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Wissenschaft
Die virtuellen Babys
Medizin Noch vor der Empfängnis könnte neuerdings jedes Paar testen lassen, wie hoch
das Risiko ist, dass sein Nachwuchs an bestimmten Erbleiden erkrankt. Werden
künftig Prognosen aus dem Genlabor mit darüber entscheiden, wer mit wem Kinder zeugt?
Eltern Maria und Louis mit Tochter Vasiliki in Nikosia: Die Leute erwarteten, dass sie das Kind abtreiben würden
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at sich Maria in den Falschen verliebt? Louis ist attraktiv, charmant
und gebildet. Aber er hat das
Stigma.
Stigma – so sagen die Menschen im griechischen Teil Zyperns, wenn jemand das
genetische Merkmal für die Thalassämie
trägt, ein Erbleiden, bei dem sich das Hämoglobin der roten Blutkörperchen nicht
richtig bildet. Die Betroffenen brauchen
alle paar Wochen eine Bluttransfusion und
jeden Tag Medikamente, sonst sterben sie
schon im Kindesalter.
Louis hat das Merkmal zum Glück nur
von einem Elternteil geerbt. Er ist deshalb
gesund. Aber wenn er mit einer Frau, die
ebenfalls das Stigma hat, ein Kind zeugt,
dann hat dieses ein Risiko von 1:3, von
beiden Eltern das Merkmal zu erben: Es
würde dann zu wenig normales Hämoglobin bilden und im Blut nicht ausreichend
Sauerstoff transportieren.
Genau diese Konstellation ist bei Maria
und Louis gegeben. Sie wurden bereits als
Teenager auf ihren Trägerstatus getestet.
Maria war 16 Jahre alt, als sie von ihrem
Stigma erfuhr; Louis 18. Auf der Berufsschule lernten sie sich kennen und dachten
nicht mehr an die Tests. Und so erzählten
sie einander erst davon, als sie sich bereits
ineinander verliebt hatten. Beide wollten
später einmal Kinder haben.
Sollte das Paar die Beziehung lieber beenden? Auf eigenen Nachwuchs verzichten? Oder mithilfe künstlicher Befruchtung
Embryonen im Labor zeugen lassen, von
denen nur jene ausgetragen werden, die
das Leiden nicht geerbt haben?
Maria und Louis entschieden sich für
keine dieser Varianten – sondern für das
Prinzip Hoffnung. „Wir waren einfach optimistisch und setzten auf die 75 Prozent
Wahrscheinlichkeit, dass das Kind gesund
ist“, erzählt Louis, 30, bei einem Treffen
in Zyperns Hauptstadt Nikosia. Eines Tages war Maria tatsächlich schwanger, mit
einem Jungen. Er kam gesund auf die
Welt – weder von der Mutter noch von
dem Vater hatte er das Stigma geerbt.
Die Fragen, die sich Maria und Louis
stellten, könnten bald auf viele Paare mit
Kinderwunsch zukommen. Denn die Fortschritte der Genanalyse offenbaren: Jeder
Mensch hat ein Stigma.
Neben der Thalassämie wurden inzwischen mehr als tausend sogenannte rezessive Erbkrankheiten beschrieben, die erst
dann ausbrechen, wenn sie von beiden
Elternteilen vererbt werden. Statistisch gesehen ist ein gesunder Mensch Überträger
von schätzungsweise mehr als fünf rezessiven Erbleiden.
Das wissen die wenigsten. Manche erfahren es, wenn sie mit einem Partner, der
zufällig das Merkmal für dieselbe Erbkrankheit trägt, ein Kind bekommen und
dieses krank auf die Welt kommt (siehe
FOTO: MARO KOURI / DER SPIEGEL
H
Grafik Seite 120). Vermutlich 0,5 Prozent
aller Neugeborenen in Deutschland haben
ein rezessives Erbleiden. Dazu gehören
die Mukoviszidose und Formen geistiger
Behinderung.
Mithilfe von neuartigen Gentests können Eltern schon vor der Zeugung klären,
ob sie ein Kind mit einer Erbkrankheit auf
die Welt bringen würden. Der Preis, das
komplette menschliche Erbgut zu sequenzieren, wird bald unter die magische Grenze von 1000 Dollar sinken. Deshalb wird
es in den Industriestaaten für viele potenzielle Eltern bezahlbar, ihr genetisches Profil erstellen zu lassen. Frauen und Männer
mit Kinderwunsch könnten künftig sogar
ihre genetische Verträglichkeit abgleichen,
bevor sie sich verlieben.
Die Firma GenePeeks in den USA bietet
einen solchen Service seit Kurzem an.
Mögliche Eltern schicken eine Speichelprobe ein. Firmenmitarbeiter untersuchen
das darin enthaltene Erbgut und identifizieren die Merkmale für rezessive Erbkrankheiten. Dann vereinen sie das genetische Material der Frau und des Mannes
gleichsam im Computer. Um die Durchmischung des Erbguts wie bei einer richtigen Empfängnis zu simulieren, werden unterschiedliche Szenarien durchgespielt.
Das Verfahren „erschafft Tausende hypothetische ,digitale Babys‘“, teilt die Firma mit. Auf diese Weise „schätzen wir das
Krankheitsrisiko für das künftige Kind
eines Paares ab“. Bisher hätten sieben
Kunden den Service in Anspruch genommen, zum Preis von 1995 Dollar.
Hans-Hilger Ropers, Direktor am MaxPlanck-Institut für Molekulare Genetik in
Berlin, findet es gut, dass Paare mit Kinderwunsch vorab erfahren können, ob für
ihren Nachwuchs ein erhöhtes Krankheitsrisiko besteht. „Wenn Eltern sich auf alle
bekannten rezessiven Gendefekte testen
lassen, dann wird sich die Zahl der Kinder
mit schweren Erbleiden verringern.“
Zypern ist eine Art Zukunftslabor für
die schöne neue Gentest-Welt. Auf der
Mittelmeerinsel lässt sich am Beispiel der
Thalassämie erahnen, wie sich das Kinderkriegen verändern könnte, wenn irgendwann jeder seine Risiken im Erbgut kennt.
Dass die Krankheit auf Zypern so auffällig
oft vorkommt und zwölf Prozent aller Bewohner das Merkmal dafür tragen, hat mit
der Malaria zu tun, die hier jahrtausendelang wütete.
Der Erreger der Malaria wird von der
Anophelesmücke in das Blut übertragen,
wo er sich von Hämoglobin ernährt. Im
Laufe von Generationen waren deshalb
jene Menschen im Vorteil und bekamen
mehr Nachwuchs, die das Merkmal für
Thalassämie in sich trugen: Von einem Elternteil erhielten sie ein normales GlobinGen, vom anderen Elterteil ein mutiertes.
Das Blut eines Menschen mit Trägerstatus
Preis für die Entzifferung
eines menschlichen Genoms
in Dollar
100 Mio.
95,3
Mio.
10 Mio.
September 2001
1 Mio.
100 000
100000
10 000
10000
4920
1000
April 2014
Quelle: NHGRI
ist dann ein Mix und enthält normales und
verändertes Hämoglobin. Es kann noch
ausreichend Sauerstoff transportieren und
wird zugleich nicht so leicht vom MalariaErreger befallen.
Nicht nur auf Zypern, auch in anderen
früheren und aktuellen Malaria-Gebieten
tragen bis heute vergleichsweise viele
Menschen das schützende Merkmal für
Thalassämie. Die Kehrseite: Entsprechend
hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wiederum zwei Träger miteinander Kinder
zeugen. Und dann entscheiden die klassischen Vererbungsregeln, wer das mutierte
Gen von beiden Eltern mitbekommt –
daher liegt das Risiko für ihre Kinder bei
25 Prozent.
Früher kam auf Zypern eines von ungefähr 160 Babys mit Thalassämie auf die
Welt. Jedes Jahr waren es zwischen 60 und
80 neue Fälle – was das Gesundheitssystem
mehr und mehr überforderte. Es gab zu
wenig Spenderblut. Eltern bettelten im Bekanntenkreis um Blutspenden für ihre
kranken Kinder oder kauften sich welche
auf dem Schwarzmarkt.
Zugleich hatten viele Zyprioten keine
Ahnung, woher die Krankheit kam. In den
Dörfern hieß es, das kranke Blut sei eine
Strafe Gottes für die Sünden der Eltern.
Schließlich startete die zypriotische Regierung ein Präventionsprogramm, um die
Zahl der Geburten betroffener Babys zu
senken. Jugendliche werden seither bereits
in den Schulen gescreent; und Paare dürfen nur dann kirchlich heiraten, wenn sie
ihren Trägerstatus kennen und dem orthodoxen Priester eine entsprechende Bescheinigung vorlegen.
Mittlerweile kommen auf Zypern kaum
noch Kinder mit Thalassämie auf die
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Wissenschaft
Welt. Manche Paare trennen sich, andere
treiben betroffene Kinder ab, wieder andere nehmen Adoptivkinder an.
Der Ethnologe Stefan Beck von der Berliner Humboldt-Universität hat sich mit
dem Thalassämie-Programm auf Zypern
wissenschaftlich befasst. In einem Aufsatz
schreibt er: „Was aus bioethischer Sicht
schnell als ,gefährliche Eugenik‘ eingeordnet werden kann, ist aus Sicht der Akteure – Ärzte wie betroffenen Laien – eine
zutiefst moralische, dem guten Leben verpflichtete Praxis.“
In Israel, wo die Thalassämie ebenfalls
gehäuft vorkommt, haben Mediziner
75 000 Frauen gescreent und mehr als 500
Risikopaare beraten, woraufhin 110 betroffene Föten gefunden und abgetrieben
wurden. Das Aufspüren und Abtreiben
eines dieser Föten hat demnach 63 660
Dollar gekostet. Die medizinische Behandlung eines Thalassämie-Patienten
über einen Zeitraum von 50 Jahren kostet
dagegen knapp zwei Millionen Dollar. Im
Mediterranean Journal of Hematology
and Infectious Diseases argumentieren
der israelische Arzt Ariel Koren und Kollegen mit buchhalterischer Kühle: „Die
Vermeidung von 45 betroffenen Neugeburten in einem Zeitraum von zehn
Jahren stellt eine Nettoersparnis von 88,5
Millionen Dollar für das Gesundheitsbudget dar.“
Das Screening vor der Empfängnis wird
inzwischen auch von aschkenasischen Juden betrieben. Eine Stiftung an der Emory
University School of Medicine in Atlanta
im US-Bundesstaat Georgia bietet den
„JScreen“ an, einen Test auf rezessive Erkrankungen, von denen 19 gehäuft unter
aschkenasischen Juden vorkommen.
Schon bald könnten solche Tests auch
für Menschen Routine werden, die keiner
„Risikopopulation“ angehören. Die Tests
werden einerseits immer billiger, zum
anderen gibt es, wie sich zeigt, ein Restrisiko: Ein bis zwei Prozent aller Paare in
den westlichen Gesellschaften tragen
das Merkmal für dieselbe rezessive Erkrankung.
So kann ein genetisches Roulette beginnen. Anne Morriss aus Cambridge,
Massachusetts, trug das Merkmal für eine
schwere Stoffwechselstörung („MCADMangel“), ohne davon zu ahnen. Die
Frau ist lesbisch und wollte vor einiger
Zeit mit Spendersamen ein Kind bekommen. Ihre Wahl fiel auf das Material eines
Mannes, der ebenfalls das MCAD-Merkmal trug – ohne davon zu wissen. Deswegen stand dazu auch nichts im Katalog
der Samenbank. Bei der Befruchtung
verschmolzen ausgerechnet eine Eizelle
und ein Spermium, die das krank machende Merkmal in sich trugen. Deshalb kam
der Sohn Alec mit dem Erbleiden auf
die Welt.
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Screening vor der
Schwangerschaft
Jeder Mensch trägt Merkmale für verschiedene rezessive Erbkrankheiten. Er ist gesund, kann das Merkmal aber weitervererben.
normales,
defektes
Gen
Wenn zwei Menschen, die zufällig Merkmale
für dasselbe rezessive Erbleiden tragen, ein
Kind zeugen, dann hat es ein Risiko von 25 Prozent, daran zu erkranken: Statistisch wäre von
vier Kindern
eins
zwei wären wiederum eins wäre
gesund, gesunde Merkmalsträger, krank.
Paare mit Kinderwunsch können vorab durchspielen lassen, ob eine solche Konstellation
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das des Mannes ausgelesen und im Computer
abgeglichen.
Wenn das Verfahren ein Risiko für eine rezessive Erbkrankheit prognostiziert, könnte das Paar
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Kinder adoptieren.
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würde künstlich befruchtet und der Embryo
vor dem Einpflanzen in die Gebärmutter
untersucht.
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untersuchen und es gegebenenfalls abtreiben
oder medizinische Vorkehrungen für seine
Geburt treffen.
Anne Morriss kümmert sich liebevoll
um ihren Jungen, aber sie will verhindern,
dass es anderen Frauen so ergeht wie ihr.
Mit dem Biologen Lee Silver von der
Princeton University hat sie GenePeeks
gegründet, eine Firma, die aus dem genetischen Profil zukünftiger Eltern digitale
Babys samt Krankheitsrisiko generiert.
Die ersten sieben Kunden sind Frauen,
die mit Spendersamen schwanger werden
wollen, teilt GenePeeks mit. In wenigen
Monaten werde der Service auch Paaren
angeboten, die mit einer gespendeten
Eizelle Nachwuchs haben möchten. Und
Frauen und Männer, die sich auf natürliche
Weise fortpflanzen wollen, werde der Test
namens „Matchright“ in ein bis zwei Jahren angeboten.
Doch was, wenn sich bei einem Gentest
tatsächlich herausstellt, dass im Mutterleib
ein krankes Kind heranwächst? Genau das
war bei den Zyprioten Maria und Louis
der Fall.
„Bei unserem zweiten Kind hatten wir
leider nicht so viel Glück wie bei unserem
Erstgeborenen“, erzählt Louis. Diesmal ergab eine Fruchtwasseruntersuchung: Das
Paar würde ein Mädchen bekommen, welches das Thalassämie-Merkmal von ihnen
beiden geerbt hat. „Es war zuerst ein
Schock“, sagt Maria, 32.
Die Leute hätten erwartet, dass sie das
Kind abtreiben würden, erzählt Louis. Das
habe er in ihren Augen gesehen. Die Vorstellung, es auszutragen, habe ein Arzt als
„Blödsinn“ abgetan. Die Eltern sahen es
anders. Vasiliki, so der Name, kam im Oktober 2013 auf die Welt. Jetzt schmiegt die
Kleine sich an den Busen der Mutter.
„Es war keine religiöse Entscheidung,
sondern eine pragmatische“, sagt Maria.
Sie und ihr Mann sind ausgebildete Krankenpfleger und wissen deshalb, dass Menschen mit Thalassämie ein gutes Leben
haben können, zumindest auf Zypern –
was wiederum mit den flächendeckenden
Gentests zusammenhängt.
Weil die Zahl der neuen Patienten auf
der Insel dramatisch gesunken ist, verfügt
das Gesundheitssystem inzwischen über
genügend Ressourcen, um betroffene
Menschen mit Bluttransfusionen und
Medikamenten zu versorgen. Sogar eine
Stammzellverpflanzung wird von der
Krankenversicherung übernommen. Sie
kostet etwa 200 000 Euro und ist die einzige Chance, die Thalassämie zu heilen.
Darauf hoffen Maria und Louis. Einen
Spender haben sie bereits. Das Knochenmark ihres Sohnes passt nämlich perfekt
für ihre Tochter. Wenn diese ein wenig
größer ist, wollen die Eltern die Stammzellverpflanzung wagen.
Der Eingriff wird mit Risiken für die
Tochter verbunden sein, aber der Name
des Sohnes ist ein gutes Omen. Er heißt
Jörg Blech
Sotiris: der Retter.
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