Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 112. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Juni 2000
(A)
Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts
dessen, was Kollege Waigel soeben gesagt hat, möchte ich
ein paar Vorbemerkungen machen: Auch ich als Grüner
bin der Auffassung, dass die Wiedervereinigung, die sich
an die Währungsreform anschloss – die war praktisch die
Vorstufe zur Wiedervereinigung –, einen Glücksfall für
die deutsche Geschichte darstellt, vor allem deshalb, weil
unser Volk im letzten Jahrhundert entscheidend dazu
beitrug, dass über diesen Kontinent, ja über die ganze
Welt kriegerische Auseinandersetzungen kamen, und weil
die Teilung als Folge des Zweiten Weltkriegs, den
Deutschland zu verantworten hatte, nach einer friedlichen
Revolution in einer nicht nur für Deutschland guten Weise
überwunden werden konnte. Ein solches Glück haben auf
dieser Welt nicht viele Völker.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der F.D.P.)
Zum anderen stelle ich gerade deshalb, weil beide Regierungsfraktionen vorhin beim Lob für Helmut Kohl und
seinen Beitrag zur deutschen Einheit nicht geklatscht haben, fest: Ich persönlich bin der Meinung, dass man trotz
politischer Konkurrenz und auch angesichts dessen, was
gestern im Untersuchungsausschuss passierte, nicht verleugnen kann, dass diese historische Leistung in seine
Amtszeit fällt und er einen entscheidenden Anteil daran
hatte, dass es zur Wiedervereinigung kam. Das zu würdigen gehört zum Anstand.
(B)
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei der CDU/
CSU und der F.D.P.)
Wenn wir uns die ökonomischen Konsequenzen anschauen, die, wie Sie, Herr Kollege Waigel, richtig gesagt
haben, jetzt im Nachhinein vom DIW als Fehlkalkulation
demaskiert werden – das ist richtig, wenn man eine rein
ökonomische Betrachtung zum Beispiel im Hinblick auf
die Wechselkursparitäten der Währungsunion anstellt –,
dann muss man feststellen: Es gibt in diesem Bereich,
ökonomisch betrachtet, einige Kernfehler, die man hätte
erkennen können; dann wären die Rentnerinnen und
Rentner sowie die Sparerinnen und Sparer nicht bestraft
worden. Der entscheidende Fehler war, im Rahmen des
Umrechnungskurses von 1:2 aus Buchungsschulden echte
Schulden zu machen, die für viele Unternehmen in Ostdeutschland zu einer drückenden Last wurden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der PDS – Dr. Theodor Waigel
[CDU/CSU]: Wir haben jeden Sanierungsfähigen entschuldet!)
Diese Last war eine Hiobsbotschaft für eine Ökonomie,
die nach 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft und –
was man nicht vergessen darf – nach einer nationalsozialistischen Politik, die unter ökonomischen Aspekten auch
nicht gerade gut war, zu Hinterlassenschaften geführt hat,
die aufzuarbeiten waren.
(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)
Der zweite Kernfehler im Rahmen der Währungsunion
war aus unserer Sicht, dass das Versprechen von blühen-
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den Landschaften auf der Metaebene eine realitätsnahe (C)
Einschätzung der wirtschaftlichen Konsequenzen der
Wiedervereinigung und der Kosten verhindert hat und
dass deshalb die in unserer Gesellschaft durchaus vorhandene Bereitschaft, für den Glücksfall Wiedervereinigung
auch etwas zu zahlen, sträflich vernachlässigt wurde.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Allein dieses „rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ im Hinblick auf den Solidaritätszuschlag in den
Anfangsjahren zeigt im Nachhinein deutlich, dass diese
Fehleinschätzung die Kosten der Wiedervereinigung
buchstäblich diskreditiert hat und dass ab einem gewissen
Zeitpunkt die Kosten der Einheit von den politischen Parteien im Westen Deutschlands als Belastung eingestuft
wurden. Wir hätten in den Jahren 1989/90 an die Solidarität der Menschen appellieren sollen und eine entsprechende Weichenstellung vornehmen müssen.
Diese Fehleinschätzung hat zu einem weiteren Problem geführt, das Sie, Herr Waigel, überhaupt nicht beleuchtet haben: Wir haben die Kosten der Einheit nicht
nur in extremer Weise über Verschuldung finanziert, was
angesichts der damals bestehenden Herkulesaufgabe in
Teilen durchaus vertretbar war, sondern wir haben sie
auch auf die Sozialversicherungen abgewälzt. Sie, die
Sie damals in der Regierung waren, haben dafür geradezustehen, dass der in den 90er-Jahren erfolgte Anstieg der
Sozialversicherungsbeiträge um 6,5 Prozent ein deutliches Zeichen dafür ist, dass die Sozialversicherungen und (D)
damit verbunden die Lohnkosten sowie die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer die eigentliche Zahlmasse für die
Transfers in den Osten Deutschlands waren, was zu extremen Bremsspuren in der deutschen Volkswirtschaft
führte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Zwar gibt es im Osten Deutschlands – das ist zu besichtigen – eine Vielzahl an Bauinvestitionen, die mit diesen Transfers bezahlt wurden. Keine Frage! Aber die
blühenden Landschaften im Osten wurden damit erkauft,
dass wir, ökonomisch gesehen, auf dem Arbeitsmarkt in
Deutschland mit einem Anstieg der Arbeitskosten ein
absolut falsches Signal gesetzt haben. Dadurch haben wir
in Deutschland in den Jahren 1997/98 zusammen mit Italien das Schlusslicht bei der wirtschaftlichen Entwicklung
in Europa gebildet. Das war in Ihrer Amtszeit.
Gott sei Dank läuft es jetzt – nicht nur aufgrund des Regierungswechsels, sondern auch aufgrund des weltwirtschaftlichen Umfeldes – so gut, dass Deutschland im Monat Mai beim realwirtschaftlichen Wachstum erstmals
wieder in die Spitzengruppe der EU aufschließen konnte.
Das ist dringend nötig, damit unser Land in der Lage ist,
die Transfers in den Osten zu finanzieren, die auch noch
in den nächsten Jahren und Jahrzehnten erfolgen müssen,
wenn sie auch degressiv gestaltet sein müssen, damit
keine Subventionsmentalität gefördert wird.
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