3. Bestimmungsgründe länderspezifischer Arbeitslosigkeitsunterschiede Theoretische Zusammenhänge Arbeitslosenversicherung Mindestlöhne Gewerkschaften Konkurrenz auf den Absatzmärkten Kündigungsschutz Arbeitszeit Abgabenbelastung Empirische Evidenz 1 3.1. Arbeitslosenversicherung Warum sind Arbeitslosenversicherungen staatlich bzw. obligatorisch? Das Arbeitslosigkeitsrisiko ist kein gewöhnliches Risiko und für das Versicherungsgewerbe daher kein attraktives Geschäft. Das Arbeitslosigkeitsrisiko ist stark konjunkturabhängig. Das heisst: Es handelt sich um ein kollektives Risiko, das sich im Unterschied zu den meisten durch private Versicherungen abgesicherten Risiken im Aggregat der Wirtschaft nicht herausmitteln bzw. wegdiversifizieren lässt. Infolge dessen bietet das Zusammenfassen individueller Risiken in einer privaten Versicherung den Versicherten kaum Vorteile: Aufgrund der begrenzten Diversifikationsmöglichkeiten müsste der Versichererte seine Leistung weitgehend selbst ansparen. Das individuelle Arbeitslosigkeitsrisiko streut systematisch, nicht zufällig. Personen mit niedrigerem Erwerbseinkommen tragen ein wesentlich höheres Risiko, arbeitslos zu werden, als Erwerbspersonen mit einem höheren Verdienst. Bspw. in der Schweiz bringen die oberen 50% der Erwerbseinkommen 72 Prozent der Beitragssumme der obligatorischen ALV auf, aber beanspruchen lediglich 43 Prozent der jährlich ausbezahlten Taggelder, während die unteren 50% 28 Prozent der Einnahmen erbringen, aber 57 Prozent der Ausgaben bekommen. Mit anderen Worten: Ein- 2 kommensschwächere erhalten mehr als das Doppelte dessen, was sie an Beiträgen einzahlen. Systematische Risikounterschiede führen bei freiwilligen Versicherungen zum Problem der adversen Selektion In einer Versicherung auf freiwilliger Basis hätte eine systematische Einkommensumverteilung zwischen Versicherten unterschiedlicher Risikoklassen keinen Bestand. Würde eine freiwillige Versicherung trotz systematischer Risikounterschiede zwischen den Erwerbspersonen eine einheitliche Prämie erheben, die sich nach dem Durchschnittsrisiko der Erwerbsbevölkerung zunächst richten würde, wäre sie für überdurchschnittlich gute Risiken zu teuer, so dass die Versicherung schlechte Risiken überproportional anziehen würde (negative Selektion). Die Häufung schlechter Risiken unter den Versicherungsnehmern würde ihrerseits eine Erhöhung der Prämie erfordern, was ein weiteres Ausscheiden guter Risiken zur Folge hätte. Im Extremfall könnte ein Teufelskreis entstehen, an dessen Ende die Versicherungsprämie so prohibitiv teuer wäre, dass die Versicherung keine Abnehmer fände. 3 Welche Parameter charakterisieren eine ALV? • Finanzierungsseite - Form (experience rating versus Solidaritätsprinzip) - Beitragshöhe • Leistungsseite - passive Leistungen (Einkommensausfallsentschädigung) - aktive Leistungen (AAM) 4 Wie wirken sich diese Parameter auf die gleichgewichtige Arbeitslosigkeit aus? AAM (vgl. Kapitel 4) Sie erhöhen PUE und senken dadurch U*. passive Leistungen Sie erhöhen die Ansprüche (w*) der Stellensuchenden, senken auf diese Weise PUE und erhöhen somit U* ("moral hazard"-Effekt). Sie können bis zu einem bestimmten Grad auch arbeitslosigkeitssenkend wirken, indem sie Stellenlosen Zeit geben, "passende" Arbeit zu finden, was die Wahrscheinlichkeit künftiger Arbeitslosigkeit (PEU) senkt. 5 risikoundifferenzierte Versicherungsbeiträge (Solidaritätsprinzip) Sie animieren Arbeitgeber und Arbeitnehmer dazu, Beschäftigungsverhältnisse häufiger aufzulösen (PEU und folglich U* steigen), als sie es tun würden, wenn sie die Kosten ihres Tuns selbst zu tragen hätten ("moral hazard"-bzw. Anreizeffekt). Sie führen dazu, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die instabile Beschäftigungsverhältnisse gehäuft oder regelmässig eingehen, durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer subventioniert werden, die sich für dauerhaftere Beschäftigungsverhältnisse entscheiden. Solche Quersubventionen ("cross subsidies") fördern das Wachstum beschäftigungsinstabiler Firmen auf Kosten beschäftigungsstabiler Firmen und heben auf diese Weise das allgemeine Niveau der Arbeitslosigkeit an (sogenannte Allokationsoder Struktureffekte). PEU und U* steigen folglich auch in diesem Fall. Im Unterschied zu Anreizeffekten entstehen Allokationseffekte auch ohne das aktive Zutun der Marktteilnehmer. 6 Auswirkung des Risikos des Stellenverlusts auf den Anspruchslohn 7 3.2. Mindestlöhne Wenn die Nachfrage des Arbeitgebers keinen Einfluss auf den Lohn ausübt (Fall sog. "vollkommener" bzw. vollständiger Konkurrenz), dann senkt ein Mindestlohn oberhalb des Gleichgewichtslohns die Beschäftigung. Wenn die Nachfrage des Arbeitgebers doch einen Einfluss auf den Lohn hat (Monopson-Fall), kann ein Mindestlohn - richtig gewählt - sowohl den Lohn als auch die Beschäftigung erhöhen. 8 9 10 3.3. Gewerkschaften Bei Gewerkschaften verhält sich ähnlich wie bei einem Mindestlohn: Ein gewerkschaftlich erwirkter Einheitslohn kann ebenfalls das Lohnniveau und die Beschäftigung anheben. 11 12 3.4 Konkurrenz auf den Absatzmärkten Beim Monopol ist der Preis des hergestellten Produktes oder Dienstes für den Monopolist kein Datum, sondern eine Funktion der Nachfrage nach dem Produkt bzw. Dienst. Dies berücksichtigt der Monopolist mit der Folge, dass er weniger Arbeit (EM) einsetzt als bei vollkommener Konkurrenz (E*). Der Arbeitnehmer erhält lediglich sein Grenzerlösprodukt (MRP) bzw. weniger als sein Grenzwertprodukt VMP im Gleichgewicht. Der Monopolfall deutet daraufhin, dass monopolistische Strukturen auf dem Absatzmarkt den Output und Arbeitseinsatz senkt. Im Vergleich etwa zu den USA sind die Absatzmärkte in Europa stärker kartellisiert. 13 graphische Erläuterung Absatzmarkt Quelle: BORJAS (1996), S. 181. Arbeitsmarkt Quelle: BORJAS (1996), S. 182. 14 3.5 Kündigungsschutz Pro Bindet die Belegschaft an der Firma, was der Firma einen Anreiz bietet, mehr in die Qualifikationen ihr Personal zu investieren, weil die grössere Firmentreue die Aussichten der Firma erhöht, die Früchte ihrer Investitionen zu ernten. Besser qualifizierte Arbeitskräfte werden seltener arbeitslos und bleiben, einmal betroffen, kürzere Zeit ohne Stelle. Kontra Sichert zwar die Beschäftigung der Stelleninhaber, aber nicht jene der Stellenlosen. Für diese wirkt ein Kündigungsschutz eher wie eine Barriere. Erhöht die Kosten der Beschäftigung: einerseits indem er eine Belegschaftsanpassung verteuert und andererseits indem er die Chancen von Überbesetzungen (überschüssige Lohnkosten) und Unterbesetzungen (verpasste Erlöse) erhöht. 15 3.6 Arbeitszeit Aufgrund des folgenden tautologischen Zusammenhangs scheint eine Arbeitszeitverkürzung das Stellenagebot zu erhöhen und folglich U* zu senken. Stellen = BIP × = BIP × Arbeitsvolumen Stellen × BIP Arbeitsvolumen 1 1 × Arbeitszeitproduktivität Arbeitszeit pro Stelle Der Zusammenhang ist aus einer Reihe von Gründen fragwürdig: • Eine Arbeitszeitverkürzung erhöht tendenziell die Arbeitskosten, da sie das Arbeitsvolumenangebot (Personen x Arbeitszeit pro Person) verknappt und weil die Arbeitskosten auch fixe (sprich zeitunabhängige) Komponenten enthalten. Dies führt zur Faktor Substitution, was die Arbeitsproduktivität erhöht und einen etwaigen beschäftigungserhöhenden Effekt konterkariert. 16 • Selbst, wenn durch Arbeitszeitverkürzung neue Stellen entstehen sollten, nimmt die Zahl der Arbeitslosen nicht notwendigerweise ab. (Die Unterbeschäftigung nimmt ohnehin nicht ab, sondern wird lediglich umverteilt.) - Eine Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich (nur davon werden positive Beschäftigungseffekte erwartet) bedeutet für die Betroffenen eine Einkommenseinbusse. Sind sie nicht damit einverstanden und versuchen, durch Nebenjobs oder eine Kombination von Teilzeitbeschäftigungen den Einkommensausfall wettzumachen, dann entsteht eine zusätzliche Stellennachfrage. - Zum anderen ist zu bedenken, dass ein erhöhtes Angebot an Teilzeitstellen möglicherweise zusätzliche Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt lockt. 17 3.7 Abgabenbelastung Lohnnebenkosten Lohnnebenkosten sind beschäftigungspolitisch nur dann relevant, wenn ihre Bemessungsgrenze so tief liegt, dass sie Fixkostencharakter erhalten. In diesem Fall ist es billiger eine Person vollzeit zu beschäftigen als zwei Personen teilzeit. Für die USA (Bemessungsgrenze = $9'000 p.a.) trifft dies zu, für Europa hingegen in der Regel nicht (z.B. D: € 42'000, CH: € 70'000). Steuerbelastung Beschäftigungspolitische Relevanz hängt davon ab, wer die Steuern letztlich trägt, was wiederum von der Elastizität der Nachfrage und Angebot abhängt. Da Finanzkapital mobiler ist als Arbeit, trägt der Faktor Arbeit die volle Steuerbelastung langfristig. Folglich hat die Steuerbelastung langfristig keine Auswirkung auf die Beschäftigung. Ausnahme: Mindestlohn, da das Arbeitsangebot in diesem Fall vollkommen elastisch ist. 18 Auswirkung der Erhebung einer Lohnsteuer von einer Einheit beim Arbeitgeber 19 Auswirkung der Erhebung einer Lohnsteuer von einer Einheit beim Arbeitnehmer Fazit: Die Wirkung in Bezug auf Nettolohn, Lohnkosten und Beschäftigung ist die gleiche. 20 Beim unelastischen Arbeitsangebot tragen die Arbeitnehmer die Kosten. 21 Steuerbelastung: graphische Erläuterung 22 Bestimmungsfaktoren hoher Sockelarbeitslosigkeit, 20 OECD-Länder im Vergleich, 1983-96 Land A rb e its lo s e n q u o te n (1 ) (2 ) (3 ) (4 ) L o h n b ild u n g sp ro z e s s (5 ) (6 ) (7 ) V e rtra g s fre ih e it (9 ) (8 ) A rb e its lo s e n v e rsic h e ru n g (1 0 ) (1 1 ) (1 2 ) S te u e rb e la s tu n g (1 3 ) (1 4 ) A Z e it (1 5 ) M e d ia n (1 6 ) AUS 12 14 11 - 12 7 14 4 6 3 15 19 3 1 4 5 AUT 3 3 - 7 14 7 1 16 12 6 9 11 13 14 14 17 16 BEL 14 10 16 6 16 7 7 17 9 10 15 6 12 12 16 CAN 16 15 5 8 9 2 16 3 4 9 5 16 5 8 10 8 DEN 17 18 12 11 18 7 1 5 4 20 12 8 2 10 17 11 F IN 13 17 7 12 19 7 5 10 12 12 9 4 15 19 7 15 FR A 18 16 15 5 1 7 7 14 16 8 13 10 19 18 12 14 GER 6 6 9 14 8 7 5 15 16 12 15 2 14 13 14 18 IR E 19 19 18 10 15 7 16 12 9 4 15 9 4 2 8 10 IT A 10 11 17 1 10 7 7 20 18 1 1 7 20 17 11 9 JA P 2 1 1 - 4 2 7 8 3 10 1 18 9 4 2 1 N LD 11 9 14 9 5 7 7 9 12 16 9 13 16 16 17 13 NOR 4 7 6 3 17 7 1 11 12 14 8 5 10 11 20 12 NZ 9 12 10 - 13 2 16 2 6 2 15 14 1 3 5 3 POR 7 5 8 - 7 7 7 18 9 14 4 3 7 5 1 6 SPN 20 20 19 13 2 7 14 19 18 16 14 17 17 15 6 19 SW E 5 4 1 2 20 7 1 13 18 19 7 1 18 20 17 20 SW Z 1 1 3 4 6 2 7 6 6 16 5 12 7 6 13 4 14 12 13 15 11 2 16 7 1 5 15 15 6 7 8 7 8 8 4 16 3 1 16 1 1 6 1 20 11 9 3 2 M in im u m 1 .8 2 .3 0 .4 0 .9 9 .8 1 1 1 0 20 0 .5 3 .0 0 .0 2 8 .7 1430 M e d ia n 8 .0 8 .2 2 .3 2 .3 3 9 .0 3 2 11 4 60 2 .0 8 .6 1 9 .2 4 7 .5 1735 1 9 .7 1 8 .9 9 .7 1 2 .9 8 2 .5 3 3 20 7 90 4 .0 5 9 .3 4 0 .2 7 0 .7 2000 UK USA M a x im u m A LQ 0 + ++ 0 0 + 0 ++ 0 + 0 LA LQ 0 ++ ++ 0 0 0 ++ ++ 0 0 0 23 Tabellenschlüssel (1) Durchschnitt der Jahre 1983-96 (%). (2) Durchschnitt der Jahre 1989-94 (%). (3) Durchschnitt der Jahre 1989-94 bezogen ausschliesslich auf Langzeitarbeitslose (%). (4) Reagibilität des allgemeinen Lohnniveaus auf eine Abnahme der Arbeitslosenquote um 1%-Punkt (%). (5) Anteil der gewerkschaftlich organisierten Unselbständigen (%). (6) Anteil der Unselbständigen, deren Löhne von Gewerkschaften ausgehandelt werden (Skala: 1 = bis 25%, 2 = 25-75%, 3 = über 75%). (7) Höhe des Tariffriedens (Skala: 1 = tief, 2 = mittel, 3 = hoch). (8) Kündigungsschutz (Rangskala: 1 = am tiefsten, 20 = am höchsten). (9) Ausmass der Arbeitsmarktregulierung (Summe fünfer Indices, die jeweils zwischen 0 (tief) und 2 (hoch) liegen). (10) Höhe der Arbeitslosenentschädigung im Verhälltnis zum letzten Verdienst (%). (11) Maximale Dauer des Leistungsanspruchs (Jahre). (12) Ausgaben für aktive Massnahmen pro Arbeitslosen im Verhältnis zur Nettoproduktionsleistung eines durchschnittlichen Erwerbstätigen (%). (13) Summe der mittleren Sozialversicherungsbeitragssätze für Arbeitgeber und Arbeitnehmer (%). (14) Summe aus (13) und der mittleren Einkommens- und Konsumsteuersätze (%). (15) Jahresarbeitszeit pro Erwerbstätigen (Stunden). (16) Rangplatz gemäss dem Medianwert der Rangwerte (4) bis (15). Variablen mit fett gekennzeichneten Spaltenüberschriften wurden auch von Blanchard/Wolfers (2000) untersucht. Quelle: NICKELL (1997) 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35