verroht ist. Sie werden es entbarbarisieren.“ In

Werbung
grauedonau_RZ
22.04.2008
9:22 Uhr
Seite 526
Cherson, Krim, mythischer Ursprungsort der
russisch-orthodoxen Kirche
verroht ist. Sie werden es entbarbarisieren.“ In einem Brief an
die Zarin ein halbes Jahr davor war, ganz im Gegensatz zum
Orientalismus der Zeit, von „niederträchtigen Türken“ die Rede,
die fortwährend Reaktionen provozieren würden: „Während
wir uns bemühen, die Menschen in dem Erdenwinkel, den wir
bewohnen, weniger boshaft zu machen, sagen uns alle Nachrichten, dass die Türken Sie zu einem zweiten Schlag gegen sie
zwingen und dass Sie endlich nicht umhinkönnen werden,
Ihren Einzug in Konstantinopel zu halten.“ Voltaire kündigte
sogar eine Reise dorthin an „um Eurer Doppelten Kaiserlichen
Majestät“ – dann auch „auf dem Thron Konstantins“ – „meine
Aufwartung zu machen“, bat sie zugleich aber „untertänigst,
Ihre Eroberung des Bosporus noch vor drei Jahren zu beenden,
denn da ich deren vierundachtzig zähle, werden Sie nicht verantworten wollen, mich zulange warten zu lassen“. Ein auf
seine Art ganz anderer unabhängiger Geist wie der Quäker
William Penn (1644–1718), der Gründer von Pennsylvania
und Philadelphia, hatte mit solchen absolutistisch-reformerischen, zu Kolonialismus ausartenden Visionen längst schon
nichts mehr anfangen können und es bereits in seinem 1693 –
zehn Jahre nach der zweiten Wiener Türkenbelagerung – veröffentlichten Konzept für ein parlamentarisch regiertes vereintes Europa für völlig logisch gefunden, dass „the Turks and
Muscovites are taken in“.
David Stevenson: 1914–1918. Der Erste Weltkrieg (London 2004), übersetzt von
Harald Ehrhardt und Ursula Vones-Liebenstein, Düsseldorf 2005, S. 151| RalphJohannes Lilie: Byzanz. Das zweite Rom, Berlin 2003, S. 486, 485, 504, 249 |
Barbara Tuchman: Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert (New York
1978), übersetzt von Ulrich Leschak und Malte Friedrich, München 1985, S. 494,
500f. | Ulrich Schlemmer (Hg.): Johannes Schiltberger. Als Sklave im Osmanischen
Reich und bei den Tataren 1394–1427, Stuttgart 1983 | Nesteren Refioǧlu (Hg.):
Pirî Reis and his Charts, Istanbul 2006 | Bernard Lewis: The Muslim Discovery of
Europe, London 1982/2000, S. 152 | Tomáš Špidlík: Russische Spiritualität (Rom
1991), Regensburg 1994, S. 29ff. | Georg Ostrogorsky: Geschichte des byzanti526
Ost-West-Bezüge Flussabwärts Zwischeneuropa Außengrenzen
nischen Staates (1940), München 1975, S. 255f. | Grigorios Larentzakis: Die
Orthodoxe Kirche. Ihr Leben und ihr Glaube, Graz 2000, S. 200, 14, 168, 20, 63,
82, 80, 22 | Richard Wagner: Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkan,
Berlin 2005, S. 247 | Roland Barthes: Wie zusammen leben (Vorlesungen 1976/77,
Paris 2002), übersetzt von Horst Brühmann, Frankfurt am Main 2007, S. 43, 75,
81, 119, 43, 47, 48f., 212, 50 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, Frankfurt am Main
1993, S. 96, 104 | Christian Reder: Am mythischen Ausgangspunkt von Migration und Urbanität, in: Christian Reder, Simonetta Ferfoglia (Hg.): Transferprojekt Damaskus. Urban orient-ation, Wien-New York, 2003, S. 148 | Edwin Pears:
The Fall of Constantinople being the Story of the Fourth Crusade (London 1885),
London 1987, S. 347 | Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit, Vierzehn historische Miniaturen (Leipzig 1927), Frankfurt am Main 2007, S. 36ff. | Martin Fronius
(Hg.): Voltaire. Ein Lesebuch für unsere Zeit, Berlin–Weimar 1989, S. 390, 371f.
William Penn: An Essay Towards the Pre sent and Future Peace of Europe by the
Establishment of an European Dyet, Parliament or Estates (London 1693), Hildesheim-Zürich-New York 1983, S.
FLUCHTORT ISTANBUL. Der vor allem durch seine utopischkristallinen Projekte markant im Bewusstsein gebliebene
Architekt Bruno Taut (geb. 1880 in Königsberg, gest. 1938 in
Istanbul) war im NS-Deutschland nicht mehr erwünscht gewesen und hatte nach kurzem Arbeitsaufenthalt in Japan eine neue
Wirkungsstätte in Istanbul gefunden. Er konnte die Professorenstelle übernehmen, für die der kurz vor der beabsichtigten
Emigration verstorbene Hans Poelzig (1869–1936) vorgesehen
war, lieferte Entwürfe für Regierungsgebäude und realisierte
einige Bauten, vor allem Schulen und die Literaturfakultät der
Universität Ankara. Kurz vor seinem Tod bekam er ehrenvolle
Aufträge, wie den Katafalk für Kemal Atatürk (1881–1938) oder
die Festdekoration der Stadt zum 15. Jahrestag der Republik, an
der auch Wilhelm Schütte (1900–1968) und Margarete SchütteLihotzky (1897–2000) mitgearbeitet haben, denen er nach
ihrer Zeit in Frankfurt („Frankfurter Küche“) und Jahren in der
UdSSR in Istanbul Arbeitsmöglichkeiten verschafft hatte. Ende
1940 fuhr Margarete Schütte-Lihotzky mit Herbert Eichholzer,
der als Architekt im Büro von Clemens Holzmeister beschäftigt
war, aus politischen Motiven zurück nach Wien, vor allem um
einen gefährdeten KP-Funktionär zur Emigration zu bewegen
und zur „Herstellung der Verbindung mit dem Auslandsapparat“. Von einem Spitzel verraten, wurden beide rasch verhaftet. Eichholzer ist hingerichtet worden, Schütte-Lihotzky wurde
zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt und kam bis Kriegsende ins
Zuchthaus Aichach bei Augsburg. „Kein einziger, mit dem ich im
grauedonau_RZ
22.04.2008
9:22 Uhr
Seite 527
Widerstand gearbeitet habe“, schrieb sie in ihren Erinnerungen,
„ist am Leben geblieben“. Vor dem Todesurteil gerettet hatte sie
das gefälschte Angebot eines türkischen Regierungsvertrages.
Das langjährige, 1927 einsetzende Wirken des österreichischen Architekten Clemens Holzmeister (1886–1983) in der
Türkei, der über die Kriegs- und Nachkriegszeit hinweg in
Istanbul und dann in Ankara gelebt hat, ist angesichts seiner
Großaufträge für Regierungsbauten nur bedingt eine erzwun-
gene Emigration gewesen, für Exilsituationen als solche und
die Aufnahmebereitschaft dennoch ein hier einzubeziehendes Beispiel. In Österreich über den Bau des Wiener Krematoriums, des Funkhauses, des Salzburger Festspielhauses und
vieler Kirchen zum dominierenden Architekten des Ständestaates geworden, entstanden in Ankara nach seinen Entwürfen
große Staatsbauten, Ministerien, das Palais für Kemal Atatürk,
das türkische Parlamentsgebäude. Hinzugezogen hat er eine
Fluchtort Istanbul
527
grauedonau_RZ
22.04.2008
9:22 Uhr
Seite 528
Michael Aschauer: Bosporus
Reihe von Architekten, vor allem Max Fellerer, Fritz Reichl, Ceno
Kossak, Stefan Simony, Herbert Eichholzer, Walter Schmutzer,
Richard Praun und Anna Lülja Praun. Der Bildhauer Anton Hanak
oder die Keramikerin Gudrun Baudisch bekamen Aufträge im
Rahmen der Türkeiprojekte. Sein aus Wien stammender Mitarbeiter Ernst Egli (1893–1974), später Professor an der ETH
Zürich, hat ein Standardwerk über Mimar Sinan, den Baumeister
osmanischer Glanzzeit verfasst. Ernst Reuter (1889–1953),
während der Blockade Berlins 1948/49 Berliner Bürgermeister,
war wie viele andere in russischer Kriegsgefangenschaft Bolschewik geworden, hatte mit Lenin zusammengearbeitet, war
Mitbegründer der KPD, wechselte zur SPD und konnte 1933,
aller Ämter enthoben, in die Türkei emigrieren, wo er als Berater des Wirtschaftsministeriums und Professor für Städtebau
tätig war und wo sein Sohn Edzard Reuter, später Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG, aufgewachsen ist. Auch für
den unerwünschten Komponisten Paul Hindemith (1895–1963)
ist die Türkei erste Station seines Exils gewesen, bevor er über
die Schweiz in die USA gelangte. Der Nationalökonom Wilhelm
Röpke (1899–1966), liberaler Vordenker der sozialen Marktwirtschaft, ging 1933 zuerst nach Istanbul, wo er an der Universität lehrte und sein Buch Die Lehre von der Wirtschaft geschrieben hat, bevor er an die Universität Genf wechselte. „Bis 1945
hatten ca. 1.000 Exilanten aus dem deutschsprachigen Raum in
der Türkei Zuflucht gefunden“, heißt es unter dem Stichwort „Exil
in der Türkei“ in der Wikipedia-Enzyklopädie. George Tabori
Bosporus
528
(1914–2007) ist nach Jugendjahren in Budapest von 1939 bis
1941 Auslandskorrespondent in Sofia und Istanbul gewesen
und konnte so der Judenvernichtung entkommen. Sein Vater kam
in Auschwitz um, die Mutter überlebte. Kriegsberichterstatter
und Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes im Mittleren
Osten geworden, hatte er, um seine Spuren zu verwischen, in
Istanbul einen Selbstmord mit Abschiedsbrief vorgetäuscht.
Für Leo Trotzki (1879–1940), als Leo Bronstein in Janowka
in der Ukraine geboren, einem entlegenen Dorf in den „unermeßlichen Steppen des Gouvernements Cherson“, wie er in
seiner Biographie betonte, und in Odessa – er nannte es „das
handeltreibende, vielstämmige, bunte, schreiende Odessa“ –
zur Schule gegangen, war, wie bereits erwähnt, Istanbul die
erste westliche Exilstation nach seiner Entmachtung und
Ausweisung. Er blieb von 1929 bis 1933 und hat dort einige
seiner Hauptwerke verfasst, so vor allem Mein Leben und Geschichte der Russischen Revolution. Auch eine damals gehaltene Rede ist überliefert: „Die österreichische Krise, die Sozialdemokratie und der Kommunismus“. Gewohnt hat er mit seiner
Frau Natalia Sedowa (1882–1962) und einem der Söhne in
einer Villengegend auf der Insel Prinkipo (Büyükada) im Marmarameer, einem beliebten Ferienort wohlhabender Städter,
früher Exilort verbannter Prinzen. Im abschließenden Vorwort
zu Mein Leben. Versuch einer Autobiographie heißt es dazu lakonisch: „Im Januar 1928 schickte mich die heutige Sowjetregierung in die Verbannung. Ein Jahr verbrachte ich an der Grenze
Trotzki-Wohnhaus, Prinkipo (Büyükada)
Ost-West-Bezüge Flussabwärts Zwischeneuropa Außengrenzen
grauedonau_RZ
22.04.2008
9:22 Uhr
Seite 529
Chinas. Im Februar 1929 wurde ich in die Türkei ausgewiesen
und schreibe diese Zeilen in Konstantinopel.“ Und abschließend resümierte er unverdrossen: „Die Gesetzmäßigkeit der
Ereignisse erkennen und in dieser Gesetzmäßigkeit seinen Platz
finden, ist die erste Pflicht des Revolutionärs. Das ist auch die
höchste persönliche Befriedigung, die ein Mensch finden kann,
der seine Aufgaben nicht an den Tag bindet.“
Weil im 19. Jahrhundert ein Auswandern nach Amerika, ob
in den Norden oder Süden, zur Chance schlechthin wurde, um
europäischen Zwängen zu entkommen, wird ‚das nahe liegende
Amerika‘, das Osmanische Reich, als Fluchtziel und Migrationsrichtung historiographisch weitgehend ignoriert. Dabei hat es
gerade für politisch Verfolgte aus jenem ‚Zwischeneuropa‘, das
von Russland, Preußen und Österreich als latent umstrittene
Interessensphäre betrachtet wurde, kaum einen greifbareren
Ausweg gegeben. Wer gegen diese Imperien zu auffällig opponierte, konnte sich am ehesten auf gegnerisches, also osmanisches Gebiet retten. Wegen der bis zum Krimkrieg wirksamen,
Reformen unterdrückenden „Heiligen Allianz“ der kontinentalen
Großmächte und nachfolgenden Restriktionen sind in Europa
vor allem England, das dafür offenere Frankreich, die Schweiz
und eben das Osmanische Reich als Fluchtziele in Frage gekom-
men. Atlantikpassagen wurden erst allmählich billiger, Atlantikhäfen zu erreichen, war wegen der vielen Grenzkontrollen riskant. Zehntausende flohen nach Konstantinopel. Die Stadt wurde Anlaufstelle für Aufständische aus dem dreimal geteilten
Polen. Fürst Jerzy Adam Czartoryski (1770–1861) blieb dafür
eine Symbolfigur, da er sich nach langen Kompromissversuchen
mit Russland, bis hin zum Durchsetzen einer polnischen Verfassung, schließlich an der Erhebung von 1830 beteiligt hatte, zum
Tod verurteilt wurde und ins Pariser Exil, das Zentrum der „Großen Emigration“, geflohen war. Auf ihn geht der Name Adampol
für das heutige Polonezköy, das „Polendorf“ im asiatischen
Hinterland Istanbuls zurück, für das er bei einem persönlichen
Besuch Grundstücke bereitgestellt hatte, um für geflohene
Polen Lebensmöglichkeiten zu schaffen. ‚Nachschub‘ erhielt
die Siedlung durch im Krimkrieg gegen Russland kämpfende
Polen und durch weitere Flüchtlinge nach dem erfolglosen
Aufstand von 1863. Obwohl die Intention, Legionäre für künftige Aufstände heranzubilden, nach der Unabhängigkeit Polens
1918 ihren Sinn verlor, waren viele Einwohner geblieben.
Verblassende Spuren dieser Gemeindetradition, Polnisch
sprechende Einwohner, die 1842 errichtete, nur noch an speziellen Festtagen benutzte Kirche, die Haustypen, der Friedhof exis-
Polensiedlung Polonezköy bei Istanbul
Fluchtort Istanbul
529
grauedonau_RZ
22.04.2008
9:22 Uhr
Seite 530
tieren heute noch. Von Istanbul aus nach dem üblichen Stau auf
der den Bosporus überspannenden Sultan-Mehmet-Brücke in
einer halben Stunde erreichbar, ist Polonezköy heute ein beliebtes, in einer Waldgegend liegendes Ausflugsziel mit vielen
Restaurants. Als Spezialität wird ansonsten in der Türkei kaum
erhältliches Schweinefleisch angeboten. Zu Polen gibt es weiterhin Kontakte, Künstlersymposien finden statt. Nach einem Verwandtenbesuch war zum Beispiel Marie Dochoda geblieben,
weil sie Joszef Dochoda, der aus einer seit langem ansässigen
polnischen Familie stammt, geheiratet hat. Drei Staatsbürgerschaften sind in ihr vertreten, die Türkische, die Polnische und
Britische, was nach längeren Auslandsaufenthalten rechtlich
möglich ist. Einige Dorfbewohner sind aus Bulgarien zugezogen,
einige sind Kurden oder Armenier. Der Bürgermeister ist polnischer Herkunft. Nach dem jahrelang im Exil lebenden Dichterfürsten Polens, Adam Mickiewicz (1798–1855), ist eine Straße
benannt. Er hatte im Krimkrieg Chancen für Polen gesehen und
war nach Konstantinopel gekommen, um polnische Legionen
aufzustellen, starb aber kurz nach der Ankunft vermutlich an
der Cholera. Stanislaus Chlebowski (1835–1884) wiederum
wurde Hofmaler des Sultans. Constantine Bozecki (1828–1877),
ein weiterer polnischer Revolutionär, konvertierte als Mustafa
Celaleddin Pascha zum Islam und wurde ein Wegbereiter des
türkischen Nationalismus. Er heiratete eine Tochter des Generals
der osmanischen Armee im Krimkrieg, Omer Pascha (1806–
1871), der, als Kroate unter dem Namen Michail Latas, davor in
der habsburgischen Armee gedient hatte. Ein weiterer auf der
Krim eingesetzter General, der gebürtige Pole Alexander Ilinski
(1810–1861), hatte in verschiedenen Armeen Kommandos übernommen, auf Seiten der ungarischen Revolution gekämpft und
war schließlich als Iskender Beg türkischer General geworden, so
wie sein Landsmann Zedlinsky, der als Selim Pascha Truppen an
der Donau befehligte, wobei ein Pascha-Titel keineswegs zwingend mit einer Konversion zum Islam einhergehen musste.
Der sich unter osmanischem Schutz versammelnden ungarischen Emigration gehörte eine Zeit lang der Nationalheld
Lajos Kossuth (1802–1894) an, der nach dem verlorenen Kampf
530
Ost-West-Bezüge Flussabwärts Zwischeneuropa Außengrenzen
gegen Habsburg von 1848/49 und der nachfolgenden Repression mit zahllosen Hinrichtungen zuerst nach Konstantinopel
entkommen konnte, bevor er nach England und dann nach
Italien ins Exil ging. Mit ihm und den Resten seiner Armee war
auch der in Ungarn hoch verehrte polnische General und Internationalist Józef Bem (1795–1850) – vor seinem Denkmal in
Budapest formierte sich, wie erwähnt, die Aufstandsbewegung
von 1956 –, der sich 1848 maßgeblich an der Wiener Volkserhebung beteiligt hatte und dann von Kossuth zum Befehlshaber der Revolutionsarmee in Siebenbürgen ernannt worden
war, nach Konstantinopel gekommen, wo er zum Islam übertrat und den Namen Amurat Pascha annahm. Dutzende Offiziere und tausende ungarische und polnische Soldaten traten
mit ihm in osmanischen Dienst und vielfach auch zum Islam
über. Wegen österreichischer und russischer Interventionen
wurde er als Armeekommandant nach Aleppo abgeschoben,
wo er im Dezember 1850 gestorben ist.
Entgegen der Legenden von ununterbrochenen ‚Türkenkriegen‘ war gerade für Flüchtlinge aus Ungarn das Osmanische
Reich vielfach ein Refugium. Fürst Ferenc II. Rákóczi (1676–
1735), Anführer des letzten „Kuruzzenaufstandes“ (1703–1711),
der parallel dazu immer wieder aufflackernden Kämpfe ungarischer Truppen gegen Habsburg, in denen seine gesamte Familie
eine offensive Rolle spielte, war wegen seiner Niederlage zuerst
nach Polen, dann nach Konstantinopel ausgewichen. Von 1720
bis zu seinem Tod 1735 lebte er im Exil in Tekirdaǧ am Marmarameer. Auch der schwedische König Karl XII. (1682– 1718) war
nach der Niederlage in der Schlacht bei Poltawa im Jahre
1709, dem Ende der schwedischen Großmachtstellung, in die
Stadt am Bosporus geflohen, wegen seiner undurchsichtigen
Absichten aber schließlich unter Hausarrest gehalten worden.
Da Konstantinopel, das griechisch Byzantion, dann Constantinopolis, in slawischen Sprachen Carigrad, Stadt des Zaren,
im Türkischen Stambul bzw. Istanbul (von griech. is tin polin;
in die Stadt) und ab 1930 offiziell Istanbul genannt wurde, bis
zur Bildung unabhängiger Nationalstaaten die ,Hauptstadt‘
des Balkans gewesen ist, war es gerade im 19. Jahrhundert
grauedonau_RZ
22.04.2008
9:22 Uhr
Seite 531
Anziehungspunkt für Zuwanderer mit unterschiedlichen Motiven. 40.000 Bulgaren machten es zeitweilig zur größten bulgarischen Stadt. Kroaten, Serben und Montenegriner ließen sich
nieder. Bis sich Athen wieder als politisches und geistiges
Zentrum der Griechen etablierte, ist es als ihre eigentliche Hauptstadt angesehen worden. 200.000 Griechen lebten dort, die
Hälfte davon war auswärts geboren. „Nirgendwo sonst, nicht
einmal in London“, schreibt Philip Mansel in Constantinople.
City of World’s Desire, 1453–1924, „sind in der Metropole eines
großen Reiches mehr Anführer nationaler Revolten, die schließlich seine Existenz untergraben würden, herangebildet worden.“
Bereits der aus dem mazedonischen Griechenland stammende
Albaner Muhammad Ali Pascha (1769–1848) trug durch seine
reformfreudige Herrschaft über ein de facto selbständig gewordenes Ägypten zur Auflösung des Osmanischen Reiches bei.
Signifikant war, dass von den über tausend um 1870 eingetragenen Kaufleuten und Bankiers der Stadt nur 40 Muslime gewesen sind und die Europäerstadt Galata an der Spitze des
Pera-Viertels (griechisch für „gegenüberliegend“) zum „Synonym für Korruption“ geworden war, so Mansel, nicht zuletzt,
weil europäische Pässe speziellen Schutz geboten hatten. Wegen der etwa hunderttausend Einwanderer aus europäischen
Ländern und der Struktur der alteingesessenen Bevölkerung
gab es im 19. Jahrhundert sogar kurze Phasen mit christlicher
Mehrheit. Sultan Abdülaziz (1830–1876) hatte sein Reich
unter dem zunehmenden Druck ausdrücklich „zum Rettungshafen für Muslime – und Nicht-Muslime wie russische Altgläubige, polnische Konföderierte oder Zaporoger Kosaken – erklärt,
was erst verständlich macht, in welchem Kontext die Aufnahme
der massiven Emigration von Krim-Tataren nach dem Krimkrieg
vor sich gegangen ist“ (Brian Glyn Williams). Besonders für
Muslime vom Balkan, für Krim-Tataren und Kaukasusvölker
wurde das Osmanische Reich zu einem offenen Aufnahmeland.
Wegen des russischen Vordringens in die Regionen um das
Schwarze Meer und in den Kaukasus flohen zehntausende
Tataren, Armenier, Tscherkessen, Tschetschenen und Angehörige anderer verfolgter Ethnien ins Osmanische Reich – wie
später wegen sowjetischer Repression in dessen Nachfolgestaaten; Vertreibung als Hintergrund in der Folge auflebender
Radikalisierung. Geschätzte 1,5 Millionen Muslime aus Südosteuropa und den Kaukasusländern fanden in den Jahrzehnten
vor dem Ersten Weltkrieg Aufnahme (Klaus Kreiser). Seit jeher
hatten sich viele Spanier, Italiener, Franzosen, Ungarn „den
Osmanen aus freien Stücken angeschlossen“, sei es wegen religiöser Verfolgung im Heimatland, wie im Fall calvinistischer
Ungarn oder von Serben, „die nach 1683 unter habsburgische
Oberhoheit gerieten“ und es oft vorzogen, „unter dem Sultan
zu leben, weil dieser nicht versuchte, sie von ihrem orthodoxen
Glauben zum Katholizismus zu bekehren“ (Suraiya Faroqui). Das
„Albanerdorf“ Arnavutköy oder der Belgrat Ormani, der Belgrader Wald, oberhalb von Büyükdere am Bosporus erinnern an
solche Zeiten, wobei sich Letzterer auf Deportierte aus Belgrad
bezieht, die unter Suleiman I. (1495–1566) angesiedelt worden
waren, um das von dort ausgehende komplizierte Wasserversorgungssystem der Stadt in Stand zu halten. Der mächtige
Großwesir nach dessen Tod, Sokullu Mehmet Pascha (1505–
1579), war ein bosnischer Serbe, der als Janitscharenzögling
gewaltsam in die Stadt gebracht worden war. Der Großadmiral
Kilic Ali Pascha (1519–1587), Gegner von Don Juan de Austria
(1547–1578) in der Seeschlacht von Lepanto, war ein Italiener
aus Kalabrien, dessen Karriere als Sklave und Pirat begonnen
hatte, der Zahlmeister Hasan Aǧa ein Venezianer; der Fondaco
dei Turchi in Venedig erinnert an solche intensiven Kontakte.
Der Muslim gewordene Ungar Ibrahim Müteferrika (1674–
1745) hat als Verleger die erste Druckerei der Stadt gegründet.
Der rumänische Prinz Demetrius Cantemir (1673–1723) verfasste eine frühe Geschichte des Osmanischen Reiches. Aufenthalte
in Istanbul und Reisen im Mittleren Osten brachten Antoine
Galland (1646–1715) dazu, Tausendundeine Nacht zu übersetzen.
Die legendäre Roxelane (1506–1558) aus der Ukraine oder die
französische Adelige Aimée du Buc de Rivery (1776–?) wurden
von Sklavinnen zu Sultansfrauen. Die meisten der zahllosen
bis ins 19. Jahrhundert in die Stadt gebrachten Sklaven gingen
nach ihrer Freilassung in der Stadtbevölkerung auf, sofern sie
Fluchtort Istanbul
531
grauedonau_RZ
22.04.2008
9:22 Uhr
Seite 532
nicht freigekauft worden waren und heimgekehrt sind – Migration als Ineinanderwirken von Freiwilligkeit und Zwang.
Der Veteran des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges
und der Französischen Revolution, General Jean Baptiste Annibal
Aubert du Bayet (1757–1797), erneuerte als französischer Botschafter die Beziehungen zum Osmanischen Reich und wirkte
mit einer Gruppe von Militärs an angelaufenen Reformen mit,
was schließlich zum radikalen Zerschlagen der Macht der Janitscharen führte (1826). Er starb vierzigjährig in Konstantinopel.
Wegen der vor dem Ersten Weltkrieg eingeleiteten Kooperation
und Waffenlieferungen kamen viele deutsche Berater ins Land.
Generäle wie Colmar von der Goltz (1843–1916) und Otto
Liman von Sanders (1855–1929) reformierten die osmanische
Armee. Bis Bagdad reichten die damaligen ‚Mitteleuropa‘-Ideen
der Mittelmächte. Zwei deutsche Kreuzer als Verstärkung übergebend, übernahm Admiral Wilhelm Souchon (1864–1946)
den Oberbefehl über die osmanische Flotte. Der Kriegsminister
Ismail Enver (Enver Pascha, 1881–1922, später vorerst nach
Odessa geflohener, dann in Zentralasien kämpfender pan-türkischer Nationalist) betrieb den Kriegseintritt seines Landes an
der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns, was Admiral
Souchon noch eigenmächtig und provokant durch die Beschießung von Sewastopol, Novorossisk, Feodosija und Odessa beschleunigte. „Wegen zwei deutschen Kriegsschiffen und einer
Wirtschaftshilfe von zwei Millionen Türkischen Pfund in Gold“,
so das Resümee des ‚Kemalisten‘ Muammer Kaylan, „sind wir in
den Krieg gezogen und haben ein Reich verloren“. Diese Erfahrung wirkte mit, dass die Türkei im Zweiten Weltkrieg trotz
ständigen Drucks beider Seiten bis kurz vor dessen Ende neutral
blieb. Im Zuge des 1903 begonnenen, immer wieder unterbrochenen Baus der Bagdad-Bahn, die zur schnellsten und wirtschaftlichsten Verbindung Europas mit Indien hätte werden
sollen, lebten zahllose deutsche Ingenieure und Baufachleute
jahrelang im Land. Heinrich August Meißner (1862–1940),
der technische, auch für die Hedschas-Bahn nach Damaskus
und Medina zuständige Leiter, blieb, im Rang eines Paschas
integriert, trotz der wegen des Krieges erst Jahrzehnte später
532
Ost-West-Bezüge Flussabwärts Zwischeneuropa Außengrenzen
durchgehend fertig gestellten Strecke im Land, lehrte an der
Universität Eisenbahnbau und starb 1940 in Istanbul.
Um 1920 wurde Konstantinopel zur katastrophischen Flüchtlingsstadt, in der sich zeitweilig 200.000 vor den Bolschewiken geflohene russische Zivilisten und Weißgardisten aufhielten. Künstler wie Iwan Bunin oder Serge Poliakoff (1900–
1969), die zuerst nach Konstantinopel, dann nach Paris gelangten, stehen für die Masse anonym Gebliebener. Auf dem selben
Schiff, das General Pjotr Wrangel (1879–1928) für die letzten
Kämpfe der Weißgardisten aus dem Exil in Konstantinopel auf
die Krim brachte, kam dessen abgelöster Rivale General Anton
Denikin (1872–1947) in die Stadt am Bosporus, als erste Station
seiner Emigration. Wrangel folgte ihm im November 1920. Wegen völlig unzureichender Hilfsmaßnahmen ihrer Alliierten, so
Saskia Sassen, gab es unzählige Russen und Ukrainer, die „in
den Straßen Konstantinopels verhungerten“. Die internationale
Erregung darüber war ihr zufolge „möglicherweise ein erster
Schritt auf dem Weg zur Entwicklung eines Flüchtlingsbegriffs,
der von der Flucht vor dem Kommunismus geprägt war“.
„Wie andere Weltstädte – Amsterdam im 17. Jahrhundert,
Wien im 19. Jahrhundert, New York im 20. Jahrhundert –, war
auch Konstantinopel für Juden ein attraktiver Ort“, so Philip
Mansel. Begriffe wie „Pogrom, Ghetto, Inquisition“ hatten dort
über Jahrhunderte hinweg keine reale Bedeutung. Schon für
die 1492 aus Spanien vertriebenen sephardischen Juden und
eine Bekehrung verweigernden Araber und Berber war das
Osmanische Reich zur wichtigsten Zufluchtszone geworden.
Der Sultan hatte sogar eine Flotte gesandt, um sie aufzunehmen.
Viele Juden ließen sich in Tanger, Algier, Genua und Marseille
nieder. Thessaloniki, seit 1430 osmanisch, wurde zur jüdischen Stadt, Konstantinopel ein Hauptstützpunkt arabischer
Seeleute, jüdischer Kaufleute und Ärzte. Gerade Letztere repräsentierten vielfach „the highest level of Sixteenth-century
European medicine“, wie Bernard Lewis in The Muslim Discovery
of Europe hervorhebt. Um 1700 waren von 28 eingetragenen
Chirurgen zwölf Griechen, acht Juden, vier Muslime, zwei Engländer, ein Franzose und ein Armenier. Von den 331 Fleisch-
grauedonau_RZ
22.04.2008
9:23 Uhr
Seite 533
läden gehörten 215 Muslimen, 70 Christen, 46 Juden. Konstatiert
werden kann, dass „eine umsichtige Regierungspolitik und die
systematische Versorgung der Armen durch die Moscheen die
Stadt zu einer der besternährten Europas machte“ und dass
„in Konstantinopel die Beziehungen zwischen Christen und
Juden deutlich schlechter waren, als jene zwischen Christen
und Muslimen“, also vor allem Griechen trotz der Einbindung
ihrer Oberschicht, der byzantinisch-griechischen Phanarioten
(benannt nach dem Stadtteil Phanar/Fener), in den osmanischen Herrschaftsapparat Animositäten geschürt haben. Mary
Wortley Montagu (1689–1762), die über Wien zuerst auf der
Donau, dann mit Kutschen nach Konstantinopel gereist war und
dort, als Frau des britischen Botschafters, ab 1717 zwei Jahre
blieb, hat die babylonische Situation im Europäerviertel –
heute der Stadtteil Beyoǧlu – beschrieben: „In Pera wird Türkisch, Griechisch, Hebräisch, Armenisch, Arabisch, Persisch,
Russisch, Slawonisch, Walachisch, Deutsch, Holländisch, Französisch, Englisch, Italienisch, Ungarisch gesprochen.“ Vor
allem die Vorstädte seien „Ansammlungen von Fremden aus
allen Ländern der Erde“; es gebe dort keine einzige Familie,
„die sich als ‚unvermischt‘ bezeichnen könnte“. „Oft trifft man
auf eine Person, deren Vater gebürtiger Grieche ist, die Mutter
Italienerin, der Großvater Franzose, die Großmutter Armenierin
und die Vorfahren Engländer, Moskoviter, Asiaten etc. sind.“
Die Stadt selbst hielt sie für „die schönste urbane Anlage der
Welt“ und traf immer wieder auf Frauen, „die ihre Freiheiten
in Anspruch nehmen und sich nicht als Sklavinnen ihrer Religion betrachten.“ Isaac Rousseau (1672–1747), der Vater von
Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), war als gesuchter Uhrmacher eine Zeit lang am Hof des Sultans tätig, so wie der zur
einflussreichen Kraft des Musiklebens werdende Giuseppe
Donizetti (1788–1856), der Bruder des Komponisten. Zur Konfliktvermeidung dürfte – wie bei den aus zahllosen, untereinander Kontakte vermeidenden Gruppierungen westlicher Großstädte – die soziale Entmischung beigetragen haben, denn „die
Toleranz der Stadt war im Grunde ein Wegschauen“, so Geert
Mak. „Im Umgang mit fremden Welten fehlte ihr jegliche Neugier.
Die Osmanen unterhielten keine ständigen Gesandtschaften
in ausländischen Hauptstädten, dergleichen fanden sie nur teuer
und unpraktisch. Jeder war willkommen, aber der Kontakt mit
dem Anderen blieb etwas höchst Einseitiges. Die Hauptstadt
der Welt war letztlich nur an sich selbst interessiert.“
Der Umschwung dieser legendären kosmopolitischen Tradition kam mit allseits angefachtem Nationalismus und Rassismus,
wobei in der Region der Separatismus von Griechenland den
Anfang machte, was wiederum, verstärkt durch die Demütigungen seitens westlicher Mächte, den türkischen Nationalismus
radikalisierte. Die schließlich durch den griechisch-türkischen
Krieg eskalierende ‚ethnische Entflechtung‘ nach dem Ersten
Weltkrieg führte zur erzwungenen ‚Repatriierung‘ von 1,2 Millionen Griechen und einer halben Million Türken, die meist über
Generationen im ‚falschen‘ Land gelebt hatten. Nach türkischen
Angaben sind zwischen 1923 und 1960 1,2 Millionen Menschen
aus Balkanländern in die Türkei emigriert (was in diesem Band
Didem Danis bis hin zur aktuellen Problematik illegaler Immigranten kommentiert). Die als politische Strategie geschürte
Hoffnung, durch annähernde ‚ethnische Reinheit‘ künftig landesinterne Konflikte zu vermeiden, sie auf externe Kontroversen
zwischen Nationalstaaten zu verlagern, stellte sich bekanntlich als eine der folgenreichsten Fehleinschätzungen des 20.
Jahrhunderts heraus. „Bis 1914 waren vor russischen Pogromen
flüchtende Juden bereitwillig aufgenommen worden“, konstatiert Philip Mansel, dann radikalisierte sich auch die türkische
Situation, mit dem Genozid an den der Kollaboration mit
Russland verdächtigten Armeniern, mit zumindest 600.000,
möglicherweise bis zu 1,5 Millionen Toten, was bekanntlich in
der Türkei immer noch ein höchst neuralgisches Tabuthema
ist. Im Zweiten Weltkrieg „verhielt sich die Türkei so gefühllos
wie andere neutrale Länder“. Dafür steht die Tragödie der
„Struma”, eines kaum manövrierfähigen Schiffes, dem mit fast
800 jüdischen Flüchtlingen aus Rumänien an Bord wochenlang
das Anlegen in Istanbul verweigert wurde und das Anfang
1942 – in Berlin tagte die Wannseekonferenz zur „Endlösung“ –
schließlich aufs offene Meer geschleppt wurde, wo es nach
Fluchtort Istanbul
533
grauedonau_RZ
22.04.2008
9:23 Uhr
Seite 534
einer ungeklärten, vermutlich von einem sowjetisches U-BootTorpedo ausgelösten Explosion gesunken ist. David Stoliar
war der einzige Überlebende. Bevor es wegen der Kriegslage
immer unmöglicher geworden war, ist insgesamt etwa 17.000
Juden die Flucht über Donau und Bosporus nach Palästina und
anderen Destinationen gelungen.
Das verlassene, die Abwanderung der letzten Jahrzehnte
evident machende jüdische Viertel am „Goldenen Horn“ ist inzwischen kaum noch als solches erkennbar; heute wird die
Zahl jüdischer Bewohner auf 20.000 geschätzt. 60.000 Armenier leben in der Stadt. Nach den Ausschreitungen von 1955 gegen Nicht-Muslime, die vom Zypernkonflikt und dem Gerücht
eines Bombenanschlags auf das Geburtshaus Kemal Atatürks
in Thessaloniki ausgelöst wurden, emigrierten fast alle der
100.000 verbliebenen Griechen oder wurden, wenn ohne türkische Staatsangehörigkeit, ausgewiesen. Es „verließen mehr
Griechen die Stadt als in den Jahrhunderten seit 1453“ (Geert
Mak). Etwa 4.000 bis 5.000 soll es derzeit noch geben; um
1914 war es eine halbe Million. Über Jahrhunderte hinweg hatte
die Stadt mehrere hunderttausend Einwohner, in jüngster Zeit
ist ihre Bevölkerung durch Zuzug aus ländlichen Gebieten auf
zwölf oder sogar inoffizielle siebzehn Millionen angewachsen,
was dem Ballungsgebiet von Paris und der türkischen Gesamtbevölkerung von 1927 (heute: 74 Millionen) entspricht. Allein dadurch ist ihr multikultureller Charakter weitgehend verschwunden; es bilden sich neue Differenzierungen. Dennoch macht
gerade das Beispiel Konstantinopel – als exemplarisches Zentrum durchlässiger Mittelmeerbeziehungen am Rand Europas –
deutlich, welche Schwankungsbreiten an Toleranz die Moderne
charakterisieren und welche Freiheitsgrade im Zusammenleben
bereits einmal erreicht waren.
Kemal Atatürk hatte durch die Verlegung der Hauptstadt
nach Ankara (1923) bewusst mit den Traditionen Istanbuls
und seiner ‚Kompliziertheit‘ gebrochen. Er machte, „als aufgeklärter Diktator“, wie Muammer Kaylan betont, aus den Türken
Kleinasiens „eine neue Nation“, da sie im Osmanischen Reich
nie das Staatsvolk in westlichem Sinn gewesen sind. Innerhalb
534
Ost-West-Bezüge Flussabwärts Zwischeneuropa Außengrenzen
der neuen Staatsgrenzen sollte die türkische Staatsbürgerschaft
vor jeder ethnischen Zugehörigkeit Priorität haben. Weil alle
früheren, sich von der Französische Revolution und der Tanzimat-Neuordnung ab 1839 herleitenden Reformen „an Despotismus, Ignoranz und religiöser Intoleranz“ gescheitert waren,
setzte er auf sechs Prinzipien: „Republikanismus, Säkularismus,
Reformismus, Nationalismus und Planwirtschaft“. Die harten
Bestimmungen des Friedensvertrages von Sèvres, vielfach als
Schlusspunkt der ‚Türkenkriege‘ angesehen, hatten nicht nur
das Endes des Osmanischen Reiches gebracht, sondern die
künftige Türkei auf ein anatolisches Kernland reduziert, Istanbul
war von den Alliierten besetzt, Griechenland sind große Gebiete um Smyrna/Izmir und Thrakien zugesprochen, das Land
in eine internationale, eine britische, französische und italienische Zone aufgeteilt worden. Erst der unerwartete Sieg türkischer Einheiten gegen die angreifende griechische Armee, die
mit alliierter Unterstützung nach Zentralanatolien vorgedrungen
war, ermöglichte – unter schrecklichen Massakern gerade im
Raum Smyrna und einer Massenflucht von Griechen, wofür die
Melancholie ihrer Rembetiko-Musik die charakteristische
Ausdrucksform wurde – eine Konsolidierung des türkischen
Staates. Als einziges Mittelmeerland zwischen Tanger und dem
Bosporus konnte sich die Türkei, obwohl 1918 zu den Besiegten
gehörend, kolonialer Unterordnung entziehen. Das dürfte mitgewirkt haben, antitürkische Reflexe zu prolongieren, denn
der sich interessiert gebende und der tatsächlich interessierte
europäische „Orientalismus“ war, wie Edward Said (1935–
2003) explizit herausgearbeitet hat, vom Kolonialismus nicht
zu trennen, was an neu ‚zu erschließende‘, einmal als Teil des
Orients geltende Länder wie Bulgarien und Rumänien denken
lässt: „Die Entdeckungen der Europäer hinsichtlich des manifesten und modernen Orients erhielten eine verstärkte Bedeutung, als die Gebietsaneignungen des Westens im Orient zunahmen.“ In der Türkei sollte dieser „Orient“ so rasch als möglich zurückgedrängt werden. Parallel zur gewaltsamen sowjetischen Modernisierung islamisch geprägter Gesellschaften,
mit ihrer Zerschlagung von Feudalstrukturen bis hin zum An-
grauedonau_RZ
22.04.2008
9:23 Uhr
Seite 535
spruch einer Befreiung der Frauen, ging Kemal Atatürk, selbst
entschieden antikommunistisch eingestellt, den angefachten
Nationalismus nutzend, seine, von Islamisten militant bekämpften, einschneidenden Reformen an, die einflussreicher wurden
und nachhaltiger wirkten als analoge spätere Initiativen, ob in
Algerien, in Ägypten, im Irak oder in Pakistan. Lange blieb die
Türkei ein singulärer Fluchtpunkt für Erneuerung, und zwar, so
Muammer Kaylan, ohne „rassistische, faschistische oder kommunistische Ideologien“ zu übernehmen. Kaum sonst wo ist
Säkularisierung so schnell erreicht worden, vor allem wenn die
gleichzeitig in Europa machtvoll werdenden ‚säkularen Religionen‘ im Blick bleiben. Zu ersten freien Parlamentswahlen kam
es allerdings erst 1950. Seither wurden 40.000 neue Moscheen
errichtet. So radikalisiert wie unter dem Militärregime in Griechenland oder in Franco-Spanien ist die Lage trotz militanter
Rechts-Links-Auseinandersetzungen nie geworden. Verbindungen zwischen Turkvölkern, Persern, Arabern und ein dauerhaftes
Zurückdrängen von Islamisten stellten sich fortwährend als
Illusion heraus. Durch die Existenz Israels, die propagierte arabische Einheit, den Rückzug ansässiger Europäer entmischten
sich die zwischen Kleinasien und Ägypten „Levante“ genannten
ostmediterranen Länder, was auch in Istanbul markant spürbar
wurde. Der in Alexandria lebende, mit Istanbul durch einen
mehrjährigen Aufenthalt bei Verwandten verbundene, von
seiner Jugend in England geprägte griechische Dichter Konstantinos Kavafis (1863–1933) war ein exemplarisches Beispiel
für solche sich auflösende mediterrane Konstellationen. Für den
Islamwissenschaftler Bernard Lewis war Kemal Atatürk „the
first great secularizing reformer in the Muslim world“, weshalb ihm allerdings zu unkritische USA- und Türkei-Nähe vorgeworfen wurde; uneingeschränkt gewürdigt hat er dessen
Einsatz für die Frauenemanzipation, da Atatürk es für unsinnig
hielt, „if we only modernize half the population“. Die Gleichgültigkeit der Landbevölkerung und der Provinzstädte und
weiterhin lähmende, vieles präjudizierende Sozialstrukturen
blieben das aktivierbare Gegengewicht. Seit 1952 als Nato-Mitglied zur antikommunistischen Bastion aufgebaut, seit 1963
in EU-Warteposition, ist trotz der Ängste vor einem islamistischen Umschwung latent zu hören, das Land werde weiterhin
von internationalen Konstellationen manipuliert. Zu den EUBeitrittsverhandlungen, so der Eindruck, stehen urbane Menschen durchwegs positiv, als wünschenswerter Reformschub;
ein Beitritt selbst wird hingegen durchaus ambivalent gesehen.
Manche von Kemal Atatürks zornig-freimütigen Aussagen
gegen „the merchants of religion“ sind in West und Ost inzwischen undenkbar, etwa diese, in der von Bernd Rill verfassten
Rowohlt-Monographie zitierte Begründung offensiver Säkularisierung: „Seit mehr als 500 Jahren haben die Regeln und
Theorien eines alten Araberscheichs und die abstrusen Auslegungen von Generationen von schmutzigen und unwissenden
Pfaffen in der Türkei sämtliche Zivil- und Strafgesetze festgelegt.
Sie haben die Form der Verfassung, die geringsten Handlungen
und Gesten eines Bürgers festgesetzt, seine Nahrung, die Stunden für Wachen und für Schlafen, den Schnitt der Kleider, den
Lehrstoff in der Schule, Sitten und Gewohnheiten und selbst die
intimsten Gedanken. Der Islam, diese absurde Gotteslehre eines
unmoralischen Beduinen, ist ein verwesender Kadaver, der
unser Leben vergiftet.“ In deutlichem Gegensatz zu anderen
Radikalisten seiner Zeit setzte er nicht auf nationalen, verengenden Chauvinismus: „Es gibt verschiedene Länder, aber nur eine
Zivilisation. Voraussetzung für den Fortschritt der Nation ist, an
dieser einen Zivilisation teilzuhaben.“ Offenbar war er überzeugt, mit seinen Intentionen dem Lauf der Geschichte zu folgen,
denn „seit Jahrhunderten haben die Türken sich ständig in die
gleiche Richtung bewegt – wir sind immer von Osten nach Westen gegangen“. Die entsprechende Hegel-Devise lautet: „Die
Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist
schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang.“
Von den Hunderttausenden, die Istanbul in Richtung Westen
verlassen haben, wurden manche so prägend wie der Filmregisseur Elia Kazan (1909–2003) oder der Komponist und Produzent Ahmet Ertegun (1923–2006), der Gründer von Atlantic
Records und damit Partner von Ray Charles, Aretha Franklin
oder Mick Jagger. Genau so signifikant ist jedoch „Istanbuls
Fluchtort Istanbul
535
grauedonau_RZ
22.04.2008
9:23 Uhr
Seite 536
Invasion durch ‚Außenseiter‘“, wie die Cultural Studies-Expertin Ayşe Öncü den Hauptstrang der Entwicklungen nennt, also
vor allem von Millionen Bauern aus Anatolien, für die es der
primäre Fluchtpunkt wurde. Die damit verbundene „soziale
und kulturelle Spaltung des städtischen Lebens“ charakterisiere die letzten Jahrzehnte. Abgesehen von riesigen Slumgebieten, der unplanbar gewordenen Eigendynamik oder sich „völlig
gleichgültig gegenüber den symbolischen Hierarchien“ zeigenden Aufsteigerschichten, äußerte sich Modernisierung als Eindringen einer „schwindelerregenden Fülle globalisierter Bilder,
Images, Sounds und Waren in die kulturellen Räume der Stadt“
und darin, „dass in der städtischen Peripherie neuartige populare Kulturen entstanden“. Zugleich verstärkte sich auch unter
Städtern der Islamisierungsprozess. „Dabei spielte“, wie der
Soziologe Cihan Tuǧal betont, „der weltweite Rückgang der
linken Bewegungen und ihre Unterdrückung nach dem Militärputsch ebenso eine Rolle wie die weltweite Tendenz, im Islam
eine revolutionäre Ideologie zu sehen.“ Damit „die Akteure
der Globalisierung isoliert und geschützt leben konnten“, entstand durch das darauf ausgerichtete Baugeschehen eine
„Doppelstruktur“, die ein „völlig sich selbst überlassenes“ Istanbul überlagert. Wie auch anderswo, haben „diese Veränderungen
der achtziger und neunziger Jahre“, so der Architekt und Stadtforscher Ihsan Bilgin, „mit der Stadt Istanbul und dem Großteil
ihrer Bewohner nichts zu tun“. Auch als Megacity ist Konstantinopel/Istanbul ein neuralgischer, undurchsichtig funktionierender, Härte und Weichheit polarisierender Weltpunkt geblieben.
536
Ost-West-Bezüge Flussabwärts Zwischeneuropa Außengrenzen
Margarete Schütte-Lihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand 1938–1945,
Hamburg 1985, S. 47ff., 59, 79, 185 | Friedrich Kurrent: Clemens Holzmeister der
Lehrer: Wechselwirkung Türkei–Österreich, in: Friedrich Kurrent: Texte zur
Architektur, Salzburg 2006, S. 165ff. | Leo Trotzki: Mein Leben. Versuch einer
Autobiographie, übersetzt von Alexandra Ramm, Frankfurt am Main 1982, S. 19,
97, 10f. | Polonezköy: Neal Ascherson: Schwarzes Meer (London 1995), übersetzt
von H. Jochen Bußmann, Berlin 1996, S. 261ff | Philip Mansel: Constantinople.
City of World’s Desire, 1453–1924, London 1995, S. 278ff., 15f., 119, 122ff., 424 |
Brian Glyn Williams: The Crimean Tatars. The Diaspora Experience and the
Forging of a Nation, Leiden 2001, S. 129 | Suraiya Faroqui: Kultur und Alltag im
Osmanischen Reich. Vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts,
München 1995, S. 76 | Klaus Kreiser: Istanbul. Ein historisch-literarischer Stadtführer, München 2001, S. 35 | Muammer Kaylan: The Kemalists. Islamic Revival
and the Fate of Secular Turkey, New York 2005, S. 57, 64, 63, 66, 67, 69 | Saskia
Sassen: Migranten, Siedler, Flüchtlinge. Von der Massenauswanderung zur
Festung Europa, Frankfurt am Main 1996, S. 188 | Bernard Lewis: The Muslim
Discovery of Europe, London 1982/ 2000, S. 229, 49, 157, 192, 236, 273, 233 |
Lady Mary Wortley Montagu: The Turkish Embassy Letters (1716–1718), London
2006, S. 122, 111, 99, 100 | Geert Mak: Die Brücke von Istanbul. Eine Reise zwischen Orient und Okzident (Amsterdam 2007), übersetzt von Andreas Ecke,
München 2007, S. 29, 118 | Edward W. Said: Orientalismus (1978), übersetzt von
Liliane Weissberg, Frankfurt am Main 1981, S. 250 | Bernard Lewis: What went
wrong? Western Impact and Middle Eastern Response, Oxford 2002, S. 107, 72 |
Jaques Benoist-Méchin: Moustafa Kémal ou la mort d’un empire, Paris 1954, S.
353; Akil Aksan (Hg.): Mustafa Kemal Atatürk. Aus Reden und Gesprächen,
Heidelberg 1981, S. 31, 30; zit. in: Bernd Rill: Kemal Atatürk, Reinbek bei
Hamburg 2006, S. 80, 83, 90 | Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesungen über
die Philosophie der Geschichte (1821–1831), Stuttgart 1961, S. 168 | Ayşe Öncü:
„Maganda“. Die kulturelle Neuordnung Istanbuls in den Neunzigerjahren; Cihan
Tuǧal: Die Anderen der herrschenden Stadt. Die Neugründung der Stadt durch
Informalität und Islamismus; Ihsan Bilgin: Die Doppelstruktur Istanbuls, in:
Orhan Esen / Stephan Lanz (Hg.): Self Service City: Istanbul, Berlin 2005, S.
397ff., 327ff., 93ff.
Herunterladen