Kapitel III Induktive Statistik 1. Einfuhrung Das Ziel der induktiven Statistik besteht darin, aus gemessenen Zufallsgroen auf die zugrunde liegenden Gesetzmaigkeiten zu schlieen. Im Gegensatz dazu spricht man von deskriptiver Statistik, wenn man sich damit beschaftigt, groe Datenmengen verstandlich aufzubereiten, beispielsweise durch Berechnung des Mittelwertes oder anderer abgeleiteter Groen. DWT c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 1 Einfuhrung 302/462 2. Schatzvariablen Wir betrachten die Anzahl X von Lesezugrien auf eine Festplatte bis zum ersten Lesefehler und nehmen an, dass Pr[X = i] = (1 p)i 1 p, setzen also fur X eine geometrische Verteilung an. Dahinter verbirgt sich die Annahme, dass bei jedem Zugri unabhangig und mit jeweils derselben Wahrscheinlichkeit p ein Lesefehler auftreten kann. Unter diesen Annahmen ist die Verteilung der Zufallsvariablen X eindeutig festgelegt. Allerdings entzieht sich der numerische Wert des Parameters p noch unserer Kenntnis. Dieser soll daher nun empirisch geschatzt werden. Statt p konnen wir ebensogut E[X ] bestimmen, da wir daraus nach den Eigenschaften der geometrischen Verteilung p mittels p = E[1X ] berechnen konnen. DWT c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 2 Schatzvariablen 303/462 Dazu betrachten wir n baugleiche Platten und die zugehorigen Zufallsvariablen Xi (fur 1 i n), d. h. wir zahlen fur jede Platte die Anzahl von Zugrien bis zum ersten Lesefehler. Die Zufallsvariablen Xi sind dann unabhangig und besitzen jeweils dieselbe Verteilung wie X . Wir fuhren also viele Kopien eines bestimmten Zufallsexperiments aus, um Schlusse auf die Gesetzmaigkeiten des einzelnen Experiments ziehen zu konnen. Dies ist das Grundprinzip der induktiven Statistik. Die n Messungen heien Stichproben, und die Variablen Xi nennt man Stichprobenvariablen. DWT c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 2 Schatzvariablen 304/462 Grundprinzip statistischer Verfahren Wir erinnern an das Gesetz der groen Zahlen (Satz 63) bzw. den Zentralen Grenzwertsatz (Satz 108). Wenn man ein Experiment genugend oft wiederholt, so nahert sich der Durchschnitt der Versuchsergebnisse immer mehr dem Verhalten an, das man im Mittel\ erwarten wurde. Je mehr Experimente wir also durchfuhren, umso " genauere und zuverlassigere Aussagen konnen wir uber den zugrunde liegenden Wahrscheinlichkeitsraum ableiten. Auf diesem Grundprinzip beruhen alle statistischen Verfahren. DWT c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 2 Schatzvariablen 305/462 Um E[X ] empirisch zu ermitteln, bietet es sich an, aus den Zufallsvariablen Xi das arithmetische Mittel X zu bilden, das deniert ist durch n X 1 Xi : X := n i=1 Es gilt E[X ] = n n 1X 1X E[X ] = E[X ] = E[X ]: n i=1 i n i=1 X liefert uns also im Mittel den gesuchten Wert E[X ]. Da wir X zur Bestimmung von E[X ] verwenden, nennen wir X einen Schatzer fur den Erwartungswert E[X ]. Wegen der obigen Eigenschaft ist X sogar ein so genannter erwartungstreuer Schatzer. DWT c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 2 Schatzvariablen 306/462 Denition 112 Gegeben sei eine Zufallsvariable X mit der Dichte f (x; ). Eine Schatzvariable oder kurz Schatzer fur den Parameter der Dichte von X ist eine Zufallsvariable, die aus mehreren (meist unabhangigen und identisch verteilten) Stichprobenvariablen zusammengesetzt ist. Ein Schatzer U heit erwartungstreu, wenn gilt E[U ] = : Bemerkung: Die Groe E[U ] nennt man Bias der Schatzvariablen U . Bei erwartungstreuen Schatzvariablen ist der Bias gleich Null. DWT c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 2 Schatzvariablen 307/462 Der Schatzer X ist also ein erwartungstreuer Schatzer fur den Erwartungswert von X . Ein wichtiges Ma fur die Gute eines Schatzers ist die mittlere quadratische Abweichung, kurz MSE fur mean squared error genannt. Diese berechnet sich durch MSE := E[(U )2 ]. Wenn U erwartungstreu ist, so folgt MSE = E[(U E[U ])2 ] = Var[U ]. Denition 113 Wenn die Schatzvariable A eine kleinere mittlere quadratische Abweichung besitzt als die Schatzvariable B , so sagt man, dass A ezienter ist als B . Eine Schatzvariable heit konsistent im quadratischen Mittel, wenn MSE ! 0 fur n ! 1 gilt. Hierbei bezeichne n den Umfang der Stichprobe. DWT c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 2 Schatzvariablen 308/462 Fur X erhalten wir wegen der Unabhangigkeit von X1 ; : : : ; Xn " n 1X MSE = Var[X ] = Var Xi n = n12 DWT c Susanne Albers und Ernst W. Mayr n X i=1 # i=1 Var[Xi ] = n1 Var[X ]: 2 Schatzvariablen 309/462 Bei jeder Verteilung mit endlicher Varianz folgt MSE = O(1=n) und somit MSE ! 0 fur n ! 1. Der Schatzer X ist also konsistent. Aus der Konsistenz von X im quadratischen Mittel konnen wir mit Hilfe des Satzes von Chebyshev (siehe Satz 61) folgende Konsequenz ableiten. Sei " > 0 beliebig, aber fest. Dann gilt X] !0 Pr[jX j "] = Pr[jX E[X ]j "] Var[ 2 " fur n ! 1. Fur genugend groe n liegen also die Werte von X beliebig nahe am gesuchten Wert = E[X ]. Diese Eigenschaft nennt man auch schwache Konsistenz, da sie aus der Konsistenz im quadratischen Mittel folgt. DWT c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 2 Schatzvariablen 310/462 Als nachstes betrachten wir eine weitere von X abgeleitete Schatzvariable: S := v u u t 1 n X n 1 i=1 (Xi X )2 : Wir zeigen, dass S 2 ein erwartungstreuer Schatzer fur die Varianz von X ist. Sei := E[X ] = E[Xi ] = E[X ]. ( Xi X )2 = (Xi = (Xi + X )2 )2 + ( X )2 + 2(Xi )2 + ( Xi = ( = DWT c Susanne Albers und Ernst W. Mayr n 2 n Xi ( X )2 )2 + ( 2 n X n j =1 X )2 2 Schatzvariablen )( ( Xi 2 )(Xj X n j 6=i X) ( Xi ) )(Xj ): 311/462 Fur je zwei unabhangige Zufallsvariablen Xi , Xj mit i 6= j gilt E[(Xi )(Xj )] = E[Xi ] E[Xj ] = (E[Xi ] ) (E[Xj ] ) = 0 0 = 0: Daraus folgt n 2 E[(Xi )2] + E[( X )2] n = n n 2 Var[Xi ] + Var[X ]: E[(Xi X )2 ] = DWT c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 2 Schatzvariablen 312/462 Wegen Var[Xi ] = Var[X ] und Var[X ] = n1 Var[X ] folgt nun E[(Xi X )2 ] = n 1 Var[X ]; n und somit gilt fur S 2 E[S 2 ] = 1 n X E[(Xi X )2 ] n 1 i=1 = n 1 1 n n n 1 Var[X ] = Var[X ]: S 2 ist also eine erwartungstreue Schatzvariable fur die Varianz von X . DWT c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 2 Schatzvariablen 313/462 Die vorangegangene Rechnung erklart, warum man als Schatzer nicht n 1X (X n i=1 i ! X )2 6= S 2 verwendet, wie man vielleicht intuitiv erwarten wurde. DWT c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 2 Schatzvariablen 314/462 Denition 114 Die Zufallsvariablen X := n n 1X 1 X Xi und S 2 := (Xi X )2 n n 1 i=1 i=1 heien Stichprobenmittel bzw. Stichprobenvarianz der Stichprobe X1 ; : : : ; Xn . X und S 2 sind erwartungstreue Schatzer fur den Erwartungswert bzw. die Varianz. DWT c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 2 Schatzvariablen 315/462 2.1 Maximum-Likelihood-Prinzip zur Konstruktion von Schatzvariablen Wir betrachten nun ein Verfahren zur Konstruktion von Schatzvariablen fur Parameter von Verteilungen. Sei X~ = (X1 ; : : : ; Xn ): Bei X1 ; : : : ; Xn handelt es sich um unabhangige Kopien der Zufallsvariablen X mit der Dichte f (x; ). Hierbei sei der gesuchte Parameter der Verteilung. Wir setzen f (x; ) = Pr[X = x]; wobei ein Parameter der Verteilung ist. Wenn wir den Parameter explizit angeben wollen, so schreiben wir dafur auch f (x; ) = Pr [X = x]. Eine Stichprobe liefert fur jede Variable Xi einen Wert xi . Diese Werte fassen wir ebenfalls zu einem Vektor ~x = (x1 ; : : : ; xn ) zusammen. DWT 2.1 Maximum-Likelihood-Prinzip zur Konstruktion von Schatzvariablen c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 316/462 Der Ausdruck L(~x; ) := n Y i=1 f (xi ; ) = n Y i=1 Pr [Xi = xi ] = Pr [X1 = x1 ; : : : ; Xn = xn ] unabh. entspricht der Wahrscheinlichkeit, dass wir die Stichprobe ~x erhalten, wenn wir den Parameter mit dem Wert belegen. Wir betrachten nun eine feste Stichprobe ~x und fassen L(~x; ) somit als Funktion von auf. In diesem Fall nennen wir L die Likelihood-Funktion der Stichprobe. DWT 2.1 Maximum-Likelihood-Prinzip zur Konstruktion von Schatzvariablen c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 317/462 Es erscheint sinnvoll, zu einer gegebenen Stichprobe ~x den Parameter so zu wahlen, dass L(x; ) maximal wird. Denition 115 Ein Schatzwert b fur den Parameter einer Verteilung f (x; ) heit Maximum-Likelihood-Schatzwert (ML-Schatzwert) fur eine Stichprobe ~x, wenn gilt L(~x; ) L(~x; b) fur alle : DWT 2.1 Maximum-Likelihood-Prinzip zur Konstruktion von Schatzvariablen c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 318/462 Beispiel 116 Wir konstruieren mit der ML-Methode einen Schatzer fur den Parameter p der Bernoulli-Verteilung. Es gilt Prp [Xi = 1] = p und Prp [Xi = 0] = 1 p. Daraus schlieen wir, dass Prp [Xi = xi ] = pxi (1 p)1 xi , und stellen die Likelihood-Funktion n Y L(~x; p) = pxi (1 p)1 xi i=1 auf. Wir suchen als Schatzer fur p den Wert, an dem die Funktion L maximal wird. Wir erhalten n ln L(~x; p) = X i=1 (xi ln p + (1 xi ) ln(1 p)) = nx ln p + (n nx) ln(1 p): P Hierbei bezeichnet x das arithmetische Mittel n1 ni=1 xi . DWT 2.1 Maximum-Likelihood-Prinzip zur Konstruktion von Schatzvariablen c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 319/462 Beispiel (Forts.) Wir nden das Maximum durch Nullsetzen der Ableitung: d ln L(~x; p) dp = npx n1 npx = 0: Diese Gleichung hat die Losung p = x. DWT 2.1 Maximum-Likelihood-Prinzip zur Konstruktion von Schatzvariablen c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 320/462 Beispiel 117 Die Zufallsvariable X sei N (; 2 )-verteilt, und wir suchen Schatzvariablen fur die Parameter und . Nach Denition der Likelihood-Funktion gilt L(~x; ; 2 ) = p1 2 n n Y i=1 exp (xi )2 : 2 2 Durch Logarithmieren erhalten wir X p ln L(~x; ; 2 ) = n(ln 2 + ln ) + i=1 n DWT c Susanne Albers und Ernst W. Mayr (xi )2 : 2 2 321/462 Beispiel 117 Fur die Nullstellen der Ableitungen ergibt sich also n @ ln L X = xi2 =! 0; @ i=1 n (xi )2 =! 0; @ ln L n X = + @ i=1 3 = x und 2 = n 1X (x n i=1 i )2 : Wir haben also durch die ML-Methode fast\ das Stichprobenmittel und die " Stichprobenvarianz erhalten. Allerdings besitzt der Schatzer fur die Varianz hier den Vorfaktor n1 statt n 1 1 . Die ML-Schatzvariable fur die Varianz ist somit nicht erwartungstreu. DWT 2.1 Maximum-Likelihood-Prinzip zur Konstruktion von Schatzvariablen c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 321/462 3. Kondenzintervalle Bei der Verwendung von Schatzvariablen geht man davon aus, dass der erhaltene Schatzwert nahe\ beim gesuchten Parameter liegt. Die Schatzungen werden " besser\, je groer die betrachtete Stichprobe ist. Diese Angaben sind aus " quantitativer Sicht naturlich unbefriedigend, da nicht erkennbar ist, wie gut man sich auf den Schatzwert verlassen kann. Die Losung dieses Problems besteht darin, statt einer Schatzvariablen U zwei Schatzer U1 und U2 zu betrachten. U1 und U2 werden so gewahlt, dass Pr[U1 U2 ] 1 : Die Wahrscheinlichkeit 1 heit Kondenzniveau und kann dem Sicherheitsbedurfnis\ angepasst werden. " DWT 3.0 Maximum-Likelihood-Prinzip zur Konstruktion von Schatzvariablen c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 322/462 Wenn wir fur eine konkrete Stichprobe die Schatzer U1 und U2 berechnen und davon ausgehen, dass 2 [U1 ; U2 ] ist, so ziehen wir hochstens mit Wahrscheinlichkeit einen falschen Schluss. [U1 ; U2 ] heit Kondenzintervall. In vielen Fallen verwendet man nur eine Schatzvariable U und konstruiert mittels U1 := U und U2 := U + ein symmetrisches Kondenzintervall [U ; U + ]. DWT 3.0 Maximum-Likelihood-Prinzip zur Konstruktion von Schatzvariablen c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 323/462 Sei X eine N (; 2 )-verteilte Zufallsvariable, und seien X1 ; : : : ; Xn n zugehorige Stichprobenvariablen. Gema der Additivitat der Normalverteilung (siehe Satz 106) ist 2 das Stichprobenmittel X ebenfalls normalverteilt mit X N (; n ). Wir suchen fur X ein symmetrisches Kondenzintervall. Nach Satz 93 ist standardnormalverteilt. p X Z := n DWT 3.0 Maximum-Likelihood-Prinzip zur Konstruktion von Schatzvariablen c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 324/462 Fur Z betrachten wir das Kondenzintervall [ c; c] fur ein geeignetes c > 0 und setzen Pr[ c Z c] =! 1 : Auosen nach ergibt Pr X pcn X + pcn =! 1 : Das gesuchte Kondenzintervall lautet also K = [X pcn ; X + pcn ] : DWT 3.0 Maximum-Likelihood-Prinzip zur Konstruktion von Schatzvariablen c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 325/462 Den Parameter c wahlen wir wie folgt: Pr[ c Z c] = (c) ( c) =! 1 : Wegen der Symmetrie von gilt ( x) = 1 (x) und wir erhalten (c) ( c) = 2 (c) 1 =! 1 () (c) = 1 2 ; also c= 1 1 2 : DWT 3.0 Maximum-Likelihood-Prinzip zur Konstruktion von Schatzvariablen c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 326/462 Denition 118 X sei eine stetige Zufallsvariable mit Verteilung FX . Eine Zahl x mit FX (x ) = heit -Quantil von X bzw. der Verteilung FX . Denition 119 Fur die Standardnormalverteilung bezeichnet z das -Quantil. DWT 3.0 Maximum-Likelihood-Prinzip zur Konstruktion von Schatzvariablen c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 327/462 Damit konnen wir das gesuchte Kondenzintervall angeben durch K= X z(1 2 ) z(1 2 ) pn ; X + pn : DWT 3.0 Maximum-Likelihood-Prinzip zur Konstruktion von Schatzvariablen c Susanne Albers und Ernst W. Mayr 328/462