Krankes Gesundheitssystem Im Wortlaut, Ruben Lehnert in KLAR Nr. 40, 07. April 2017 Immer mehr Wettbewerb untergräbt die Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung. Das Nachsehen haben die Versicherten. Von Ruben Lehnert Irmtraud Dold, eine 59-jährige gelernte Speditionskauffrau aus Baden-Württemberg, gehört zu den 90 Prozent der Menschen in Deutschland, die gesetzlich versichert sind. Siegfried Tanculski, ein 74jähriger Kaufmann aus Ostfriesland, ist privat versichert. Ihre Beispiele illustrieren die Malaise im Gesundheitssystem. Irmtraud Dold musste jahrelang darum kämpfen, dass die Krankenkasse ihr einen allergieverträglichen Zahnersatz zahlt. Ihre gesamten Ersparnisse gingen für Eigenanteile, Zuzahlungen, Allergietests drauf. Siegfried Tanculski hat fast 50 Jahre lang Beiträge an eine private Krankenversicherung gezahlt. Weil irgendwann seine Geschäfte nicht mehr so gut liefen, konnte er die teuren Beiträge nicht mehr zahlen; heute erhält er nur noch Leistungen bei akuter Krankheit und Schmerzen. Bereits Ende der 1970er Jahre begann die Politik in Westdeutschland, Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung einzuschränken. Eine rasante Beschleunigung erfuhr diese Entwicklung in den 2000er Jahren. Zunächst erhöhen SPD und Grünen mit Zustimmung von CDU/CSU die Zuzahlungen drastisch und führen die Praxisgebühr ein – ein obligatorisches Eintrittsgeld beim Arzt. Schließlich beschließen sie auch noch einen Sonderbeitrag von 0,9 Prozent, den ausschließlich die Versicherten zahlen müssen. Ein paar Jahre später lassen CDU/CSU und FDP den Anteil des Arbeitgebers an den Krankenversicherungsbeiträgen gesetzlich festschreiben. Für alle zukünftigen Beitragserhöhungen müssen fortan einseitig die Versicherten in Form von Zusatzbeiträgen aufkommen. Zudem zwingt die Politik die Krankenkassen, untereinander um Versicherte zu konkurrieren. Infolgedessen schränken die Kassen Leistungen ein und bewilligen Therapien nicht, um zu vermeiden, dass sie wegen steigender Beiträge Versicherte verlieren. Irmtraud Dold bekam diese Entwicklung am eigenen Leib zu spüren. Vor mehr als zehn Jahren hatte sie Kronen im Ober- und Unterkiefer erhalten, für die sie einen Eigenanteil von 2.200 Euro zahlen musste – viel Geld für die ehemalige Angestellte im öffentlichen Dienst, die seit dem Jahr 2012 eine niedrige Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht. Doch aufgrund multipler Allergien, von denen sie zu diesem Zeitpunkt noch nichts wusste, vertrug sie den Zahnersatz nicht: Ihre Zähne lösten sich auf, die Kronen fielen heraus, ihre Mundhöhle vereiterte. „Ich konnte nur noch Babykost essen“, erinnert sie sich. Im Jahr 2009 wurde bei ihr eine Kunststoffallergie, drei Jahre später eine starke Allergie gegen Edelmetall wie Gold und Palladium diagnostiziert. Deshalb kam für sie nur ein Zahnersatz infrage, der aus verträglichen Materialien gefertigt ist. Doch die Krankenkasse lehnte die Kostenübernahme ab. Von den Kosten für die Allergietests, insgesamt rund 1.500 Euro, erhielt sie lediglich 500 Euro von der Krankenkasse zurück – nach einem mehrjährigen Gerichtsverfahren. In ihrer Verzweiflung machte Irmtraud Dold ab dem Jahr 2013 schließlich ihre Krankengeschichte öffentlich und kontaktierte diverse Politiker, darunter Gregor Gysi (DIE LINKE). Erst nachdem der Oberkiefer im Jahr 2015 zahnlos geworden war, bewilligte die Krankenkasse die nun erforderliche Totalprothese und sicherte die volle Kostenübernahme zu – ein Ergebnis, für das Irmtraud Dold sechs Jahre lang kämpfen musste. „Ich konnte es zuerst überhaupt nicht glauben“, erinnert sie sich. Ende 2015 erhielt sie endlich eine allergieverträgliche Zahnprothese für den Oberkiefer. Jetzt hofft sie darauf, dass sie in diesem Jahr von ihrer Krankenkasse einen positiven Bescheid für den Zahnersatz im Unterkiefer erhält, „damit ich endlich wieder lachen, richtig essen und zubeißen kann“, sagt sie. Gemeinhin heißt es, dass es Privatversicherten besser geht. Tatsächlich haben Privatversicherte im Durchschnitt kürzere Wartezeiten und sind nicht von Leistungskürzungen betroffen. Auch ob man im Krankenhaus ein Einzelzimmer erhält und von der Chefärztin oder vom Chefarzt behandelt wird, richtet sich häufig nach dem Versicherungsstatus, nicht nach dem Bedarf. Hinzu kommt, dass sich bei privaten Krankenversicherungen die Beitragshöhe nach dem individuellen Krankheitsrisiko und dem Eintrittsalter berechnet, wovon häufig junge, gesunde Menschen mit hohem Einkommen profitieren. Ihre Beiträge fehlen jedoch der gesetzlichen Krankenversicherung, was deren finanzielle Stabilität untergräbt. Erst im Alter oder in finanzieller Not merken viele Privatversicherte, dass sie in einem solidarischen Versicherungssystem besser aufgehoben wären. Siegfried Tanculski aus Ostrhauderfehn in Ostfriesland hat diese Erfahrung mit 60 Jahren gemacht. Der heute 74-jährige selbstständige Handelsvertreter für Möbel und Kunst wollte damals von einer privaten in die gesetzliche Krankenversicherung wechseln. Doch das ist nach dem 55. Lebensjahr nicht mehr möglich. Kurz darauf begann eine zähe Auseinandersetzung mit einem großen deutschen Versicherungskonzern, die bis heute anhält. Als Siegfried Tanculskis Geschäfte nicht mehr so gut laufen, kommt er in Zahlungsrückstand. Mittlerweile zahlt er, der eine kleine Rente erhält, knapp 70 Euro im Monat für einen Notlagentarif – einen Tarif, der im Jahr 2014 eingeführt wurde und den mittlerweile mehr als 115.000 Versicherte in Anspruch nehmen müssen. Er verfügt über keine Gesundheitskarte, sondern muss sich in der Arztpraxis mit einem DIN-A4-Bogen ausweisen. „Die ganze Praxis erfährt so, dass ich im Notfalltarif bin“, sagt er. Versorgung erhält er nur bei akuter Krankheit und Schmerzen. Für ihn verstoße das gegen die Menschenwürde. Denn statt die Verschlimmerung einer Krankheit zu vermeiden, erhält er nur in Notfällen die Kosten erstattet. „Wer denkt sich denn so etwas aus?“, fragt er. Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Nr. 40 der Fraktionszeitung KLAR Ruben Lehnert in KLAR Nr. 40, 05. April 2017