Verdrängt : die älteste Religion der Welt : eine Polemik Autor(en): Wolf, Doris Objekttyp: Article Zeitschrift: Du : die Zeitschrift der Kultur Band (Jahr): 56 (1996) Heft 8: Am Anfang war die Kunst : die ersten Schritte des Menschen PDF erstellt am: 27.10.2017 Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-299494 Nutzungsbedingungen Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die auf der Plattform e-periodica veröffentlichten Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungsbedingungen und den korrekten Herkunftsbezeichnungen weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. 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Das Ärgerliche daran ist, dass rein spekulative Interpretationen und darauf basierende sub¬ jektive Schlussfolgerungen präsentiert werden, als wären es wohl¬ fundierte Fakten. Die einmal aufgestellten Theorien der Autoritä¬ ten werden dann durch ständiges Abschreiben und Wiederholen zu unantastbaren Tatsachen gemacht. Hinzu kommt, dass unter den Wissenschaftlern eine stillschweigende Vereinbamng existiert, sich gegenseitig nicht ins Gehege zu kommen, wodurch eine kri¬ tische Diskussion verhindert wird. Aufgmnd der ur- und flühgeschichtlichen Forschung kann aber heute die Tatsache nicht mehr bestritten werden, dass dem kriegerischen Patriarchat in Europa eine lange Zeit des Friedens vorausging. Bis zu den indoarischen Invasionen aus den südrussi¬ schen Steppen zwischen 4300 bis 2800 Jahren vor unserer Zeit¬ rechnung gab es weder im Nahen Osten noch in Alt-Europa Kriege. Man hat weder Befestigungsanlagen noch Waffen oder zertrümmerte Skelette gefunden, die auf irgendeine Art von Ge¬ waltanwendung schliessen liessen, was von den Urgeschichtlern mit grosser Verwunderung zur Kenntnis genommen wurde. Die Fakten, die die Jahrzehntausende des Friedens vor der patriarcha¬ len Machtnahme belegen, irritieren aber vor allem jene, die am Mythos hängen, Krieg habe es schon immer gegeben. Aus diesem Gmnd sucht man(n) nach Beweisen für kriegerische Aggression in der vorpatriarchalen Zeit. Zur Unterstützung dieser Behauptung werden Steinartefakte aus den Jahrtausenden, sogar Jahrzehn- und Jahrhunderttausenden vor der geschichtlichen Zeit immer wieder als Waffen gedeutet, obwohl diese Theorie einer objektiven wis¬ senschaftlichen Prüfung nicht standhält und solche Auslegungen äusserst fragwürdig sind. Zum Beispiel Ägypten: Als Keulenköpfe werden aus der vordynastischen Zeit stam¬ mende, meist kreisrunde, flache Steine mit einem Loch in der Mitte gedeutet. Nach dem Umbruch von der vordynastischen in die pharaonische Zeit um etwa 5000 Jahre vor unserer Gegenwart wurden aber keine flachen, sondern birnenförmige Keulenköpfe verwendet, mit deren Hilfe die pharaonische Gewaltherrschaft in Ägypten etabliert wurde. Diese Keule ist schon auf den frühesten Dokumenten in der Hand des Häuptlings, der seine Feinde er¬ schlägt, dargestellt und blieb, was wohl kein Zufall ist, als Zepter jahrtausendelang das Symbol königlicher Autorität und Macht. Bei den flachen Steinen aus der vordynastischen Zeit sind aber auch harmlosere Interpretationen als die von Tötungswaffen möglich. Es kann sich dabei um Websteine oder Spinnwirtel, um Handgriffe von Stocher- oder Schürfstöcken handeln, bei den Mei¬ nen Exemplaren vielleicht um Spielsteine oder Amulette oder so¬ gar um sakrale Gegenstände, wie Tina Radke-Gerlach dokumen¬ tierte: Die Swanen im Hochland des heutigen Georgien haben, obwohl sie mittlerweile Christen sind, noch viele heidnische Bräu¬ che beibehalten. Beispielsweise darf bei ihnen die Milch einer jungen Kuh, die zum erstenmal gemolken wird, nicht getrunken werden. Frauen spritzen den Milchstrahl, der den Sonnenstrahl symbolisiert, durch das Loch eines flachen, runden Steines, der für 36 die Gebärmutter steht, auf die Erde, wo er versid<ert. An einem speziellen Festtag versammeln sich die Frauen bei Sonnenaufgang in einer winzigen Kiche, beten zur heiligen Barbara, der nur locker christianisierten Göttin der Barbaren, die für Geburten zuständig ist, und dann werden die Gebärmutter-Steine geopfert. Hunderte solcher Opfersteine wurden in den Ritzen und Nischen der ver¬ fallenen Gemäuer entdeckt. Diese Muttersteine gleichen exakt den als Keulenköpfe bezeichneten Steinen aus dem vordynastischen Ägypten. Ungeachtet der Tatsache, dass den vorpharaonischen Bewoh¬ nerinnen und Bewohnern des Niltals stets attestiert wurde, sie seien erwiesenermassen ein friedliches Volk gewesen, wird ver¬ sucht, den Eindmck zu erwecken, als sei diesen Menschen nichts wichtiger gewesen als Waffen. Die Ureinwohner des Niltals waren ohne Zweifel Meister in der Bearbeitung von Feuersteinen. Un¬ zählige künstlich gefertigte Steine aus der Altsteinzeit bis in die pharaonische Zeit dienten ohne Frage als Werkzeuge für den täg¬ lichen Gebrauch. Aber viele davon sind mit so grossem Aufwand und einzigartigem künstlerischem Geschick bearbeitet, dass sie ohne weiteres als die frühesten Kunsterzeugnisse der Menschheit betrachtet werden können. Die zu vielen verschiedenen Formen verarbeiteten Flintsteine, zum Beispiel leicht konisch behauen, mit bogenförmigem oder spitz auslaufendem Abschluss, mehr oder weniger ei- und man¬ delförmig, dreieckig, herzförmig, manchmal fast zum Kreis ver¬ kürzt oder Lorbeerblättern ähnlich, wurden in beeindruckenden Mengen gefunden (man spricht weltweit von Milliarden solcher Exemplare). Ihre Verwendung ist völlig ungeklärt. Die Arbeiten sind von unübertrefflicher Feinheit und können am besten mit ge¬ schliffenen Diamanten verglichen werden, die für die normaler¬ weise genannten praktischen Zwecke Messer, Schaber, Stichel, Bohrer, Steinäxte, Faustkeile, Speerklingen und Lanzenköpfe viel zu kostbar und zu zart sind. Sie wurden vor allem in Gräbern, neben den sorgfältig bestatteten Toten, gefunden, auch solchen von Kleinkindern und sogar Föten. Diese Fundorte dürften ein wichtiger Hinweis dafür sein, dass es sich hier nicht um Werkzeuge oder Waffen, sondern um Gegenstände mit sakralem Charakter handelt, um Kultgegenstände, die mit Tod und Wiedergeburt ver¬ bunden sind und zu einem urgeschichtlichen Steinkult gehörten. Zu den häufig gefundenen Steinartefakten aus den urgeschicht¬ lichen Epochen zählen auch pfeilspitzenförmige Objekte aus Silexstein. Auch diese werden von männlichen Forschem immer als Jagd- und Kriegswaffen gedeutet. Auffallend ist aber, dass diese Pfeilspitzen, von denen manche hauchdünn und kaum fingernagelgross sind, nie an Pfeilschäften befestigt gewesen sind, dass man nie einen Bogen dazu gefunden hat und dass kein einziges dieser Objekte Spuren von Befestigungsmaterial aufwies, wie etwa von Teer, Tiersehnen oder getrockneten Fellstreifen. Der Gmnd dafür ist nicht, dass das organische Material im trockenen Wü¬ stensand von Ägypten vermodert wäre schon aus dem Beginn der dynastischen Zeit wurden guterhaltene Holzobjekte gefunden. Erstaunliches bemerkt man dann, wenn man diese Pfeilspit¬ zen, die immer mit der Spitze nach oben abgebildet werden, ein¬ mal umdreht: Sie sehen nun weit eher wie abstrakte Darstel¬ lungen weiblicher Körper aus, mit einem dreieckigen Leib und * i >A'< ÎSftl èov Wfk m 4 ausgestreckten Armen, einer der typischen späteren GöttinnenDarstellungen täuschend ähnlich, eine Abwandlung des heiligen VSymbols der Göttinnen. Eine grosse Anzahl solcher Steinspitzen aus Ländern des Na¬ hen Ostens, auch solche aus Berg¬ kristall und Karneol, werden bis heute zu Schmuck und Amuletten verarbeitet. Diese Talismane gel¬ ten als Glücksbringer, als Schutz > vor Unwettern und Blitzschlag, sie dienen als Liebeszauber und sol¬ len Kindersegen garantieren, Ge¬ Umgedrehte «Pfeilspitzen» werden burten erleichtern und Krankhei¬ andere Wiedemm heilen. ten Pfeilspitzen sehen aus, als würden sie auf zwei Beinchen stehen. Auch diese erinnern eher an frühe weibliche Symbole denn an Geschossspitzen. Der Gedanke drängt sich auf, dass die Religion der Grossen Göttin bis in die Anfänge der Menschheit zurückgeht, bis zu den ersten Erzeugnissen der Steinzeitmenschen, die den religiösen Steinkult begründeten und in ihren Kleinkunstwerken manife¬ stierten. Der Stein galt als Immanenz des Göttlichen, beseelt von übernatürlichen Kräften, und war Ausdmck des Dauernden und Ewigen. Dies dürfte der Gmnd für die Herstellung der riesigen Mengen von wunderschön behauenen Steinen seit der Altstein¬ zeit gewesen sein - und nicht Jagd- oder Kriegsgelüste. Wir haben kein Recht, diesen frühen Menschen religiöse Gefühle abzuspre¬ chen und ihre kunstvollen Steinartefakte nicht als Ur-Manifestation ihrer Auffassung von der Grossen Göttin in abstrakter Form zu betrachten. Beim Anblick der steinernen Kunstwerke aus der ägyptischen Urgeschichte ist es unverständlich, dass sich die Wissenschaft kaum für die prädynastische Kultur interessiert. Befürchtet man, die gründliche Erforschung der vorpharaonischen Zeit könnte zei¬ keine Ou¬ gen, dass die pharaonische Hochkultur möglicherweise Die vermutete? Friedeil vertüre, sondern ein Finale war, wie Egon Pha¬ die durch weibliche Ur-Kultur alte eine Frage, ob in Ägypten raonen zerstört wurde, ist noch nicht beantwortet. Die Verfolgung der früheren Religion durch die Pha¬ raonen ist von Cheops verbrieft. Er liess die Heiligtümer schliessen und den alten Kult ver-bieten. Um wel¬ chen Kult es sich dabei gehandelt haben könnte, interessierte die Wis¬ senschaftler nicht. Wir können uns in der heutigen Literatur über alle patriarchalen *w wt 0 Religionen informieren, Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, sv* Konfuzianismus und Buddhismus. 5f Unzählige Fachbücher gibt es auch zur Religion der Pharaonenzeit. Es ^ ¦ h ist aber wohl kaum zu bezweifeln, dass das auffallende Fehlen von Arbeiten zur ältesten Religion der Welt, der Verehrung der Gros¬ be¬ sen Göttin, in der männlich herrschten Religionsabteilung der Weltgeschichte System hat. Viel¬ leicht fürchtet man - und dies könnte durchaus zu Recht so sein dass die menschenfreundliche Religion der Grossen Mutter, als Alternative zu den Patriarchen, die der Welt so viel Unheil gebracht haben, noch immer überaus at¬ traktiv sein und so eine enorme Bedrohung für das Patriarchat be¬ plötzlich zu weiblichen Symbolen deuten könnte. Deshalb wird sie in gleichem Mass tabuisiert wie das Matriarchat als soziale, ökonomische und historische Grösse -, der Frauen. Die patriarchale Wissenschaft - und dazu gehören selbst¬ redend auch die Religionshistoriker - war und ist noch immer sehr erhalten: erfindungsreich, wenn es dämm geht, ihre Mythen zu verdreht, ver¬ werden Viele Funde und Forschungsergebnisse dass derart oder geschönt, beschnitten harmlost, umgedeutet, mühelos darüber hinwegsieht. Viele wurden vernichtet oder man falsch übersetzt und falsch interpretiert. Tatsache ist auch, dass es die vielbeschworene objektive Wissenschaft gar nicht gibt; jede Wissenschaft ist geschlechts¬ Zensur spezifisch geprägt. Dazu kommt, dass eine eigentliche herrscht zu dem, was veröffentlicht werden darf und was nicht; Material aus¬ es existiert ein Wissensfilter, der unwillkommenes steht. Seit im Wege herrschenden Lehrmeinung siebt, welches der matriarchale über das Wissen unsere wächst Frauen forschen, Vergangenheit wie eine Lawine. Damit wächst auch die Kritik Ver¬ an den patriarchalen Auslegungen über den ursprünglichen haben lauf der kulturellen Evolution. Viele Frauen und Männer in den letzten Jahren mit Empömng und Nachdruck darauf Wissenschaft hingewiesen, dass die Geschichte der Frauen durch und aus der verbannt Geschichtsbüchern und Religion aus den wurde. Erinnemng getilgt In der Bibel ist nachzulesen, wie die Vertreter der monotheistischen männlichen Religion die Zerstö¬ mng der matriarchalen Religion, der sakralen Kultorte und heili¬ sollt alle gen Steine befahlen: Ihr die denen zerstören, an Kultstätten Völker, deren Besitz ihr übernehmt, ihren Göttern gedient haben: auf den hohen Bergen, und auf den Hü¬ unter jedem üppigen Baum. Ihr sollt ihre Altäre niederreissen und ihre Steinmale zerschlagen... "¦¦'¦ geln ^f ; (Dt. 12,2f). 37 ¦