empirische Forschung kein Mittel sein kann, um eine einheit­
liche soziologische Theorie zu entwickeln. Dies war die Hoffnung
in den ersten Theorievergleichsdebatten (vgl. Schmid 2001).
Die Theorien, die von qualitativen Forschern genutzt werden,
eröffnen unterschiedliche Zugänge zu der beobachteten empiri­
schen Welt. Damit stehen sie zugleich in einem komplementären
wie auch in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. Komplemen­
täres Verhältnis meint, daß sich die Ansätze in der Erklärung der
sozialen Welt ergänzen und zur Aufschlüsselung ihrer empirischen
Daten auch so verwendet werden. Gleichzeitig wird der Theoriebe­
zug der qualitativen Forschung durch die Erhebungsmethode und
durch die empirischen Daten mitbestimmt: Das Zusammenspiel
von Fragestellung, Methoden und erhobenen Daten erzeugt eine
Plausibilität für bestimmte Theorieansätze. Es ist daher kein Zu­
fall, daß sich biographieanalytische Studien (Interviewforschung)
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auf hermeneutische und phänomenologische Theorietraditionen
beziehen, diskursanalytische Studien (Dokumentenanalyse) auf
poststrukturalistische Traditionen und ethnographische Studien
(Feldforschung) auf die Wissenssoziologie oder den empirischen
Konstruktivismus.
Erneut haben wir es also mit beträchtlicher Heterogenität zu
tun. Versuchen wir trotzdem zusammenzufassen, wie Theorie und
qualitative Forschung ineinandergreifen: In welcher Weise rahmt
und informiert Theorie qualitative Forschung? Folgende Aspekte
können unterschieden werden:
(1) Qualitative Forschung zielt in ihrer Arbeit am empirischen
Material oft darauf ab, Kategorien aus dem Material zu entwickeln,
die sensitiv sind und die Imagination und Wahrnehmung des For­
schers schärfen. In dieser zu entwickelnden Begriffsmatrix werden
vergleichbare Fälle herangezogen und Lesarten (›Hypothesen‹) des
Phänomens generiert. Diese Theorien nehmen den Charakter von
middle range theories an und sind auf einen sozialen Bereich bezo­
gen. Auf diese Weise wird eine Analyse des Handelns vorgenom­
men, durch das sich die Akteure die Welt erschließen (vgl. Strü­
bing, Kelle und Bereswill/Rieker in diesem Band).
(2) Die qualitative Forschung arbeitet nicht mit der Annahme
der Möglichkeit einer theoretischen Neutralität. Ihr Naturalismus
der 1960er und 1970er Jahre ist inzwischen einer erkenntnistheore­
tischen Haltung gewichen, die in der Rekonstruktion des sozialen
Geschehens die Konstruktion des wissenschaftlichen Objekts refle­
xiv mitführt. Weder sind also ihre Forschungsinstrumente theorie­
neutral, denn sie arbeiten immer schon mit bestimmten Annahmen
über das Soziale, noch übt sie sich in theoretischer Zurückhaltung.
Ihr geht es vielmehr darum, soziologische Theorien für die eigene
Forschung in dem Sinne zu aktivieren, daß durch sie hindurch das
empirische Material ›zum Sprechen‹ gebracht und auf diesem Wege
Theorie entfaltet werden kann, indem diese ihr Potential bei der
So dokumentiert die Entscheidung für die ethnomethodologische Konversations­
analyse nicht nur eine methodische Präferenz für den Einsatz audiovisueller Tech­
niken und akribischer Verschriftlichung, sondern auch theoretische Annahmen
über die soziale Bedeutung der Logik und Dynamik von Sprechpraktiken, durch
die Welt erzählt und erzeugt wird – also eine Theorie des Sozialen, die in der Per­
formanz von Praktiken den Kern sozialer Welt sieht. Dies gilt in ähnlicher Weise
für die anderen qualitativen Methoden und ist vielfach reflektiert worden.
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