Wissenschaft Die virtuellen Babys Medizin Noch vor der Empfängnis könnte neuerdings jedes Paar testen lassen, wie hoch das Risiko ist, dass sein Nachwuchs an bestimmten Erbleiden erkrankt. Werden künftig Prognosen aus dem Genlabor mit darüber entscheiden, wer mit wem Kinder zeugt? Eltern Maria und Louis mit Tochter Vasiliki in Nikosia: Die Leute erwarteten, dass sie das Kind abtreiben würden 118 DER SPIEGEL 41 / 2014 at sich Maria in den Falschen verliebt? Louis ist attraktiv, charmant und gebildet. Aber er hat das Stigma. Stigma – so sagen die Menschen im griechischen Teil Zyperns, wenn jemand das genetische Merkmal für die Thalassämie trägt, ein Erbleiden, bei dem sich das Hämoglobin der roten Blutkörperchen nicht richtig bildet. Die Betroffenen brauchen alle paar Wochen eine Bluttransfusion und jeden Tag Medikamente, sonst sterben sie schon im Kindesalter. Louis hat das Merkmal zum Glück nur von einem Elternteil geerbt. Er ist deshalb gesund. Aber wenn er mit einer Frau, die ebenfalls das Stigma hat, ein Kind zeugt, dann hat dieses ein Risiko von 1:3, von beiden Eltern das Merkmal zu erben: Es würde dann zu wenig normales Hämoglobin bilden und im Blut nicht ausreichend Sauerstoff transportieren. Genau diese Konstellation ist bei Maria und Louis gegeben. Sie wurden bereits als Teenager auf ihren Trägerstatus getestet. Maria war 16 Jahre alt, als sie von ihrem Stigma erfuhr; Louis 18. Auf der Berufsschule lernten sie sich kennen und dachten nicht mehr an die Tests. Und so erzählten sie einander erst davon, als sie sich bereits ineinander verliebt hatten. Beide wollten später einmal Kinder haben. Sollte das Paar die Beziehung lieber beenden? Auf eigenen Nachwuchs verzichten? Oder mithilfe künstlicher Befruchtung Embryonen im Labor zeugen lassen, von denen nur jene ausgetragen werden, die das Leiden nicht geerbt haben? Maria und Louis entschieden sich für keine dieser Varianten – sondern für das Prinzip Hoffnung. „Wir waren einfach optimistisch und setzten auf die 75 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass das Kind gesund ist“, erzählt Louis, 30, bei einem Treffen in Zyperns Hauptstadt Nikosia. Eines Tages war Maria tatsächlich schwanger, mit einem Jungen. Er kam gesund auf die Welt – weder von der Mutter noch von dem Vater hatte er das Stigma geerbt. Die Fragen, die sich Maria und Louis stellten, könnten bald auf viele Paare mit Kinderwunsch zukommen. Denn die Fortschritte der Genanalyse offenbaren: Jeder Mensch hat ein Stigma. Neben der Thalassämie wurden inzwischen mehr als tausend sogenannte rezessive Erbkrankheiten beschrieben, die erst dann ausbrechen, wenn sie von beiden Elternteilen vererbt werden. Statistisch gesehen ist ein gesunder Mensch Überträger von schätzungsweise mehr als fünf rezessiven Erbleiden. Das wissen die wenigsten. Manche erfahren es, wenn sie mit einem Partner, der zufällig das Merkmal für dieselbe Erbkrankheit trägt, ein Kind bekommen und dieses krank auf die Welt kommt (siehe FOTO: MARO KOURI / DER SPIEGEL H Grafik Seite 120). Vermutlich 0,5 Prozent aller Neugeborenen in Deutschland haben ein rezessives Erbleiden. Dazu gehören die Mukoviszidose und Formen geistiger Behinderung. Mithilfe von neuartigen Gentests können Eltern schon vor der Zeugung klären, ob sie ein Kind mit einer Erbkrankheit auf die Welt bringen würden. Der Preis, das komplette menschliche Erbgut zu sequenzieren, wird bald unter die magische Grenze von 1000 Dollar sinken. Deshalb wird es in den Industriestaaten für viele potenzielle Eltern bezahlbar, ihr genetisches Profil erstellen zu lassen. Frauen und Männer mit Kinderwunsch könnten künftig sogar ihre genetische Verträglichkeit abgleichen, bevor sie sich verlieben. Die Firma GenePeeks in den USA bietet einen solchen Service seit Kurzem an. Mögliche Eltern schicken eine Speichelprobe ein. Firmenmitarbeiter untersuchen das darin enthaltene Erbgut und identifizieren die Merkmale für rezessive Erbkrankheiten. Dann vereinen sie das genetische Material der Frau und des Mannes gleichsam im Computer. Um die Durchmischung des Erbguts wie bei einer richtigen Empfängnis zu simulieren, werden unterschiedliche Szenarien durchgespielt. Das Verfahren „erschafft Tausende hypothetische ,digitale Babys‘“, teilt die Firma mit. Auf diese Weise „schätzen wir das Krankheitsrisiko für das künftige Kind eines Paares ab“. Bisher hätten sieben Kunden den Service in Anspruch genommen, zum Preis von 1995 Dollar. Hans-Hilger Ropers, Direktor am MaxPlanck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin, findet es gut, dass Paare mit Kinderwunsch vorab erfahren können, ob für ihren Nachwuchs ein erhöhtes Krankheitsrisiko besteht. „Wenn Eltern sich auf alle bekannten rezessiven Gendefekte testen lassen, dann wird sich die Zahl der Kinder mit schweren Erbleiden verringern.“ Zypern ist eine Art Zukunftslabor für die schöne neue Gentest-Welt. Auf der Mittelmeerinsel lässt sich am Beispiel der Thalassämie erahnen, wie sich das Kinderkriegen verändern könnte, wenn irgendwann jeder seine Risiken im Erbgut kennt. Dass die Krankheit auf Zypern so auffällig oft vorkommt und zwölf Prozent aller Bewohner das Merkmal dafür tragen, hat mit der Malaria zu tun, die hier jahrtausendelang wütete. Der Erreger der Malaria wird von der Anophelesmücke in das Blut übertragen, wo er sich von Hämoglobin ernährt. Im Laufe von Generationen waren deshalb jene Menschen im Vorteil und bekamen mehr Nachwuchs, die das Merkmal für Thalassämie in sich trugen: Von einem Elternteil erhielten sie ein normales GlobinGen, vom anderen Elterteil ein mutiertes. Das Blut eines Menschen mit Trägerstatus Preis für die Entzifferung eines menschlichen Genoms in Dollar 100 Mio. 95,3 Mio. 10 Mio. September 2001 1 Mio. 100 000 100000 10 000 10000 4920 1000 April 2014 Quelle: NHGRI ist dann ein Mix und enthält normales und verändertes Hämoglobin. Es kann noch ausreichend Sauerstoff transportieren und wird zugleich nicht so leicht vom MalariaErreger befallen. Nicht nur auf Zypern, auch in anderen früheren und aktuellen Malaria-Gebieten tragen bis heute vergleichsweise viele Menschen das schützende Merkmal für Thalassämie. Die Kehrseite: Entsprechend hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wiederum zwei Träger miteinander Kinder zeugen. Und dann entscheiden die klassischen Vererbungsregeln, wer das mutierte Gen von beiden Eltern mitbekommt – daher liegt das Risiko für ihre Kinder bei 25 Prozent. Früher kam auf Zypern eines von ungefähr 160 Babys mit Thalassämie auf die Welt. Jedes Jahr waren es zwischen 60 und 80 neue Fälle – was das Gesundheitssystem mehr und mehr überforderte. Es gab zu wenig Spenderblut. Eltern bettelten im Bekanntenkreis um Blutspenden für ihre kranken Kinder oder kauften sich welche auf dem Schwarzmarkt. Zugleich hatten viele Zyprioten keine Ahnung, woher die Krankheit kam. In den Dörfern hieß es, das kranke Blut sei eine Strafe Gottes für die Sünden der Eltern. Schließlich startete die zypriotische Regierung ein Präventionsprogramm, um die Zahl der Geburten betroffener Babys zu senken. Jugendliche werden seither bereits in den Schulen gescreent; und Paare dürfen nur dann kirchlich heiraten, wenn sie ihren Trägerstatus kennen und dem orthodoxen Priester eine entsprechende Bescheinigung vorlegen. Mittlerweile kommen auf Zypern kaum noch Kinder mit Thalassämie auf die DER SPIEGEL 41 / 2014 119 Wissenschaft Welt. Manche Paare trennen sich, andere treiben betroffene Kinder ab, wieder andere nehmen Adoptivkinder an. Der Ethnologe Stefan Beck von der Berliner Humboldt-Universität hat sich mit dem Thalassämie-Programm auf Zypern wissenschaftlich befasst. In einem Aufsatz schreibt er: „Was aus bioethischer Sicht schnell als ,gefährliche Eugenik‘ eingeordnet werden kann, ist aus Sicht der Akteure – Ärzte wie betroffenen Laien – eine zutiefst moralische, dem guten Leben verpflichtete Praxis.“ In Israel, wo die Thalassämie ebenfalls gehäuft vorkommt, haben Mediziner 75 000 Frauen gescreent und mehr als 500 Risikopaare beraten, woraufhin 110 betroffene Föten gefunden und abgetrieben wurden. Das Aufspüren und Abtreiben eines dieser Föten hat demnach 63 660 Dollar gekostet. Die medizinische Behandlung eines Thalassämie-Patienten über einen Zeitraum von 50 Jahren kostet dagegen knapp zwei Millionen Dollar. Im Mediterranean Journal of Hematology and Infectious Diseases argumentieren der israelische Arzt Ariel Koren und Kollegen mit buchhalterischer Kühle: „Die Vermeidung von 45 betroffenen Neugeburten in einem Zeitraum von zehn Jahren stellt eine Nettoersparnis von 88,5 Millionen Dollar für das Gesundheitsbudget dar.“ Das Screening vor der Empfängnis wird inzwischen auch von aschkenasischen Juden betrieben. Eine Stiftung an der Emory University School of Medicine in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia bietet den „JScreen“ an, einen Test auf rezessive Erkrankungen, von denen 19 gehäuft unter aschkenasischen Juden vorkommen. Schon bald könnten solche Tests auch für Menschen Routine werden, die keiner „Risikopopulation“ angehören. Die Tests werden einerseits immer billiger, zum anderen gibt es, wie sich zeigt, ein Restrisiko: Ein bis zwei Prozent aller Paare in den westlichen Gesellschaften tragen das Merkmal für dieselbe rezessive Erkrankung. So kann ein genetisches Roulette beginnen. Anne Morriss aus Cambridge, Massachusetts, trug das Merkmal für eine schwere Stoffwechselstörung („MCADMangel“), ohne davon zu ahnen. Die Frau ist lesbisch und wollte vor einiger Zeit mit Spendersamen ein Kind bekommen. Ihre Wahl fiel auf das Material eines Mannes, der ebenfalls das MCAD-Merkmal trug – ohne davon zu wissen. Deswegen stand dazu auch nichts im Katalog der Samenbank. Bei der Befruchtung verschmolzen ausgerechnet eine Eizelle und ein Spermium, die das krank machende Merkmal in sich trugen. Deshalb kam der Sohn Alec mit dem Erbleiden auf die Welt. 120 DER SPIEGEL 41 / 2014 Screening vor der Schwangerschaft Jeder Mensch trägt Merkmale für verschiedene rezessive Erbkrankheiten. Er ist gesund, kann das Merkmal aber weitervererben. normales, defektes Gen Wenn zwei Menschen, die zufällig Merkmale für dasselbe rezessive Erbleiden tragen, ein Kind zeugen, dann hat es ein Risiko von 25 Prozent, daran zu erkranken: Statistisch wäre von vier Kindern eins zwei wären wiederum eins wäre gesund, gesunde Merkmalsträger, krank. Paare mit Kinderwunsch können vorab durchspielen lassen, ob eine solche Konstellation žœšŅĴğĬŭLJćƊųſğšĚğōĚćťšĒĬųŭĚğš&šćųųōĚ das des Mannes ausgelesen und im Computer abgeglichen. Wenn das Verfahren ein Risiko für eine rezessive Erbkrankheit prognostiziert, könnte das Paar ǜťĴĔıŭšğōōğōDŽćųĨFćĔıſųĔıťžğšƊĴĔıŭğōœĚğš Kinder adoptieren. ǜVšČĴŋŝŅćōŭćŭĴœōťĚĴćĬōœťŭĴłōųŭƊğōdžĴğĴƊğŅŅğ würde künstlich befruchtet und der Embryo vor dem Einpflanzen in die Gebärmutter untersucht. ǜĚćťkōĬğĒœšğōğŋĴŭŭğŅťVšČōćŭćŅĚĴćĬōœťŭĴł untersuchen und es gegebenenfalls abtreiben oder medizinische Vorkehrungen für seine Geburt treffen. Anne Morriss kümmert sich liebevoll um ihren Jungen, aber sie will verhindern, dass es anderen Frauen so ergeht wie ihr. Mit dem Biologen Lee Silver von der Princeton University hat sie GenePeeks gegründet, eine Firma, die aus dem genetischen Profil zukünftiger Eltern digitale Babys samt Krankheitsrisiko generiert. Die ersten sieben Kunden sind Frauen, die mit Spendersamen schwanger werden wollen, teilt GenePeeks mit. In wenigen Monaten werde der Service auch Paaren angeboten, die mit einer gespendeten Eizelle Nachwuchs haben möchten. Und Frauen und Männer, die sich auf natürliche Weise fortpflanzen wollen, werde der Test namens „Matchright“ in ein bis zwei Jahren angeboten. Doch was, wenn sich bei einem Gentest tatsächlich herausstellt, dass im Mutterleib ein krankes Kind heranwächst? Genau das war bei den Zyprioten Maria und Louis der Fall. „Bei unserem zweiten Kind hatten wir leider nicht so viel Glück wie bei unserem Erstgeborenen“, erzählt Louis. Diesmal ergab eine Fruchtwasseruntersuchung: Das Paar würde ein Mädchen bekommen, welches das Thalassämie-Merkmal von ihnen beiden geerbt hat. „Es war zuerst ein Schock“, sagt Maria, 32. Die Leute hätten erwartet, dass sie das Kind abtreiben würden, erzählt Louis. Das habe er in ihren Augen gesehen. Die Vorstellung, es auszutragen, habe ein Arzt als „Blödsinn“ abgetan. Die Eltern sahen es anders. Vasiliki, so der Name, kam im Oktober 2013 auf die Welt. Jetzt schmiegt die Kleine sich an den Busen der Mutter. „Es war keine religiöse Entscheidung, sondern eine pragmatische“, sagt Maria. Sie und ihr Mann sind ausgebildete Krankenpfleger und wissen deshalb, dass Menschen mit Thalassämie ein gutes Leben haben können, zumindest auf Zypern – was wiederum mit den flächendeckenden Gentests zusammenhängt. Weil die Zahl der neuen Patienten auf der Insel dramatisch gesunken ist, verfügt das Gesundheitssystem inzwischen über genügend Ressourcen, um betroffene Menschen mit Bluttransfusionen und Medikamenten zu versorgen. Sogar eine Stammzellverpflanzung wird von der Krankenversicherung übernommen. Sie kostet etwa 200 000 Euro und ist die einzige Chance, die Thalassämie zu heilen. Darauf hoffen Maria und Louis. Einen Spender haben sie bereits. Das Knochenmark ihres Sohnes passt nämlich perfekt für ihre Tochter. Wenn diese ein wenig größer ist, wollen die Eltern die Stammzellverpflanzung wagen. Der Eingriff wird mit Risiken für die Tochter verbunden sein, aber der Name des Sohnes ist ein gutes Omen. Er heißt Jörg Blech Sotiris: der Retter.