Grawe • Deutsche Feindaufklärung Zeitalter der Weltkriege Begründet vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Band 16 Lukas Grawe Deutsche Feindaufklärung vor dem Ersten Weltkrieg Informationen und Einschätzungen des deutschen Generalstabs zu den Armeen Frankreichs und Russlands 1904 bis 1914 FERDINAND SCHÖNINGH 2017 Umschlagabbildung: Kaisermanöver in den Reichslanden, Beobachtungsposten der Artillerie. (SZ Photo/Süddeutsche Zeitung Photo) Zugl. Universität Münster, Diss., 2016 (D6) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. © 2017 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.schoeningh.de Redaktion und Projektkoordination: Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Fachbereich Publikationen (0840-01) Koordination: Christian Adam Bildrechte: Esther Geiger Lektorat: Cordula Hubert, Olching Texterfassung, Satz: Christine Mauersberger Cover: Carola Klinke Karten, Grafiken: Daniela Heinicke, Bernd Nogli, Yvonn Mechtel, Frank Schemmerling Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-506-78789-7 Inhalt Vorwort .................................................................................................... Danksagung ............................................................................................. IX XI I. Einleitung ........................................................................................... 1. Gegenstandsbereich und Fragestellungen ....................................... 2. Forschungsstand und Quellenlage ................................................. 3. Begrifflichkeiten, theoretisches Rahmenfeld und Methoden der Analyse .......................................................................................... 1 1 6 II. Organisation und Quellen der Feindaufklärung des deutschen Generalstabs vor 1914 ..................................................................................... 1. Entwicklung, Organisation und Personal ....................................... 2. Die Arbeit der Länderabteilungen.................................................. 3. Informationsquellen ...................................................................... a) Militärattachés als Hauptinformationsquelle ............................ b) Spionage durch die Sektion III b .............................................. c) Aufklärung durch reisende Offiziere ......................................... d) Die deutschen Auslandsvertretungen als Nachrichtenlieferanten ...................................................................................... e) Innerdeutsche Zusammenarbeit mit dem bayerischen Generalstab .......................................................................................... f ) Informationsaustausch mit dem österreichisch-ungarischen Generalstab .............................................................................. g) Informationen aus der Schweiz und aus Schweden ................... 16 27 27 37 54 54 77 88 93 96 99 104 III. Die deutschen Einschätzungen der Armeen Russlands und Frankreichs um 1900 ............................................................................................. 109 1. Die russische Armee vor dem russisch-japanischen Krieg ............... 109 2. Die französische Armee vor der ersten Marokkokrise ..................... 114 IV. Die deutschen Einschätzungen vom russisch-japanischen Krieg bis zu den russischen und französischen Heeresreformen (1904 bis 1908) .... 1. Die russische Armee während des Russisch-Japanischen Krieges und der Revolution von 1905 ........................................................ a) Vorgeschichte und Verlauf ........................................................ b) Die russische Kriegführung in der Mandschurei ....................... c) Ursachen und Folgen der russischen Niederlage und der russischen Revolution...................................................................... 121 121 121 125 150 Inhalt VI 2. Die erste Marokkokrise und die Präventivkriegs-Option ................ 169 a) Vorgeschichte und Verlauf der ersten Marokkokrise ................. 169 b) Das Präludium: Der deutsch-britische »Flottenschrecken« des Winters 1904/05 ...................................................................... 172 c) Bereitschaft und Stärke der französischen Armee während der Krise ........................................................................................ 176 3. Die Entstehung des Schlieffenplans: Ergebnis der Feindaufklärung? ............................................................................................. 201 4. Die Reformen in der französischen und in der russischen Armee von 1906 bis 1908 ............................................................................... 207 a) Die militärischen Reformen Frankreichs .................................. 207 b) Die Neuerungen in der russischen Armee nach dem Krieg gegen Japan ........................................................................................ 218 V. Entwicklungen in den Armeen Russlands und Frankreichs zwischen 1908 und 1910 aus deutscher Sicht .................................................... 1. Die russische Armee während und nach der bosnischen Annexionskrise............................................................................................... a) Vorgeschichte und Verlauf der bosnischen Annexionskrise ....... b) Die russische Kriegsbereitschaft ................................................ 2. Die militärischen Folgen der bosnischen Annexionskrise ............... a) Ausbau der Zusammenarbeit zwischen dem deutschen und dem österreichisch-ungarischen Generalstab .................................... b) Die Rückverlegung des russischen Aufmarschs .............................................................................. c) Der Beginn der russischen Armeereformen unter Suchomlinov d) Die Reform der russischen Ausbildungsvorschriften ................. 3. Die französische Armee vor der zweiten Marokkokrise .................. a) Der Einfluss der Bevölkerungsentwicklung auf die französische Armee ...................................................................................... b) Die organisatorischen und technischen Entwicklungen in der französischen Armee................................................................. c) Taktik und operative Planungen der französischen Armee ........ VI. Informationen des deutschen Generalstabs zwischen zweiter Marokkokrise und den Balkankriegen (1911 bis 1913) ..................................... 1. Die zweite Marokkokrise und das deutsche Gefühl mangelhafter Vorbereitung.................................................................................. a) Vorgeschichte und Verlauf der zweiten Marokkokrise ............... b) Die Kriegsbereitschaft der französischen Armee........................ c) Vermehrte deutsche Aufklärung gegen die britische Armee als Folge der Krise ......................................................................... d) Die neue französische Offensivströmung .................................. e) Die Reformen Messimys und Millerands.................................. 2. Die russische Armee während der Balkankriege ............................. a) Vorgeschichte und Verlauf der Balkankriege ............................. b) Die Kriegsbereitschaft und wachsende militärische Macht Russlands ........................................................................................ 233 233 233 235 247 247 250 256 270 276 276 282 289 299 299 299 302 310 316 327 332 332 335 Inhalt VII c) Der »Kriegsrat« vom 8. Dezember 1912 und Moltkes Drängen zum Präventivkrieg ................................................................ 347 d) Die deutsche Heeresvermehrung und die weitere Russlandaufklärung .................................................................................. 354 3. Moltkes Änderungen am Schlieffenplan – Ergebnis der deutschen Feindaufklärung? ........................................................................ 359 VII. Die Feindnachrichtenlage auf dem Weg in den Großen Krieg (1913 bis Juli 1914) ......................................................................... 1. Der Blick nach Westen: Frankreich als wachsende Bedrohung .... a) Die Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit in Frankreich ...................................................................................... b) Frankreichs wiedererwachter »Élan« und die Ideologie der Offensive ............................................................................... c) Die französische Kolonialarmee ............................................. d) Die französische schwere Artillerie ......................................... 2. Der Blick nach Osten: Die deutsche Furcht vor der russischen »Dampfwalze«............................................................................. a) Russlands »Großes Programm« und der Eisenbahnbau .......... b) Die russische Ausbildung und Taktik ..................................... 3. Fallenlassen des »Ostaufmarsch«-Plans seit 1913 – Ergebnis der Feindaufklärung? ........................................................................ 4. Die Feindaufklärung gegen Frankreich und Russland in der Julikrise – Kontinuität und Wandel .................................................. VIII. Schlussbetrachtung........................................................................... 365 365 365 374 383 388 393 393 424 431 436 461 Anhang Abbildungen ............................................................................................ Grafiken ................................................................................................... Abkürzungen............................................................................................ Quellen- und Literatur ............................................................................. Personenregister........................................................................................ 473 476 479 481 523 Vorwort Militärische Nachrichtendienste sollen das Wissen der politischen und militärischen Führung vermehren und es ihr auf diese Weise erleichtern, weitreichende Entscheidungen zu treffen. Sie erfüllen damit abseits der Öffentlichkeit eine zentrale Aufgabe, die erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts professionalisiert wurde. Damit begann eine langsame Institutionalisierung des Geheimdienstwesens, die die zuvor eher unstrukturiert durchgeführte Sammlung von Informationen über mögliche Gegner systematisierte. Angesichts des geheimen Charakters der Arbeit von Nachrichtendiensten verwundert es nicht, dass sich die Geschichtswissenschaft erst spät der Aufarbeitung von geheimdienstgeschichtlichen Themen gewidmet hat. Noch immer bietet dieses Feld reichlich Raum für neue Forschungen – auch im Bereich der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs. Lukas Grawe wagt sich mit seiner Studie über die deutsche Feindaufklärung auf das vermeintlich vollständig ausgeleuchtete Terrain der Vorkriegszeit. Dabei nimmt er mit dem Großen Generalstab der preußischen Armee eine Institution in den Blick, die die deutsche Außen- und Militärpolitik im Vorfeld des Ersten Weltkriegs maßgeblich beeinflusste und der gerade deshalb in der historischen Forschung immer wieder eine entscheidende Rolle bei der Auslösung des Konflikts zugeschrieben wurde. Der Autor zeigt in seiner Studie auf, dass das Handeln der führenden Generalstabsoffiziere wesentlich durch die Einschätzungen und Informationen über die beiden mutmaßlichen Hauptgegner in einem kommenden Krieg, nämlich Frankreich und Russland, bestimmt wurde. Der Einfluss vorherrschender nationaler Stereotype spielte dabei eine ebenso wichtige Rolle wie die Auswirkungen von grundlegenden Armeereformen, außenpolitischen Krisen oder bewaffneten Konflikten. Lukas Grawe fokussiert sich dabei nicht nur auf die Erkenntnisse des Generalstabs und seine Möglichkeiten und Methoden, an Informationen zu gelangen, sondern widmet sich darüber hinaus auch dessen Einflussnahme auf die deutsche Reichsleitung. Da das Buch wichtige, bisher kaum beachtete Aspekte zu Vorgeschichte und Ursachen des Ersten Weltkriegs beleuchtet, findet der Band Platz in unserer Reihe »Zeitalter der Weltkriege«. Zu seinem Gelingen haben eine Vielzahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unseres Hauses beigetragen, denen an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Ich wünsche dem Band eine gute Aufnahme und Verbreitung in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Dr. Hans-Hubertus Mack Oberst und Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Danksagung Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2015/16 vom Fachbereich 8 Geschichte/Philosophie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster unter dem Titel »Informationen und Einschätzungen des deutschen Generalstabs zu den Armeen Frankreichs und Russlands von 1904 bis 1914« als Dissertationsschrift angenommen. Für den Druck wurde sie gekürzt, überarbeitet und ergänzt. Ein derart langwieriges und arbeitsintensives Unternehmen wie das Verfassen einer Doktorarbeit ist selbstverständlich nicht allein zu stemmen. Zahlreiche Menschen haben mir in den vergangenen Jahren helfend unter die Arme gegriffen und es ermöglicht, dass nun ein druckfrisches Buch vorliegt. An erster Stelle gilt mein Dank meinem Doktorvater Prof. Dr. Rolf Ahmann, der mich bei der Wahl des Themas vorbehaltlos unterstützt hat, mir immer mit Rat und Tat zur Seite stand und jederzeit ein offenes Ohr für mich hatte. Prof. Dr. Thomas Großbölting hat sich nicht nur freundlicherweise bereiterklärt, als Zweitkorrektor zu fungieren, sondern ermöglichte mir darüber hinaus durch großzügige Unterstützung und die Vermittlung von interessanten historischen Projekten die Fortführung meiner Arbeit. Aus dem universitären Bereich sind des Weiteren auch Prof. em. Dr. Stig Förster, der sich für die Verwirklichung meines Vorhabens eingesetzt hat, und Prof. Dr. Bruce Menning, der seine fundierten Kenntnisse über die russische Armee der Zarenzeit jederzeit mit mir zu teilen bereit war, zu nennen. Ein großer Dank geht an meine Freunde und Kollegen Jan-Hendrik Issinger, Jan Zinke und Walter Brinkmann, die mir während meiner zahlreichen Archivaufenthalte in Freiburg und Berlin Unterkunft gewährten. Ihre Gastfreundschaft hat meine Reisen erheblich bereichert. Auch sei den Mitarbeitern der Archive gedankt, die meinen Hunger nach Akten stets mit ausgewiesener Freundlichkeit gestillt haben. Stellvertretend für die zahlreichen Mitarbeiterinnern und Mitarbeiter der Lesesäle sind hier an erster Stelle Frau Meier und Herr Warßischek aus dem Militärarchiv in Freiburg zu nennen. Zu Dank verpflichtet bin ich auch den Historikern des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, die nicht nur mein Interesse an der Militärgeschichte vertieft, sondern mich auch in meinem Dissertationsvorhaben bestärkt haben. Prof. Dr. Epkenhans, Dr. Gerhard P. Groß und Dr. Markus Pöhlmann ist es zu verdanken, dass meine Studie in die Reihe »Zeitalter der Weltkriege« aufgenommen wurde. Im Zuge dessen ist auch der Fachbereich Publikationen des ZMSBw zu erwähnen, der sich nicht nur für Lektorat, Layout und Satz des Buches verantwortlich zeigt, sondern auch für die Zeichnung der Karten und die Einarbeitung der Abbildungen. Hervorzuheben sind dabei der Leiter des Fachbereichs Publikationen, Dr. Christian Adam, XII Danksagung Christine Mauersberger, Carola Klinke und Esther Geiger. Um die Gestaltung der Karten und Grafiken kümmerten sich Daniela Heinicke, Bernd Nogli, Yvonn Mechtel und Frank Schemmerling. Für das Lektorat danke ich Cordula Hubert aus Olching. Unter meinen Kollegen und Freunden an der WWU Münster gilt der größte Dank meinem »Bürogenossen« Dr. Niklas Lenhard-Schramm, dessen fachliche Ratschläge und gewissenhafte Manuskriptkorrekturen mir nicht nur ungemein weitergeholfen haben, sondern der darüber hinaus auch abseits der Wissenschaft ein guter Freund war. Um es mit seinen eigenen Worten zu sagen: »Einen besseren Büronachbarn kann man sich nicht wünschen!« Am meisten zu danken habe ich aber meinen Eltern, meiner Frau Linja und meiner kleinen Tochter Marie. Während mich meine Eltern zu jeder Zeit meines Studiums unterstützt und gefördert haben und sich dabei stets interessiert zeigten, sorgten meine Frau und seit kurzem auch unsere Tochter dafür, dass ich die Welt abseits des deutschen Generalstabs nicht aus den Augen verlor. Ohne ihre Hilfe wäre ich nie so weit gekommen! Gewidmet ist dieses Buch meinem Vater, der die Fertigstellung meiner Dissertation leider nicht mehr erlebt hat, der aber auf jeden Fall mit Freude das fertige Buch in den Händen gehalten hätte. Lukas Grawe Münster/Warstein, im Frühjahr 2017 I. Einleitung 1. Gegenstandsbereich und Fragestellungen Am 1. September 1911 schrieb Helmuth von Moltke der Jüngere, amtierender Chef des preußisch-deutschen Generalstabs,1 an die in Grenzregionen stationierten deutschen Armeekorps: »Die Erfahrungen, die bei den seit 1905 mehrfach zwischen Deutschland und Frankreich oder Rußland eingetretenen politischen Spannungen gemacht worden sind, haben folgendes ergeben: Es laufen in solchen Fällen eine große Menge an Nachrichten über Kriegsvorbereitungen der betreffenden Staaten hier ein, die aus den verschiedensten Quellen, aus Angaben der Presse, Mitteilungen unserer Grenzkorps, Berichten der Militär-Attachés, Meldungen der Organe der Nachrichten-Sektion des großen Generalstabes (III b) usw. stammen. Diese Nachrichten, insbesondere soweit sie aus den erregten feindlichen Grenzbezirken stammen, sind vielfach irrig, übertrieben, widersprechend und können daher unnötige Beunruhigung hervorrufen. Sie müssen deshalb an einer Stelle gesammelt, gesichtet, bewertet und zu einem Gesamtbild der Lage verarbeitet werden. Es ist dies nur möglich an der Hand einer genauen Kenntnis der Heeres-Organisation, Dislokation und Mobilmachung des Gegners. Die dazu berufene Stelle ist der große Generalstab.«2 Moltkes Ausführungen verweisen auf die seit 1904/05 zunehmenden Spannungen zwischen dem Deutschen Reich einerseits und Russland und Frankreich andererseits, die das Sammeln von Nachrichten zur Gewinnung einer »genauen Kenntnis« über die beiden Staaten sowie zur Eindämmung »unnötiger Beunruhigung« unumgänglich machten. Sie werfen aber auch einige Fragen zur Entwicklung, Organisation und Bedeutung der sogenannten Feindaufklärung3 des deutschen Generalstabs bezüglich der französischen und russischen Armeen 1 2 3 Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht der Große Generalstab der Königlich Preußischen Armee. Da es keinen »Reichsgeneralstab« gab und der preußische Generalstab die Funktionen eines solchen weitestgehend übernahm, wird dieser der Einfachheit halber als »deutscher Generalstab« bezeichnet. Moltke an die Chefs der Generalstäbe des I., II., V., VI., VII., VIII., XIV., XV., XVI., XVII. Armeekorps, der Gouvernements Metz, Straßburg, Thorn, 1.9.1911, BayHStA, GenSt 164. Mit dem Begriff »Feindaufklärung« ist hier die Sammlung, Auswertung und Nutzung von Informationen über gegnerische Heere gemeint. Für eine genauere Begriffsdefinition siehe Kap. I.3. 2 I. Einleitung vor dem Ersten Weltkrieg auf, die die historische Forschung bisher kaum näher analysiert hat. Wie organisierte die deutsche Militärbehörde die Sammlung, Erhebung und Auswertung von Informationen4 über die militärischen Potenziale und Pläne Frankreichs und Russlands? Aus welchen Quellen schöpfte sie diese? Wie entwickelte sich die Auswertung der verschiedenen Informationen im Verlauf der zahlreichen internationalen Krisen im Vorfeld des Ersten Weltkriegs? Reichte der Generalstab seine Informationen an die Reichsleitung weiter, und wenn ja, welchen Einfluss hatten sie auf die Außenpolitik des Deutschen Reichs? Die Analyse dieser Fragen und einiger damit verbundener spezifischer Teilfragen steht im Zentrum der vorliegenden Studie. Das Sammeln von Informationen über Militärpotenziale fremder Mächte und die militärische Geheimdienstarbeit waren keine neuen Erscheinungen der Moderne. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts fanden diese Aktivitäten jedoch in einem wenig spezialisierten, nicht-institutionalisierten Rahmen statt. Permanente Einrichtungen für die Sammlung und Auswertung militärischer Informationen bildeten sich erst mit der Professionalisierung der Armeekommandostrukturen in Form von Generalstäben aus.5 Damit standen ab Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals auch in Friedenszeiten Institutionen zur Verfügung, welche die systematische Nachrichtenanalyse übernahmen.6 Als europäisches Vorbild fungierte dabei der preußisch-deutsche Generalstab, dem durch die Erfolge in den deutschen »Einigungskriegen« große Anerkennung zuteilwurde und dem ein beinahe mythenhafter Ruf vorauseilte.7 Um die Aufgaben der Militärplanung und der Beobachtung mutmaßlicher künftiger Gegner wahrnehmen zu können, war ein Generalstab auf eine große Menge an Informationen angewiesen. Bis zu den napoleonischen Kriegen hatte es ausgereicht, Informationen über gegnerische Heere erst im Kriegsfalle zu beschaffen und sich in Friedenszeiten auf Terrainerkundungen zu beschränken.8 Dies änderte sich Mitte des 19. Jahrhunderts. Aus der rasanten Entwicklung der Waffen- und Kommunikationstechnik, im Eisenbahnbau und in der Logistik resultierte ein gesteigerter Informationsbedarf, der einen tiefgreifenden Wandel im militärischen Geheimdienstwesen auslöste.9 Armeen konnten nunmehr innerhalb weniger Tage über große Distanzen verschoben werden, moderne Gewehre und Geschütze steigerten die Wirkung der Waffen um ein Vielfaches. Spätestens der Russisch-Japanische Krieg von 1904/05 verdeutlichte die Bedeutung einer 4 5 6 7 8 9 Die Arbeit folgt der Informationsdefinition von Ott, Information, S. 39. Im Folgenden sollen die Termini »Information« und »Nachrichten« synonym gebraucht werden. Für eine ausführlichere Darlegung siehe Kap. I.3. Herman, Intelligence Power, S. 15, und Showalter, Intelligence on the Eve of Transformation, S. 28. Schimmelpenninck van der Oye, Reforming Military Intelligence, S. 140. »Before the First World War, it was commonly said that Europe was home to five reputedly perfect institutions: the Roman Curia, the British Parliament, the Russian Ballet, the French Opera, and the Prussian General Staff«. Mombauer, Helmuth von Moltke, S. 25. Ein ausgesprochen idealisiertes Bild des Generalstabs zeichnet auch Friedrich von der Schulenburg, »Erlebnisse«, BArch, N 58/1, S. 12. Walter, Preußische Heeresreformen, S. 534. Schimmelpenninck van der Oye, Reforming Military Intelligence, S. 134. Zur Entwicklung der Waffen- und Kommunikationstechnik siehe Storz, Kriegsbild und Rüstung, S. 14 und 25‑36, sowie Stevenson, Armaments and the Coming of War, S. 15‑63. I. Einleitung 3 effektiven Feindaufklärung für die erfolgreiche Planung und Durchführung von militärischen Operationen.10 Entwicklungen auf dem militärpolitischen Gebiet ausländischer Staaten mussten daher bereits im Frieden umfassend beobachtet und analysiert werden.11 Bei zunehmender Technisierung des Kriegswesens stand zudem nicht mehr allein die Armee eines möglichen Gegners im Fokus der Feindaufklärung, sondern auch dessen ökonomische und demografische Kraft sowie dessen innenpolitische Situation.12 Seit der Gründung des Deutschen Reichs, die mit dem Sieg der deutschen Einzelstaaten über das zweite französische Kaiserreich im Krieg von 1870/71 einherging, stand das vermeintlich »unversöhnliche« Frankreich im Mittelpunkt der deutschen Feindaufklärung. Sowohl Alfred von Schlieffen, Chef des Generalstabs von 1891 bis 1905, als auch sein Nachfolger Helmuth von Moltke d.J., Chef von 1906 bis 1914, sahen in der Dritten Republik den gefährlichsten Gegner für das Deutsche Reich.13 Spätestens durch das Defensivbündnis Frankreichs mit Russland von 1892/94 rückte auch die Armee des Zarenreichs stärker in den Fokus des deutschen Generalstabs.14 Zwar hatte bereits Helmuth von Moltke d.Ä., von 1857 bis 1888 Chef des Generalstabs, Pläne für einen Zweifrontenkrieg entworfen,15 doch erhielt diese Möglichkeit erst durch das französisch-russische Abkommen einen realen Bezugspunkt. An eine Auseinandersetzung mit Großbritannien, das vor allem nach der Jahrhundertwende als vermeintlicher Kontrahent in den Blick deutscher Militärs geriet, war ohne eine gleichwertige Flotte nicht zu denken. Aus Sicht des deutschen Generalstabs galt die nur aus einem kleinem Berufsheer bestehende britische Landstreitmacht als quantité négligeable,16 während die Einschätzung der britischen Flotte nicht in sein Ressort fiel, sondern Aufgabe des Admiralstabs der Marine war. Vor allem Schlieffen beurteilte die operativen Möglichkeiten 10 11 12 13 14 15 16 Schmidt, Gegen Russland und Frankreich, S. 177. Jackson, Historical Reflections, S. 23‑25. Schimmelpenninck van der Oye, Reforming Military Intelligence, S. 140 f. Siehe die Bemerkungen Moltkes zu dem von Schlieffen entworfenen Kriegsplan gegen Frankreich von 1905, abgedruckt in: Ritter, Der Schlieffenplan, S. 179. Das militärische Abkommen zwischen Frankreich und Russland wurde bereits 1892 entworfen und verhandelt, doch erst Anfang 1894 ratifiziert. Siehe zur Entstehung und Bedeutung des Bündnisses Kennan, Die schicksalhafte Allianz, und Avice-Hanoun, L’Alliance franco-russe. Moltke, Die deutschen Aufmarschpläne, S. 4‑13. Siehe beispielsweise den Bericht des deutschen Militärattachés in London, Friedrich von der Schulenburg, vom 31.1.1906: »Der Sieg über sie [die Engländer] ist uns sicher, vorausgesetzt, daß wir sie nicht mit unterlegenen Kräften angreifen. In allem müssen wir ihnen überlegen sein, in allem ihnen zuvorkommen und ihnen einen Empfang bereiten, an den sie noch Jahrhunderte zurückdenken werden.« Die Große Politik der Europäischen Kabinette, Bd 21/1, Anlage zu Nr. 6946. Siehe auch den Ausruf Moltkes, der im August 1914 bei Erhalt der Nachricht über die Landung des britischen Expeditionskorps in Frankreich abschätzig feststellte: »Die arretieren wir!« Zit. nach: Afflerbach, Die militärische Planung, S. 282. Dazu auch Herrmann, The Arming of Europe, S. 42‑44, sowie Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht, S. 201‑229. Zur deutschen Einschätzung der britischen Armee siehe Schulte, Vor dem Kriegsausbruch, S. 47‑55. Gegen die Behauptung, der Generalstab habe Großbritannien unterschätzt, siehe Kuhl, Der deutsche Generalstab, S. 83‑95. 4 I. Einleitung einer britischen Expeditionsarmee sehr skeptisch.17 Folgerichtig konzentrierte sich nicht nur die deutsche Aufmarschplanung auf die Dritte Republik und das Zarenreich, sondern auch die Feindaufklärung des Generalstabs.18 Der ihm unterstellte militärische Geheimdienst, die Sektion III b, orientierte sich an diesen Vorgaben und überließ die Großbritannienaufklärung der Marine. Im Mittelpunkt der folgenden Analyse stehen die Urteile der Feindaufklärung des deutschen Generalstabs über Frankreich und Russland im letzten Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der 1904 beginnende RussischJapanische Krieg führte in der Berliner Militärbehörde zu einem erhöhten Informationsbedarf über die russische Armee. Zugleich eröffnete die Bindung russischer Truppen in Ostasien dem Deutschen Reich die Möglichkeit zu einer riskanteren Außenpolitik, da die Gefahr eines Zweifrontenkriegs kurzfristig gemindert war.19 Im Gefolge der seit 1904 zutage tretenden Spannungen und Interessensgegensätze zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich bezüglich des künftigen Status von Marokko erfuhr die französische Armee eine noch größere Aufmerksamkeit als zuvor. Für die Ausrichtung der Untersuchung auf den Zeitraum von 1904 bis 1914 spricht auch die Quellenlage. Da nur noch sehr wenige Generalstabsdenkschriften aus der Zeit vor der Jahrhundertwende existieren, besäße eine Betrachtung der früheren Entwicklung der deutschen Feindaufklärung gegenüber Frankreich und Russland wenig Aussagekraft. Von 1904 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs gewann die Feindaufklärung für den deutschen Generalstab, aber auch für andere deutsche Militärinstitutionen enorm an Bedeutung. Die militärische Führung des Deutschen Reichs war – vor dem Hintergrund der sich häufenden Krisen und Spannungen – auf genaue Informationen über die potenziellen Gegner angewiesen, um auf die vielen neuen politischen und militärischen Entwicklungen, die in Frankreich und Russland in dieser Zeit erfolgten, reagieren und die eigene militärische Planung und Rüstung darauf abstimmen zu können. Vor allem im republikanischen Frankreich war das Heer ständigen Veränderungen unterworfen. Zwischen 1904 und 1914 standen allein 15 Politiker und Militärs an der Spitze des französischen Kriegsministeriums, das in Friedenszeiten den größten Einfluss auf die französische Armee ausübte. Damit einher gingen die in dieser Zeit erfolgenden zahlreichen Wechsel der Armeeoberbefehlshaber sowie der operativen und strategischen Konzepte. Hinzu kam der langanhaltende Einfluss der 1894 publik gewordenen und noch bis in das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts schwelenden Dreyfus-Affäre, die Frankreich an den Rand einer Verfassungskrise brachte und das Land tief spaltete. Für die Entwicklung der russischen Armee zwischen 1904 und 1914 war die Niederlage des Zarenreichs im Krieg gegen Japan, mit der nur wenige europäische Militärexperten gerechnet hatten, von großer Bedeutung. Die Erfahrungen der verlorenen Auseinandersetzung bestimmten seit dem Ende des Krieges im September 1905 die russische Militärpolitik. Die Folgen des Konflikts wirkten sich mittelbar auch auf die deutsche Beobachtung der russischen Armee aus. Vor allem die ab 1909 einsetzenden russischen Armeereformen beeinflussten die deutsche Militärpolitik nachhaltig. Da die deutschen Militärs zunehmend von 17 18 19 Schlieffens Zusatzmemorandum vom Februar 1906, abgedruckt in: Ritter, Der Schlieffenplan, S. 175‑178. Vgl. Angelow, Der Zweibund, S. 57. Pöhlmann, Between Manchuria and the Marne, S. 210. Seligmann, Germany, the Russo-Japanese War, and the Road to the Great War. I. Einleitung 5 der Unvermeidbarkeit eines Krieges gegen Frankreich und Russland überzeugt waren,20 entwickelte sich die genaue Kenntnis der gegnerischen Armeen zu einem zentralen Baustein der deutschen Militärpolitik vor 1914. Hinsichtlich ihres Gegenstandsbereichs verfolgt die Studie drei Fragekomplexe: Der erste Fragekomplex betrifft die Akteure, Formen und Arten der deutschen Informationsgewinnung. Wer suchte für den Generalstab nach Informationen? Welchen Akteuren wurde vom Generalstab welche Bedeutung beigemessen und worin lag dies begründet? Wie wurden Informationen gewonnen bzw. ermittelt? Welche methodischen Möglichkeiten hatten die Akteure? Hier wird unter anderem der noch rudimentäre Charakter der geheimdienstlichen Arbeit zu untersuchen sein. Zudem gilt es, verschiedene Formen und Arten der Informationsgewinnung zu unterscheiden: Informationen konnten mithilfe von Gelegenheitsbeobachtungen gewonnen werden. Dem Akteur bot sich demnach eine zufällige Möglichkeit, Informationen von Belang zu erhalten. Es handelte sich damit nicht um eine gezielte Nachforschung, sondern um eine Beobachtung, bei welcher der Akteur zur rechten Zeit am rechten Ort war. Sodann bestand die Möglichkeit, Informationen durch die Eigeninitiative der Akteure zu erhalten. Die Möglichkeit eines Akteurs zu eigeninitiativ vorgenommenen und gezielten Informationsermittlungen war unter anderem davon abhängig, welche Freiheiten und welche Mittel er dazu hatte und wie gut er vernetzt war. Schließlich folgten Akteure konkret formulierten Aufträgen zur Informationsgewinnung. Diese Auftragsermittlungen hatten eine spezielle, von der sammelnden und auswertenden Nachrichtenstelle vorgegebene Zielsetzung – im vorliegenden Fall vom deutschen Generalstab. Hier ist danach zu fragen, welche Motive zu bestimmten Aufträgen führten und welche Ziele mit diesen verfolgt wurden. Konnten andere Institutionen oder Personen außerhalb des Generalstabs, beispielsweise das Auswärtige Amt, Aufträge an die Akteure erteilen? Lassen sich derartige Aufträge überhaupt nachweisen? Einen wesentlichen Bereich machen zudem die Informationsquellen der Akteure aus, die gesondert betrachtet werden müssen. Worauf konnten die Akteure zurückgreifen? Wie bedeutsam waren die einzelnen Informationsquellen bzw. für wie bedeutsam wurden sie erachtet und wie verlässlich waren sie in welcher Hinsicht? Waren Materialien öffentlich zugänglich oder mussten sie auf illegale Weise beschafft werden? Der zweite Fragenkomplex betrifft die Organisation der Sammlung, Verarbeitung und Bewertung von Informationen durch den deutschen Generalstab. Welche Abteilungen und Personen waren für die Sammlung und Analyse der Materialien zuständig? Wie wurden die Informationen verarbeitet? Wurden die eingehenden Informationen überhaupt beachtet? Welche Teile des Informationszustroms wurden herausgefiltert und nicht näher analysiert? Bestanden Unterschiede zwischen den einlaufenden und den weitergereichten Informationen? Gelangten alle oder nur ausgesuchte Analysen an den Chef des Generalstabs? Wurden die erhaltenen Informationen über Frankreich und Russland verknüpft oder liefen sie parallel nebeneinander her? Wurden neue Informationen mit alten verglichen und kontrastiert? Inwieweit lassen sich die »Informationsflüsse« überhaupt rekonstruieren? 20 Zum Komplex der »Unvermeidbarkeit« siehe Mommsen, Der Topos vom unvermeidlichen Krieg, und Afflerbach, The Topos. I. Einleitung 6 Am Beispiel der deutschen Feindaufklärung bezüglich der Armeen Frankreichs und Russlands soll zudem insbesondere folgenden Fragen nachgegangen werden: Wie bewertete der deutsche Generalstab die militärische Stärke der französischen und der russischen Armee auf der taktisch-operativen und auf der strategischen Ebene21 und inwieweit hatten die erhaltenen Informationen Auswirkungen auf seine militärische Planung? Wie nah kam der Generalstab in seinen Einschätzungen und Urteilen den Militärpotenzialen der künftigen mutmaßlichen Kontrahenten? Welche Kenntnisse hatte man von Taktik, Technologie, »Kampfmoral«, Disziplin, Truppenstärke, Ausbildung sowie von den Aufmarsch- und Operationsplänen der französischen und der russischen Armee? Unter- oder überschätzte der Generalstab die gegnerischen Armeen? Nach welchen Kriterien erfolgte die Urteilsfindung? Schätzte man anhand der Kenntnisse das eigene Potenzial richtig ein oder – anders gefragt – wie effektiv war die deutsche Feindaufklärung? Bedingten die Kenntnisse über die gegnerischen Armeen die zahlreichen quellenmäßig belegten Präventivkriegsforderungen hochrangiger Generalstabsmitglieder? Interessant erscheint in dieser Beziehung – gerade im Hinblick auf Wahrnehmungs- und Deutungsmuster – auch die Bedeutung der im Generalstab vorherrschenden nationalen Stereotype22 zu Frankreich und Russland und ihrer Auswirkungen auf die Urteile der Behörde. Spielte die Fremdwahrnehmung letztlich sogar eine noch wichtigere Rolle als gesicherte Fakten? Schließlich: Lassen sich Entwicklungen in den Wahrnehmungen ausmachen? Blieben sie unverändert oder stellte sich ein größerer Wandel ein? Wurden bereits bestehende Urteile perpetuiert oder neuen Erkenntnissen angepasst? Der dritte Komplex umfasst Fragen der Kooperation und des Informationsaustausches des deutschen Generalstabs mit der zivilen Reichsleitung, den deutschen Militärbehörden und den Regierungen oder Generalstäben verbündeter Staaten. Gerade die Zusammenarbeit zwischen den Produzenten und der Zielgruppe der Feindnachrichten ist von entscheidender Bedeutung für eine effektive Feindaufklärung. Inwieweit reichte die Berliner Militärinstitution die von ihr gewonnenen bzw. ermittelten Informationen auch weiter und in welcher Form geschah dies? Hatten die Informationen des deutschen Generalstabs Einfluss auf den Reichskanzler, den Kaiser und die wichtigsten deutschen Außenpolitiker? Wenn ja, wie äußerte sich dieser? Versuchte der Generalstab durch die gezielte Weitergabe von Informationen auf die außenpolitische Linie des Deutschen Reichs einzuwirken? Bezog man verbündete Regierungen und/oder Generalstäbe in den eigenen Kenntnisstand mit ein? 2. Forschungsstand und Quellenlage »Kaum eine Epoche der europäischen Historie hat ein derartig reges Interesse der Forschung und Publizistik gefunden wie die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges [...] Doch wird bei näherem Hinsehen deutlich, daß ungeachtet 21 22 Zur Unterscheidung der Begriffe siehe die Ausführungen bei Groß, Mythos und Wirklichkeit, S. 7‑17. Zur Definition siehe Kap. I.3. I. Einleitung 7 der Vielzahl von Publikationen Forschungslücken und Freiräume für neue Interpretationen geblieben sind.«23 So thematisiert eine unüberschaubare Menge an Literatur die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs. Angesichts des 100. Jahrestages des Kriegsbeginns erfuhr diese im Jahr 2014, aber auch in den Jahren davor, einen weiteren Zuwachs. Die vorliegende Studie berücksichtigt daher vor allem jene Arbeiten, die ihr Augenmerk auf Aspekte der deutschen Feindaufklärung und auf die Entwicklungen der Außenpolitik des Deutschen Reichs vor 1914 richten.24 Die internationalen Krisen im Vorfeld des »Großen Krieges« sind zumeist recht umfassend erforscht, sodass auch hier auf einer soliden Basis an Forschungsliteratur aufgebaut werden kann.25 Auch zur historischen Entwicklung der französischen26 und der russischen Armee27 und deren Kriegsplanung vor dem Ersten Weltkrieg28 kann die Studie auf 23 24 25 26 27 28 Angelow, Kalkül und Prestige, S. VII. Einen kurzen Überblick über die wichtigsten Neuerscheinungen geben in bündiger Form Mombauer, Der hundertjährige Krieg; Wyrwa, Zum Hundertsten nichts Neues, und Kramer, Recent Historiography. Zur internationalen Situation vor 1914 siehe Herrmann, The Arming of Europe; Stevenson, Armaments and the Coming of War; Kießling, Gegen den »großen Krieg«?; Münkler, Der Große Krieg, S. 9‑106; Leonhard, Die Büchse der Pandora, S. 9‑82; Hoffmann, Der Sprung ins Dunkle; Clark, Die Schlafwandler, S. 169‑227, sowie die informativen Beiträge in The Outbreak of the First World War und The Origins of World War I. Zur deutschen Außenpolitik im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg siehe vor allem Canis, Der Weg in den Abgrund, und Hildebrand, Deutsche Außenpolitik. Mit der französischen und russischen Perspektive der Vorgeschichte und der Ursachen des Ersten Weltkriegs beschäftigen sich Schmidt, Frankreichs Außenpolitik; Kiesling, France; McMeekin, Russlands Weg in den Krieg, und Rich, Russia. Zu den politischen Krisen vor dem Ersten Weltkrieg allgemein: Dülffer/Kröger/ Wippich, Vermiedene Kriege. Zur Ersten Marokkokrise: Mayer, Geheime Diplomatie; Moritz, Das Problem des Präventivkrieges; Rassow, Schlieffen und Holstein, und Raulff, Zwischen Machtpolitik und Imperialismus. Zur bosnischen Annexionskrise: Dülffer/ Kröger/Wippich, Vermiedene Kriege, S. 603‑614; Kronenbitter, »Krieg im Frieden«, S. 334‑356, und Williamson, Austria-Hungary, S. 58‑60. Zur Zweiten Marokkokrise: Meyer, Endlich eine Tat, und Oncken, Panthersprung nach Agadir. Zu den Balkankriegen: Boeckh, Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg; Kronenbitter, »Krieg im Frieden«, S. 369‑428, und Hall, The Balkan Wars. Zur Liman-von-Sanders-Krise siehe Herzfeld, Die Liman-Krise. Die wichtigsten Standardwerke sind Porch, The March to the Marne, und Ralston, The Army of the Republic; wichtige Einblicke in Teilaspekte liefern auch Arnold, French Tactical Doctrine; Histoire militaire de la France, t. 3; Clayton, Paths of Glory; Doughty, Pyrrhic Victory; Greenhalgh, The French Army; Krumeich, Aufrüstung und Innenpolitik; Ripperger, The Development of the French Artillery, und Snyder, The Ideology of the Offensive, S. 41‑106. Die wichtigsten Werke sind: Baumann, The Russian Army, und Menning, Bayonets before Bullets. Einblicke in Teilaspekte liefern: Airapetov, The Russian Army’s Fatal Flaws; Airapetov, Miliutin contra Moltke; Benecke, Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich; Bushnell, The Revolution of 1905‑06; Fuller, The Imperial Army; Snyder, The Ideology of the Offensive, S. 157‑198, und Steinberg, The Challenge of Reforming. Zur französischen Kriegsplanung: Doughty, French Strategy; Doughty, France; Schmidt, Frankreichs Plan XVII; Williamson, The Politics of Grand Strategy; Williamson, Joffre Reshapes French Strategy. Zur russischen Kriegsplanung: Kusber, Die russischen Streitkräfte; Menning, The Role of Iu.N. Danilov; Menning, From Mukden to Tannenberg; Menning, 8 I. Einleitung einen breiten Bestand an Forschungsliteratur zurückgreifen. Dies ermöglicht – in der Zusammenschau mit den analysierten unveröffentlichten Quellen – eine aussagekräftige Rekonstruktion der deutschen Feindaufklärung vor dem Ersten Weltkrieg und ein Urteil über deren Qualität. Um die wiederholten Präventivkriegsforderungen des Generalstabs richtig einordnen zu können, müssen die Stärken der französischen, russischen und deutschen Armee verglichen werden. Schließlich setzt die Forderung nach einem präventiven Schlag gegen den einen oder den anderen Nachbarn voraus, dass die deutsche Militärführung den jeweiligen Zeitpunkt für günstig und die eigenen Kräfte für stark genug hielt. Zur Beantwortung dieser Frage kann auf zahlreiche wissenschaftliche Studien über die deutsche Armee und ihren Rüstungsstand zurückgegriffen werden.29 Zur deutschen Kriegsplanung liegt ebenfalls ein großer Literaturfundus vor.30 Sämtliche Werke gehen aber nicht oder nur am Rande auf die deutsche Feindaufklärung ein. Auch die Ursachen von Veränderungen in der Militärplanung werden häufig nur oberflächlich untersucht. Ob diese auf gesammelten Nachrichten über die französische und russische Armee beruhten, ist daher nicht immer ersichtlich. Die Feindaufklärung des deutschen Generalstabs stellt hingegen ein Forschungsdesiderat dar. Sie wurde in der historischen Forschung bisher kaum erfasst, nur in einzelnen Aufsätzen und kurzen Buchabschnitten behandelt und hat noch keine umfassende wissenschaftliche Analyse erfahren. Für den Bereich der deutschen Feindaufklärung zur Armee Frankreichs sind die Artikel von Robert Foley, Mark Hewitson und Gerd Krumeich hervorzuheben,31 die aus nachvollziehbaren Platzbeschränkungen aber nicht über eine eher oberflächliche Behandlung des Themas hinausgehen. Foley nutzt in seiner Studie zwar eine Reihe von Generalstabsakten, geht aber nur kurz auf die deutsche Militärbehörde und ihre Einschätzungen der französischen Truppentaktik sowie der französischen Kriegspläne ein. Dabei beschränkt er sich auf Aspekte der Entwicklungen von 1908 bis 1914, während die vorausgehenden Entwicklungen nicht angesprochen werden. Hewitson gründet seine Studie überwiegend auf einzelne Presseartikel und Militärattachéberichte und verwendet keine Generalstabs-Denkschriften. Die Artikel Krumeichs thematisieren nur am Rande die Einschätzungen des deut- 29 30 31 The Offensive Revisited; Menning, War Planning and Initial Operations; Turner, The Russian Mobilisation. Zur deutschen Armee siehe vor allem die aktuellste Darstellung von Brose, The Kaiser’s Army; daneben auch Deist, Die Armee in Staat und Gesellschaft; Foley, Preparing the German Army; Raths, Vom Massensturm zur Stoßtrupptaktik, und das umfassende Werk von Schulte, Die deutsche Armee. Zur Rüstung der Armee siehe: Förster, Der doppelte Militarismus; Schmid, Der »Eiserne Kanzler«, und Stein, Die deutsche Heeresrüstungspolitik. Zur deutschen Kriegsplanung ist in erster Linie, trotz seines Alters, das Standardwerk von Ritter, Der Schlieffenplan, zu nennen, das von der umfassenden neueren Darstellung Der Schlieffenplan ergänzt und in Teilaspekten berichtigt wird. Des Weiteren siehe Bucholz, Moltke, Schlieffen, and Prussian War Planning; Foley, The Origins of the Schlieffen Plan; Foley, German Strategy; Mombauer, Helmuth von Moltke; Mombauer, Of War Plans and War Guilt; Mombauer, German War Plans; Turner, The Significance of the Schlieffen Plan, und Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Foley, Easy Target or Invincible Enemy?; Hewitson, Images of the Enemy; Krumeich, Le déclin de la France, und Krumeich, La puissance militaire française. I. Einleitung 9 schen Militärs. Sie beleuchten vielmehr diejenigen der zivilen deutschen Führung und nutzen ausschließlich veröffentlichte Quellen und Sekundärliteratur. Auch ein siebenseitiger Abschnitt einer Studie von Bernd F. Schulte über die Bedeutung des Balkanraumes in den deutsch-türkischen Beziehungen geht auf die deutschen Informationen über die französische Armee ein.32 Allerdings werden diese nur zur Illustration der damaligen strategischen Lage des Deutschen Reichs angerissen. So kann dieser Buchabschnitt, ähnlich wie die genannten Aufsätze, lediglich als erster Überblick über die deutsche Frankreichaufklärung dienen. Zur deutschen Einschätzung der russischen Armee existiert ebenfalls keine umfassende wissenschaftliche Studie. Oliver Griffin setzte sich im Rahmen seiner Dissertation mit der deutschen Einschätzung der russischen Armee von 1871 bis 1914 auseinander. Leider krankt seine Studie an verkürzten bzw. mangelnden Quellennachweisen. Die Länge des gewählten Zeitraums sorgt zudem dafür, dass Griffins Beschäftigung mit dem Thema nur oberflächlich bleiben kann. Seine Studie dient damit lediglich als Ergänzung, vor allem im Bereich der deutschen Russlandperzeption.33 Das in der Zwischenkriegszeit erschienene Werk von Walter Elze34 gibt nur auf wenigen Seiten einige Erkenntnisse des deutschen Generalstabs zu Russland wieder und beschränkt sich dabei vorwiegend auf die Jahre 1912 bis 1914. Zudem ist Elzes Studie äußerst subjektiv und genügt wissenschaftlichen Ansprüchen kaum. Risto Ropponens 1968 veröffentlichte Studie »Die Kraft Russlands« berücksichtigt die politischen Erkenntnisse aller europäischen Großmächte über Russland. Seine Behandlung der deutschen Einschätzung der russischen Armee wird auf 15 Seiten nur angerissen und kaum durch Archivquellen belegt.35 In ebenso geringem Maß geht der Aufsatz von William C. Wohlforth auf die deutschen Informationen über Russlands Militär ein.36 Ähnlich wie Ropponen thematisiert auch er die Einschätzungen der anderen europäischen Großmächte, wobei der deutsche Generalstab nur am Rande erwähnt wird. Immerhin stellt der Autor einige hilfreiche theoretische Herangehensweisen an das Thema Feindaufklärung vor, die für die vorliegende Untersuchung nützlich sind. So beschäftigt sich Wohlforth mit der Einschätzung von gegnerischen Militärpotenzialen und den Auswirkungen von Vorurteilen und Stereotypen auf die Urteilsfindung – Aspekte, die auch für diese Arbeit relevant sind. Bernd F. Schulte spricht in seiner bereits erwähnten Studie nicht nur kurz die deutschen Einschätzungen zur französischen, sondern auch zur russischen Armee an.37 Letztere nehmen mit 14 Seiten ebenfalls nur wenig Raum ein. Der Sicht deutscher Militärs auf die russischen Leistungen im Russisch-Japanischen Krieg widmet sich Oliver Griffin in einem kurzen Artikel. Dieser verzichtet jedoch auf eine Einbeziehung von Militärattachéberichten und leidet unter einem äußerst 32 33 34 35 36 37 Schulte, Vor dem Kriegsausbruch, S. 55‑61. Griffin, The German Army Looks East. Ich danke Herrn Prof. Dr. Bruce W. Menning, University of Kansas, für die Zusendung seines Exemplars. Die Dissertation Griffins ist unveröffentlicht und in Deutschland nicht erhältlich. Elze, Tannenberg, besonders S. 55‑60. Immerhin gibt Elze in einem ausführlichen Anhang eine Generalstabsdenkschrift über russische Taktik wieder. Ebd., S. 165‑182. Ropponen, Die Kraft Russlands, vor allem S. 196‑290. Wohlforth, The Perception of Power. Schulte, Vor dem Kriegsausbruch, S. 61‑74. 10 I. Einleitung unwissenschaftlichen Anmerkungsapparat. So gibt der Autor bei Archivquellen zum Teil weder Band noch Bestandsnummer an.38 Die zum institutionellen Rahmen der deutschen Feindaufklärung gehörenden Teilaspekte der Generalstabsgeschichte39 und der Möglichkeiten der Militärbehörde zur Informationsbeschaffung40 sind bisher lediglich teilweise ausgeleuchtet und noch nie in einer umfassenden Studie behandelt worden. Bislang von der Forschung nicht erschlossen sind etwa die Auslandsreisen deutscher Offiziere, die Unterstützung des Generalstabs durch die deutschen Auslandsbotschaften und auch der Arbeitsablauf in den Generalstabsabteilungen, die für die Feindaufklärung zuständig waren. Diese Arbeit basiert auf umfangreichem unveröffentlichtem Quellenmaterial, darunter auf zahlreichen Generalstabsdenkschriften und Militärattachéberichten, die erstmals für die historische Forschung herangezogen werden. Grundsätzlich stößt die Historiografie bei der Erforschung der preußischen Armee und der oberen preußischen Militärbehörden auf große Probleme, da weite Teile des Heeresarchivs in Potsdam durch alliierte Luftangriffe auf die Garnisonsstadt am 14. Februar und 14. April 1945 vernichtet wurden.41 Bereits in den Wirren der Revolution von 1918 und 1919 kam es zur Vernichtung vieler Geheimakten des Generalstabs.42 Doch obwohl ein Großteil der betreffenden Akten nicht mehr existiert, ist die Quellenlage für die vorliegende Untersuchung keineswegs schlecht. Entstandene Lücken können durch ausführliche Zweitüberlieferungen oder bisher vernachlässigte Bestände minimiert werden. 1. Vor allem aus den Akten des kaiserlichen Admiralstabs,43 die den Zweiten Weltkrieg fast unbeschadet überstanden haben und sich im Bundesarchiv, Abteilung Militärarchiv, in Freiburg befinden, wurden viele Schriftstücke des Gene38 39 40 41 42 43 Griffin, Perceptions of Russia. Eine wissenschaftliche Institutionsgeschichte des Generalstabs steht noch aus. Zur Geschichte des preußischen Generalstabs siehe die Werke von Görlitz, Der deutsche Generalstab; Kessel, Moltke; Millotat, Das preußisch-deutsche Generalstabssystem; Schmidt-Richberg, Die Generalstäbe in Deutschland; Walter, Preußische Heeresreformen, S. 499‑555, und Zwehl, Generalstabsdienst. Zum deutschen militärischen Geheimdienst, der Sektion III b, siehe vor allem Schmidt, Gegen Russland und Frankreich. Dort sind auch einige hilfreiche Anmerkungen zur Informationsbeschaffung durch die deutschen Auslandsvertretungen und durch reisende Offiziere zu finden. Zur Institution der Militärattachés siehe Craig, Military Diplomats; Meisner, Militärattachés und Militärbevollmächtigte; Ritter, Die deutschen MilitärAttachés, und Trumpener, The Service Attachés. Für den bayerischen Generalstab kann vor allem auf die umfassende Studie von Hackl, Der Bayerische Generalstab, verwiesen werden. Für die deutsche Zusammenarbeit mit dem österreichisch-ungarischen Generalstab siehe Kronenbitter, »Krieg im Frieden«, S. 277‑314. Zur Vernichtung der Reichsarchivakten siehe Herrmann, Das Reichsarchiv, Bd 2, S. 320‑335, 466 f. Siehe den Aufsatz von Geyr von Schweppenburg, Der Kriegsausbruch 1914, S. 150, in dem der Verfasser angibt, während der Revolution von 1918/19 große Teile der Akten der 1. Abteilung des Generalstabs verbrannt zu haben. Sicher scheint, dass zahlreiche Geheimakten gezielt vernichtet wurden. Siehe Geissler, Anthrax, S. 27 f., und Stone, Spies and Diplomats, S. 22. Der seit 1899 bestehende Admiralstab der Marine hatte im Bereich des Flottenwesens ähnliche Aufgaben und Befugnisse wie der Generalstab im Bereich des Heerwesens und war ebenfalls direkt dem Kaiser unterstellt. Hubatsch, Der Admiralstab, vor allem S. 86‑161. I. Einleitung 11 ralstabs herangezogen. Die Akten des Admiralstabs ergänzen die lückenhaften Generalstabsakten, da sie einige wesentliche, dort nicht mehr vorhandene Denkschriften beinhalten. 2. Die wenigen erhaltenen Vorkriegsakten des preußischen Generalstabs bilden eine weitere Basis der Arbeit. Ein Großteil der in den Marinebeständen befindlichen Generalstabsschriften befindet sich auch in den Akten des Generalstabs. Da Letztere aufgrund ihrer Verfilmung längere Zeit nicht zugänglich waren, folgt die Zitierung der Memoranden zumeist nach den Marineakten.44 Die Akten bestehen aus mehreren themengleichen Denkschriften und Berichten des deutschen Generalstabs, die überwiegend maschinell geschrieben und nach 1900 verfasst worden sind. Sie befinden sich heute ebenfalls im Freiburger Militärarchiv. Einige Generalstabsakten sind im Jahr 2014 durch das Deutsche Historische Institut in Moskau online veröffentlicht worden. Die für die vorliegende Arbeit dort vorhandenen thematisch relevanten Akten konnten jedoch bereits in den Freiburger Beständen eingesehen werden.45 3. Neben diesen beiden zentralen Beständen wurden im Freiburger Militärarchiv außerdem die Nachlässe der deutschen Militärattachés Arthur von Lüttwitz, Otto von Lauenstein, Detlof von Winterfeldt und Maximilian von Mutius in den Freiburger Beständen benutzt. Die Umfänge der einzelnen Bestände und ihr Wert für die Fragestellung dieser Studie sind dabei jedoch höchst unterschiedlich.46 Aus dem Nachlass des Generalstabsoffiziers und Mitarbeiters des preußischen Kriegsministeriums Franz von Wandel konnte auf einige bislang unbeachtete Berichte über die Schlussfolgerungen deutscher Beobachter des Russisch-Japanischen Krieges zurückgegriffen werden.47 Obwohl die meisten der genannten Nachlässe der Forschung seit langem bekannt sind, wurden sie bisher noch nicht umfassend ausgewertet. Die Nachlässe der beiden letzten Generalstabschefs vor dem Ersten Weltkrieg, Alfred von Schlieffen und Helmuth von Moltke, wurden ebenfalls eingesehen, konnten allerdings gar nicht oder nur sehr bedingt für die Fragestellung der 44 45 46 47 Die Akten des deutschen Admiralstabs firmieren im BArch unter der Bestandsbezeichnung »RM 5«. Seiten- oder Blattzahlen werden nur angegeben, sofern vorhanden. Die verfilmten Generalstabsakten wurden durch den Verfasser mit den Marineakten verglichen und auf Unterschiede geprüft. Seiten- oder Blattzahlen werden nur angegeben, sofern vorhanden. Für die Online-Veröffentlichung siehe <http://tsamo.germandocsinrussia.org/de/> (letzter Zugriff 28.11.2016). Besonders wichtig sind hier die Memoiren von Arthur von Lüttwitz, »Aus einem bewegten Soldatenleben 1875‑1918«, 7 Bde, 1927/28, relevant sind für die Arbeit vor allem die Bde IV‑VII, BArch, N 887/4 bis N 887/7. Leider enden die überaus interessanten Memoiren bereits mit dem Jahr 1908, sodass die Aufzeichnungen für die Zeit, in der Lüttwitz als Chef der 1. Abteilung fungierte, größtenteils fehlen. Interessant sind zudem die unveröffentlichten Aufzeichnungen von Maximilian von Mutius, »Lebenserinnerungen 1865‑1918. Aufzeichnungen des Generalmajors a.D. Max von Mutius«, Bd 1 und 2, 1934, BArch, N 195/1 und 195/2. Für Winterfeldt kann auf die unveröffentlichten Auszüge einer Familienchronik zurückgegriffen werden. Siehe Detlof von Winterfeldt, »Zur Familiengeschichte von Winterfeldt«, Bd V, 1935, S. 1‑6. Unveröffentlichtes Typoskript, im Privatbesitz von Michael von Winterfeldt, Seevetal. Ich danke dem Eigentümer ganz herzlich für die Möglichkeit, die Aufzeichnungen Winterfeldts einsehen zu dürfen. So beispielsweise »Die russische und japanische Artillerie im Feldkriege«, ohne Datum (ca. Juli 1905), BArch, N 564/6. 12 I. Einleitung Arbeit herangezogen werden. Während Schlieffens Nachlass48 überwiegend private Korrespondenz beinhaltet, ist der Nachlass Moltkes nicht nur zu großen Teilen verloren gegangen, sondern in seiner überlieferten Art für die Fragen der Arbeit nicht besonders hilfreich.49 Gerade hier – im Bereich der persönlichen Nachlässe – befinden sich die für die Arbeit schwerwiegendsten Quellenlücken. So fehlen die Nachlässe der bedeutenden Generalstabsmitglieder Hermann von Kuhl, Torsten von Posadowsky-Wehner sowie beinahe sämtlicher bekannter Mitarbeiter der deutschen Feindaufklärung. Herangezogen wurde zudem die unveröffentlichte elfbändige Zusammenstellung des ehemaligen Generalstabs- und Nachrichtendienstoffiziers Friedrich Gempp über die Entwicklung des deutschen militärischen Geheimdienstes, der Sektion III b. Das Werk gibt einen umfassenden Einblick in Organisation und Arbeitsablauf des generalstabsinternen Nachrichtendienstes.50 4. Eine wichtige Grundlage der Studie bilden die unveröffentlichten Zusammenstellungen und Materialauswertungen der zwischen 1937 und 1945 in Potsdam angesiedelten »Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres«.51 Da deren Archivare in ihren Zusammenstellungen oftmals Inhalte von Akten wiedergaben, die 1945 ein Opfer der Flammen wurden, sind diese Schriftstücke als »indirekte« Quellen von besonderem Wert. Zwar wurden bei den britischen Luftangriffen auf Potsdam auch Unterlagen und Archivalien der Forschungsanstalt vernichtet, doch konnten große Teile der Akten geborgen werden. Diese fanden fortan im neuen Zentralarchiv der sowjetischen Besatzungszone ihren Platz, das später in »Zentrales Staatsarchiv der DDR« umbenannt wurde. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurden die Materialien im Jahr 1994 in das Militärarchiv in Freiburg überführt und stehen heute der historischen Forschung zur Verfügung.52 48 49 50 51 52 Siehe den NL Schlieffens im BArch, N 43. Wichtige Unterlagen zu Schlieffens militärischer Planung sind im NL seines Biografen Friedrich von Boetticher (N 323) zu finden. Siehe Behnen, Alfred Graf von Schlieffen, S. 130. Sie behandeln jedoch überwiegend Aspekte der deutschen Kriegsplanung. Zur Geschichte von Moltkes NL siehe Mombauer, Helmuth von Moltke, S. 6‑13. Friedrich Gempp, »Geheimer Nachrichtendienst und Spionageabwehr des Heeres. 1866 bis 1918.« Relevant sind vor allem Bd 1 und 2, BArch, RW 5/654 und 657. Gempp (1873‑1946) wurde 1913 nach dem Besuch der Kriegsakademie als dem Generalstab zugeteilter Offizier Nachrichtenoffizier beim Stab des I. AK in Königsberg und Mitarbeiter der Sektion III b. Nach dem Ersten Weltkrieg wertete er seine Erfahrungen in seinem vielbändigen Bericht für die Reichswehrführung aus. Siehe Schmidt, Gegen Russland und Frankreich, S. 13. Das im Oktober 1919 neu gegründete Reichsarchiv mit seinem Dienstsitz in Potsdam übernahm nach dem Ersten Weltkrieg die kriegsgeschichtlichen Aufgaben des aufgelösten Generalstabs. Die Arbeit der Behörde, die zum einen die deutsche Alleinschuld am Kriegsausbruch widerlegen, zum anderen die Leistungsfähigkeit des deutschen Heeres würdigen sollte, beruhte auf der Auswertung der zu diesem Zeitpunkt noch weitestgehend vollständigen Generalstabsakten. Am 1.4.1937 erhielt die historische Abteilung der Behörde die Bezeichnung »Kriegsgeschichtliche Forschungsanstalt des Heeres«. Zur Geschichte und den Aufgaben der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt siehe Pöhlmann, Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik, S. 79‑161; Enders, Die ehemaligen deutschen Militärarchive, und Otto, Das ehemalige Reichsarchiv. Die Akten der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt sind seit einigen Jahren unter der Bestandsbezeichnung »RH 61« zu finden. Zur Geschichte der Akten siehe Löbel, Neue Forschungsmöglichkeiten, und Otto, Der Bestand Kriegsgeschichtliche Forschungsanstalt. I. Einleitung 13 5. Die Studie verwendet auch Aktenbestände des Bundesarchivs in dessen Standorten in Berlin-Lichterfelde und Koblenz. Aus den Akten der alten Reichskanzlei wurde vor allem die Reihe »Ausbau des deutschen Eisenbahnnetzes im Interesse der Landesverteidigung« herangezogen. Darin befinden sich einige Schreiben Moltkes, die – als Reaktion auf russische und französische Maßnahmen gedacht – die deutsche Regierung von der Notwendigkeit eines Ausbaus des Eisenbahnnetzes überzeugen sollten.53 Aus den Koblenzer Beständen konnten die Nachlässe Bernhard von Bülows, Bernhard Schwertfegers und Max Bauers verwendet werden.54 6. Einen zentralen Baustein des Quellenfundaments bilden die Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts in Berlin. Für die Arbeit konnte auf zahlreiche, von der Forschung bislang kaum berücksichtigte Militärattachéberichte zurückgegriffen werden, die als Zweitüberlieferungen in den Aktenreihen über die Militärangelegenheiten Russlands und Frankreichs lagern. Auch wenn die Berichte der Militärattachés längst nicht mehr vollständig sind, liefern sie wertvolle Erkenntnisse über die deutsche Feindaufklärung vor dem Ersten Weltkrieg. Bis etwa 1906 wurden sie stets handschriftlich, danach maschinell abgefasst.55 Oftmals handelt es sich bei den Schreiben nicht um Originale, sondern um Abschriften der Berichte.56 Von den Attachéberichten haben nur einige Eingang in die Edition »Die Große Politik der Europäischen Kabinette« gefunden, die heutigen Editionsstandards ohnehin nur noch ansatzweise gerecht wird.57 Von diesem bereits sehr umfangreichen Quellenfundus abgesehen konnten auch verschiedentliche Geheimakten verwendet werden.58 Die Russland betreffenden Akten enthalten nicht nur brisante Militärattachéberichte, sondern in weitaus größerem Umfang hochgeheime Generalstabsdenkschriften, die oftmals eigens für die zivile Reichsleitung angefertigt wurden und sich daher nicht in den Freiburger oder Münchener Beständen finden lassen. Weitere wichtige Einblicke in den Kenntnisstand des deutschen Generalstabs bieten die zwei Aktenbände »Mitteilungen des Generalstabs der Armee und des Admiralstabes der Marine über die militärische Leistungsfähigkeit anderer Staaten«.59 Leider umfassen die beiden Bände nur die Jahre 1908 bis 1914. Ob ähnliche Überlieferungen bereits vor diesem Zeitraum dem Auswärtigen Amt zugeleitet wurden, kann nicht mehr zweifelsfrei geklärt werden. Aufschlussreich ist auch der Bestand des deutschen Militärattachés in Wien, aus dem weitere Generalstabsdenkschriften zu Russland herangezogen werden konn53 54 55 56 57 58 59 BArch, R 43/107. BArch, NL Bülow (N 1016), NL Schwertfeger (N 1016) und NL Bauer (N 1022). Die Berichte zu Russland sind zu finden in PA-AA, R 10 395‑10 434. Die Berichte zu Frankreich finden sich in PA-AA, R 6735‑6756. Die Berichte der Attachés sind zumeist nicht paginiert, sodass auf eine Seitenangabe verzichtet wird. Die Nummern der Attachéberichte werden daher im Folgenden nur dann angegeben, wenn zweifelsfrei festgestellt werden kann, dass die Nummer des Briefkopfs authentisch ist und nicht die Nummer der Abschrift wiedergibt. Da es sich in überwiegender Zahl um unverschlüsselte schriftliche Berichte handelt, wird in den Fußnoten nur auf Abweichungen von dieser Regelform, beispielsweise Telegramme, aufmerksam gemacht. Die Große Politik der Europäischen Kabinette, Bd 19‑40. PA-AA, R 10 448 bis R 10 450, und PA-AA, R 6760. PA-AA, R 995 und 996. 14 I. Einleitung ten.60 Anhand dieser Akten ist es möglich, den Austausch von Nachrichtenmaterial zwischen dem österreichisch-ungarischen und dem deutschen Generalstab nachzuvollziehen. Auch lässt sich der Weg der Berichterstattung des deutschen Militärattachés an die heimischen Behörden rekonstruieren. Schließlich geben die Akten einen Einblick in die klandestinen Tätigkeiten dieser Institution und ihres Verkehrs mit dem deutschen Nachrichtendienst Sektion III b. 7. Äußerst hilfreich für die Untersuchung waren auch die Akten des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, Abteilung Kriegsarchiv in München, in denen sich viele Dienstschreiben des Generalstabs als Zweitüberlieferungen befinden. Da die Akten der bayerischen Armee von Kriegsschäden nahezu vollkommen verschont geblieben sind, ergänzen sie die lückenhaften Bestände des Militärarchivs in Freiburg. Ebenso beinhalten die Akten des bayerischen Kriegsministeriums – in wesentlich geringerem Umfang – auch Schriftwechsel und Korrespondenzen zur russischen und französischen Armee sowie vereinzelte Generalstabsdenkschriften.61 Einblick in den Aufbau der Feindbeobachtung des Generalstabs und den dortigen Arbeitsablauf geben die Berichte der nach Berlin kommandierten bayerischen Generalstabsoffiziere.62 Mit ihrer Hilfe lässt sich der Arbeitsalltag innerhalb der Berliner Militärbehörde teilweise rekonstruieren. 8. In ähnlicher Weise tragen Akten des Sächsischen Hauptstaatsarchivs in Dresden, aus dem die ergiebigen Berichte des sächsischen Militärbevollmächtigten in Berlin herangezogen wurden, zur Beantwortung der Fragen der Untersuchung bei.63 Da der Militärbevollmächtigte die neuesten militärpolitischen Entwicklungen aus der Reichshauptstadt an das sächsische Kriegsministerium zu melden hatte, spiegeln seine Berichte vielfach einzelne Ansichten von Offizieren des preußisch-deutschen Generalstabs wider. Im Sächsischen Hauptstaatsarchiv lagern auch zahlreiche Generalstabsdenkschriften. Eine Durchsicht der Bestände ergab jedoch keinerlei relevante Memoranden, die nicht durch andere Bestände abgedeckt werden konnten. Dies trifft auch auf die Zweitüberlieferungen des Generalstabs im württembergischen Hauptstaatsarchiv in Stuttgart zu. 9. Ausgewertet wurden auch veröffentlichte Quellenmaterialien. Mitglieder des Generalstabs verfassten in der zeitgenössischen Militärschriftstellerei zahlreiche Werke über die französische und russische Armee und über zeitgenössische Kriege, die wichtige Hinweise liefern. Der Generalstab selbst publizierte sowohl zur französischen als auch zur russischen Armee ausführliche Studien, die wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg erschienen und vor allem Interessenten 60 61 62 63 PA-AA, MA-W. BayHStA, MKr 990, 997 und 998. Zumeist handelt es sich hierbei um Monatsberichte, welche die Offiziere an den bayerischen Generalstab senden mussten, um die heimische Behörde über alles Relevante zu unterrichten. Siehe BayHStA, GenSt 891 bis GenSt 925. Die wichtigsten deutschen Bundesstaaten, die Königreiche Sachsen, Württemberg und Bayern, entsandten jeweils einen Militärbevollmächtigten nach Berlin, um die heimischen Militärbehörden über die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet des preußisch-deutschen Heerwesens auf dem Laufenden zu halten. Umgekehrt entsandte auch Preußen Offiziere nach Stuttgart, Dresden und München. Zur Institution der Militärbevollmächtigten der deutschen Bundesstaaten siehe Meisner, Militärattachés und Militärbevollmächtigte, S. 43‑48, und Schulte, Neue Dokumente, S. 123‑127. Zu den Berichten des sächs. Militärbevollmächtigten siehe SHStA, Bestand 11 250. I. Einleitung 15 innerhalb des deutschen Offizierkorps ansprechen sollten.64 Weitere wichtige Einblicke in die deutschen Einschätzungen zur russischen und französischen Armee gibt das in damaliger Zeit höchster Geheimhaltung unterliegende »Taschenbuch des Generalstabsoffiziers«,65 im Jargon des Generalstabs wegen seines roten Buchrückens auch »roter Esel« genannt. Dieses griff in teils wörtlicher Übereinstimmung auf Passagen wichtiger Generalstabsdenkschriften zurück und gab den Offizieren, die bei Kriegsausbruch in den Generalstäben preußischer Großverbände Dienst taten, Richtlinien und Handlungsempfehlungen mit.66 Daneben wurden zahlreiche zeitgenössische, in den »Vierteljahrsheften für Truppenführung und Heereskunde«, der militärischen Fachzeitschrift des Generalstabes, erschienene Aufsätze über die neuesten Entwicklungen der gegnerischen Armeen ausgewertet. Militärfachzeitschriften waren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg das Medium einer militärfachlichen Diskussion und der Fortbildung des deutschen Offizierkorps.67 Besonders die zumeist durch Generalstabsoffiziere verfassten Aufsätze über die neuesten Entwicklungen in der französischen und russischen Armee sind hier interessant.68 Als weitere mit dem Generalstab verbundene Militärfachzeitschrift bietet zudem das »Militär-Wochenblatt« einige Einblicke. Auch die veröffentlichten Schilderungen und Zusammenfassungen der Generalstabsreisen Alfred von Schlieffens lassen Rückschlüsse auf die deutschen Informationen über Russland und Frankreich zu, da die deutschen Erkenntnisse in die Anlage der Planspiele mit einflossen.69 Daneben ermöglichen die persönlichen Berichte, Tagebücher und Memoiren einiger Generalstabsmitglieder Einblicke in Arbeitsablauf und Organisation der Behörde.70 Hinweise zur Zusammenarbeit 64 65 66 67 68 69 70 Die Werke umfassen mehrere hundert Seiten und thematisieren die gesamte Bandbreite der Armeeverhältnisse der betreffenden Staaten. Siehe Die Russische Armee; Die französische Armee (1909) und Die französische Armee (1913). Taschenbuch des Generalstabsoffiziers. Hermann von Santen, »Geschichte der Familie von Santen«. Unveröffentlichtes Typoskript, im Privatbesitz von Karl-Peter Ehlermann, Wennigsen, Bd 10, S. 347. Ich danke dem Eigentümer ganz herzlich für die Möglichkeit, die Erinnerungen von Santens einsehen zu dürfen. Zum »roten Esel« siehe auch Mombauer, Helmuth von Moltke, S. 39, und Foerster, Ist der deutsche Aufmarsch 1904 an die Franzosen verraten worden?, S. 1059. Es ist nicht verwunderlich, wenn die französische Armee in den Besitz des geheimen Buches gelangen wollte. Das Bemühen des Gegners veranlasste Moltke, das gesamte deutsche Heer zur Sorgfalt im Umgang mit dem »roten Esel« zu mahnen. Zudem sollten alle älteren Exemplare vernichtet werden. Siehe Foley, Der Schlieffenplan, S. 108. Dementsprechend wenige Offiziere hatten Zugriff auf das Buch. Beispielsweise besaß der deutsche Attaché in Wien, Karl von Kageneck, obgleich selbst auch Generalstabsoffizier, kein solches Taschenbuch. Moltke an Kageneck, 27.10.1906, PA-AA, MA-W, Bd 154. Müller, Militärfachzeitschriften, S. 15, und Pöhlmann, Das unentdeckte Land, S. 27‑39. Zwischen 1904 und 1914 erschienen 38 Aufsätze über die französische und 13 Aufsätze über die russische Armee. Dies macht somit 16 % von den insgesamt 322 erschienenen Artikeln aus. Schlieffen, Dienstschriften, Bd 2. Zu nennen sind hier vor allem die Erinnerungen von Ludendorff, Mein militärischer Werdegang; Groener, Lebenserinnerungen; Die Aufzeichnungen des Generalmajors Max Hoffmann, Bd 1 und 2; Lenski, Aus den Leutnantsjahren; Lenski, Lern- und Lehrjahre, und Freytag-Loringhoven, Menschen und Dinge. Allerdings liegt der inhaltliche Schwerpunkt I. Einleitung 16 des deutschen Generalstabs mit seinem österreichisch-ungarischen Gegenstück liefern die Memoiren des ehemaligen k.u.k. Generalstabschefs, Franz Conrad von Hötzendorf, der darin viele Schriftwechsel mit seinem Kollegen Moltke wiedergibt.71 3. Begrifflichkeiten, theoretisches Rahmenfeld und Methoden der Analyse Der Begriff »Information« ist im wissenschaftlichen Diskurs äußerst vielfältig und teilweise auch widersprüchlich definiert worden.72 Mit Blick auf das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit wird eine Information als Unterrichtung über eine bestimmte Sache oder einen bestimmten Tatbestand verstanden. Dabei muss eine Information nicht unbedingt Neuigkeiten enthalten. Vielmehr kann sie bereits bestehende Kenntnisse bestätigen oder falsifizieren.73 Auch muss eine Information nicht unmittelbar zu Entscheidungsprozessen führen, sondern kann zunächst unwichtig erscheinen.74 Eine mithilfe einer Information erfolgte Unterrichtung kann sowohl richtig als auch falsch sein. Im letzteren Fall würde man von einer Fehlinformation sprechen. Steckt hinter der Weitergabe von Fehlinformationen eine gezielte Absicht, lässt sich von einer Desinformation sprechen.75 Der deutsche Generalstab verwendete häufig den Begriff »Nachricht«, der, sofern er der vorgenannten Bestimmung des Terminus »Information« entspricht, synonym verwandt wird. 71 72 73 74 75 der Memoiren durchweg auf den Erlebnissen der Verfasser im Ersten Weltkrieg, sodass andere Lebensstationen oftmals zu kurz kommen. Von großer Bedeutung ist daneben das Werk des ehemaligen Chefs der 3. Abteilung, Hermann von Kuhl, über den deutschen Generalstab und seine Vorbereitung auf den Krieg. Kuhl paraphrasiert mehrere wichtige Denkschriften des Generalstabs, erläutert recht ausführlich dessen Einschätzungen der russischen und französischen Armee und lässt den Leser zudem an seinen in der Militärbehörde gemachten Erfahrungen teilhaben. Siehe Kuhl, Der deutsche Generalstab. Durch zahlreiche Auslassungen verfälscht sind die Erinnerungen Helmuth von Moltkes. Nach seinem Tod durch seine Frau veröffentlicht, fehlen etliche Moltke in ein schlechtes Licht rückende Passagen. Auch sonst hält die Edition kritischen Standards nicht stand. Siehe Moltke, Erinnerungen, Briefe, Dokumente. Zum Quellenwert siehe Mombauer, Helmuth von Moltke, S. 6‑8. Die vor einigen Jahren edierten erweiterten persönlichen Schriften Moltkes helfen der Untersuchung ebenfalls nur in geringem Maß weiter und enthalten wenig Neues. Siehe Helmuth von Moltke, Bd 1. Conrad von Hötzendorf, Aus meiner Dienstzeit, Bd 1 bis 3. Sascha Ott nennt in seiner grundlegenden Studie über die Genese und Anwendung des Begriffs »Information« allein sechs Definitionsklassen, die von materie- und strukturbezogenen bis hin zu empfänger- und wirkungsbezogenen Gesichtspunkten reichen. Ott, Information, S. 35‑39. Ebd., S. 39, und Brendecke/Friedrich/Friedrich, Information als Kategorie, S. 16 f. Feldman/March, Information in Organizations, S. 174. Herman definiert Desinformation als »[t]hose measures designed to mislead the enemy by manipulation, distortion or falsification of evidence to induce him to react in a manner prejudicial to his interests.« Herman, Intelligence Power, S. 170. I. Einleitung 17 Politiker, Militärs und andere Entscheidungsträger, die Entscheidungen treffen, »tun dies«, wie Gottfried Niedhart darlegt, »indem sie Informationen sammeln und Einschätzungen vornehmen. Kurz: sie sind mit der Realität verbunden, indem sie sie perzipieren.«76 Im Zuge dessen ist es aufschlussreich, welche Perzeptionen Akteure oder Institutionen von ihrer jeweiligen Realität vornehmen und worauf sich diese gründen. Robert Jervis votiert in seiner grundlegenden Studie über die Bedeutung von Wahrnehmungen in der internationalen Politik für die stärkere Einbeziehung von Überzeugungen, Weltanschauungen und Fremdund Feindbildern.77 Jervis weist darauf hin, dass Entscheidungsträger aus einer Flut ihnen zur Verfügung stehender Informationen meistens jene auswählten, die ihrer zuvor gebildeten Meinung oder ihrem Wertesystem am ehesten entsprachen und damit äußerst »subjektiv« handelten.78 Vorhandene Wertesysteme verfestigen sich auf diese Weise rasch zu Dogmen, die selbst dann nicht oder nur zögernd aufgegeben werden, wenn sie durch neue Informationen in Frage gestellt oder gar widerlegt werden. Eine realitätsnahe Perzeption wird somit nicht zwangsläufig von der Menge des Informationsaufkommens bedingt, da Wahrnehmung immer auch selektiv verfährt. Stereotype, Vorurteile, Fremd- oder Feindbilder beeinflussen dabei ebenso die Selektion wie vorherrschende Ideologien.79 Auch schlagen sich in den Perzeptionsmustern der Akteure gleichermaßen Wünsche und Ängste nieder.80 Gerade nationale Stereotype und Vorurteile spielen für die vorliegende Arbeit eine wichtige Rolle.81 Sie tauchen in den hier benutzten Quellen immer wieder unter dem Begriff »Nationalcharakter« auf, der von deutscher Seite der französi76 77 78 79 80 81 Niedhart, Selektive Wahrnehmung, S. 145. Jervis, Perception and Misperception, S. 29, und Lindemann, Die Macht der Perzeptionen, S. 16. Jervis, Perception and Misperception, S. 29. Frank, Mentalitäten, S. 170‑180, und die dortigen Definitionen der Begriffe. Bormann, Furcht und Angst sowie Förster, Angst und Panik. Die Arbeit folgt der Stereotyp-Definition von Bausinger: »Stereotypen sind unkritische Verallgemeinerungen, die gegen Überprüfung abgeschottet, gegen Veränderung resistent sind«. Sie weisen erstens in der Regel einen »relative[n] Wahrheitsgehalt« auf, da sie meist aus Überverallgemeinerungen tatsächlicher Merkmale entstehen; zweitens ordnen sie »diffuses Material und reduzieren Komplexität«; drittens bieten Stereotype »Identifikationsmöglichkeiten an, über die neue Realbezüge entstehen können«. Bausinger, Name und Stereotyp, S. 13. Kleinsteuber weist daraufhin, dass diese Art der Simplifizierung sowohl eine gut- als auch eine bösartige Tendenz aufweisen kann. Im Gegensatz dazu gehen Vorurteile noch einen Schritt weiter, indem sie Fremdes herabsetzen und negative »Gefühlsurteile« transportieren. Kleinsteuber, Stereotype, Images und Vorurteile, S. 65. Zur Unterscheidung der beiden Begriffe siehe auch Konrad, Stereotype in Dynamik, S. 5‑103. Darüber hinaus siehe auch die Definitionen bei Orlowski, Die Lesbarkeit von Stereotypen. Die im Hinblick auf die deutsche Bewertung der beiden gegnerischen Armeen einflussreichen Stereotype und Fremdbilder sind von der historischen Forschung bereits untersucht worden. Zum deutschen Frankreichbild siehe Fischer, Das Bild Frankreichs; Hewitson, National Identity; Jeismann, Das Vaterland der Feinde; Kaelble, Wahrnehmung der Industrialisierung, und Nolan, The Inverted Mirror. Zum deutschen Russlandbild siehe Buch, Rußland als militärische Bedrohung; Hecker, Zwiespältige Projektionen; Hoensch, Die Deutschen und ihre slavischen Nachbarn; Jahn, »Zarendreck, Barbarendreck«; Jahn, Befreier und halbasiatische Horden; Jaworski, Osteuropa; Koenen, Der RusslandKomplex; Lemberg, »Der Russe ist genügsam«, S. 122‑124; Luks, Anmerkungen zum 18 I. Einleitung schen und russischen »Nation« zugeschrieben und auf die gesamte Bevölkerung des jeweiligen Landes übertragen wurde. Auch die Selbstwahrnehmung ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung.82 So ist danach zu fragen, wie der Generalstab sich selbst und die deutsche Armee bewertete und welche Urteile er im Rückschluss über die Heere Frankreichs und Russlands fällte. Bei der vorliegenden Untersuchung sind Perzeptionen von Einzelpersonen und solche der Institution des Generalstabs zu unterscheiden.83 Dabei erscheint es wichtig, den Prozesscharakter von Perzeptionen zu erfassen. Hier gilt es zum einen durchgängige Wahrnehmungen und zum anderen eventuell vorhandene Akzentverschiebungen oder einen groß angelegten Wandel in den deutschen Bewertungen über die französische und russische Armee zu analysieren.84 Schließlich müssen auch die Perzeptionen von bestimmten außenpolitischen Krisen oder aktuellen Bedrohungsszenarien – hier etwa der beiden Marokkokrisen, der bosnischen Annexionskrise, der Balkankrise im Winter 1912/13 und der Liman-von-Sanders-Krise – mit in den Blick genommen werden. Die folgende Analyse der hier unter dem behelfsmäßigen Oberbegriff »Feindaufklärung« gefassten Sammlung, Analyse, Bewertung und Nutzung von Informationen des deutschen Generalstabs bezüglich der Armeen Frankreichs und Russlands orientiert sich theoretisch am Rahmenfeld der modernen intelligence theory und praktisch an den zeitspezifisch begrenzten Möglichkeiten und Tätigkeiten des deutschen Generalstabs. Mit intelligence bezeichnet die intelligence theory hier sowohl eine besondere Form von erworbenen Informationen als auch ihren Erwerb, ihre Analyse und ihre Anwendung und Weitergabe.85 Mithilfe von Informationen die bestehende Unsicherheit bei Entscheidungsträgern zu verringern, um ihnen so eine Unterstützung bei ihren Entscheidungen zu geben, ist das dauerhafte Ziel und der Zweck von intelligence.86 Sie soll gewissermaßen als Multiplikator der eigenen Kräfte und Ressourcen-Optimierer dienen.87 82 83 84 85 86 87 westlichen Russlandbild; Paddock, Creating the Russian Peril, und Lindemann, Die Macht der Perzeptionen. Niedhart, Selektive Wahrnehmung, S. 150‑153 und 156, sowie Marmetschke, Feindbeobachtung und Verständigung, S. 13‑35. Siehe dazu Ferris, The Power Capabilities. Zahlreiche Studien haben sich speziell mit der Rolle der Perzeptionen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschäftigt. Zu nennen sind in erster Linie Snyder, The Ideology of the Offensive, vor allem S. 15‑40; Snyder, Perceptions of the Security Dilemma; Evera, The Cult of the Offensive, und – speziell auf die Vorstellung gemünzt, ein Krieg sei unvermeidbar – Mommsen, Der Topos vom unvermeidlichen Krieg. Niedhart, Selektive Wahrnehmung, S. 148 f. Siehe auch Wohlforth, The Perception of Power, S. 368‑381. Jakob, Geheime Nachrichtendienste, S. 40‑42. Der Autor summiert damit alle gängigen Definitionen von intelligence. Vgl. auch Jackson/Siegel, Introduction, S. 2‑5. Eine kurze und verständliche Definition liefert Schimmelpenninck van der Oye, Reforming Military Intelligence, S. 133. Siehe auch Warner, Wanted. Nach wie vor streitet die Forschung über eine einheitliche Definition. Bell, Britische Feindaufklärung, S. 27. Jackson, Historical Reflections, S. 12: »the proper role of intelligence is to reduce uncertainty.« Kahn, An Historical Theory of Intelligence, S. 81, und Bell, Britische Feindaufklärung, S. 28 f.