5.3 Die Hawking-Laughlin-Debatte Reduktionistische und emergente Physik Zum Thema: Seit die Physik als eigenst€ndige Wissenschaft betrieben wird, ist die reduktionistische Sicht- und Arbeitsweise die Richtschnur der Physiker. Schon Galilei musste versuchen, St•reffekte auszuschliessen, damit er sein Fallgesetz formulieren konnte. Ren‚ Descartes hatte die ƒberzeugung, dass alles im Universum nach streng mathematischen Gesetzen ablaufe. Auch die Idee, dass man ein kompliziertes System dadurch einer mathematischen Beschreibung zug€nglich machen kann, indem man es in Teilsysteme zerlegt und diese analysiert, geht auf Descartes zur„ck. Heutzutage versucht man mit Hilfe der grossen Beschleuniger immer tiefer in die Materie vorzudringen und man m•chte wissen, ‚was die Welt im Innersten zusammenh•lt (Goethe).‘ Die mathematischen Physiker suchen nach einer vereinheitlichen Theorie und nach der Weltformel. Der ‚main stream‘ der heute t€tigen Physiker h€ngt dieser Weltsicht an und in popul€rwissenschaftlichen B„chern wird diese Sicht dem Publikum ‚als der Weisheit letzter Schluss‘ dargestellt. Stephen Hawking hat zusammen mit Leonard Mlodinow diese Weltsicht in seinem Buch ‚Der grosse Entwurf – Eine neue Erkl•rung des Universums‘ ausf„hrlich beschrieben. Nun aber zeigt sich, dass oft das Ganze mehr ist als die Summe der Teile. Solche emergente Systeme zeigen eigene, neue Ordnungssysteme, die auch mit einer Weltformel nicht erkl€rt werden k•nnen. Dies gilt nicht nur f„r physikalische, sondern auch f„r soziale Systeme. In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts kam vor allem aus den Sozialwissenschaften erste Kritik an der reduktionistischen Denkweise auf. Man sprach vom „berholten linearen Denken, dem das vernetzte Denken entgegengesetzt wurde. Dabei sollte die Newton-Kultur durch die New Age – Kultur abgel•st werden. Der grosse Prophet des New Age war aber der Physiker Fritjof Capra mit seinem Bestseller ‚Wendezeit‘ und der Aussage: „Weiterleben kann die Menschheit nur, wenn sie von Grund auf anders denken lernt: komplex statt linear – in Netzen und B…gen statt in Zielgeraden, in Werten statt in Quantit•ten. Denn die Welt ist mehr als die Summe der Teile.“ In der Zwischenzeit ist es wieder ziemlich still um das New Age geworden. Nun aber hat der Nobelpreistr€ger Robert Laughlin die Physiker mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass eine Vielzahl der beobachteten Ph€nomene und Messresultate auf emergenten Eigenschaften der Materie beruhen. Diese Sicht hat er in seinem Buch: ‚Abschied von der Weltformel – Die Neuerfindung der Physik‘ einem breiteren Publikum vorgestellt. Die Kontrahenten: Stephen Hawking wurde am 8. Januar 1942 in Oxford geboren. Von 1979 bis 2009 war er der Inhaber des Lucasischen Lehrstuhls f„r Mathematik an der Universit€t Cambridge (GB), den einst Newton und sp€ter Dirac innehatten. 1963 wurde bei ihm eine schwere Nervenkrankheit (Amyotrope Latheralsklerose – ALS) diagnostiziert, die ihn an den Rollstuhl fesselte. 1985 verlor er seine F€higkeit zu sprechen. Dass er trotz dieser Behinderungen weiter wissenschaftlich t€tig blieb und auch popul€rwissenschaftliche B„cher verfasste, machte ihn zu einer Kultfigur €hnlich wie Albert Einstein. In seinen wissenschaftlichen Arbeiten zeigte er, dass in der Allgemeinen Relativit€tstheorie notwendigerweise Singularit€ten existieren m„ssten. Solche Singularit€ten stellen insbesondere die ‚Schwarzen L•cher‘ dar. 1974 entwickelte er das Konzept der ‚Hawking-Strahlung‘. Danach k•nnen Schwarze L•cher zerstrahlen1. Robert B. Laughlin wurde 1950 in Visalia in Kalifornien geboren. Er studierte an der University of California in Berkley und am MIT in Cambridge, Mas. R.B. Laughlin ist Professor f„r Physik an der Stanford Im Vakuum werden gem€ss dieser Theorie st€ndig Teilchen-Antiteilchen-Paare erzeugt. Die Hawking-Strahlung entsteht, wenn eines dieser Teilchen durch das Schwarze Loch verschluckt wird, das andere aber entkommt. 1 University. F„r die theoretische Erkl€rung des gebrochenen Quantenhalleffekts2 erhielt er 1998 den Nobelpreis f„r Physik. Seine Erkenntnis gilt als Durchbruch beim Verstehen makroskopischer Quantenph€nomene. Das physikalische Weltbild Hawkings kosmologisches Weltbild basiert aus einer Kombination von Einsteins Allgemeiner Relativit€tstheorie und der Quantenphysik. Der Urknall stellt dabei eine Singularit€t in der Relativit€tstheorie dar; in der N€he des Urknalls waren aber die Quantenphysik dominant. Sie wird gest‡tzt durch das Standardmodell der Elementarteilchen. Hawkings Denken ist streng deterministisch, wobei die Naturgesetze alles bestimmen. Etwas vereinfacht kann das Weltbild, wie es von den meisten Physikern zu Beginn des 21. Jahrhunderts angenommen wird, wie folgt beschrieben werden: „Vor rund 13,6 Milliarden Jahren trat ein Zustand h…chster Ordnung und Symmetrie auf einem unvorstellbar kleinen Raum bei ebenso unvorstellbar hohen Temperatur ein. Er entlud sich in einem Urknall, in dem Raum und Zeit sowie Naturgesetze und Naturkonstanten entstanden. Die vier urspr‡nglich vereinigten Fundamentalkr•fte der Gravitation, der starken und schwachen Kernkraft und der elektromagnetischen Kraft spalteten sich auf. (D. Bedenig)“ – Und weiter: ‘Nach einer Inflationsphase entstanden Galaxien und Sterne. Das Universum expandiert seit seiner Entstehung, zuerst mit einer abnehmenden Expansionsrate, nun aber nimmt die Expansionsrate zu. Grund daf‡r ist die Dunkle Energie, welche f‡r rund 70% der Masse/Energie im Universum ausmacht. 25% stammt aus der Dunklen Materie und lediglich 5% aus dem sichtbaren Teil des Universums.‘ Ziel der wissenschaftlichen Forschung in der reduktionistischen Sichtweise der Physik muss es sein, die vereinigte Theorie der Fundamentalkr€fte zu finden. Aus dieser mathematischen Weltformel kann dann die gesamte Entwicklung des Universums vom Urknall bis heute und in der weiteren Zukunft abgeleitet werden. Laughlin ist davon „berzeugt, dass die Physik vom Zeitalter des Reduktionismus ins Zeitalter der Emergenz treten muss. Dabei gelten die Gesetze auf mikroskopischem Massstab weiter. Aber neben dieser tiefsten Stufe gibt es Ordnungsprinzipien auf h•herer Stufe, die sich nicht aus der Mikrophysik (Quantenphysik) ableiten lassen. „Die Aussage, das Ganze sei mehr als die Summe der Teile, bezeichnet also – das jedenfalls hat uns die wissenschaftliche Physik mitzuteilen – nicht nur eine blosse Vorstellung, sondern ein physikalisches Ph•nomen.“ Und weiter: „Ich bin zunehmend davon ‡berzeugt, dass alle und nicht nur einige der uns bekannten physikalischen Gesetze aus kollektivem Geschehen hervorgehen. Anders gesagt, die Unterscheidung zwischen grundlegenden Gesetzen und den aus ihnen hervorgehenden Gesetzen ist ebenso ein Mythos wie die Vorstellung, das Universum allein durch die Mathematik beherrschen zu k…nnen.“ In der Weltsicht von Laughlin ist es deshalb sinnlos, nach einer Weltformel zu suchen. Zudem will er die Physik auf ihre eigentliche Aufgabe zur„ckf„hren. Eine korrekte physikalische Theorie muss deshalb in der Lage sein, bestimmte Experimente verl€sslich vorherzusagen. Nur dann kann durch das Experiment bewiesen werden, dass die Theorie korrekt ist. Alles andere, wie zum Beispiel das Standardmodell der Kosmologie, ist Spekulation. Die Nachwirkungen in der Physik Hawkings theoretische Physik, die vom Standardmodell der Kosmologie und der Elementarteilchen ausgeht, macht Vorhersagen, die experimentell nur schwer „berpr„fbar sind. Nur mit den grossen Beschleunigern ist man in der Lage, Spuren der f„r die Wechselwirkungen verantwortlichen Austauschteilchen nachzuweisen.3 Die Messung der fundamentalen Naturkonstanten, die zu diesen Modellen geh•ren – Fritsch z€hlt 23 solcher Konstanten – ist bisher nicht erfolgt. Es bleibt also f„r die Leute im CERN noch viel zu tun. Dabei treten unerwartet gebrochenzahlige Quantenzust€nde auf. Dabei tritt eine Quantenfl„ssigkeit, bestehend aus Quasiteilchen mit gebrochener Ladung. 3 Beispiele sind: W- und Z-Bosonen, Gluonen und das vermutete Higgs-Teilchen. 2 Verfechter des kosmologischen Weltbilds – und mit ihnen Stephen Hawking – sind weiter unerm„dlich in der Suche nach einer umfassender Theorie. Da spricht man von der Supergravitation, bei der eine elfdimensionale Welt (Brane) stipuliert wird, welche die Allgemeine Relativit€tstheorie als Spezialfall enthalten soll. Auf der anderen Seite wurden die String- und die Superstringtheorie entwickelt. Die Kombination der beiden spekulativen Theorien f„hrt dann zur M-Theorie und zum Multiversum: „Quantenfluktuationen f‡hren zur Schaffung winziger Universen aus dem Nichts. Einige erreichen eine kritische Gr…sse, expandieren dann inflation•r; in ihnen entstehen Galaxien, Sterne und, mindestens in einem Fall, Wesen wie wir.“ Diese Vorstellungen findet man heute in vielen popul€rwissenschaftlichen B„chern. Leider sind diese Theorien weder verifizierbar noch falsifizierbar. Laughlins Neuerfindung der Physik f„hrt noch nicht zu einem abgerundeten Weltbild. Er fordert einen Paradigmawechsel, und wenn dieser erfolgt, braucht es dazu meistens Jahrzehnte. Zudem lehnt er alles, was nicht den strengen Kriterien seiner physikalischen ƒberzeugung entspricht, kategorisch ab. So lehnt er Computermodelle, wie man sie zum Beispiel bei der Simulation komplexer Ph€nomene und in der Chaostheorie braucht, als nicht wissenschaftlich ab. Zu einem abgerundeten Weltbild m„ssten aber auch Erscheinungsformen der Natur geh•ren, die nicht allein durch die Physik erfassbar sind. Interessanterweise sieht auch Laughlin im Vakuum so etwas wie eine Ursubstanz. „Die moderne, jeden Tag best•tigte Vorstellung des Raumvakuums ist ein relativistischer ˆther. Wir nennen ihn nur nicht so, weil das tabu ist.“ Auch hier ist noch Einiges zu tun, bis eine hieb- und stichfeste Theorie vorhanden und experimentell „berpr„fbar ist.