TÜBINGEN SCHWÄBISCHES TAGBLATT Samstag, 12. August 2017 Rauchsäulen über dem Meer: Die Schlauchboote der Flüchtlinge werden verbrannt, sobald die Menschen an Bord eines der großen Schiffe sind. Bilder: Sea Eye Verbrannte Boote, geklaute Motoren Während ein Teil der „Sea-Eye“-Crew von ihrem kleinen Boot aus (gelb) Rettungswesten an die Flüchtlinge auf dem Schlauchboot verteilt, lauern schon die „Engine-fisher“ auf dem Holzboot. Später werden sie den Motor des Schlauchboots klauen. Flüchtlinge Zwei Wochen lang waren der Rottenburger Kapitän Friedhold Ulonska und der Tübinger Arzt Kraft Dieter auf der „Sea-Eye“, um Flüchtlinge zu retten. Doch den Organisationen wird ihre Arbeit nun schier unmöglich gemacht. Von Sabine Lohr E s ist kurz vor sechs Uhr am Morgen, als sich die italienische Seenotrettungsstelle bei der „Sea-Eye“ meldet. Man habe etwa 13 Seemeilen (24 Kilometer) östlich des kleinen Schiffs der ehrenamtlichen Retter Schlauchboote gesichtet. Der 60-jährige Rottenburger Unternehmensberater Friedhold Ulonska ist der Kapitän der „Sea-Eye“ und steuert das Boot dort hin, wo die Italiener hilflose Flüchtlinge vermuten. Und richtig: Nach kaum 20 Minuten sichtet ein Crewmitglied eines dieser blauen Schlauchboote, auf denen dicht an dicht Menschen kauern. Und dann noch eines und noch eines. „Vor einem Jahr kamen bei ruhigem Wetter jeden Tag ein paar Boote. In diesem Jahr ist tagelang nichts, und dann tauchen plötzlich an die 30 Boote auf“, sagt Ulonska nach dem Einsatz im Gespräch mit dem TAGBLATT. Erklären stand gewesen, den er ohne Infusion höchstens noch eine halbe Stunde überlebt hätte. Sein rechtes Bein war wie abgestorben, er bekam hohes Fieber, hatte Schmerzen. Dieter stabilisierte den Kreislauf des Mannes – arg viel mehr konnte er nicht tun. Später nahm ein deutsches Marineschiff den Kranken auf. „Ob er überlebt hat, wissen wir nicht“, sagt Dieter. Die bestellen diese Boote im Internet, dann werden sie aus China geliefert. Friedhold Ulonska, Kapitän der „Sea-Eye“ kann er diese Veränderung nicht. Vielleicht liegt es daran, dass die Schleuser auf Bootslieferungen warten. „Die bestellen diese Boote im Internet, dann werden sie aus China geliefert“, sagt Ulonska. Nach 20 Minuten ist die „Sea-Eye“ – ein umgebauter Fischkutter des gleichnamigen Vereins – beim ersten Boot und lässt sein kleines Rettungsboot Charlotti zu Wasser. Drei Crewmitglieder fahren raus, verteilen Rettungswesten und Wasser an die Flüchtlinge. Ulonska informiert die Seenotrettung und fragt nach einem Schiff, das die Menschen aufnehmen kann. Die „Sea-Eye“ ist dafür viel zu klein. Und es ist auch nicht ihre Aufgabe, die Flüchtlinge an Land zu bringen. „Unsere Mission ist, Menschen in Seenot zu retten, nicht, sie zu transportieren“, sagt Ulonska. Doch schon jetzt, am Vormittag, ist kein Transport- oder Militärschiff mehr in der Nähe. Sie alle sind unterwegs nach Italien, um die Flüchtlinge, die sie schon aufgenommen haben, an Land zu bringen. Die „Iuventa“, das Boot der Organisation „Jugend rettet“, ist zwar in der Nähe, aber schon mit fünf Booten beschäftigt. Auf dem blauen Rettungsboot bricht ein Mann zusammen. Die Charlotti nimmt ihn auf und bringt ihn zur „Sea-Eye“. „Er hatte keinen Puls mehr“, berichtet der Tübinger Arzt Kraft Dieter, der ebenfalls zur Crew gehörte. Der Mann sei in einem Zu- Einsatz auf der „Sea-Eye“ (von oben): Der Tübinger Arzt Kraft Dieter hilft einem Baby, Kapitän Friedhold Ulonska ruft ein Schiff. Die Sea-Eye ist ein alter, umgebauter Fischkutter. Viele der Flüchtlinge seien dehydriert, „sie haben kein Essen und auch vor der Fahrt keins bekommen“, sagt der Arzt. Die meisten der Menschen auf dem Boot kommen aus libyschen Flüchtlingslagern. „Dort wird misshandelt, geschlagen, vergewaltigt“, weiß Ulonska. Haben sie erstmal einen Schlepper bezahlt, müssen sie tagelang irgendwo eingesperrt ausharren, bis sie auf ein Boot gebracht werden. Dabei haben sie schon einen mehr als mühseligen Weg hinter sich gebracht: „Die meisten kommen zur Zeit aus Ländern der Subsahara, also aus Mali oder Nigeria. Oder aus der Ostsahara, dem Sudan, Südsudan. In diesem Jahr sind auch auffallend viele Bangladeshi dabei.“ Die Sonne brennt unerbärmlich. Die Menschen auf den Schlauchbooten sind erschöpft, übermüdet. „Viele haben sich aufgegeben“, sagt Dieter. Und viele kollabieren. Nur den Babys scheint es gut zu gehen. Dieter berichtet von ausgezehrten, mutlosen Müttern, die mollige Babys haben. „Die Kleinen erholen sich schnell, wenn sie mal Wasser bekommen haben“, sagt Dieter. Und die Mütter schlafen erst, wenn sie ihr Kind in Sicherheit wissen. Immer noch ist kein Schiff in der Nähe der „Sea-Eye“. Ulonska beschließt deshalb, zusammen mit dem Schlauchboot dorthin zu fahren, wo es Hilfe gibt. Signe Zurmühlen, eine 30-jährige Schauspielerin aus Köln, beschreibt in einem Bericht über den Einsatz, wie sie von der Charlotti aus einem Mann im Schlauchboot erklärte, wie er den Motor bedienen muss. Unterwegs findet die „Sea-Eye“ noch ein Boot voller Flüchtlinge und versorgt sie. „Die Engine-Fisher kreisten schon wie die Geier darum“, berichtet Zurmühlen. Engine-Fisher – Motorfischer – sind offenbar Teil der Schlepperbanden. Sie verfolgen die Flüchtlingsboote und klauen die Außenbordmotoren, sobald die Menschen auf einem Schiff sind. „Verbrecher“, urteilt Ulonska. Diesmal warten die Engine-Fisher nicht mal ab, bis die Menschen gerettet sind, sondern greifen zu, als das Boot bei der „Iuventa“ angekommen ist. Es wird eine lange Nacht. Zehn weitere Boote werden gesichtet, die Menschen darauf versorgt. Frauen weinen, manche brechen zusammen. Was dem Arzt Dieter in Erinnerung bleiben wird, ist der Gestank. „Die Menschen kotzen auf den Booten, pinkeln, scheißen, schwitzen, dazu der Benzingeruch“, beschreibt er. Aber was sollen sie anderes tun? Sie dümpeln tagelang zusammengepfercht in brütender Hitze auf dem Mittelmeer, können sich nicht bewegen, geben die Hoffnung auf. Erst gegen 22 Uhr sind alle Flüchtlinge auf sicheren Transportschiffen und werden nach Italien gebracht. Auf der „Sea-Eye“ herrscht Ruhe. Sieben der neun Crew-Mit- glieder schlafen, die beiden anderen halten noch ein paar Stunden Wache. Sie sehen Rauchwolken am Horizont. Die Besatzung der Schiffe verbrennt die Schlauchboote, um es den Schleppern so schwer wie möglich zu machen. Der Tag wiederholt sich. Noch einmal rettet die Mannschaft der „Sea-Eye“ rund 500 Menschen. Ulonska ist froh darüber, Die Menschen kotzen auf den Booten, pinkeln, scheißen, schwitzen, dazu der Benzingeruch. Kraft Dieter, Arzt auf der „Sea-Eye“ hält die Sichtungen der Boote aber auch für Zufall. In diesem Jahr, sagt er, seien schon 2500 Menschen im Mittelmeer ertrunken. „Und das sind nur die, von denen wir sicher wissen.“ Die Wahrscheinlichkeit, relativ nah an einem Boot vorbeizufahren, ohne es zu sehen, sei relativ hoch. Zweimal, so berichtet der Kapitän, sei die „Sea-Eye“ etwas westlicher als die anderen Rettungsboote gefahren und habe zwei Schlauchboote voller Menschen entdeckt. Niemand hatte sie gemeldet. Und sie selbst konnten sich auch nicht bemerkbar machen, denn in den Booten gibt es weder Leuchtraketen noch ein Satellitentelefon. Wäre die „Sea-Eye“ nicht zufällig in der Nähe gewesen, wäre das Todesurteil, mit dem die Schlepper die Menschen in die Boote schicken, vollstreckt worden. „Sie haben weder genug zu trinken, noch genug Benzin. Eine Küste würden sie nie erreichen“, ist sich Ulonska sicher. Er ärgert sich über Vorwürfe wie die von Innenminister Thomas de Maizière, der behauptete, die Schiffe der Rettungsorganisationen würden ihre Position im Mittelmeer verbergen und in libysche Gewässer fahren, um von dort mit Scheinwerfern den Schleppern ein Ziel vorzugeben. Niemals würden die Organisationen in die 12-Meilen-Zone vor Libyens Küste fahren, sagt Ulonska. Diese Zone ist libysches Hoheitsgewässer – und verboten. „Es könnte sein, dass die Libyer schießen.“ Und das mit dem Scheinwerfer sei Quatsch. Selbst wenn er ganz oben auf dem Schiff einen starken Scheinwerfer hätte, würde der nie und nimmer an der Küste gesehen werden. „Die Erde ist nun mal keine Scheibe, sondern gekrümmt, da reicht das Licht maximal drei Seemeilen weit.“ Auch der Vorwurf, die Rettungsschiffe würden ihre Position verschleiern, sei Blödsinn. „Die italienische Seenotrettung hat ja dauernd Kontakt zu uns und gibt uns die Positionen der Schlauchboote in unserer Nähe durch. Wieso sollten wir unsere Position verschleiern?“ Die Lage hat sich trotzdem zugespitzt. Die „Iuventa“ wurde vor wenigen Tagen von Italien beschlagnahmt. Der Organisation wird vorgeworfen, mit Schleppern zusammenzuarbeiten. Ulonska schenkt diesen Vorwürfen keinen Glauben. Er kennt die Organisation, hat ihr auf seiner jüngsten Mission sogar mit Rettungswesten und einem Schlauchboot ausgeholfen. In vier Wochen will Ulonska wieder aufs Mittelmeer, diesmal mit der „SeaWatch“, einer weiteren Rettungsorganisation. Doch ob die ihre Mission dann noch erfüllen kann, steht in den Sternen. Denn Italien hat genug von all den Flüchtlingen, die es unterbringen und versorgen muss. Die anderen europäischen Länder nehmen entweder keine Flüchtlinge auf oder viel zu wenige. „Der Politik geht es vor allem um die Bekämpfung der Schleuser“, sagt Ulonska. Wie die von Schiffen auf dem Meer aus erfolgen soll, sei ihm allerdings unklar. „Die Schleuser sind ja nicht auf den Booten.“ Italien setzt nun auf eine andere Methode – es will den Rettungsorganisationen die Arbeit so schwer wie möglich machen und verlangt von ihnen, einen Verhaltenskodex zu unterschreiben, den „Code of Conduct“. In dem wird unter anderem verlangt, dass die Organisationen ihre Finanzierung offenlegen. Was kein Problem für „Sea-Eye“, „SeaWatch“ oder „Jugend rettet“ ist – es sind gemeinnützige Vereine, die ohnehin regelmäßig von den Finanzämtern überprüft werden. Eine weitere Forderung ist weitaus schwieriger zu erfüllen: Die Rettungsorganisationen sollen die Flüchtlinge nicht mehr an die großen Schiffe übergeben. Nach und nach unterschreiben die Organisationen diesen Kodex. Nicht, weil sie ihn gutheißen, sondern weil ihnen nichts anderes übrigbleibt. Der „Open Arms“ und der „Golfo Azzurro“ – beides Rettungsschiffe einer spanischen Organisation – wurde tagelang die Einfahrt in einen italienischen Hafen verweigert, weil diese Organisationen den Kontrakt nicht unterschrieben haben. Erst am Mittwoch, nachdem die Organisationen unterschrieben hatten, nahmen Häfen die beiden Schiffe auf. „Was sollen wir machen?“, fragt Ulonska. „Wenn wir nicht unterschreiben, können wir vielleicht keine Menschen mehr retten.“ Die Organisationen setzen nun auf Ausnahmeregelungen und hoffen, ihre Arbeit trotz des Kodex noch tun zu können. Siehe überregionale Politik