Erhards Tat und Merkels Vision

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Erhards Tat und Merkels Vision
15. Januar
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Erhards Tat und Merkels Vision
2016
Jürgen Jeske
Erhards Tat und Merkels Vision
Jürgen Jeske, bis 2002 Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, erhielt 1994 den LudwigErhard-Preis für Wirtschaftspublizistik. Seit 1997 ist er Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung.
Nachfolgend veröffentlichen wir einen Beitrag, in dem er Angela Merkels Politik eher Pragmatismus
als ordnungspolitische Prinzipientreue attestiert.
Auf dem CDU-Parteitag in Karlsruhe hat sich die Bundeskanzlerin in die Reihe großer CDU-Politiker gestellt: Konrad
Adenauer, Ludwig Erhard, Helmut Kohl. Bei Erhard verwies sie aber nicht auf seine eigentliche große Tat, die
neoliberale Wirtschaftsreform von 1948, die zusammen mit der Währungsreform das Fundament der Sozialen
Marktwirtschaft bildete. Angela Merkel sprach vielmehr vom Wirtschaftswunder, der wahlwirksamen Folge der
Reform. Erhard selbst hat den Begriff Wunder nie geschätzt. Er sah den Wiederaufbauboom als „die Konsequenz
der ehrlichen Anstrengung eines ganzen Volkes, das nach freiheitlichen Prinzipien die Möglichkeit eingeräumt
erhalten hat, menschliche Initiative, menschliche Freiheit, menschliche Energien wieder anwenden zu dürfen“.
Natürlich wird die Kanzlerin auch an Erhards unerschütterlichen Optimismus gedacht haben, gewissermaßen als
frühen Ausdruck ihrer Wir-schaffen-das-Rhetorik. Erhard war damals vom Erfolg seiner Reform überzeugt. Die
Kanzlerin glaubt, in 25 Jahren ihre Vision eines gestärkten, sicheren und offenen Deutschlands verwirklicht zu
sehen.
Zwischen Erhards Erfolg und Merkels Vision gibt es allerdings einen Unterschied. Seine Maßnahmen beruhten
anders als Merkels Politik auf festen Anschauungen vom Funktionieren der Wirtschaft und einer freiheitlichen
Ordnung. Erhard strebte mit seiner Sozialen Marktwirtschaft einen dritten Weg zwischen ungebändigtem
Kapitalismus und totalitärem Kollektivismus an. Sein Biograph Alfred Mierzejewski schreibt: „Im Zentrum seines
Weltbildes stand der Einzelne. Individuen würden ein gutes, einträgliches Leben in Wohlstand führen, wenn sie an
den freien Märkten teilhätten. Weil jedoch einige immer ihre Freiheit missbrauchten, war ein starker Staat
vonnöten, der ihre Verhalten überwachte …“ Die Lösung sozialer Probleme sah Erhard im Wachstum, aber nicht in
Umverteilung und Verteilungsgerechtigkeit. Er war ein liberaler Wirtschaftsminister ohne „christlichdemokratischen Stallgeruch“ (Hans-Peter Schwarz). Doch er befand sich damals im Einklang mit CDU-Kanzler
Adenauer, der ebenfalls gegen Kollektivismus und für Freiheit zu Felde zog und im Gegensatz zu seinem linken
Parteiflügel erst den Wirtschaftsaufschwung und dann soziale Wohltaten wollte.
Die Bundeskanzlerin hat heute keinen prinzipienfesten Ordnungspolitiker an ihrer Seite. Sie handelt als
ausgeprägte Machtpolitikerin überwiegend nach pragmatischen und parteitaktischen Überlegungen. Erhards
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Formulierung, er mache seine Politik nicht, um Wahlen zu gewinnen, sondern für das ganze deutsche Volk, ist
Merkels Sache nicht. Sie will, wie Helmut Kohl, Wahlen gewinnen und keinen Erhard-Preis. Sie folgt daher dem
Zeitgeist; denn bei den Wählern wird seit Jahren pragmatisches Handeln mehr geschätzt als Prinzipientreue. Und
wer regieren will, braucht natürlich Mehrheiten, heute nicht nur in Deutschland, sondern auch innerhalb der
Europäischen Union. Schon Erhard äußerte 1962 große Zweifel, ob seine konsequente Wirtschaftsreform in einem
parlamentarisch-demokratischen System mit der Notwendigkeit von Kompromissen überhaupt möglich gewesen
wäre. 1948, unter dem damaligen Besatzungsregime, besaß er nämlich ganz andere Kompetenzen.
Seit vielen Jahren schon bleibt daher ökonomische Vernunft und marktwirtschaftliches Denken meist auf der
Strecke, unter wechselnden Regierungen mal mehr, mal weniger. Merkels Satz, Demokratie müsse marktgerecht
sein, wurde empört zurückgewiesen. Von den marktliberalen Thesen des Leipziger Parteitags von 2004 hat sich
aber die Union längst verabschiedet. Mit Erfolg hat Merkel die SPD links überholt. Inzwischen sind in der großen
Koalition auf Betreiben der SPD sogar wesentliche Teile der letzten ökonomisch richtigen Reform, der „Agenda
2010“ von SPD-Kanzler Gerhard Schröder zurückgedreht worden. Nicht zuletzt dieser Reform ist jedoch die zurzeit
ausgezeichnete Wirtschaftslage Deutschlands mit zu verdanken.
Angesichts der guten Kassenlage wird jedoch der ohnehin schon überzogene deutsche Sozialstaat mit neuen
Ansprüchen munter ausgeweitet, obwohl viele Bürger längst daran zweifeln, dass der Staat alle diese Versprechen
einhalten kann. Wer denkt da noch an frühe Warnungen wie die des CDU-Vordenkers und Erhard-Bewunderers Kurt
Biedenkopf in seinem 2011 erschienenen Buch „Wir haben die Wahl – Freiheit oder Staat“. Biedenkopf fordert
darin, sich von staatlicher Vormundschaft zu befreien, den Sozialstaat wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen und
zu Subsidiarität und personaler Solidarität zurückzukehren. Doch das Gegenteil geschieht.
Auch die Staatseingriffe nehmen zu, am eklatantesten mit der Energiewende, die zwar Merkels Ruf als
„Klimakanzlerin“ unterstreicht, aber wenig ökonomische Ratio erkennen lässt. In der Europapolitik ist die
wirtschaftliche Vernunft und das, was Erhard ordnungspolitisch dazu vorschwebte, ebenfalls unter die Räder
gekommen trotz aller vernünftigen Schritte, die zur Bewältigung der Staatsschuldenkrise unternommen wurden.
Wer heute Zweifel an der Europapolitik äußert, wird, wie früher Erhard, als schlechter Europäer abgestempelt. Die
Stabilitätskriterien von Maastricht sind längst Makulatur, ohne dass daraus entscheidende Schlussfolgerungen
gezogen werden. Die notwendigen Reformanstrengungen lassen in den meisten Mitgliedsländern deutlich nach.
Von der viel beschworenen europäischen Solidarität, auf die Merkel baut, kann kaum mehr die Rede sein. Das wird
besonders deutlich angesichts der neuen Völkerwanderung. Der Schengen-Raum als ein im europäischen Geist
einst konzipiertes Gebiet von Freizügigkeit erweist sich als Schönwetterkonzept, das neu überdacht werden
müsste.
Was bedeutet vor diesem Hintergrund die Vision, die Merkel in Karlsruhe für Deutschland 2040 entworfen hat?
Kann Deutschland bei fortschreitender Globalisierung und europäischer Harmonisierung noch ein bürgerlich
geprägtes Land von Maß und Mitte bleiben? Was heißt starke nationale Identität angesichts von
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Massenzuwanderung aus anderen Kulturkreisen und der Probleme in der europäischen Zusammenarbeit? Was für
ein Menschenbild hat Merkel? Ist es noch der selbstverantwortlich handelnde Einzelne, der Erhard vorschwebte,
oder der vom Sozialstaat betreute abhängige Untertan?
Erhard besaß durch seine bürgerliche Herkunft aus einer Kaufmannsfamilie, durch seine wissenschaftliche Arbeit
und seine Erfahrungen ein freiheitliches Welt- und Menschenbild. Er glaubte, dass sich Politik ohne
wissenschaftliche Fundierung in ziellosem Pragmatismus erschöpfen würde. Er wusste natürlich um den
Unterschied zwischen Ideal und Wirklichkeit. Er hielt auch öffentliche Akzeptanz für wichtig, wollte sich aber nicht
wie die heutige Politik von Meinungsumfragen leiten lassen.
Auf diese Weise wurde seine Wirtschaftspolitik zum Erfolg und schuf die Grundlage für den Wiederaufstieg
Deutschlands nach dem Krieg. Sie wurde zum Gründungsmythos der Bundesrepublik und wird in vielen Ländern
nach wie vor als Vorbild gesehen. Es ist tragisch, dass es Erhard später nicht mehr gelang, die Soziale
Marktwirtschaft dem weltwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel anzupassen. Erhard unterschätzte den
Hang der Deutschen zum Kollektivismus. Er war erfolgreich, solange die Wirtschaft gut lief. Als Bundeskanzler
scheiterte er schließlich an einer schwächelnden Konjunktur, an seinem mangelnden Machtwillen und am
fehlenden Rückhalt seiner Partei.
An fehlendem Machtwillen wird Angela Merkel nicht scheitern. Auch an ihrem vom Zufall des Augenblicks
geprägten pragmatischen Handeln wird sich keine Kritik entzünden, solange sie international als „unverzichtbar“
gilt und innenpolitisch alternativlos erscheint. Auf europäischer Ebene ist in Deutschland immer noch am ehesten
etwas ökonomische Vernunft zu spüren. Was aber ist, wenn die Konjunktur nicht mehr so gut läuft und die
Arbeitslosigkeit wieder steigt? Was ist, wenn die Spannungen in der EU weiter zunehmen? Wie steht es mit dem
Rückhalt in der eigenen Partei und in der Koalition im Wahljahr? Merkels Vision weit in die Zukunft könnte dann
schnell als trügerisches Wunschbild erscheinen.
Dieser Artikel ist erstmals am 14. Januar 2016 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Nr. 11, Seite 17) erschienen.
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