I II Neuro-Psychopharmaka Ein Therapie-Handbuch Herausgegeben von P. Riederer und G. Laux Band 6 SpringerWienNewYork III Notfalltherapie, Antiepileptika, Psychostimulantien, Suchttherapeutika und sonstige Psychopharmaka Zweite, neu bearbeitete Auflage Mit Beiträgen von A. Batra J. Bauer H. Berzewski S. Bleich J. Böning E. Davids J. Deckert O. Dietmaier Ch. E. Elger W. Fröscher M. Gastpar M. Gerlach C. H. Gleiter A. Heinz A. Heyne G. Hüther T. Kienast J. Kornhuber G. Laux O.-M. Lesch W. Löscher K. Mann A. Meier Th. Messer K. Mörike F. Müller-Spahn Th. Müller K. Pinhard W. E. Platz W. Poser H. Przuntek E. Rüther Ch. Saam N. Scherbaum M. Schmauß L. G. Schmidt G. Schumann J. Seifert M. Soyka J. Treutlein G.-E. Trott S. Walitzka A. Warnke G. A. Wiesbeck J. Wolffgramm N. Wodarz T. Zilker SpringerWienNewYork IV Prof. Dr. PETER RIEDERER Klinische Neurochemie, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universität Würzburg, Deutschland Prof. Dr. GERD LAUX Bezirksklinikum Gabersee Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie, Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München Wasserburg/Inn, Deutschland Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2006 Springer-Verlag/Wien Printed in Austria SpringerWienNewYork ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.at Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch/wissenschaftlichen Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Insbesondere Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eine Haftung des Autors oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. Satz: Grafik Rödl, 2486 Pottendorf, Österreich Druck: Druckerei Theiss Ges.m.b.H., 9431 St. Stefan, Österreich Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier – TCF SPIN: 11316916 Mit zahlreichen Abbildungen Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. ISSN 0937-9401 ISBN-10 3-211-22956-6 SpringerWienNewYork ISBN-13 978-3-211-22956-9 SpringerWienNewYork V Geleitwort zur 2. Auflage Die zum Teil neu konzipierte, aktualisierte Neuauflage des 6. Bandes der Handbuchreihe umfasst die Hauptkapitel Pharmakotherapie neuropsychiatrischer Notfall- und Akutsituationen, Antiepileptika, Psychostimulanzien und Suchttherapeutika. Im einzelnen wird die medikamentöse Behandlung von Notfällen wie Delir, psychomotorische Erregungszustände, Stupor, Katatonie und Suizidalität dargestellt, zusätzlich die intensivmedizinische Versorgung von Psychopharmaka-Intoxikationen. Angesichts der wachsenden Bedeutung werden im Kapitel Psychostimulanzien die Therapiestrategien der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) ausführlich dargelegt. Im Bereich der Suchttherapeutika fanden in den letzten Jahren die größten neurobiologischen und psychopharmakotherapeutischen Evolutionen statt, angesichts der Häufigkeit und Bedeutung von Abhängigkeitserkrankungen erfährt diese Thematik eine besonders fundierte Darstellung unter Einschluss molekularbiologischer Grundlagen und Diagnostik mittels bildgebender Verfahren. Vor dem Hintergrund limitierter empirischwissenschaftlicher Daten nehmen hier Überlegungen zu Modellvorstellungen und methodenkritische Ausführungen breiten Raum ein. Wie das Gesamtwerk folgt auch dieser Band einer stringenten, übersichtlichen Gliederung, illustriert durch zahlreiche Tabellen und Abbildungen. Übersichtstabellen der Einzelpräparate – farblich abgesetzt mit wichtigen praktisch-klinischen Angaben zur raschen Information – runden den Band ab. Unser Dank gilt Frau I. Riederer für organisatorische Hilfe und Sekretariatsarbeit. Dem Springer-Verlag Wien sind wir für die bewährte, gute Kooperation und für die hervorragende Ausstattung des Buches besonders zu Dank verpflichtet. Möge die zweite Auflage die Erwartungen des fachkundig-interessierten Leserkreises erfüllen und dem Facharzt ein aktuelles, nützliches Nachschlagewerk sein. Würzburg, Wasserburg/München, im November 2005 P. RIEDERER G. LAUX VII Inhaltsverzeichnis Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 XI Pharmakotherapie neuropsychiatrischer Notfall- und Akutsituationen . . . . . . . . . 1 1.1 Psychiatrische Notfälle (K. PINHARD und F. MÜLLER-SPAHN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Definition des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Organisatorische Abläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Psychiatrische Notfallsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Forensische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Suizidalität (G. LAUX) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Epidemiologie, Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Abschätzung der Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Ätiopathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.5 Suizidprävention mit Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Intoxikationen mit Psychopharmaka: Intensivmedizinische Versorgung (TH. ZILKER) 1.3.1 Intensivmedizinische Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Vergiftungen durch Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Vergiftungen durch Monoaminoxidaseinhibitoren (MAO-Hemmer) . . . . . . . . 1.3.4 Vergiftungen durch Serotonin-Reuptake-Hemmer und das Serotoninsyndrom 1.3.5 Vergiftung durch Lithiumsalze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.6 Vergiftungen durch Neuroleptika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.7 Vergiftungen durch Carbamazepin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Delir (H. BERZEWSKI) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Epidemiologie, prädisponierende und verursachende Faktoren . . . . . . . . . . 1.4.3 Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Psychomotorische Erregungszustände (H. BERZEWSKI) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Allgemeine Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Diagnose und Differentialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Katatonie, malignes neuroleptisches Syndrom und Stupor (TH. MESSER und M. SCHMAUSS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 1 2 20 26 26 26 29 30 33 37 37 38 44 49 53 56 58 63 63 63 64 77 77 77 78 79 85 87 87 VIII 1.6.2 Psychopathologie des Stupors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.3 Psychopathologie der Katatonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.4 Malignes Neuroleptisches Syndrom (MNS) . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Notfalltherapie beim Parkinsonsyndrom (TH. MÜLLER und H. PRZUNTEK) 1.7.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.2 Akinetische Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.3 Malignes neuroleptisches Syndrom/maligne Hyperthermie . . . . 1.7.4 Psychose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.5 Verwirrtheitszustände und anticholinerges Syndrom . . . . . . . . . 1.7.6 Panikattacken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.7 Serotonerges Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.8 Hedonistische homeostatische Dysregulation/Manie . . . . . . . . 2 3 Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 87 90 97 97 97 97 98 99 99 101 101 Antiepileptika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2.1 Definition, Einteilung, Chemie (CH. E. ELGER und J. BAUER) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Pharmakologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Pharmakokinetik (K. MÖRIKE und CH. H. GLEITER) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Experimentelle und klinische Pharmakologie (W. LÖSCHER) . . . . . . . . . . . . . 2.3 Neurobiochemie, Wirkmechanismen (W. LÖSCHER) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Spannungsabhängige Na+-Kanäle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Spannungsabhängige Ca2+-Kanäle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Spannungsabhängige K+-Kanäle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 GABAerge Inhibition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Glutamaterge Exzitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.6 Wirkungsmechanismen und Wirkungsspektrum von Antiepileptika . . . . . . . 2.4 Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Indikationen (J. BAUER und CH. E. ELGER) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Dosierung (J. BAUER und CH. E. ELGER) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Unerwünschte Wirkungen, Kontraindikationen, Überdosierung, Intoxikation (CH. E. ELGER und J. BAUER) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Interaktionen (CH. E. ELGER und J. BAUER) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.5 Kontrolluntersuchungen (J. BAUER und CH. E. ELGER) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.6 Praktische Durchführung, allgemeine Behandlungsrichtlinien (W. FRÖSCHER) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 106 106 127 136 138 138 139 140 142 142 144 144 155 Psychostimulanzien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3.1 Definition, Einteilung, Chemie (M. GERLACH, S. WALITZA, J. SEIFERT und A. WARNKE) 3.2 Pharmakologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Pharmakokinetik (K. MÖRIKE und CH. H. GLEITER) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Experimentelle und klinische Pharmakologie (M. GERLACH) . . . . . . . . . . . 3.3 Neurobiochemie, Wirkmechanismus (M. GERLACH, S. WALITZA, J. SEIFERT und A. WARNKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Indikationen (A. WARNKE, S. WALITZA, J. SEIFERT und M. GERLACH) . . . . . . . . 3.4.2 Dosierung (A. WARNKE, S. WALITZA, J. SEIFERT und M. GERLACH) . . . . . . . . . . .. .. .. 177 179 179 181 . . . . 186 190 190 191 . . . . 157 163 165 168 IX Inhaltsverzeichnis 3.4.3 Unerwünschte Wirkungen, Kontraindikationen, Überdosierung, Intoxikationen (A. WARNKE, S. WALITZA, J. SEIFERT und M. GERLACH) . . . . . . . 3.4.4 Interaktionen (A. WARNKE, S. WALITZA, J. SEIFERT und M. GERLACH) . . . . . . . . 3.4.5 Kontrolluntersuchungen (A. WARNKE, S. WALITZA, J. SEIFERT und M. GERLACH) 3.4.6 Praktische Durchführung, allgemeine Behandlungsrichtlinien (G.-E. TROTT und A. WARNKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Therapiestrategien bei ADHS (G.-E. TROTT und A. WARNKE) . . . . . . . . . . . . . . . 4 . . . 191 196 196 . . 199 205 Suchttherapeutika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 4.1 Allgemeine und spezielle Modellvorstellungen zur Sucht (J. BÖNING) . . . . . . . . . . . 4.1.1 Präklinische Suchttherapie-Forschung am Tiermodell (J. WOLFFGRAMM und A. HEYNE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Molekularbiologische Grundlagen (CH. SAAM, J. TREUTLEIN und G. SCHUMANN) . 4.1.3 Neurobiologie abhängigen Verhaltens (L. G. SCHMIDT und A. HEINZ) . . . . . . . Exkurs: Bildgebende Verfahren (T. KIENAST und A. HEINZ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Typologien der Alkoholabhängigkeit und ihre Bedeutung für die medikamentöse Therapie (O.-M. LESCH und M. SOYKA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Supportive medikamentöse Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit – Methodenkritik und kontrollierte Studienergebnisse mit serotonergen und dopaminergen Kandidatensubstanzen (G. A. WIESBECK und J. BÖNING) . . . . . . . . . . Exkurs: Abhängigkeit und psychiatrische Komorbidität (N. WODARZ) . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Clomethiazol (W. E. PLATZ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Definition, Chemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Pharmakologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Unerwünschte Wirkungen, Kontraindikationen, Intoxikationen . . . . . . . . . . 4.4 Alkoholentwöhnungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Acamprosat (M. SOYKA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Naltrexon (K. MANN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Disulfiram (W. E. PLATZ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Aldehyddehydrogenase-Hemmstoffe: Disulfiram und Calciumcarbimid (W. POSER und A. MEIER) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4 Potentielle Kandidatensubstanzen (S. BLEICH und J. KORNHUBER) . . . . . . . . . . 4.5 Substitutionsmittel bei Opiatabhängigkeit (N. SCHERBAUM, E. DAVIDS und M. GASTPAR) 4.5.1 Therapieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Empirische Evidenz der Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3 Indikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.4 Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.5 Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.6 Substitutionsbehandlung in der Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Nikotinentwöhnungsmittel (A. BATRA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2 Nicht-medikamentöse Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3 Medikamentöse Hilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 234 269 291 312 332 349 366 376 376 377 379 382 387 387 392 398 410 417 434 434 435 435 436 437 443 446 446 447 448 454 X 5 Inhaltsverzeichnis Sonstige psychotrope Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 5.1 Koffein (J. DECKERT und C. H. GLEITER) . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Definition, Chemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Pharmakologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Cyproteron (L. G. SCHMIDT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Indikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Pharmakologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Behandlungsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.5 Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Substituierte Amphetamine (G. HÜTHER und E. RÜTHER) . . . . . . . . . . . 457 457 457 461 472 472 474 474 475 476 478 Übersichtstabellen (O. DIETMAIER und G. LAUX) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Autorenverzeichnis A. BATRA, PD Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Tübingen, Osianderstraße 22, 72076 Tübingen, Deutschland J. BAUER, Prof. Dr. med., Klinik für Epileptologie, Universität Bonn, Sigmund-Freud-Straße 25, 53105 Bonn, Deutschland H. BERZEWSKI, Prof. Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Duisburger Straße 20, 10707 Berlin, Deutschland S. BLEICH, PD Dr. med., Klinik mit Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, FriedrichAlexander-Universität, Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen, Deutschland J. BÖNING, Prof. Dr. med., Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Würzburg, Füchsleinstraße 15, 97080 Würzburg, Deutschland E. DAVIDS, PD Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Essen, Virchowstraße 174, 45147 Essen, Deutschland J. DECKERT, Prof. Dr. med., Psychiatrische Klinik und Poliklinik, Westfälische Wilhelms Universität, Albert-Schweitzer-Straße 11, 48149 Münster, Deutschland O. DIETMAIER, Dr. rer. nat., Klinikum am Weissenhof, 74189 Weinsberg, Deutschland CH. E. ELGER, Prof. Dr. med., FRCP, Klinik für Epileptologie, Universität Bonn, SigmundFreud-Straße 25, 53105 Bonn, Deutschland W. FRÖSCHER, Prof. Dr. med., Psychiatrie I, Universität Ulm, Weingartshofer Straße 2, 88214 Ravensburg-Weissenau, Deutschland M. GASTPAR, Prof. Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Essen, Virchowstraße 174, 45147 Essen, Deutschland M. GERLACH, Prof. Dr. rer. nat., Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universität Würzburg, Füchsleinstraße 15, 97080 Würzburg, Deutschland CH. H. GLEITER, Prof. Dr. med., Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Universitätsklinikum Tübingen, Otfried-Müller-Straße 45, 72076 Tübingen, Deutschland A. HEINZ, Prof. Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charitè Universitätsmedizin, Campus Mitte, Schumannstraße 20/21, 10117 Berlin, Deutschland A. HEYNE, PhD, Medimod Pharmacology Services GmbH, Aspenhaustraße 25, 72770 Reutlingen, Deutschland XII Autorenverzeichnis G. HÜTHER, Prof. Dr. med., Dr. rer. nat., Psychiatrische Klinik, Georg-August-Universität, Von-Siebold-Straße 5, 37075 Göttingen, Deutschland T. KIENAST, Dr. med., Psychiatrische Universitätsklinik Charité, Im St. Hedwig Krankenhaus, Turmstraße 21, 10559 Berlin, Deutschland J. KORNHUBER, Prof. Dr. med., Klinik mit Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Erlangen, Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen, Deutschland G. LAUX, Prof. Dr. med., Dipl.-Psych., Bezirksklinikum Gabersee, Gabersee 7, 83512 Wasserburg, Deutschland O.-M. LESCH, Prof. Dr. med., Universitätsklinik für Psychiatrie, Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien, Österreich W. LÖSCHER, Prof. Dr. med. vet., Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie, Tierärztliche Hochschule und Zentrum für Systemische Neurowissenschaften, Bünteweg 17, 30559 Hannover, Deutschland K. MANN, Prof. Dr. med., Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, J5, 68159 Mannheim, Deutschland A. MEIER, Dr., Klinische Pharmakologie, Universität Göttingen, Von-Siebold-Straße 5, 37075 Göttingen, Deutschland TH. MESSER, Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Bezirkskrankenhaus Augsburg, Dr. Mack-Straße 1, 86156 Augsburg, Deutschland K. MÖRIKE, PD Dr. med., Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Universitätsklinikum Tübingen, Otfried-Müller-Straße 45, 72076 Tübingen, Deutschland F. MÜLLER-SPAHN, Prof. Dr. med., Psychiatrische Universitätsklinik, Wilhelm-Klein-Straße 27, 4025 Basel, Schweiz TH. MÜLLER, Prof. Dr. med., St. Josef-Hospital, Neurologische Klinik, Ruhr-Universität, Gudrunstraße 56, 44791 Bochum, Deutschland K. PINHARD, Dr. med. prakt., Psychiatrische Universitätsklinik, Wilhelm-Klein-Straße 27, 4025 Basel, Schweiz W. E. PLATZ, PD Dr. med., Vivantes Netzwerk für Gesundheit, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie – Suchterkrankungen, Oranienburger Straße 285, 13437 Berlin, Deutschland W. POSER, Prof. Dr. med., Klinische Pharmakologie, Universität Göttingen, Von-SieboldStraße 5, 37075 Göttingen, Deutschland H. PRZUNTEK, Prof. Dr. med., St. Josef-Hospital, Neurologische Klinik, Ruhr-Universität, Gudrunstraße 56, 44791 Bochum, Deutschland E. RÜTHER, Prof. Dr. med., Psychiatrische Klinik, Georg-August-Universität, Von-SieboldStraße 5, 37075 Göttingen, Deutschland CH. SAAM, Dr., Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, J5, 68159 Mannheim, Deutschland Autorenverzeichnis XIII N. SCHERBAUM, PD Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität DuisburgEssen, Virchowstraße 174, 45147 Essen, Deutschland M. SCHMAUSS, Prof. Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Bezirkskrankenhaus Augsburg, Dr. Mack-Straße 1, 86156 Augsburg, Deutschland L. G. SCHMIDT, Prof. Dr. Dipl.-Psych., Psychiatrische Klinik und Poliklinik, Johannes-Gutenberg-Universität, Untere Zahlbacherstraße 8, 55131 Mainz, Deutschland G. SCHUMANN, Prof. Dr. med., Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, J5, 68159 Mannheim, Deutschland J. SEIFERT, Dr. med., Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universität Würzburg, Füchsleinstraße 15, 97080 Würzburg, Deutschland M. SOYKA, Prof. Dr. med., Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, LudwigMaximilians-Universität, Nussbaumstraße 7, 80336 München, Deutschland J. TREUTLEIN, Dr. rer. nat., Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, J5, 68159 Mannheim, Deutschland G.-E. TROTT, Prof. Dr. med., Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Luitpoldstraße 2–4, 63739 Aschaffenburg, Deutschland S. WALITZKA, Dr. med., Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universität Würzburg, Füchsleinstraße 15, 97080 Würzburg, Deutschland A. WARNKE, Prof. Dr. med., Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universität Würzburg, Füchsleinstraße 15, 97080 Würzburg, Deutschland G. A. WIESBECK, Prof. Dr. med., Psychiatrische Universitätsklinik, Wilhelm-Klein-Straße 27, 4025 Basel, Schweiz J. WOLFFGRAMM, Prof. Dr. rer. nat., Sektion Suchtforschung, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie mit Poliklinik, Universität Tübingen, Osianderstraße 24, 72076 Tübingen, Deutschland N. WODARZ, PD Dr. med., Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Regensburg am Bezirksklinikum, Universitätsstraße 84, 93653 Regensburg, Deutschland TH. ZILKER, Prof. Dr. med., Toxikologische Abteilung, II. Medizinische Klinik und Poliklinik, Klinikum rechts der Isar, TU München, Ismaninger Straße 22, 81675 München, Deutschland Neuro-Psychopharmaka, Bd. 6, 2. Aufl.1 Riederer P. / Laux G. (Hrsg.) © Springer-Verlag Wien 2006 1 Pharmakotherapie neuropsychiatrischer Notfall- und Akutsituationen 1.1 Psychiatrische Notfälle K. Pinhard und F. Müller-Spahn 1.1.1 Definition des Begriffs Im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet man den Begriff „seelische Krise“ oft als Synonym für „psychiatrischen Notfall“. Jedoch führt eine seelische Krise keineswegs zwangsläufig zu einer psychiatrischen Notfallsituation. Als Differenzierungsmerkmal dient der Schweregrad einer Krise, der über die Dringlichkeit der Einleitung einer Behandlung entscheidet. Notfall Im Gegensatz zum Ausdruck „seelische Krise“, der sich an einem konzeptuell anthroTabelle 1.1.1. Psychiatrische Notfallsituationen Suizidales Verhalten Erregungszustände Delirante Syndrome Bewusstseinsstörungen Alkohol- und drogeninduzierte Notfälle Angstsyndrome Psychopharmakainduzierte Notfälle pologisch- medizinischen Denken orientiert, steht der Terminus „psychiatrischer Notfall“ in der Tradition des somatischen Notfallbegriffs, d. h. die psychiatrische Notfallintervention soll unmittelbare Selbstund Fremdgefährdung abwenden. Die durch mangelnde Konfliktbewältigung oder im Rahmen von akuten psychischen Störungen, z. B. einer Schizophrenie, Manie oder Depression auftretenden Notfallsituationen erfordern ein klares Krisenmanagement (SCHNYDER 1993). Die Voraussetzungen dafür sind eine rasche Einordnung und Orientierung, exakte Diagnosestellung und eine unverzügliche, besonnene Therapie (MÜLLER-SPAHN und HOFFMANN-RICHTER 2000, 2002, HILLARD 1990). Die häufigsten psychiatrischen Notfälle sind in Tabelle 1.1.1 dargestellt. 1.1.2 Organisatorische Abläufe Um ungeahnte Schwierigkeiten im organisatorischen Ablauf zu vermeiden, bedürfen 2 1 Pharmakotherapie neuropsychiatrischer Notfall- und Akutsituationen folgende Aspekte besonderer Beachtung (RUPP 1996, MÜLLER-SPAHN und HOFFMANNRICHTER 2000, 2002): Im ambulanten Bereich: – Abklärung der Behandlungserfordernisse; – Entscheidung über ambulante oder stationäre Behandlung; – Ist die ambulante psychiatrisch-psychotherapeutische Weiterbetreuung sichergestellt? – Zustimmung des Patienten zur Behandlung? – Polizeiliche Hilfe bei der Einweisung erforderlich? – Zusätzliche medizinisch-internistische Behandlung indiziert? – Begleitung in die Klinik notwendig? Entscheidende Fragen – Wie hoch ist das Suizidrisiko bei der vorliegenden psychischen Störung einzuschätzen (z. B. Abhängigkeitserkrankung, schwere Depression, Schizophrenie)? – Wie hoch ist das Ausmaß der akuten psychosozialen Belastung? – Wie hoch ist das Ausmaß der sozialen Isolation? – Hat der Patient konkrete Suizidpläne? Allgemeine Therapieprinzipien 1.1.3 Psychiatrische Notfallsituationen Bei akuter Suizidalität ist unverzüglich zu klären, ob eine Behandlung im ambulanten Rahmen weitergeführt werden kann oder ob eine stationäre Aufnahme eventuell auch gegen den Willen des Patienten indiziert ist. Ist ein Patient nicht akut suizidal, muss darüber entschieden werden, inwieweit die Weiterbetreuung durch einen Allgemeinarzt erfolgen kann oder ob eine Überweisung zu einem Psychiater oder Psychotherapeuten sinnvoll sein könnte. Tabelle 1.1.2 zeigt eine Zusammenfassung des empfohlenen Vorgehens bei Suizidalität. In Tabelle 1.1.3 sind typische Fehler in der Behandlung suizidalen Verhaltens dargestellt. Suizidalität Erregungszustände Leitsyndrom Leitsyndrom – Suizidgedanken – Suizidhandlungen – Antriebssteigerung und psychomotorische Unruhe, – Bewegungsdrang, – Gereiztheit und Aggressivität, – Möglicherweise situationsinadäquate Handlungen mit selbst- und fremdgefährdendem Verhalten, – Enthemmung und Kontrollverlust, – Innere Unruhe, oft in Kombination mit ausgeprägter Angst bis Panik, – Eventuell Wahnerleben und Sinnestäuschungen. Im stationären Bereich: – Vollständigkeit der wichtigsten Informationen? – Einweisung wirklich notfallpsychiatrisch indiziert? – Muss der Patient geschlossen aufgenommen werden? Umgang mit dem Patienten Bei allen schweren körperlichen und psychischen Störungen sowie bei ausgeprägten Lebenskrisen sollte der behandelnde Arzt an akute Suizidalität denken und dies behutsam abklären. Entscheidend dafür ist die Möglichkeit im Gespräch einen Zugang zu dem Patienten zu finden, d. h. die Qualität der Kontaktaufnahme. 1.1 Psychiatrische Notfälle 3 Tabelle 1.1.2. Therapeutische Prinzipien bei Suizidalität 1. Suizidhinweise immer ernst nehmen 2. Aufbau einer therapeutischen Beziehung 3. Beurteilung des Suizidrisikos (ambulante vs. stationäre Therapie) Klinikeinweisung (Rechtsgrundlage schaffen, freiwillig vs. Einweisung nach dem Unterbringungsgesetz), in der Regel notwendig bei: – akuten Psychosen in Kombination mit Suizidgedanken – Depression mit psychotischen Symptomen – Intoxikation – ausgeprägte Suizidalität (konkrete Suizidpläne, nicht kontrollierbare Suizidimpulse) – Suizidalität und fehlender sozialer Integration (allein lebend) – Suizidalität bei fehlender ambulanter Betreuungsmöglichkeit – fehlender Bündnisfähigkeit des Patienten – behandlungsbedürftiger körperlicher Erkrankung Bei Verzicht auf Klinikeinweisung – Weiterbetreuung sicherstellen (feste und zuverlässige Terminvereinbarungen, kurze Intervalle) – Ist eine feste Bezugsperson im sozialen Umfeld vorhanden? – Aufklärung der Angehörigen bzw. Bezugspersonen über Suizidrisiko (Entbindung der Schweigepflicht) Medikamentöse Therapie – Schlafstörungen beseitigen (Einschlafstörungen: z. B. Zolpidem 10 mg; Durchschlafstörungen: z. B. Zopiclon 7,5 mg – Ggf. Verordnung von sedierenden Antidepressiva (kleine Packungsgröße, Gabe ggf. durch Angehörige) z. B. Mirtazapin (15 mg als initiale Dosis) – Ggf. Gabe von Benzodiazepinen (z. B. Lorazepam 1–2,5 mg p.o. als initiale Dosis), alternativ anxiolytisch wirksames Neuroleptikum (z. B. Olanzapin 5–10 mg p.o. als initiale Dosis) Modifiziert nach MÜLLER-SPAHN und HOFFMANN-RICHTER (2000, 2002) Tabelle 1.1.3. Typische Fehler bei der Behandlung suizidalen Verhaltens Nichtansprechen der Suizidalität Unterschätzung der Suizidalität (z. B. „wer davon spricht, handelt nicht“) Überschätzung der sog. Bündnisfähigkeit des Patienten (Antisuizidpakt) Negative Gegenübertragung (gereizte Atmosphäre) Fehlinterpretation eines raschen Stimmungswechsels („Ruhe vor dem Sturm“) Mangelnde Zeit des Behandlers Überforderung der Patienten durch zu hoch gesteckte Therapieziele Ambulante Verordnung von größeren Arzneimittelpackungen, die als Suizidmittel dienen können (z. B. trizyklische Antidepressiva) Unkenntnis des verzögerten Wirkungseintritts der Antidepressiva Mangelnde Beachtung der in seltenen Fällen vor der Stimmungsaufhellung eintretenden Antriebssteigerung unter nichtsedierenden Antidepressiva Modifiziert nach MÜLLER-SPAHN und HOFFMANN-RICHTER (2000, 2002) 4 1 Pharmakotherapie neuropsychiatrischer Notfall- und Akutsituationen Umgang mit dem Patienten Selbst bei noch unklarer Ursache eines akuten Erregungszustandes muss unverzüglich eine Behandlung eingeleitet werden. Häufig finden sich im Vorfeld Verhaltensauffälligkeiten, die auf einen drohenden Erregungszustand hinweisen (POWELL et al. 1994). Unbedingt erforderlich im Umgang mit erregten Patienten ist ein ruhiges, bestimmtes und sicheres Auftreten. Dabei sollte man den Patienten ernst nehmen, auf seine Argumente eingehen und versuchen, seine Einwilligung zur Therapie zu erlangen. Um ein Gefühl der Bedrohung und der Überwältigung zu vermeiden, ist es unerlässlich, dem Patienten nötige Maßnahmen erklärend anzukündigen (MÜLLER-SPAHN und HOFFMANNRICHTER 2000, BENKERT und HIPPIUS 2003). Entscheidende Fragen Hinweise auf – Bewusstseinsstörung, Dämmerzustand? – Intoxikation? – internistische oder neurologische Erkrankungen? – vorbeschriebene psychische Auffälligkeiten? – bestehende psychosoziale Belastungsfaktoren? Allgemeine Therapieprinzipien Bis zur Klärung der genauen Diagnose ist bei akuter Therapieindikation in unklaren Situationen vor allem bei Bewusstseinsstörungen oder Hinweisen auf eine Intoxikation die Verabreichung von 5 bis max. 10 mg Haloperidol oral, i.m. oder i.v. Mittel der ersten Wahl. Kontraindiziert sind in diesen Fällen niederpotente Neuroleptika und Benzodiazepine. Bei klarer Indikation kommen als Zusatzmedikation Benzodiazepine wie Lorazepam als Schmelztablette oder Diazepam in Frage. Patienten mit vorgeschädigtem Hirn, höherem Lebensalter oder ausgeprägter Intelligenzminderung können paradox auf diese Substanzen reagieren. Differentielle Therapie Soweit in der akuten Notfallsituation möglich sollte sich die medikamentöse Therapie eines Erregungszustandes an der auslösenden Grunderkrankung orientieren. Einen Überblick über syndrom- bzw. nosologiebezogene Therapieoptionen gibt Tabelle 1.1.4. Nicht durch Alkohol bedingte delirante Syndrome (Verwirrtheitszustände) Leitsyndrom – Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsstörungen; – Globale kognitive Störungen (zeitliche, örtliche und situative Desorientiertheit), Störung des Immediat- und Kurzzeitgedächtnisses, Wahrnehmungsstörungen (z. B. optische Halluzinationen, Fehlinterpretationen), Störung von Auffassung und Urteilsbildung; – Formalgedankliche Inkohärenz; – Inhaltliche Denkstörungen; – Antriebs- und psychomotorische Störungen; – Gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus, z. B. Tag- Nacht-Umkehr; – Affektive Störungen (z. B. dysphorisch, Angst). Delirante Syndrome haben meist einen akuten Beginn, sind im Tagesablauf fluktuierend und können Tage bis Wochen andauern. Ätiologisch in Frage kommende Ursachen sind in Tabelle 1.1.5 zusammengefasst. Liegen bei einem Patienten Orientierungsstörungen vor, ist an eine körperlich begründete psychische Störung zu denken, 5 1.1 Psychiatrische Notfälle Tabelle 1.1.4. Medikamentöse Behandlung von Erregungszuständen Störung Substanz Applikationsform Max. Einzeldosis (mg) Max. Dosis / Besondere 24 Std. Risiken (mg) Agitierte Depression Diazepam alternativ Lorazepam ev. Komb. mit Doxepin oral oral oral 10 2,5 25–50 40 8 200 (stationär) alternat. Komb. mit alternativ oral oral 3–5 10 10 20 5–10 5–10 5–10 5–10 5–10* 2,5 2 Haloperidol Olanzapin Schizophrenie und Manie Haloperidol alternativ Olanzapin ev. Komb. mit Lorazepam alternativ Diazepam Alternative bei Manie Valproinsäure** ev. Komb. mit Lorazepam ev. Komb. mit Olanzapin oral alternat. alternat. oral alternat. oral alternat. oral 10 30 20 20 30 20 10 0,05 mg/ kg/KG 60 oral alternat. i.m. (siehe oben) oral alternat. i.m. 150–300 1000–1500 i.m. i.v. i.m. i.m. Sturzgefahr Orth. Dysregulation EPMS Atemdepression Sturzgefahr Atemdepression (siehe oben) Erregung bei geriatrischen Patienten Haloperidol*** oral alternat. i.m. alternativ Pipamperon*** oral alternativ Melperon*** oral alternat. i.m. alternativ Promethazin oral 1–3 2,5 10–40 25–50 25–50 20 5 5 360 300 100 100 alternativ Quetiapin oral 25 50–75 Lorazepam oral 4 Alprazolam oral 1–2,5 (Expidet) 0,25–0,5 Haloperidol oral ggf. i.m. 5–10 5–10 20 EPMS Atemdepression Panikattacke alternat. 4 Alkoholrausch (Fortsetzung siehe S. 6) 6 1 Pharmakotherapie neuropsychiatrischer Notfall- und Akutsituationen Tabelle 1.1.4. Fortsetzung Störung Substanz Akute Intoxikationen Haloperidol Applikationsform oral Horrortrip und psychogene Erregung Lorazepam oral alternat. Diazepam oral Max. Einzeldosis (mg) Max. Dosis / Besondere 24 Std. Risiken (mg) 5–10 1–2,5 (Expidet) 5–10 Symptomatische Psychosen bei organischen Störungen Haloperidol oral 2–5 Olanzapin oral 5 15 10–20 * Max. Tagesdosis 20 mg/24 h, aufgeteilt in 2–3 Injektionen; ** siehe dazu die länderspezifischen, von den Behörden zugelassenen psychiatrischen Indikationen; *** nicht bei Patienten mit Lewy-Körperchen-Demenz wobei man die zeitliche Entwicklung beachten und Überlegungen bezüglich der Reversibilität bzw. Irreversibilität anstellen sollte (HALL et al. 1978, LABRUZZA 1987, HEWER und LEDERBOGEN 1998). Ursächlich kommen in erster Linie alle organischen, diffus das Gehirn schädigenden Noxen in Betracht. Auch psychische Traumen können Auslöser für Verwirrtheitszustände sein. Ist ein akut behandlungsbedürftiger somatischer Prozess Grund für die Symptomatik, muss der Patient unverzüglich in ein somatische Klinik überwiesen werden. Häufige Ursachen für delirante Syndrome sind somatische Erkrankungen, Operationen und Narkosen sowie Folgen einer Pharmakotherapie. Vor allem ältere, an mehreren chronischen Krankheiten leidende Patienten haben ein erhöhtes Risiko für Verwirrtheitszustände z. B. im Rahmen von Flüssigkeitsverlusten bzw. mangelnder Zufuhr und konsekutiver Exsikkose oder bei Polypragmasie bei Multimorbidität. Delirante Syndrome können durch eine Vielzahl von Medikamenten verursacht oder gefördert werden (siehe Tabelle 1.1.6). Umgang mit Patienten Da delirante Patienten durch Halluzinationen, illusionäre Verkennungen oder Derealisationserlebnisse häufig verunsichert und verängstigt sind, sollte der behandelnde Arzt möglichst freundlich, beruhigend, strukturierend und aufklärend auf ihn einwirken. Es ist wichtig eine ruhige, vor übermäßiger Reizüberflutung geschützte Umgebung zu schaffen. Treten Verwirrtheitszustände akut auf, muss notfallmäßig die Diagnostik und Therapie eingeleitet werden, auch gegen den Willen der in diesem Zustand nicht handlungs- und urteilsfähigen Betroffenen (Rechtsgrundlage schaffen!). Entscheidende Fragen – Bewusstseins- oder Orientierungsstörungen vorliegend? – Akute, subakute oder schleichende Entwicklung derselben? – Liegen weitere körperliche Symptome (z. B. Schwindel, Kopfschmerz, Lähmungen etc.) vor, die sich in engem zeit- 7 1.1 Psychiatrische Notfälle Tabelle 1.1.5. Ursachen deliranter Syndrome Demenzen Alzheimer-Krankheit Morbus Pick Lewy-Körper-Demenz Vaskuläre Demenz Entzugssyndrome und Intoxikationen Alkohol Arzneimittel Drogen Ernährungsdefizite Thiaminmangel Vitamin B12-Mangel Folsäuremangel Proteinmangel Infektionen Systemische Infektion mit Fieber Harnwegsinfekte Pneumonie Endokarditis Enzephalitis Intrakranielle Störungen Trauma (Hämatom, Ödem) Tumor Epilepsie Infarkt Blutung Kardiovaskuläre und hämatologische Störungen Herzinsuffizienz Lungenerkrankungen zerebrale Gefäßerkrankungen Anämie Metabolische Störungen und Endokrinopathien Dehydratation Elektrolytstörungen Diabetes mellitus Störungen der Leber- und Nierenfunktion Schildrüsendysfunktion Andere Operationen Schlafentzug Radiatio Sensorische Deprivation Nebenwirkung bei Pharmakotherapie Anticholinerg wirksame Substanzen Beispiele Atropin Trizyklische Antidepressiva Trizyklische Neuroleptika Antiparkinsonmedikamente Tranquilizer und Hypnotika Benzodiazepine Barbiturate Herz-Kreislauf-Medikamente Digoxin Diuretika Dopaminagonisten Levodopa Bromocriptin Modifiziert nach MÜLLER-SPAHN und HOFFMANN-RICHTER (2000, 2002) 8 – – – – – 1 Pharmakotherapie neuropsychiatrischer Notfall- und Akutsituationen lichen Zusammenhang mit der psychischen Störung entwickelt haben? Wurden neue Medikamente ein- bzw. längerfristig verabreichte Arzneimittel abgesetzt? Hinweise auf Alkoholmissbrauch bzw. -abhängigkeit? Anamnestisch Substanzmissbrauch (insbesondere LSD, Phencyclidin, Amphetamine, Kokain, Hypnotika, Benzodiazepine)? Optische Halluzinationen? Akutes oder früheres Schädel-HirnTrauma? – Sind psychiatrische Erkrankungen bekannt? – Wurde der Patient vor kurzem operiert? – Sind körperliche Grunderkrankungen bekannt? Neben der ausführlichen psychiatrischen Exploration inklusive Fremdanamnese und Erhebung des psychopathologischen Befundes sollte besonderes Augenmerk auf eine sorgfältige internistische und neurologische Untersuchung gelegt werden. Notwendige oder zu erwägende Untersuchungen sind in Tabelle 1.1.6 dargestellt. Tabelle 1.1.6. Grund- und technische Zusatzuntersuchungen bei Verwirrtheitszuständen (♦Basisuntersuchungen) Allgemein Blutdruck ♦ Herzfrequenz ♦ Temperatur ♦ Hämatologische Störungen Erythrozyten und Hb ♦ (V. a. Anämie) MCV (V. a. Alkoholabusus; Mangel an Vitamin B12, Folsäure) Thrombozyten Herz-Kreislauferkrankungen EKG ♦ CPK (V. a. Herzinfarkt) Röntgen-Thorax (V. a. Pneumonie) Infektion CRP Leukozyten ♦ Urinstatus ♦ (Blutkulturen) Metabolische Störungen Elektrolyte (Na, K, Ca) ♦ Glukose (Blut) ♦ Kreatinin ♦ T3, T4, TSH (♦) Leberwerte (GOT, GPT, y-GT) Zerebrale Erkrankungen CCT (V. a. Tumor, Blutungen, Infarkt) (♦) EEG (Epilepsieverdacht) LP (ggf. bei neurologischer Indikation) Blutspiegelbestimmungen bei Verdacht auf Intoxikationen Antidepressiva Antikonvulsiva Digoxin Lithium Neuroleptika Drogenscreening Bei Verdacht In Anlehnung an MÜLLER-SPAHN und HOFFMANN-RICHTER (2002) 9 1.1 Psychiatrische Notfälle Allgemeine und differentielle Therapie Die Therapie der deliranten Syndrome richtet sich primär nach der zugrunde liegenden Erkrankung. Betrachtet man die Vielfalt der ätiologisch in Frage kommenden Erkrankungen, so lassen sich prinzipiell zwei Therapiekonzepte ableiten: 1. Behandlung der somatischen Grunderkrankung; 2. Syndromorientierte Behandlung mit Psychopharmaka. Stehen somatische Symptome im Vordergrund oder ist ein Patient vital gefährdet, sollte die Behandlung in einem somatischen Tabelle 1.1.7. Delirante Syndrome – Differentialdiagnose und Therapie Ätiologie Therapie Alkoholinduziertes Entzugssyndrom mit Delir (Delirium tremens) Stationäre Aufnahme Behandlung mit Clomethiazol, alternativ Benzodiazepine, ggf. in Kombination mit Haloperidol Ausgleich von Elektrolytstörungen, Gabe von Vit. B1 (Thiamin) Delirantes Syndrom durch anticholinerg wirksame Substanzen induziert, z. B. Anticholinergika (Biperiden) trizykl. AD (z. B. Amitriptylin) trizykl. NL (z. B. Thioridazin) sowie durch andere zentral wirksame Arzneimittel (z. B. Dopamin-Agonisten) Stationäre Aufnahme Absetzen der verursachenden Substanz(en) Haloperidol (2–5 mg p.o., alternativ Clomethiazol, ggf. in Kombination mit Haloperidol) Bei schwerem Delir ggf. Physostigmin unter intensivmedizinischer Überwachung Delirantes Syndrom bei schweren somatischen Allgemeinerkrankungen, z. B. Dehydratation Elektrolytstörungen Herz-Kreislauferkrankungen Infektionen Metabolische Störungen Stationäre Aufnahme Behandlung der Grunderkrankung ggf. Gabe von Haloperidol (2–5 mg p.o., alternativ i.m., i.v.) Delirantes Syndrom bei primär zerebralen Erkrankungen, z. B. Demenz Hämatome (epi-, subdural) Schädel-Hirn-Trauma Tumor Stationäre Aufnahme ggf. Gabe von Haloperidol (2–3 mg p.o., alternativ i.m., i.v.) alternativ: Melperon 10–20 mg p.o. als initiale Dosis Behandlung der Grunderkrankung Delirantes Syndrom bei Drogen- und Arzneimittelentzug, z. B. Opiate Benzodiazepine Opioide: Haloperidol Olanzapin Benzodiazepine Benzodiazepine: Gabe von Benzodiazepinen und dann schrittweises Absetzen Delirantes Syndrom bei Rauschmitteln, z. B. Drogen Stationäre Aufnahme In der Regel sofortiger Entzug, Haloperidol 2–5 mg p.o., ggf. Lorazepam 1–2,5 mg (sofern keine Vigilanzminderung vorliegt) 10 1 Pharmakotherapie neuropsychiatrischer Notfall- und Akutsituationen Krankenhaus erfolgen. Jedoch ist auch in der psychiatrischen Klinik eine intensive, engmaschige Überwachung bis zur Besserung der Symptomatik zwingend indiziert. Wenn ein mittelgradig bis schwer ausgeprägtes delirantes Zustandsbild besteht, wenn keine eindeutigen oder ambulant beherrschbaren Ursachen zu eruieren sind oder der Patient alleine lebt, ist eine stationäre Aufnahme notwendig. Unter keinen Umständen dürfen konventionelle Neuroleptika bei deliranten Patienten mit einer Lewy-Body-Demenz eingesetzt werden, da diese im Rahmen einer derartigen Therapie zu schwersten, eventuell sogar irreversiblen extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen führen können. In diesen Fällen ist es möglich, den Verwirrtheitszustand mit z. B. Quetiapin 25 mg initial, alternativ unter stationären Bedingungen mit Clozapin in niedriger Dosierung (initial 12,5 mg, dann ggf. langsame Dosiserhöhung während mehrerer Tage auf 50– 75 mg/die) zu behandeln. Bei Verwirrtheitszuständen anderer Genese ist Haloperidol i.m. oder i.v. nach wie vor Mittel der ersten Wahl (Einzeldosis bei älteren Patienten 2–5 mg, maximal 7 mg/die). Alternativ könnte Pipamperon gegeben werden (max. Dosis 60–240 mg/die). Bewusstseinsstörungen Einteilung der quantitativen Bewusstseinsstörungen: – Benommenheit: Die Reaktionen auf einen äußeren Reiz sind verlangsamt, wenig präzise und lückenhaft. – Somnolenz, Schläfrigkeit: Der schlafende Patient wird durch äußere Reize geweckt. – Sopor: Der Patient ist schwer erweckbar und zeigt nur gerichtete oder ungerichtete Abwehrbewegungen auf Schmerzreize. – Koma: Durch äußere Reize ist der Patient nicht zu wecken, er ist bewusstlos. Zur Beurteilung einer Bewusstseinsstörung ist die zeitliche Entwicklung entscheidend. Je nach zugrunde liegender, häufig organischer Erkrankung erfolgt die Einleitung einer meist symptomatischen Therapie in einer internistischen, neurologischen oder psychiatrischen Klinik. Häufig wird in diesem Zusammenhang falsch eingeschätzt, ob und wann der Patient in ein somatisches Krankenhaus zu verlegen ist. Besteht der Verdacht einer Intoxikation, kann die unmittelbare Gabe eines Antidots notwendig sein (z. B. Naloxon bei Opioidintoxikationen). Alkohol-, Benzodiazepin- und Drogeninduzierte Notfälle Alkohol- und Drogen-induzierte Notfälle, die infolge von Intoxikationen, Entzügen, „pathologischen“ Rauschzuständen und psychotischen Episoden entstehen, äußern sich in den meisten Fällen in Form von Verwirrtheitszuständen und Bewusstseinsstörungen. Neben vielfältigen körperlichen Symptomen kann das klinische Bild jedoch auch von Angstsyndromen und Erregungszuständen geprägt sein. Leitsyndrom Psychopathologisch können Intoxikationen als ängstlich-depressives Syndrom, paranoid-halluzinatorische Symptomatik, Erregungszustand und/oder Bewusstseinsstörung imponieren. Die Symptome eines Entzuges sind leichte Irritierbarkeit, Schreckhaftigkeit, Ängstlichkeit, ausgeprägte Schlafstörungen, häufig Entwicklung einer vegetativen Symptomatik und in schweren Fällen das Auftreten einer psychotischen Symptomatik (MÜLLERSPAHN und BUCHHEIM 1992). Entscheidende Fragen – Deckt sich der Intoxikationsgrad mit den Angaben über die konsumierte Menge? 11 1.1 Psychiatrische Notfälle – Wann wurde die Substanz konsumiert? – Fand man Arzneimittelpackungen bei dem Intoxikierten? – Einnahme mehrerer Substanzen? Die genaue Erhebung der Drogen- und Alkoholanamnese insbesondere zum Konsumverhalten kann Hinweise zur Einschätzung der Notfallsituation geben. – Ist die Intoxikation Folge einer unbeabsichtigten Überdosierung? – Wurde die Substanz in suizidaler Absicht eingenommen? – Sind körperliche oder psychische Erkrankungen bekannt (Eigen- oder Fremdanamnese)? – Wichtig ist die Frage nach Verhaltensauffälligkeiten und Symptomen vor dem Substanzkonsum als Vorboten einer Psychose. – Sind Einstichstellen sichtbar? Diagnostik Insbesondere bei unklaren Intoxikationen sind eine internistische und neurologische Untersuchung dringend erforderlich. Zur genauen Diagnosestellung müssen eventuell Zusatzuntersuchungen (EKG, Blutzucker etc.), ein Atem-/Blutalkoholtest oder toxikologische Untersuchungen durchgeführt werden, gegebenenfalls muss Blut, Urin, Mageninhalt etc. asserviert werden. Allgemeine Therapieprinzipien Mittel der Wahl ist im Zweifelsfalle Haloperidol (5–10 mg oral oder i.v.). Verabreicht man bei Mischintoxikationen Benzodiazepine, besteht die Gefahr, eine paradoxe Reaktion oder eine zu starke Sedierung bzw. Atemdepression herbeizuführen. Nur bei Intoxikationen mit LSD, Amphetaminen und Kokain, bei denen ein Angstsyndrom im Vordergrund steht, ist ein Benzodiazepin, z. B. Lorazepam 1–2,5 mg in der Expidet-Form oder Diazepam 5–10 mg oral oder langsam i.v. vorrangig indiziert. Bei niederpotenten Neuroleptika wie Levomepromazin sollte beachtet werden, dass eine hypotone Reaktion gefördert werden kann und infolge des anticholinergen Effekts eventuell delirante Syndrome sowie eine Erniedrigung der Krampfschwelle auftreten können. Therapie der Benzodiazepinintoxikation Je nach klinischer Symptomatik injiziert man den Benzodiazepinantagonisten Flumazenil in einer initialen Dosis von 0,2 mg innerhalb von 15 Sekunden i.v. Bei unzureichender Wirksamkeit können nach 60 Sekunden 0,1 mg zusätzlich gegeben werden (ggf. ist eine intensivmedizinische Überwachung erforderlich). Diagnostik und Therapie der Opioidintoxikation Aufgrund der hohen Letalität bei Opioidintoxikationen muss unmittelbar eine Therapie eingeleitet werden. Einen Überblick über Symptomatik und Therapie gibt Tabelle 1.1.8. Opioidantagonisten sind einzusetzen bei Atemdepression und/oder ausgeprägter Bewusstseinsstörung infolge eines Opioidkonsums oder bei Intoxikationen mit unbekannten Drogen, die klinisch auf eine Opioidwirkung hinweisen. Zeigt sich keine hinreichende Verbesserung, können eine Mischintoxikation (z. B. mit Benzodiazepinen) oder auch andere Ursachen (z. B. Hypoglykämie) zugrunde liegen. Um lebensbedrohliche Zwischenfälle aufgrund der unterschiedlichen Halbwertszeiten der Opioide und des Naloxons (siehe Tabelle 1.1.9) zu vermeiden, muss gegebenenfalls eine kontinuierliche Antagonisierung und intensive Überwachung des Intoxikierten durchgeführt werden, damit die unter Umständen im Körper noch vorhan- 12 1 Pharmakotherapie neuropsychiatrischer Notfall- und Akutsituationen Tabelle 1.1.8. Diagnostik und Therapie der Opioidintoxikation Diagnostik Miosis Atemdepression Bewusstseinstrübung Hypotonie Verwaschene Sprache Übelkeit Hautblässe Halbwertszeiten Heroin i.v. 20–180 Min. Methadon p.o. 15–36 Std. Naloxon i.v. 30–90 Min. Therapie Stationäre Einweisung Übliche lebenserhaltende Sofortmaßnahmen 1 A. Naloxon (0,4 mg) i.m. (rascher Wirkungseintritt) sowie 1 A. Naloxon (0,4 mg) s.c. (verzögerter Wirkungseintritt und längere Wirkdauer) ggf. 1 A. Naloxon (0,4 mg) in 10 ml NaCl (0,9%) i.v. mehrmalige Wiederholung je nach klin. Notwendigkeit Tabelle 1.1.9. Diagnostik und Therapie der Panikstörung Häufigkeit 1,5–3,5% (Lebenszeitprävalenz) Beginn Plötzlich Diagnose – wiederkehrende, schwere Angstattacken in Situationen ohne objektive Gefahr – keine Begrenzung auf spezifische Situationen, damit nicht vorhersehbar Differentialdiagnose Herzerkrankungen Hyperthyreose Phäochromzytom Horrortrip Symptomatik Herzklopfen, Brustschmerz, Erstickungsgefühle, Schwindel, Entfremdungsgefühle, Furcht zu sterben, Kontrollverlust, Angst wahnsinnig zu werden, häufig Crescendo der Angst Komorbidität Hohe Komorbidität mit anderen Angststörungen, depressiven Störungen und mit schädlichem Gebrauch von Alkohol Dauer Meistens Minuten Verlauf Tendenz zur Chronifizierung Pathogenese Störungen in der GABAergen und/oder noradrenergen und/oder serotonergen Neurotransmission Therapie der Panikattacke Lorazepam (Expidet) 1–2,5 mg (max. 4 mg/24 Std.) alternativ Alprazolam 0,24–0,5 mg (max. 4 mg/24 Std.) 13 1.1 Psychiatrische Notfälle denen langwirksamen Opioide nicht eine erneute lebensbedrohliche Intoxikation auslösen. Aus diesem Grund ist nach Naloxongabe eine stationäre Einweisung unumgänglich. Diagnostik und Therapie der Kokainintoxikation Diagnostik Somatische Symptomatik: Hypertonie, Muskelschwäche, Pupillendilatation, Schüttelfrost, Schweißausbrüche, Tachykardie, Tremor. Psychische Symptomatik: Affektlabilität, Dysphorie, Enthemmung, Euphorie, Größenideen, akustische, taktile und optische Halluzinationen, psychomotorische Unruhe, gesteigerte Vigilanz. Umgang mit dem Patienten Die therapeutischen Maßnahmen bei Patienten mit akuten Angstsyndromen, die sofortige Hilfe erwarten, sollten sich auf die Beherrschung der Notfallsituation beschränken. Die vorbestehende Medikation sollte soweit möglich weitergeführt werden. Das zukünftige Kooperationsverhalten des Patienten in der langfristigen Behandlung kann durch die eingeleiteten Schritte bei der Erstmanifestation eines Angstsyndromes richtungweisend geprägt werden. Aus diesem Grund ist eine beruhigende, empathische, strukturierte Gesprächsführung von entscheidender Bedeutung für den Aufbau einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung. Entscheidende Fragen Therapie Bei hervorstechender Angstsymptomatik: Lorazepam 1–2,5 mg (Expidet); liegen keine Kontraindikationen vor, eventuell zusätzlich Propanolol (initial 20–40 mg, bis 140 mg/die). Bei ausgeprägter Angst bei paranoid-halluzinatorischer Symptomatik: zusätzlich Haloperidol 5 mg, alternativ 5–10 mg Olanzapin. Liegt eine schwere Intoxikation vor, ist eine intensivmedizinische Überwachung zu erwägen. Angstsyndrome Leitsyndrom Das Erscheinungsbild der Angstsyndrome ist im Hinblick auf die unterschiedliche Ausprägung der vegetativen Reaktionen variabel. – Körperliche Symptome: Harndrang, Mundtrockenheit, Palpitationen, Schwitzen, Zittern; – Psychische Symptome: Gefühl der Angst, Furcht, Panik, Hilflosigkeit, psychomotorische Unruhe. – Akuter oder schleichender Beginn der Symptomatik? – Episodischer, paroxysmaler oder chronischer Verlauf? Dauer der Angstsymptomatik (angstfreie Intervalle)? – Primäre (Phobien, Panikstörung oder generalisierte Angststörung) oder sekundäre Angststörung (z. B. im Zusammenhang mit koronarer Herzkrankheit) vorliegend? – Wann tritt die Symptomatik auf (in bestimmten Situationen, bei bestimmten Ereignissen, vorhersagbar oder nicht)? Durch was wird sie verschlimmert? – Entwicklung eines Vermeidungsverhaltens gegenüber bestimmten Situationen? – Aktuelle Medikation, Alkohol- und Drogenkonsum? Plötzliche Dosisänderungen, Neueinstellungen, Angst im Rahmen eines Entzuges? – Sind somatische Erkrankungen bekannt bzw. gibt es Hinweise auf körperliche Leiden (v. a. KHK, Schilddrüsendysfunktionen, Phäochromozytom)? – Gibt es anamnestisch Hinweise auf eine neu aufgetretene psychische Erkrankung oder ist eine psychische Störung 14 1 Pharmakotherapie neuropsychiatrischer Notfall- und Akutsituationen bekannt (Angst und paranoid-halluzinatorisches Syndrom im Rahmen einer Schizophrenie, Angst und depressives Syndrom im Rahmen einer depressiven Episode)? – Gab es ein traumatisches Erlebnis (Unfall, Naturkatastrophe, Misshandlung) innerhalb der letzten drei Monate (V. a. posttraumatische Belastungsstörung)? – Außergewöhnliches Lebensereignis (z. B. Scheidung, Tod eines Verwandten etc.)? Zur diagnostischen Zuordnung eines Angstsyndromes ist eine sorgfältige Anamnese und eine klinisch-psychiatrische sowie internistisch-neurologische Untersuchung unerlässlich, da das Auftreten von Angst störungsübergreifend ist und somit ätiopathogenetisch vielfältige Faktoren in Betracht kommen. Gibt es genügend Anhaltspunkte für eine körperliche oder psychische Störung, besteht das weitere Vorgehen in der Therapie der Grunderkrankung. Die akute symptomatische anxiolytische Behandlung wird in der Regel mittels Benzodiazepinen wie Lorazepam oder Diaze- pam durchgeführt. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang bei längerfristiger Verordnung die Gefahr einer BenzodiazepinAbhängigkeit. Zusätzlich trägt eine beruhigende, empathische Gesprächsführung zum Abklingen der Symptome bei. Wichtig dabei ist es, die subjektive Beeinträchtigung des Patienten durch die Anstsymptomatik nicht zu unterschätzen. Wesentliche diagnostische Kriterien und therapeutische Maßnahmen einer Panikstörung sind in Tabelle 1.1.9 aufgelistet. Psychopharmaka-induzierte Notfälle Seit der bahnbrechenden Einführung der Psychopharmaka in den 50er Jahren ist es möglich, auf psychische Störungen akut sowie langfristig entscheidend einwirken zu können. Wie bei jeder Arzneimitteltherapie kann es in der Therapie mit Psychopharmaka zu unerwünschten, z. T. schwerwiegenden Nebenwirkungen kommen. Die Voraussetzung für eine rasche und effiziente Therapie ist deren Kenntnis. Umfassendere differenzierte, substanzbezogene Darstel- Tabelle 1.1.10. Psychopharmaka-induzierte Notfallsituationen mit unmittelbarem Handlungsbedarf Unmittelbarer Handlungsbedarf bei Psychopharmaka-induzierten Notfallsituationen besteht bei – Agranulozytose – Delir – Erregungszuständen z. B. aufgrund paradoxer Reaktionen – Harnretention – Malignem neuroleptischen Syndrom – Paralytischem Ileus – Orthostatischem Kollaps – Schweren allergischen Reaktionen – Suizidalität Eventuell können folgende weitere unerwünschte Wirkungen zu Notfallsituationen führen – Akathisien – Depressive Syndrome – Frühdyskinesien – Krampfanfälle – Orthostatische Dysregulationen 15 1.1 Psychiatrische Notfälle lung des pharmakologischen Wirkprofils liefert die diesbezügliche Literatur (z. B. GROHMANN et al. 1994, 2004). Ursachen Psychopharmaka-induzierter Notfälle (modifiziert nach MÜLLER-SPAHN und HOFFMANN-RICHTER 2002) – Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) bei relativer Überdosierung (Dosierungen liegen im üblichen therapeutischen Bereich). – Intoxikationen bzw. absolute Überdosierungen z. B. durch Kumulation aufgrund der langen Halbwertszeit, Überschreiten der empfohlenen Dosis, bei höherem Lebensalter. – Absetzphänomene bzw. Entzugssyndrome (z. B. schwere Angstsyndrome, Delir, entzugsepileptischer Anfall). – In Kombination mit anderen Arneimitteln entstehende Wechselwirkungen (z. B. Potenzierung anticholinerger Effekte, Lithium-Intoxikation bei zusätzlicher Verordnung thiazidhaltiger Diuretika). – UAW bei Gabe von Psychopharmaka bei somatischen Erkrankungen, z. B. AVBlock bei zusätzlicher Verabreichung von tricyclischen Antidepressiva. – Idiosynkratische Reaktionen (z. B. Agranulozytose bei Clozapin). Umgang mit dem Patienten Im Rahmen einer beruhigenden, strukturierenden Gesprächsführung sollte der Patient wie bei anderen Notfallsituationen über die Wirkmechanismen der Psychopharmaka, die in der Regel reversiblen, gut therapierbaren UAW und die erwogenen Therapiemaßnahmen und deren baldige Umsetzung aufgeklärt werden. Da sich z. B. hyperkinetische Symptome unter emotionaler Anspannung verschlimmern können, sollte der Patient vor belastenden Außenreizen abgeschirmt werden. Entscheidende Fragen – Gehört der Patient zu einer Risikogruppe für das Auftreten von UAW (z. B. HerzKreislauferkrankungen, Leber-/Nierenfunktionsstörungen, höheres Lebensalter, Kombination mehrerer Medikamente)? Welche Grunderkrankungen liegen vor? – Aktuelle Therapie (Dosierung, Zeitraum der Dosiserhöhung)? – Plötzliches Absetzen von Medikamenten? – Arzneimittelkombinationen? – Zusätzliche Einnahme nicht ärztlich verordneter Arzneimittel? – UAW bei Dosierungen im therapeutischen Bereich (relative Überdosierungen)? – Vorbeschriebene ähnliche Reaktionen? Differentialdiagnostik und Therapie Frühdyskinesien Frühdyskinesien (akute Dystonien) lassen sich als paroxysmale, für den Patienten sehr dramatisch und eventuell schmerzhaft imponierende hyperkinetisch-dystone Syndrome beschreiben (siehe Tabelle 1.1.11), (MÜLLER-SPAHN et al. 1988). Akathisie Die Akathisie ist eine vom Patienten als sehr quälend erlebte motorische Unruhe mit der Unfähigkeit still zu sitzen, einem ausgeprägten, vor allem in den Beinen lokalisierten Bewegungsdrang und einem inneren Spannungszustand. Da die Symptomatik im Allgemeinen als ich-dyston empfunden wird, tritt sie häufig in Kombination mit Angst, Depressivität bis Suizidalität und Dysphorie auf. Nicht zu verwechseln ist die Akathisie mit einer Exazerbation einer Psychose, da eine Dosiserhöhung der Neuroleptika bei Ersterer zu einer Verschlimmerung der Symptomatik führen könnte. Bei zunehmenden produktiv-psychotische Symptomen kommt es nicht nur zu einer vermehrten 16 1 Pharmakotherapie neuropsychiatrischer Notfall- und Akutsituationen Tabelle 1.1.11. Akute Dystonie: Klinisches Erscheinungsbild und Therapie Häufigkeit 5–30%, abhängig von Dosis, Substanztyp, individueller Disposition Symptomatik abrupt auftretende Muskelspasmen und unfreiwillige, z. T. bizarre Haltungsanomalien (Dauer: Minuten bis Stunden) infolge unwillkürlicher Muskelkontraktionen – häufig schmerzhaft verzerrter Gesichtsausdruck – krampfartiges Herausstrecken der Zunge – okulogyre Krisen (Blickkrampf), verschwommenes Sehen – Tortikollis und Retrokollis – Opisthotonusstellung – Choreatisch-athetoide und torsionsdystone Bewegungsabläufe Auslösende Substanzen v.a. traditionelle NL (wie Haloperidol) mit hoher dopaminerger Rezeptorbindung Pathogenese Störung im dopaminergen nigrostriären System Therapie akut: Gabe von Biperiden (1A. 5 mg i.m.) mittelfristig: Oral 1–2 Tabl. (2–4 mg) oder 1–2 Drgs. (4–8 mg retard) Biperiden und/oder Dosisreduktion, ggf. Absetzen bzw. Umsetzen auf atypisches Neuroleptikum Bewegungsunruhe, sondern auch zusätzlich zu katatonen Symptomen, paranoidhalluzinatorischen Syndromen, formalen Denkstörungen und Ich-Störungen. Das gemeinsame Auftreten von Akathisie und anderen extrapyramidal-motorischen Störungen (40–60% der Fälle) ist häufig. Neben Neuroleptika können Antidepressiva wie z. B. SSRIs für das Auftreten einer Akathisie verantwortlich sein (DAMSA et al. 2004). Bei Antidepressiva-induzierten Bewegungsunruhen kann die Symptomatik als Vorliegen einer agitierten Depression fehlinterpretiert werden, wobei eine Dosiserhöhung zu einer möglichen Verschlechterung führen würde. Der Manifestationszeitpunkt der Akathisie liegt in 50% der Fälle in der zweiten bis dritten Behandlungswoche, in 90% innerhalb der ersten 70 Tage. Besonders häufig betroffen sind Frauen unter Haloperidoloder Fluphenazintherapie. Malignes neuroleptisches Syndrom (MNS) In der Behandlung mit Neuroleptika kann als sehr seltene, äußerst gravierende Neben- wirkung ein malignes neuroleptisches Syndrom auftreten (ANANTH et al. 2004, BHANUSHALI und TUITE 2004). Mittlerweile konnte nachgewiesen werden, dass die Symptomatik in seltenen Fällen auch unter Therapie mit Antidepressiva, z. B. Trizyklika wie Amitryptilin oder Desipramin oder SSRIs wie Paroxetin (HEINEMANN et al. 1997) vorkommen kann. Auch Clozapin kann z. T. in Kombination mit Lithium in Einzelfällen für das Auftreten eines malignen neuroleptischen Syndroms verantwortlich gemacht werden. Differentialdiagnostisch können unter Clozapin häufiger als unter klassischen Neuroleptika reversible benigne Hyperthermien auftreten, die einen Therapieabbruch nicht zwingend erforderlich machen. Aus diesem Grund werden im klinischen Alltag oft Patienten mit vorbeschriebenem MNS mit Clozapin zur Prophylaxe eines MNS-Rezidivs weiterbehandelt. Zerebrale Vorschädigung, Dehydratation, früheres Auftreten der Symptomatik und die Geschwindigkeit der Dosiserhöhung werden als prädisponierende Faktoren für das MNS gewertet. Aus verschiedenen 1.1 Psychiatrische Notfälle Untersuchungen lässt sich ableiten, dass bei Patienten mit affektiven Störungen, katatoner Schizophrenie und hirnorganischen Erkrankungen tendenziell ein höheres Risiko besteht, eine solche Symptomatik zu entwickeln, wobei sich kein eindeutiger Zusammenhang zwischen MNS und einer bestimmten psychiatrischen Erkrankung herstellen lässt. Einen Überblick über Diagnostik und Therapie liefert Tabelle 1.1.12. Delir Innerhalb von wenigen Stunden nach Gabe eines anticholinerg wirksamen Arzneimittels kann sich ein delirantes Zustandsbild entwickeln, dessen klinische Symptomatik und Therapie in Tabelle 1.1.13 zusammenfassend dargestellt ist. Durch eine gewissenhafte Anamneseerhebung, klinische Untersuchung und die Art der Vorbehandlung muss ein anticholinerges Delir von Verwirrtheitszuständen im Rahmen schädlichen Alkoholkonsums sowie im Zusammenhang mit organischen Grunderkrankungen abgegrenzt werden. Meist ist die Therapie nur unter stationären Bedingungen möglich. Neben einer Flüssigkeitszufuhr und Stabilisierung der HerzKreislauffunktion kann nach Absetzen des auslösenden Medikaments bei paranoidhalluzinatorischer Symptomatik Haloperidol (2–5 mg p.o., i.m. oder i.v.) gegeben werden. Liegt keine Bewusstseinsstörung vor, kann bei im Vordergrund stehenden Angstsyndromen Lorazepam (1–2,5 mg) eingesetzt werden. Unter stationärer Behandlung kann die Gabe von Clomethiazol erwogen werden, allerdings ist eine Kombination mit Benzodiazepinen kontraindiziert. Nur bei schweren, durch Anticholinergika verursachten Verwirrtheitszuständen kann unter intensivmedizinischer Überwachung eine Therapie mit Physiostigmin (1–2 mg langsam i.v.) begonnen werden. In 20minütigen Abständen kann bei persistierender Vigilanzminderung wiederholt 1 mg 17 verabreicht werden (Antidot bei Überdosierung: Atropin). Nach Abklingen der Symptomatik, das im Wesentlichen von der Halbwertszeit, der Dosishöhe der verursachenden Substanz und der individuellen Risikofaktoren abhängig ist, sollte eine medikamentöse Neueinstellung zur Therapie der vorliegenden psychiatrischen Störung erfolgen. Epileptische Anfälle Anticholinerg wirksame Medikamente sind vor allem in Kombinationstherapie neben einer zerebralen Vorschädigung prädisponierende Faktoren für die Entstehung von epileptischen Anfällen. Krampfanfälle können als Gelegenheitsanfälle bei Fieber, Schlafmangel, unter Alkoholeinfluss etc. auftreten, kommen jedoch auch dosisabhängig unter Therapie mit typischen Neuroleptika (Phenothiazine) und atypischen Substanzen (z. B. Clozapin) sowie tri- und tetrazyklischen Antidepressiva (GROHMANN et al. 2004) vor. Primär generalisierte tonisch-klonische Anfälle können auch durch plötzliches Absetzen einer längerfristigen Benzodiazepin-Behandlung ausgelöst werden. Generell ist eine unmittelbare medikamentöse Therapie nicht erforderlich, da es sich meist um einzelne Anfallsereignisse handelt. Eine gründliche neurologische Untersuchung ist zum Ausschluss einer zerebralen Schädigung infolge eines anfallsbedingten Sturzes unerlässlich. Liegen individuelle Risikofaktoren, Anfallsserien sowie fehlende häusliche Überwachungsmöglichkeiten vor oder ist die diagnostische Ausgangslage unklar, ist eine stationäre Aufnahme erforderlich. Ein Status epilepticus sollte symptomatisch z. B. mit unter Umständen wiederholten Gaben von Clonazepam (1 mg langsam i.v.) oder alternativ Diazepam (10 mg langsam i.v.) behandelt werden. Im Anschluss an die Akutbehandlung muss eine Dosisreduktion, die Umstellung auf nicht-anticholinerg wirksame Substanzen 18 1 Pharmakotherapie neuropsychiatrischer Notfall- und Akutsituationen Tabelle 1.1.12. Diagnostik und Therapie des malignen neuroleptischen Syndroms Häufigkeit Inzidenz 0,05–0,5%, m > w (v. a. jüngere m) Symptomatik klinisch Lebensbedrohlich, akute Syndromentwicklung – Fieber (> 38 °C) – Schwitzen – Tachykardie – Instabiler Blutdruck – Tachypnoe – Vermehrter Speichelfluss – Urininkontinenz – Rigor, Tremor, Akinese, Opisthotonus, Schluckstörungen – Bewusstseinstrübung – Stupor Labor Leukozytose, Creatinphosphokinase (CK) erhöht, Myoglobinämie/urie, metabolische Azidose Differentialdiagnose Febrile Katatonie (Rigor meist ohne Zahnradphänomen, andere katatone Syndrome wie Negativismus, Echolalie, Echopraxie, Bewegungsstereotypien, Haltungsverharren, Mutismus), Enzephalitis Parkinson-Krankheit Maligne Hyperthermie Serotoninsyndrom L-Dopa-Entzugssyndrom Manifestationszeitpunkt Meist innerhalb von 1–2 Wochen nach Behandlungsbeginn Auslösende Substanzen – – – alle Neuroleptika (NL) wahrscheinlich höheres Risiko bei hochpotenten Substanzen Lithium + NL (selten) Antidepressiva (sehr selten) Pathogenese – – – Blockade von Dopaminrezeptoren (Hypothalamus, Basalganglien) Störung des intrazellulären Kalziumstoffwechsels Störung im muskulären Bereich Komplikationen – – – Ateminsuffizienz Herz-Kreislaufversagen Rhabdomyolyse und akutes Nierenversagen Therapie – – – – – NL sofort absetzen Stationäre (ggf. intensivmed.) Therapie Fiebersenkung (Abkühlung) Flüssigkeitszufuhr Gabe von Dantrolen (4–10 mg/kg/KG oral in den ersten 24 Std.); ggf. i.v. Gabe max. 10 mg/kg/KG/die, initial 2,5 mg/kg/KG Ev. in Kombination mit Bromocriptin (10 max. 60 mg/24 Std.) Alternativ zu Bromocriptin Amantadin (PK-Merz®) 200–400 mg/die Ultima ratio: Elektrokrampftherapie – – – Rezidivrisiko ca. 15% Modifiziert nach MÜLLER-SPAHN und HOFFMANN-RICHTER (2000, 2002)