Anja Frank, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig Theorie und Empirie des Schönen ‒ Ästhetische Urteile aus kultursoziologischer Perspektive Ausgehend von Kants theoretischer Bestimmung des ästhetischen Urteils als „uninteressiertes Wohlgefallen“ und Bourdieus Korrektur mit dem Hinweis auf dessen soziale Implikationen, beschäftige ich mich in diesem Vortrag mit der empirischen Untersuchung von ästhetischen Urteilen. Bourdieu hatte ästhetisches Urteilen vor allem als Distinktionsstrategie herausgestellt und so das Interesse ins „uninteressierte Wohlgefallen“ zurückgebracht. Damit hat er zugleich die Vorlage für die daran anschließende Geschmacks- und Lebensstilsoziologie geliefert, die sich seither vor allem mit Zuordnung von kulturellen Präferenzen und sozialstrukturellen Merkmalen beschäftigt. Inzwischen gibt es zwar auch genauere Untersuchungen zur Kunstwahrnehmung und ästhetischen Beurteilung, aber auch hier arbeiten die meisten Studien mit vorab konstruierten Kategorien und semantischen Oppositionen. Wenige Autoren haben Ästhetik und Geschmack rekonstruktiv empirisch untersucht. Sie zeigen jedoch, dass es weit mehr Kategorien als die bisher untersuchten gibt, und sie zeigen, dass diese in einem bestimmten Deutungs- und Thematisierungszusammenhang stehen. Denn die Kategorien, semantischen Oppositionen und Referenzen, die ästhetische Bezüge aufschließen, sind selbst prozesshaft und heterogen. Am Beispiel von Gruppendiskussionen mit Mitgliedern aus Fördervereinen von Opernhäusern stelle ich ästhetische Urteile und Bewertungen in ihrem sequentiellen Vollzug, in ihrer interaktiven Dynamik und in ihrer lebensweltlichen Situierung vor. Hier finden sich (theoretisch) ‚außerästhetische’ Kategorien wie die ‚Angemessenheit’ für den Ort oder für das Publikum oder Fragen nach der gesellschaftlichen Aktualität des Stückes als Wertmaßstäbe zur Beurteilung von Inszenierungen. Ich werde zeigen, dass sowohl die schmale Definition des ästhetischen Urteils im Sinne Kants mit ‚rein’ ästhetischen Kategorien neben einer analytischen Operation eine nach wie vor wirkungsmächtige Semantik ist und, dass Bourdieus Konzeptualisierung des ästhetischen Urteils als Distinktionsstrategie nur eine Variante des sozialen Interesses darstellt. Was alles noch ästhetische Urteile sein können und was ihr soziales Interesse, ist auch eine Frage der Empirie: Wie stehen ‚ästhetische’ und ‚außerästhetische’ Kategorien zueinander? Welche ‚Interessen’ spiegeln sich in ästhetischen Urteilen? Dem Verhältnis von Theorie und Empirie gehe ich damit am Beispiel einer Ästhetik nach, der es nicht nur um Begriffsarbeit auf der einen (theoretischen) Seite geht, noch nur um die sozialen Bedingungen des Geschmacks auf der anderen Seite, sondern um die lebensweltliche Einbindung und soziale Struktur des ästhetischen Erlebens selbst.