Das Jahrhundert des Faschismus: Europas Verführer STANDPUNKT Bruder Jünger Von Stefan Breuer Spiegel des 20. Jahrhunderts mente neu zu kombinieren. Was Intellektuelle wie Ernst Jünger und Gottfried Benn in Deutschland, Gabriele D’Annunzio und Filippo Tommaso Marinetti in Italien faszinierte, war die Destruktion des Erwartbaren, der Sprung aus Zeit und Geschichte, die „Gepäckerleichterung“. Von dieser Idee rührt die Affinität zur Gewalt als der knappsten, unmittelbarsten Form von Kommunikation, der Kult der Gefahr und des Krieges, die Apotheose des Abenteuers, des plötzlichen und unvermuteten Rollenwechsels, der aus dem poète maudit Rimbaud den Waffenhändler in Äthiopien, aus dem deutschen Kleinstadtgymnasiasten Jünger den Fremdenlegionär macht. Von daher kommen der demonstrative Amoralismus und Zynismus und nicht zu- Jünger (1939) letzt der abgrundtiefe Selbsthass, der sich in Marinettis Wunsch offenbart, die Bibliotheken zu verbrennen und die Museen zu fluten. Verbrennen, verflüssigen, auflösen, einschmelzen: Diese Intellektuellen sind süchtig nach dem Chaos, nach der „großen Säuberung durch das Nichts“, wie es Ernst Jünger 1929 ausgedrückt hat – in einem Text, der sich vom Nationalsozialismus wegen dessen mangelnder Radikalität distanzierte. Es gibt gute Gründe, derartigen Experimenten mit der Antistruktur in der Politik entgegenzutreten. Aber es gibt ebenfalls Gründe, darüber nachzudenken, ob wir es hier bloß mit einem „Verrat der Intellektuellen“ (Julien Benda) am normativen Projekt der Moderne zu tun haben, der durch Appelle an die Political Correctness zu beheben ist, oder nicht vielmehr mit bestimmten Aspekten der Modernisierung Machen wir es uns nicht zu leicht, wenn wir den Autor der „Stahlgewitter“ als reaktionären Militaristen abtun, den Autor des „Surrealistischen Manifests“, André Breton, aber als Galionsfigur der Moderne verehren, dessen Definition der einfachsten surrealistischen Handlung – „mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings so viel wie möglich in die Menge zu schießen“ – durchaus auch in Jüngers „Abenteuerlichem Herzen“ ihren Platz hätte? Übersehen wir nicht Wesentliches, wenn wir die Zugehörigkeit zur Moderne vor allem von politisch-moralischen Kriterien abhängig machen? In Wahrheit gehört der rechte Intellektualismus nicht weniger zur Moderne als der linke. Modern ist der radikale Subjektivismus, modern die Gleichgültigkeit gegenüber allen Inhalten; modern der Kult der permanenten Innovation, der in immer kürzeren Zeitabständen jede Struktur zur Disposition stellt; modern endlich die Entschlossenheit, sich am eigenen Schopf aus dem Strudel zu ziehen. Thomas Mann, in praktischen Dingen selbst bisweilen zur Schwarzweißmalerei tendierend, hat in einem bedeutenden Essay vom „Bruder Hitler“ gesprochen. Die Verfechter der Moderne sollten es ihm nachtun und ihren „Bruder Jünger“ erkennen. AKG D er Geist steht links, hieß es in den Zeiten des kurzen Gedächtnisses. In Wahrheit konnte auch der Faschismus auf die Unterstützung von Intellektuellen rechnen. Zumal in Deutschland war der Beifall mindestens ebenso stark wie die Kritik. Von Stefan George über Rainer Maria Rilke bis zu Gottfried Benn reicht die Phalanx derer, die mit Sympathie oder offener Zustimmung das italienische Experiment verfolgten. Oswald Spengler schickte Mussolini seine Schriften, Rudolf Borchardt besuchte ihn persönlich, Ernst Jünger rief 1926 dazu auf, dem „deutschen Faschismus“ doch „endlich und offen ein Zentrum zu errichten“. Woher rührt diese Faszination, die die extreme Rechte auf so viele Intellektuelle ausgeübt hat? Ist es, wie Marxisten und selbst ernannte Konservative es gern hätten, der gegenrevolutionäre Charakter, der die Anziehung begründet? Das Versprechen auf Ordnung, auf Wiederherstellung einer durch die Linke bedrohten bürgerlichen Welt? In Mussolini sahen viele den Ordnungsstifter, den Staatsmann, der sein Land mit eiserner Faust „in Form“ brachte (Spengler). Doch es wäre ein gründliches Missverständnis, den Faschismus allein auf ein Faible für ordnende Strukturen zurückzuführen. Gewiss, bei der einen oder anderen Art von Ordnung landeten sie alle einmal, sei es die faschistische Diktatur oder die römische Kirche. Aber das gilt auch für die Vorkämpfer der Revolution von links, die sich früher oder später ebenfalls auf der Seite von Institutionen wiederfanden. Nein, die Verführung der Intellektuellen ging im Gegenteil von dem aus, was Ethnologen die „Antistruktur“ nennen: von der Möglichkeit, die alltäglichen sozialen Beziehungen aufzubrechen, Normen- und Rollengefüge zu sprengen und die freigesetzten Ele- Breuer, 50, ist Professor für Soziologie an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK; VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPITALISMUS; X. … DES KOMMUNISMUS; XI. DAS JAHRHUNDERT DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR 156 d e r s p i e g e l 3 4 / 1 9 9 9