Zitierhinweis copyright Gehrmann, Rolf: Rezension

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Gehrmann, Rolf: Rezension über: Kerstin Brückweh, Menschen
zählen. Wissensproduktion durch britische Volkszählungen und
Umfragen vom 19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter, Berlin: De
Gruyter, 2015, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte, 2016, 4, S. 527-528, DOI:
10.15463/rec.1486597363
First published: Vierteljahrschrift für Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte, 2016, 4
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Rezensionen
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Ergebnisse gründen auf detaillierter Recherche, auf der Mehrstimmigkeit der Argumentationen
und nicht zuletzt auf dem Bemühen, Verbindungslinien zwischen den maßgeblichen AkteurInnen
nachzuzeichnen.
Margareth Lanzinger
Wien
VSWG 103, 2016/4, 527–528
Kerstin Brückweh
Menschen zählen. Wissensproduktion durch britische Volkszählungen
und Umfragen vom 19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter
(Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 76).
De Gruyter / Oldenbourg, Berlin / Boston 2015, 426 S. (31 Abb., 23 Tab.), 64,95 €.
Volkszählungen sind eine wichtige Quelle für die historischen Sozialwissenschaften. Sie erfreuen
sich gerade in letzter Zeit in der historischen Demographie und Familienforschung steigender Beliebtheit (siehe die Projekte NAPP oder MOSAIC zur elektronischen Erfassung von Mikrodaten).
Auf der anderen Seite scheint sich die Zeit der klassischen Volkszählungen in den Industriestaaten
dem Ende zuzuneigen. Eine Diskussion über den Sinn solch aufwendiger Erhebungen findet auch
im Vereinigten Königreich seit dem Zensus von 2011 statt. Das allein wäre schon Anlass genug, sich
mit der Geschichte dieser Art von Datensammlung und damit im allgemeineren Sinne mit der Entstehung von quantitativen Informationen sowie der Entwicklung der dahinter stehenden Konzepte
kritisch auseinanderzusetzen. Laut Kerstin Brückweh, die diesem Thema ihre Habilitationsschrift
gewidmet hat, führt eine solche Arbeit „ins Zentrum gesellschaftlicher Debatten um das digitale
Zeitalter“, indem sie einen „Einblick in die Fertigungshallen sozialer Fakten“ vermittelt. Dieser Anspruch ist vielleicht etwas hoch gesteckt, denn oftmals lassen sich die verwaltungsinternen Prozesse
nicht mehr genau rekonstruieren. Richtig und wichtig ist aber, dass die Arbeit eine solide Darstellung über die Entwicklung des Volkszählungswesens in einem liberalen Staat liefert, der zunächst
mit der Einrichtung einer solchen zentralen Instanz zum Sammeln demographischer und sozialer
Daten gezögert hatte. Obwohl England einige Pioniere der Demographie gestellt hatte, fand die erste britische Zählung erst 1801 und damit später als in den großen kontinentalen Monarchien statt.
Ab 1841 kann man von modernen Volkszählungen sprechen. Was wollte man zu welchem Zweck
wissen und mit welchen Methoden erfahren? Um diese Fragen zu beantworten, bezieht die Autorin
die seit den 1920er Jahren aufkommende Marktforschung und deren Umfragemethoden ein. Sie
gliedert ihre Studie in drei Hauptteile: zu den Akteuren und Methoden, den Einteilungskriterien
Klasse und Raum und den politischen Entscheidungsprozessen.
Bemerkenswerterweise trifft auf die Zensusfragen nicht pauschal die Vermutung zu, dass die
Neugier des Staates zu einer stetigen Ausweitung der Anzahl der Items geführt hätte. Hier setzten
schon die Kosten enge Grenzen. Von 1841 bis 1961 wurden nur fünf bis zwölf Merkmale erhoben;
erst der Einsatz der EDV führte zu einer Zunahme von 29 Fragen 1971 auf 56 Fragen 2011. Wie das
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© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016
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rezensionen
Beispiel der USA zeigt, scheint damit aber der Höhepunkt überschritten zu sein. Einem Verzicht
auf solche Erhebungen redet die Autorin indes nicht das Wort, da ihr zufolge Daten sonst nur noch
hinter verschlossenen Türen erhoben würden und der „zirkuläre Prozess der Wissensproduktion“
zu Ende wäre. Dieser verstärkte sich parallel zu den erweiterten technischen Möglichkeiten, wie
Brückweh anhand der Debatte um die Erhebung ethnischer Merkmale zeigen kann. Auch zu weiteren Themen und den dahinter stehenden Anschauungen und Interessen gibt sie aufschlussreiche
Belege – so zur Problematik der „class“, eine dem Selbstverständnis der englischen Gesellschaft
konforme Kategorie, deren Konfektion auf der Grundlage von Berufen lange Zeit konstant blieb.
Von mehr historischem Interesse sind die Fragen nach den „disabilities“, insbesondere „deaf-anddumb“ und „lunatic“, die ebenfalls in Fallstudien vorgestellt werden. Im Zuge der Ermittlung von
Problemgruppen sollte der Bedarf an Hilfsangeboten geschätzt werden, als Teil einer langfristigen
Entwicklung hin zum Wohlfahrtsstaat (S. 25). Mit diesen Kriterien folgte England letztlich den
Vorgaben des Ersten Statistischen Kongresses in Brüssel 1853. Die von Anfang an vorhandenen definitorischen Probleme und die praktische Unmöglichkeit, Personen als „imbecile or idiot“ oder
„lunatic“ zu registrieren, setzten dieser Episode 1921 ein Ende, ohne der Eugenik einen Raum zu
öffnen. Insgesamt erfüllt das Buch also auch die Rolle eines Nachschlagewerks für vergleichende
Untersuchungen, wie sie uns in dieser Breite für Deutschland fehlen.
Rolf Gehrmann
Frankfurt (Oder)
VSWG 103, 2016/4, 528–529
Susanne Businger
Stille Hilfe und tatkräftige Mitarbeit. Schweizer Frauen und die Unterstützung
jüdischer Flüchtlinge, 1938–1947
Chronos, Zürich 2015, 367 S., 62,00 €.
Die Flüchtlingspolitik der Schweiz während der Zeit des Nationalsozialismus ist eine sehr kontrovers diskutierte Thematik, die die Schweizer Öffentlichkeit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges
immer wieder beschäftigte. Dabei steht der Umgang mit den durch den Rassenwahn des nationalsozialistischen Deutschlands existenziell bedrohten Jüdinnen und Juden im Zentrum der Diskussionen. Die Schweiz war als neutrales und unbesetztes Land zwar nicht direkt von der deutschen
Judenvernichtungspolitik betroffen, doch die Frage, wie viele Menschen die Schweiz vor der Ermordung hätte retten können, bleibt bis heute sehr sensibel und erregt immer wieder die Gemüter.
Während politisch-konservative Kreise die Großzügigkeit der Schweiz betonen und „objektive“
Gründe, wie die Angst vor dem übermächtigen Nachbarn oder drohende Versorgungsengpässe bei
einem unkontrollierten Zustrom von Flüchtlingen, ins Feld führen, nennt das links-liberale politische Spektrum, gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse, Fremdenfeindlichkeit und spezifisch
Antisemitismus als Gründe für die fehlende Bereitschaft der Schweizer Behörden, die Grenzen für
die verfolgten Jüdinnen und Juden grundsätzlich zu öffnen.
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