Die Angst vor der Hölle trieb die Gläubigen zu Bußübungen und Ablasszahlungen. Auch das Geschäft mit Reliquien blühte. Strafvollzug im Jenseits „Das Jüngste Gericht“ Fresko (Ausschnitt) von Giotto di Bondone in Padua, um 1305 46 MÖNCHE UND KLERUS in der vom Glauben beherrschten Welt verpfändete Krone und machte sie zum des Mittelalters Arbeit am Seelenheil. Mittelpunkt des prachtvollen Reliquienn der Hölle erwartet Wucherer Dem Reliquienkult lag die Vorstellung schreins seiner dafür eigens erbauten ein kochender See aus Eiter und von einer zweifachen Gegenwart des „Sainte Chapelle“ in Paris. Einzelne DorBlut. Mörder kommen in ein en- Heiligen zugrunde: einerseits spirituell nen, „spinae Christi“, wurden im 13. ges Gelass, wo Reptilien auf ih- am Throne Gottes im Himmel, anderer- Jahrhundert in juwelengeschmückte nen herumkriechen. Wer die Ge- seits im sterblichen Leib, der auf Erden Herrscherkronen eingearbeitet. Göttliches Heil und himmlischen rechtigkeit verhöhnt hat, wird über lo- des Jüngsten Gerichts harrte. Weil Gottes Sohn, wie allseits be- Schutz suchten Pilger im Hochmittelalderndem Feuer an der Zunge aufgehängt. So eindringliche Bilder vom ewigen kannt, leiblich zum Himmel aufgefahren ter bei dem, was im Dom zu Trier als Grauen beschwor schon die erste minu- war, kamen als körperliche Christus-Re- Jesu Heiliger Rock, im Aachener Dom tiöse Beschreibung der christlichen Höl- liquien allenfalls Nabelschnur, Vorhaut als Windeln und Lendentuch, Gürtel le, die Apokalypse des Petrus im 2. Jahr- oder Milchzähne in Betracht. „Doch und Geißelstrick des Gekreuzigten vorhundert. Indem die neue Jesus-Religion zweifelten schon Kritiker des Mittelal- gezeigt wurde. Umbettungen („Translationen“ oder sich allmählich in Europa ausbreitete, ters an der Echtheit solcher Überbleibmalten Kirchenväter und fromme Visio- sel, da man sie seinerzeit aufzubewah- „Translokationen“) verstorbener Heilinäre, Künstler und Dichter immer de- ren kaum für wert befunden hätte“, ger waren gang und gäbe, so dass Transtaillierter die Schrecken der Strafvoll- schreibt Anton Legner in seiner Studie lationsberichte eine eigene Quellenart „Reliquien in Kunst und Kult“. wurden. Der Karolinger-Kaiser Lothar zugsanstalt im Jenseits aus. etwa bat im 9. Jahrhundert brieflich um Im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter entwickelte Papst Gre- Als echte Heiligtümer gingen dage- Märtyrer-Reliquien aus Rom, die unter gor der Große im 6. Jahrhundert die gen sogenannte Berührungsreliquien den frisch vom Heidentum bekehrten, Grundzüge der Lehre, nach der das ewi- durch – Gegenstände, denen durch Kon- noch nicht in Frömmigkeit gefestigten ge Feuer nicht nur für Heiden da sei: takt mit Jesus Heiligkeit zugewachsen Grenzvölkern den Glauben stärken sollAuch getaufte christliche Sünder fahren war: das Kreuzesholz („lignum crucis“), ten. Oft gelangten freilich nur Teile der zur Hölle. Doch haben sie, wenn ihre die Kreuzesnägel, die Dornenkrone und heiligen Leiber an den neuen Ort. In solÜbeltaten nicht zu schwer wiegen, in ei- andere Passionswerkzeuge oder das chen Fällen war ein und derselbe Heiliner oberen Höllenregion immerhin noch Grabtuch. Seit der Ära des römischen ge, wie der Historiker Legner trocken eine Chance zur Läuterung. Diese Idee Christianisierungs-Kaisers Konstantin anmerkt, „nicht nur im Himmel und auf vertiefte die erst im Spätmittelalter aus- waren zahllose Späne vom angeblich Erden, sondern auch hienieden mehrgereifte Glaubensvorstellung vom reini- „wahren Kreuz“ Christi, der höchsten fach präsent“. Die Stadt Köln wurde zu einem der genden Fegefeuer („Purgatorium“). Reliquie des Jesus-Glaubens, in Umlauf. Dante Alighieri schuf in den konzentriDas Rohrgeflecht der – wie es hieß – wichtigsten Pilgerorte des Mittelalters schen Kreisen seiner „Divina Comme- Dornenkrone Christi wurde im Jahr und zum frühesten urbanen Zentrum in dia“ eine poetisch vollendete, ausgezir- 1063 von Jerusalem nach Konstantino- deutschen Landen, nachdem Erzbischof kelte Hölle. pel überbracht. König Ludwig der Hei- Rainald von Dassel im Jahr 1164 die GeDer imaginäre Ort stellte für die Men- lige von Frankreich, Anführer zweier beine der Heiligen Drei Könige von Maischen jener Ära eine beängstigend reale Kreuzzüge, kaufte 1239 für eine immen- land nach Köln hatte bringen lassen. Es Drohung dar. Nur den wenigsten schien se Summe die inzwischen nach Venedig handelte sich um Kriegsbeute des Kaies möglich, ein so gottgefälliges Leben zu führen, dass sie den Status von Heiligen erwarben, denen ein Platz im PaReformations-Flugblatt radies sicher war. Ein Normalsünder gegen den Ablasshandel, musste sich mit regelmäßiger Beichte um 1530 begnügen. Er konnte nur hoffen, der Hölle zu entgehen, wenn er die vom Priester auferlegte Buße übte – kürzeres oder längeres Fasten, Gebete verschiedenster Art, die Mitarbeit am Kirchenbau und anderes mehr. Erst die Sündentilgung („Ablass“) durch Geld sollte im späteren Mittelalter einen neuen Rettungsweg eröffnen. Um die Angst vor der ungewissen Zukunft im Jenseits zu verringern, suchte man schon im frühen Christentum die handfeste Nähe zum Religionsstifter, zu verfolgten Märtyrern und zu anderen Kirchenheiligen – in Überbleibseln, „Reliquien“, ihrer irdischen Existenz. Das Bestreben, durch Reliquien ein wenig Heiligkeit abzubekommen, war Von RAINER TRAUB CAMERAPHOTO / AKG (L.); AKG (R.) I SPIEGEL GESCHICHTE 4 | 2013 47 MÖNCHE UND KLERUS Nach dem Maßstab ihrer Ära waren die Menschen vor allem Sünder. Seit dem Frühmittelalter fanden die Priester in „Bußbüchern“ die Tarifstrafen für jede erdenkliche Verletzung kirchlicher Gebote. Immerhin entstanden ab dem 7. Jahrhundert allerlei Formen der Bußlinderung. Ein strenges Fasten war zum Beispiel durch Gebet und fromme Werke ersetzbar. Man kann diese Bußumwandlungen oder „Redemptionen“ als Keim eines Tauschgeschäfts verstehen, das im Lauf von Jahrhunderten auch mit Geldzahlungen abzuwickeln war. Es wuchs sich schließlich zum ökonomisch-religiösen Komplex des „Ablasshandels“ aus, an dem sich zahllose geistliche Würdenträger und Päpste bereicherten. Außerdem gab es schon im 11. Jahrhundert Bußerlässe, die etwa für Schenkungen an Kirchen oder für Wallfahrten gewährt wurden. Papst Alexander II. (1061 bis 1073) räumte besonders RomPilgern Bußrabatte ein. Auch für den Einsatz in Glaubenskriegen gegen die Mauren in Spanien oder gegen die Sarazenen in Afrika gewährten mehrere Päpste generelle Ablässe. Nicht jeder Stellvertreter Gottes differenzierte dabei so fein wie 1128 Honorius II.: Wer im Krieg gegen Roger II. von Sizilien sein Leben ließ, bekam postum alle Bußstrafen erlassen – Überlebende mussten sich mit einem Rabatt von 50 Prozent begnügen. Mit den Kriegszügen ins Heilige Land erreichten derartige „Kreuzzugsablässe“ ihren Höhepunkt. 48 Im 12. Jahrhundert schuf die römische Kurie die „Apostolische Pönitentiarie“ – eine Behörde zur Vergabe und Verwaltung von Ablässen. 1274 wurde das Fegefeuer auf dem Konzil in Lyon zur offiziellen Kirchendoktrin erklärt. Fortan galt: Im Fegefeuer werden postum all jene von ihren Sünden gereinigt, die weder gut genug sind, um sofort ins Paradies zu kommen, noch dermaßen sündhaft, dass sie ewig im Höllenfeuer leiden müssen. Allerdings schien den meisten Zeitgenossen schon die Aussicht auf ein ausgedehntes Purgatorium statt des ewigen Höllenfeuers grausig genug. Frühere Ablassformen waren inzwischen weitgehend durch GeldzahlunArmreliquie der Heiligen Elisabeth gen verdrängt worden. Die Handel treibende Bürgerschicht stieg gesellschaftlich auf, der Frühkapitalismus entstand. Mit der Ausbreitung der Geldwirtschaft etablierte sich eine rationelle Buchführung. Auch in der irdischen Justiz wurde der Ruf nach deliktgerechten Strafen laut. All dies schuf einen „günstigen Rahmen für eine Quantifizierung der Buße im Fegefeuer“, wie der Historiker Georges Minois („Die Hölle. Zur Geschichte einer Fiktion“) schreibt: „Nun kann das große Feilschen beginnen.“ Ablassbriefe wurden von Päpsten und Bischöfen ausgestellt. Reiche Kaufleute, die wegen ihrer Habgier von Verdammnis bedroht waren, erkauften sich mit großen Schenkungen ihr Seelenheil, manch einer sogar die Heiligsprechung. Der prunkvolle, 1626 eingeweihte Petersdom in Rom, dessen Bau mehr als ein Jahrhundert in Anspruch nahm, wurde wesentlich durch Ablässe finanziert. Die Rettung vor der Hölle konnte jetzt mit ganz diesseitigen Mitteln gesichert werden. Der Wirtschaftswissenschaftler Achim Mayer hat das Geschäft mit der Angst als „Päpstliches Marketing im 13. Jahrhundert“ analysiert. Die Konsequenz, mit der er ökonomische Begriffe und Formeln von heute auf Glaubenslehre und Geschäfte der mittelalterlichen Kirche anwendet, ist erhellend, entbehrt aber auch nicht der Komik. Ablasszahlungen erklärt Mayer als „Versicherungsprämien für die Fegefeuerversicherung“, kirchliche Bußbücher als „Instrumente der Preisbindung“. Ins Fegefeuer zu kommen ist demnach ein Schadensfall, gegen den sich ein risikoscheuer Mensch versichern kann. „Weiterhin erhöhte die Lehre und Praxis der Kirche im Zusammenhang mit dem Fegefeuer die Nachfrage nach diesem Produkt.“ Damit habe Rom „Marketing im ureigensten Sinn“ betrieben: der „Schaffung und Ausweitung von Bedürfnissen“. Der Frontalangriff der lutherschen Reformation gegen diese Art frommer Marktwirtschaft, die finanzkräftigen Sündern das Sterben und kapitalhungrigen Klerikern das Leben versüßte, provozierte ab 1517 naturgemäß den geballten Widerstand der katholischen Kirche. Auf lange Sicht bewirkte der Protestant aus Wittenberg aber sogar in Rom eine Mini-Reformation: Der Geldablass ist abgeschafft. ■ SPIEGEL GESCHICHTE 4 | 2013 SEEGER-PRESS sers Friedrich Barbarossa, dem Rainald als Kanzler diente; nach Mailands Eroberung hatte ihm der Herrscher die heiligen Knochen als Dank überlassen. Angesichts der immensen Bedeutung solcher Besitztümer war Betrug mit gefälschten Reliquien weit verbreitet. Das römische Laterankonzil von 1215 verdammte diese sündige Methode, „Geld zu erraffen“. Zum makabren Missbrauch trieb aber nicht allein materielle Gier, auch Wunderglaube und Seelenangst um den Platz im Jenseits waren starke Motive. Dem aufgebahrten Leichnam der Heiligen Elisabeth von Thüringen (1207 bis 1231) riss man nicht nur Stücke vom Gewand, sondern sogar vom Körper, wie der Zisterziensermönch Caesarius von Heisterbach als Chronist überlieferte: Fromme Reliquienräuber brachten Haare und Nägel an sich, stutzten die Ohren der Heiligen und säbelten sich ihre Brustwarzen ab.