grauedonau_RZ 22.04.2008 9:22 Uhr Seite 526 Cherson, Krim, mythischer Ursprungsort der russisch-orthodoxen Kirche verroht ist. Sie werden es entbarbarisieren.“ In einem Brief an die Zarin ein halbes Jahr davor war, ganz im Gegensatz zum Orientalismus der Zeit, von „niederträchtigen Türken“ die Rede, die fortwährend Reaktionen provozieren würden: „Während wir uns bemühen, die Menschen in dem Erdenwinkel, den wir bewohnen, weniger boshaft zu machen, sagen uns alle Nachrichten, dass die Türken Sie zu einem zweiten Schlag gegen sie zwingen und dass Sie endlich nicht umhinkönnen werden, Ihren Einzug in Konstantinopel zu halten.“ Voltaire kündigte sogar eine Reise dorthin an „um Eurer Doppelten Kaiserlichen Majestät“ – dann auch „auf dem Thron Konstantins“ – „meine Aufwartung zu machen“, bat sie zugleich aber „untertänigst, Ihre Eroberung des Bosporus noch vor drei Jahren zu beenden, denn da ich deren vierundachtzig zähle, werden Sie nicht verantworten wollen, mich zulange warten zu lassen“. Ein auf seine Art ganz anderer unabhängiger Geist wie der Quäker William Penn (1644–1718), der Gründer von Pennsylvania und Philadelphia, hatte mit solchen absolutistisch-reformerischen, zu Kolonialismus ausartenden Visionen längst schon nichts mehr anfangen können und es bereits in seinem 1693 – zehn Jahre nach der zweiten Wiener Türkenbelagerung – veröffentlichten Konzept für ein parlamentarisch regiertes vereintes Europa für völlig logisch gefunden, dass „the Turks and Muscovites are taken in“. David Stevenson: 1914–1918. Der Erste Weltkrieg (London 2004), übersetzt von Harald Ehrhardt und Ursula Vones-Liebenstein, Düsseldorf 2005, S. 151| RalphJohannes Lilie: Byzanz. Das zweite Rom, Berlin 2003, S. 486, 485, 504, 249 | Barbara Tuchman: Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert (New York 1978), übersetzt von Ulrich Leschak und Malte Friedrich, München 1985, S. 494, 500f. | Ulrich Schlemmer (Hg.): Johannes Schiltberger. Als Sklave im Osmanischen Reich und bei den Tataren 1394–1427, Stuttgart 1983 | Nesteren Refioǧlu (Hg.): Pirî Reis and his Charts, Istanbul 2006 | Bernard Lewis: The Muslim Discovery of Europe, London 1982/2000, S. 152 | Tomáš Špidlík: Russische Spiritualität (Rom 1991), Regensburg 1994, S. 29ff. | Georg Ostrogorsky: Geschichte des byzanti526 Ost-West-Bezüge Flussabwärts Zwischeneuropa Außengrenzen nischen Staates (1940), München 1975, S. 255f. | Grigorios Larentzakis: Die Orthodoxe Kirche. Ihr Leben und ihr Glaube, Graz 2000, S. 200, 14, 168, 20, 63, 82, 80, 22 | Richard Wagner: Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkan, Berlin 2005, S. 247 | Roland Barthes: Wie zusammen leben (Vorlesungen 1976/77, Paris 2002), übersetzt von Horst Brühmann, Frankfurt am Main 2007, S. 43, 75, 81, 119, 43, 47, 48f., 212, 50 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, Frankfurt am Main 1993, S. 96, 104 | Christian Reder: Am mythischen Ausgangspunkt von Migration und Urbanität, in: Christian Reder, Simonetta Ferfoglia (Hg.): Transferprojekt Damaskus. Urban orient-ation, Wien-New York, 2003, S. 148 | Edwin Pears: The Fall of Constantinople being the Story of the Fourth Crusade (London 1885), London 1987, S. 347 | Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit, Vierzehn historische Miniaturen (Leipzig 1927), Frankfurt am Main 2007, S. 36ff. | Martin Fronius (Hg.): Voltaire. Ein Lesebuch für unsere Zeit, Berlin–Weimar 1989, S. 390, 371f. William Penn: An Essay Towards the Pre sent and Future Peace of Europe by the Establishment of an European Dyet, Parliament or Estates (London 1693), Hildesheim-Zürich-New York 1983, S. FLUCHTORT ISTANBUL. Der vor allem durch seine utopischkristallinen Projekte markant im Bewusstsein gebliebene Architekt Bruno Taut (geb. 1880 in Königsberg, gest. 1938 in Istanbul) war im NS-Deutschland nicht mehr erwünscht gewesen und hatte nach kurzem Arbeitsaufenthalt in Japan eine neue Wirkungsstätte in Istanbul gefunden. Er konnte die Professorenstelle übernehmen, für die der kurz vor der beabsichtigten Emigration verstorbene Hans Poelzig (1869–1936) vorgesehen war, lieferte Entwürfe für Regierungsgebäude und realisierte einige Bauten, vor allem Schulen und die Literaturfakultät der Universität Ankara. Kurz vor seinem Tod bekam er ehrenvolle Aufträge, wie den Katafalk für Kemal Atatürk (1881–1938) oder die Festdekoration der Stadt zum 15. Jahrestag der Republik, an der auch Wilhelm Schütte (1900–1968) und Margarete SchütteLihotzky (1897–2000) mitgearbeitet haben, denen er nach ihrer Zeit in Frankfurt („Frankfurter Küche“) und Jahren in der UdSSR in Istanbul Arbeitsmöglichkeiten verschafft hatte. Ende 1940 fuhr Margarete Schütte-Lihotzky mit Herbert Eichholzer, der als Architekt im Büro von Clemens Holzmeister beschäftigt war, aus politischen Motiven zurück nach Wien, vor allem um einen gefährdeten KP-Funktionär zur Emigration zu bewegen und zur „Herstellung der Verbindung mit dem Auslandsapparat“. Von einem Spitzel verraten, wurden beide rasch verhaftet. Eichholzer ist hingerichtet worden, Schütte-Lihotzky wurde zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt und kam bis Kriegsende ins Zuchthaus Aichach bei Augsburg. „Kein einziger, mit dem ich im grauedonau_RZ 22.04.2008 9:22 Uhr Seite 527 Widerstand gearbeitet habe“, schrieb sie in ihren Erinnerungen, „ist am Leben geblieben“. Vor dem Todesurteil gerettet hatte sie das gefälschte Angebot eines türkischen Regierungsvertrages. Das langjährige, 1927 einsetzende Wirken des österreichischen Architekten Clemens Holzmeister (1886–1983) in der Türkei, der über die Kriegs- und Nachkriegszeit hinweg in Istanbul und dann in Ankara gelebt hat, ist angesichts seiner Großaufträge für Regierungsbauten nur bedingt eine erzwun- gene Emigration gewesen, für Exilsituationen als solche und die Aufnahmebereitschaft dennoch ein hier einzubeziehendes Beispiel. In Österreich über den Bau des Wiener Krematoriums, des Funkhauses, des Salzburger Festspielhauses und vieler Kirchen zum dominierenden Architekten des Ständestaates geworden, entstanden in Ankara nach seinen Entwürfen große Staatsbauten, Ministerien, das Palais für Kemal Atatürk, das türkische Parlamentsgebäude. Hinzugezogen hat er eine Fluchtort Istanbul 527 grauedonau_RZ 22.04.2008 9:22 Uhr Seite 528 Michael Aschauer: Bosporus Reihe von Architekten, vor allem Max Fellerer, Fritz Reichl, Ceno Kossak, Stefan Simony, Herbert Eichholzer, Walter Schmutzer, Richard Praun und Anna Lülja Praun. Der Bildhauer Anton Hanak oder die Keramikerin Gudrun Baudisch bekamen Aufträge im Rahmen der Türkeiprojekte. Sein aus Wien stammender Mitarbeiter Ernst Egli (1893–1974), später Professor an der ETH Zürich, hat ein Standardwerk über Mimar Sinan, den Baumeister osmanischer Glanzzeit verfasst. Ernst Reuter (1889–1953), während der Blockade Berlins 1948/49 Berliner Bürgermeister, war wie viele andere in russischer Kriegsgefangenschaft Bolschewik geworden, hatte mit Lenin zusammengearbeitet, war Mitbegründer der KPD, wechselte zur SPD und konnte 1933, aller Ämter enthoben, in die Türkei emigrieren, wo er als Berater des Wirtschaftsministeriums und Professor für Städtebau tätig war und wo sein Sohn Edzard Reuter, später Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG, aufgewachsen ist. Auch für den unerwünschten Komponisten Paul Hindemith (1895–1963) ist die Türkei erste Station seines Exils gewesen, bevor er über die Schweiz in die USA gelangte. Der Nationalökonom Wilhelm Röpke (1899–1966), liberaler Vordenker der sozialen Marktwirtschaft, ging 1933 zuerst nach Istanbul, wo er an der Universität lehrte und sein Buch Die Lehre von der Wirtschaft geschrieben hat, bevor er an die Universität Genf wechselte. „Bis 1945 hatten ca. 1.000 Exilanten aus dem deutschsprachigen Raum in der Türkei Zuflucht gefunden“, heißt es unter dem Stichwort „Exil in der Türkei“ in der Wikipedia-Enzyklopädie. George Tabori Bosporus 528 (1914–2007) ist nach Jugendjahren in Budapest von 1939 bis 1941 Auslandskorrespondent in Sofia und Istanbul gewesen und konnte so der Judenvernichtung entkommen. Sein Vater kam in Auschwitz um, die Mutter überlebte. Kriegsberichterstatter und Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes im Mittleren Osten geworden, hatte er, um seine Spuren zu verwischen, in Istanbul einen Selbstmord mit Abschiedsbrief vorgetäuscht. Für Leo Trotzki (1879–1940), als Leo Bronstein in Janowka in der Ukraine geboren, einem entlegenen Dorf in den „unermeßlichen Steppen des Gouvernements Cherson“, wie er in seiner Biographie betonte, und in Odessa – er nannte es „das handeltreibende, vielstämmige, bunte, schreiende Odessa“ – zur Schule gegangen, war, wie bereits erwähnt, Istanbul die erste westliche Exilstation nach seiner Entmachtung und Ausweisung. Er blieb von 1929 bis 1933 und hat dort einige seiner Hauptwerke verfasst, so vor allem Mein Leben und Geschichte der Russischen Revolution. Auch eine damals gehaltene Rede ist überliefert: „Die österreichische Krise, die Sozialdemokratie und der Kommunismus“. Gewohnt hat er mit seiner Frau Natalia Sedowa (1882–1962) und einem der Söhne in einer Villengegend auf der Insel Prinkipo (Büyükada) im Marmarameer, einem beliebten Ferienort wohlhabender Städter, früher Exilort verbannter Prinzen. Im abschließenden Vorwort zu Mein Leben. Versuch einer Autobiographie heißt es dazu lakonisch: „Im Januar 1928 schickte mich die heutige Sowjetregierung in die Verbannung. Ein Jahr verbrachte ich an der Grenze Trotzki-Wohnhaus, Prinkipo (Büyükada) Ost-West-Bezüge Flussabwärts Zwischeneuropa Außengrenzen grauedonau_RZ 22.04.2008 9:22 Uhr Seite 529 Chinas. Im Februar 1929 wurde ich in die Türkei ausgewiesen und schreibe diese Zeilen in Konstantinopel.“ Und abschließend resümierte er unverdrossen: „Die Gesetzmäßigkeit der Ereignisse erkennen und in dieser Gesetzmäßigkeit seinen Platz finden, ist die erste Pflicht des Revolutionärs. Das ist auch die höchste persönliche Befriedigung, die ein Mensch finden kann, der seine Aufgaben nicht an den Tag bindet.“ Weil im 19. Jahrhundert ein Auswandern nach Amerika, ob in den Norden oder Süden, zur Chance schlechthin wurde, um europäischen Zwängen zu entkommen, wird ‚das nahe liegende Amerika‘, das Osmanische Reich, als Fluchtziel und Migrationsrichtung historiographisch weitgehend ignoriert. Dabei hat es gerade für politisch Verfolgte aus jenem ‚Zwischeneuropa‘, das von Russland, Preußen und Österreich als latent umstrittene Interessensphäre betrachtet wurde, kaum einen greifbareren Ausweg gegeben. Wer gegen diese Imperien zu auffällig opponierte, konnte sich am ehesten auf gegnerisches, also osmanisches Gebiet retten. Wegen der bis zum Krimkrieg wirksamen, Reformen unterdrückenden „Heiligen Allianz“ der kontinentalen Großmächte und nachfolgenden Restriktionen sind in Europa vor allem England, das dafür offenere Frankreich, die Schweiz und eben das Osmanische Reich als Fluchtziele in Frage gekom- men. Atlantikpassagen wurden erst allmählich billiger, Atlantikhäfen zu erreichen, war wegen der vielen Grenzkontrollen riskant. Zehntausende flohen nach Konstantinopel. Die Stadt wurde Anlaufstelle für Aufständische aus dem dreimal geteilten Polen. Fürst Jerzy Adam Czartoryski (1770–1861) blieb dafür eine Symbolfigur, da er sich nach langen Kompromissversuchen mit Russland, bis hin zum Durchsetzen einer polnischen Verfassung, schließlich an der Erhebung von 1830 beteiligt hatte, zum Tod verurteilt wurde und ins Pariser Exil, das Zentrum der „Großen Emigration“, geflohen war. Auf ihn geht der Name Adampol für das heutige Polonezköy, das „Polendorf“ im asiatischen Hinterland Istanbuls zurück, für das er bei einem persönlichen Besuch Grundstücke bereitgestellt hatte, um für geflohene Polen Lebensmöglichkeiten zu schaffen. ‚Nachschub‘ erhielt die Siedlung durch im Krimkrieg gegen Russland kämpfende Polen und durch weitere Flüchtlinge nach dem erfolglosen Aufstand von 1863. Obwohl die Intention, Legionäre für künftige Aufstände heranzubilden, nach der Unabhängigkeit Polens 1918 ihren Sinn verlor, waren viele Einwohner geblieben. Verblassende Spuren dieser Gemeindetradition, Polnisch sprechende Einwohner, die 1842 errichtete, nur noch an speziellen Festtagen benutzte Kirche, die Haustypen, der Friedhof exis- Polensiedlung Polonezköy bei Istanbul Fluchtort Istanbul 529 grauedonau_RZ 22.04.2008 9:22 Uhr Seite 530 tieren heute noch. Von Istanbul aus nach dem üblichen Stau auf der den Bosporus überspannenden Sultan-Mehmet-Brücke in einer halben Stunde erreichbar, ist Polonezköy heute ein beliebtes, in einer Waldgegend liegendes Ausflugsziel mit vielen Restaurants. Als Spezialität wird ansonsten in der Türkei kaum erhältliches Schweinefleisch angeboten. Zu Polen gibt es weiterhin Kontakte, Künstlersymposien finden statt. Nach einem Verwandtenbesuch war zum Beispiel Marie Dochoda geblieben, weil sie Joszef Dochoda, der aus einer seit langem ansässigen polnischen Familie stammt, geheiratet hat. Drei Staatsbürgerschaften sind in ihr vertreten, die Türkische, die Polnische und Britische, was nach längeren Auslandsaufenthalten rechtlich möglich ist. Einige Dorfbewohner sind aus Bulgarien zugezogen, einige sind Kurden oder Armenier. Der Bürgermeister ist polnischer Herkunft. Nach dem jahrelang im Exil lebenden Dichterfürsten Polens, Adam Mickiewicz (1798–1855), ist eine Straße benannt. Er hatte im Krimkrieg Chancen für Polen gesehen und war nach Konstantinopel gekommen, um polnische Legionen aufzustellen, starb aber kurz nach der Ankunft vermutlich an der Cholera. Stanislaus Chlebowski (1835–1884) wiederum wurde Hofmaler des Sultans. Constantine Bozecki (1828–1877), ein weiterer polnischer Revolutionär, konvertierte als Mustafa Celaleddin Pascha zum Islam und wurde ein Wegbereiter des türkischen Nationalismus. Er heiratete eine Tochter des Generals der osmanischen Armee im Krimkrieg, Omer Pascha (1806– 1871), der, als Kroate unter dem Namen Michail Latas, davor in der habsburgischen Armee gedient hatte. Ein weiterer auf der Krim eingesetzter General, der gebürtige Pole Alexander Ilinski (1810–1861), hatte in verschiedenen Armeen Kommandos übernommen, auf Seiten der ungarischen Revolution gekämpft und war schließlich als Iskender Beg türkischer General geworden, so wie sein Landsmann Zedlinsky, der als Selim Pascha Truppen an der Donau befehligte, wobei ein Pascha-Titel keineswegs zwingend mit einer Konversion zum Islam einhergehen musste. Der sich unter osmanischem Schutz versammelnden ungarischen Emigration gehörte eine Zeit lang der Nationalheld Lajos Kossuth (1802–1894) an, der nach dem verlorenen Kampf 530 Ost-West-Bezüge Flussabwärts Zwischeneuropa Außengrenzen gegen Habsburg von 1848/49 und der nachfolgenden Repression mit zahllosen Hinrichtungen zuerst nach Konstantinopel entkommen konnte, bevor er nach England und dann nach Italien ins Exil ging. Mit ihm und den Resten seiner Armee war auch der in Ungarn hoch verehrte polnische General und Internationalist Józef Bem (1795–1850) – vor seinem Denkmal in Budapest formierte sich, wie erwähnt, die Aufstandsbewegung von 1956 –, der sich 1848 maßgeblich an der Wiener Volkserhebung beteiligt hatte und dann von Kossuth zum Befehlshaber der Revolutionsarmee in Siebenbürgen ernannt worden war, nach Konstantinopel gekommen, wo er zum Islam übertrat und den Namen Amurat Pascha annahm. Dutzende Offiziere und tausende ungarische und polnische Soldaten traten mit ihm in osmanischen Dienst und vielfach auch zum Islam über. Wegen österreichischer und russischer Interventionen wurde er als Armeekommandant nach Aleppo abgeschoben, wo er im Dezember 1850 gestorben ist. Entgegen der Legenden von ununterbrochenen ‚Türkenkriegen‘ war gerade für Flüchtlinge aus Ungarn das Osmanische Reich vielfach ein Refugium. Fürst Ferenc II. Rákóczi (1676– 1735), Anführer des letzten „Kuruzzenaufstandes“ (1703–1711), der parallel dazu immer wieder aufflackernden Kämpfe ungarischer Truppen gegen Habsburg, in denen seine gesamte Familie eine offensive Rolle spielte, war wegen seiner Niederlage zuerst nach Polen, dann nach Konstantinopel ausgewichen. Von 1720 bis zu seinem Tod 1735 lebte er im Exil in Tekirdaǧ am Marmarameer. Auch der schwedische König Karl XII. (1682– 1718) war nach der Niederlage in der Schlacht bei Poltawa im Jahre 1709, dem Ende der schwedischen Großmachtstellung, in die Stadt am Bosporus geflohen, wegen seiner undurchsichtigen Absichten aber schließlich unter Hausarrest gehalten worden. Da Konstantinopel, das griechisch Byzantion, dann Constantinopolis, in slawischen Sprachen Carigrad, Stadt des Zaren, im Türkischen Stambul bzw. Istanbul (von griech. is tin polin; in die Stadt) und ab 1930 offiziell Istanbul genannt wurde, bis zur Bildung unabhängiger Nationalstaaten die ,Hauptstadt‘ des Balkans gewesen ist, war es gerade im 19. Jahrhundert grauedonau_RZ 22.04.2008 9:22 Uhr Seite 531 Anziehungspunkt für Zuwanderer mit unterschiedlichen Motiven. 40.000 Bulgaren machten es zeitweilig zur größten bulgarischen Stadt. Kroaten, Serben und Montenegriner ließen sich nieder. Bis sich Athen wieder als politisches und geistiges Zentrum der Griechen etablierte, ist es als ihre eigentliche Hauptstadt angesehen worden. 200.000 Griechen lebten dort, die Hälfte davon war auswärts geboren. „Nirgendwo sonst, nicht einmal in London“, schreibt Philip Mansel in Constantinople. City of World’s Desire, 1453–1924, „sind in der Metropole eines großen Reiches mehr Anführer nationaler Revolten, die schließlich seine Existenz untergraben würden, herangebildet worden.“ Bereits der aus dem mazedonischen Griechenland stammende Albaner Muhammad Ali Pascha (1769–1848) trug durch seine reformfreudige Herrschaft über ein de facto selbständig gewordenes Ägypten zur Auflösung des Osmanischen Reiches bei. Signifikant war, dass von den über tausend um 1870 eingetragenen Kaufleuten und Bankiers der Stadt nur 40 Muslime gewesen sind und die Europäerstadt Galata an der Spitze des Pera-Viertels (griechisch für „gegenüberliegend“) zum „Synonym für Korruption“ geworden war, so Mansel, nicht zuletzt, weil europäische Pässe speziellen Schutz geboten hatten. Wegen der etwa hunderttausend Einwanderer aus europäischen Ländern und der Struktur der alteingesessenen Bevölkerung gab es im 19. Jahrhundert sogar kurze Phasen mit christlicher Mehrheit. Sultan Abdülaziz (1830–1876) hatte sein Reich unter dem zunehmenden Druck ausdrücklich „zum Rettungshafen für Muslime – und Nicht-Muslime wie russische Altgläubige, polnische Konföderierte oder Zaporoger Kosaken – erklärt, was erst verständlich macht, in welchem Kontext die Aufnahme der massiven Emigration von Krim-Tataren nach dem Krimkrieg vor sich gegangen ist“ (Brian Glyn Williams). Besonders für Muslime vom Balkan, für Krim-Tataren und Kaukasusvölker wurde das Osmanische Reich zu einem offenen Aufnahmeland. Wegen des russischen Vordringens in die Regionen um das Schwarze Meer und in den Kaukasus flohen zehntausende Tataren, Armenier, Tscherkessen, Tschetschenen und Angehörige anderer verfolgter Ethnien ins Osmanische Reich – wie später wegen sowjetischer Repression in dessen Nachfolgestaaten; Vertreibung als Hintergrund in der Folge auflebender Radikalisierung. Geschätzte 1,5 Millionen Muslime aus Südosteuropa und den Kaukasusländern fanden in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg Aufnahme (Klaus Kreiser). Seit jeher hatten sich viele Spanier, Italiener, Franzosen, Ungarn „den Osmanen aus freien Stücken angeschlossen“, sei es wegen religiöser Verfolgung im Heimatland, wie im Fall calvinistischer Ungarn oder von Serben, „die nach 1683 unter habsburgische Oberhoheit gerieten“ und es oft vorzogen, „unter dem Sultan zu leben, weil dieser nicht versuchte, sie von ihrem orthodoxen Glauben zum Katholizismus zu bekehren“ (Suraiya Faroqui). Das „Albanerdorf“ Arnavutköy oder der Belgrat Ormani, der Belgrader Wald, oberhalb von Büyükdere am Bosporus erinnern an solche Zeiten, wobei sich Letzterer auf Deportierte aus Belgrad bezieht, die unter Suleiman I. (1495–1566) angesiedelt worden waren, um das von dort ausgehende komplizierte Wasserversorgungssystem der Stadt in Stand zu halten. Der mächtige Großwesir nach dessen Tod, Sokullu Mehmet Pascha (1505– 1579), war ein bosnischer Serbe, der als Janitscharenzögling gewaltsam in die Stadt gebracht worden war. Der Großadmiral Kilic Ali Pascha (1519–1587), Gegner von Don Juan de Austria (1547–1578) in der Seeschlacht von Lepanto, war ein Italiener aus Kalabrien, dessen Karriere als Sklave und Pirat begonnen hatte, der Zahlmeister Hasan Aǧa ein Venezianer; der Fondaco dei Turchi in Venedig erinnert an solche intensiven Kontakte. Der Muslim gewordene Ungar Ibrahim Müteferrika (1674– 1745) hat als Verleger die erste Druckerei der Stadt gegründet. Der rumänische Prinz Demetrius Cantemir (1673–1723) verfasste eine frühe Geschichte des Osmanischen Reiches. Aufenthalte in Istanbul und Reisen im Mittleren Osten brachten Antoine Galland (1646–1715) dazu, Tausendundeine Nacht zu übersetzen. Die legendäre Roxelane (1506–1558) aus der Ukraine oder die französische Adelige Aimée du Buc de Rivery (1776–?) wurden von Sklavinnen zu Sultansfrauen. Die meisten der zahllosen bis ins 19. Jahrhundert in die Stadt gebrachten Sklaven gingen nach ihrer Freilassung in der Stadtbevölkerung auf, sofern sie Fluchtort Istanbul 531 grauedonau_RZ 22.04.2008 9:22 Uhr Seite 532 nicht freigekauft worden waren und heimgekehrt sind – Migration als Ineinanderwirken von Freiwilligkeit und Zwang. Der Veteran des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und der Französischen Revolution, General Jean Baptiste Annibal Aubert du Bayet (1757–1797), erneuerte als französischer Botschafter die Beziehungen zum Osmanischen Reich und wirkte mit einer Gruppe von Militärs an angelaufenen Reformen mit, was schließlich zum radikalen Zerschlagen der Macht der Janitscharen führte (1826). Er starb vierzigjährig in Konstantinopel. Wegen der vor dem Ersten Weltkrieg eingeleiteten Kooperation und Waffenlieferungen kamen viele deutsche Berater ins Land. Generäle wie Colmar von der Goltz (1843–1916) und Otto Liman von Sanders (1855–1929) reformierten die osmanische Armee. Bis Bagdad reichten die damaligen ‚Mitteleuropa‘-Ideen der Mittelmächte. Zwei deutsche Kreuzer als Verstärkung übergebend, übernahm Admiral Wilhelm Souchon (1864–1946) den Oberbefehl über die osmanische Flotte. Der Kriegsminister Ismail Enver (Enver Pascha, 1881–1922, später vorerst nach Odessa geflohener, dann in Zentralasien kämpfender pan-türkischer Nationalist) betrieb den Kriegseintritt seines Landes an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns, was Admiral Souchon noch eigenmächtig und provokant durch die Beschießung von Sewastopol, Novorossisk, Feodosija und Odessa beschleunigte. „Wegen zwei deutschen Kriegsschiffen und einer Wirtschaftshilfe von zwei Millionen Türkischen Pfund in Gold“, so das Resümee des ‚Kemalisten‘ Muammer Kaylan, „sind wir in den Krieg gezogen und haben ein Reich verloren“. Diese Erfahrung wirkte mit, dass die Türkei im Zweiten Weltkrieg trotz ständigen Drucks beider Seiten bis kurz vor dessen Ende neutral blieb. Im Zuge des 1903 begonnenen, immer wieder unterbrochenen Baus der Bagdad-Bahn, die zur schnellsten und wirtschaftlichsten Verbindung Europas mit Indien hätte werden sollen, lebten zahllose deutsche Ingenieure und Baufachleute jahrelang im Land. Heinrich August Meißner (1862–1940), der technische, auch für die Hedschas-Bahn nach Damaskus und Medina zuständige Leiter, blieb, im Rang eines Paschas integriert, trotz der wegen des Krieges erst Jahrzehnte später 532 Ost-West-Bezüge Flussabwärts Zwischeneuropa Außengrenzen durchgehend fertig gestellten Strecke im Land, lehrte an der Universität Eisenbahnbau und starb 1940 in Istanbul. Um 1920 wurde Konstantinopel zur katastrophischen Flüchtlingsstadt, in der sich zeitweilig 200.000 vor den Bolschewiken geflohene russische Zivilisten und Weißgardisten aufhielten. Künstler wie Iwan Bunin oder Serge Poliakoff (1900– 1969), die zuerst nach Konstantinopel, dann nach Paris gelangten, stehen für die Masse anonym Gebliebener. Auf dem selben Schiff, das General Pjotr Wrangel (1879–1928) für die letzten Kämpfe der Weißgardisten aus dem Exil in Konstantinopel auf die Krim brachte, kam dessen abgelöster Rivale General Anton Denikin (1872–1947) in die Stadt am Bosporus, als erste Station seiner Emigration. Wrangel folgte ihm im November 1920. Wegen völlig unzureichender Hilfsmaßnahmen ihrer Alliierten, so Saskia Sassen, gab es unzählige Russen und Ukrainer, die „in den Straßen Konstantinopels verhungerten“. Die internationale Erregung darüber war ihr zufolge „möglicherweise ein erster Schritt auf dem Weg zur Entwicklung eines Flüchtlingsbegriffs, der von der Flucht vor dem Kommunismus geprägt war“. „Wie andere Weltstädte – Amsterdam im 17. Jahrhundert, Wien im 19. Jahrhundert, New York im 20. Jahrhundert –, war auch Konstantinopel für Juden ein attraktiver Ort“, so Philip Mansel. Begriffe wie „Pogrom, Ghetto, Inquisition“ hatten dort über Jahrhunderte hinweg keine reale Bedeutung. Schon für die 1492 aus Spanien vertriebenen sephardischen Juden und eine Bekehrung verweigernden Araber und Berber war das Osmanische Reich zur wichtigsten Zufluchtszone geworden. Der Sultan hatte sogar eine Flotte gesandt, um sie aufzunehmen. Viele Juden ließen sich in Tanger, Algier, Genua und Marseille nieder. Thessaloniki, seit 1430 osmanisch, wurde zur jüdischen Stadt, Konstantinopel ein Hauptstützpunkt arabischer Seeleute, jüdischer Kaufleute und Ärzte. Gerade Letztere repräsentierten vielfach „the highest level of Sixteenth-century European medicine“, wie Bernard Lewis in The Muslim Discovery of Europe hervorhebt. Um 1700 waren von 28 eingetragenen Chirurgen zwölf Griechen, acht Juden, vier Muslime, zwei Engländer, ein Franzose und ein Armenier. Von den 331 Fleisch- grauedonau_RZ 22.04.2008 9:23 Uhr Seite 533 läden gehörten 215 Muslimen, 70 Christen, 46 Juden. Konstatiert werden kann, dass „eine umsichtige Regierungspolitik und die systematische Versorgung der Armen durch die Moscheen die Stadt zu einer der besternährten Europas machte“ und dass „in Konstantinopel die Beziehungen zwischen Christen und Juden deutlich schlechter waren, als jene zwischen Christen und Muslimen“, also vor allem Griechen trotz der Einbindung ihrer Oberschicht, der byzantinisch-griechischen Phanarioten (benannt nach dem Stadtteil Phanar/Fener), in den osmanischen Herrschaftsapparat Animositäten geschürt haben. Mary Wortley Montagu (1689–1762), die über Wien zuerst auf der Donau, dann mit Kutschen nach Konstantinopel gereist war und dort, als Frau des britischen Botschafters, ab 1717 zwei Jahre blieb, hat die babylonische Situation im Europäerviertel – heute der Stadtteil Beyoǧlu – beschrieben: „In Pera wird Türkisch, Griechisch, Hebräisch, Armenisch, Arabisch, Persisch, Russisch, Slawonisch, Walachisch, Deutsch, Holländisch, Französisch, Englisch, Italienisch, Ungarisch gesprochen.“ Vor allem die Vorstädte seien „Ansammlungen von Fremden aus allen Ländern der Erde“; es gebe dort keine einzige Familie, „die sich als ‚unvermischt‘ bezeichnen könnte“. „Oft trifft man auf eine Person, deren Vater gebürtiger Grieche ist, die Mutter Italienerin, der Großvater Franzose, die Großmutter Armenierin und die Vorfahren Engländer, Moskoviter, Asiaten etc. sind.“ Die Stadt selbst hielt sie für „die schönste urbane Anlage der Welt“ und traf immer wieder auf Frauen, „die ihre Freiheiten in Anspruch nehmen und sich nicht als Sklavinnen ihrer Religion betrachten.“ Isaac Rousseau (1672–1747), der Vater von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), war als gesuchter Uhrmacher eine Zeit lang am Hof des Sultans tätig, so wie der zur einflussreichen Kraft des Musiklebens werdende Giuseppe Donizetti (1788–1856), der Bruder des Komponisten. Zur Konfliktvermeidung dürfte – wie bei den aus zahllosen, untereinander Kontakte vermeidenden Gruppierungen westlicher Großstädte – die soziale Entmischung beigetragen haben, denn „die Toleranz der Stadt war im Grunde ein Wegschauen“, so Geert Mak. „Im Umgang mit fremden Welten fehlte ihr jegliche Neugier. Die Osmanen unterhielten keine ständigen Gesandtschaften in ausländischen Hauptstädten, dergleichen fanden sie nur teuer und unpraktisch. Jeder war willkommen, aber der Kontakt mit dem Anderen blieb etwas höchst Einseitiges. Die Hauptstadt der Welt war letztlich nur an sich selbst interessiert.“ Der Umschwung dieser legendären kosmopolitischen Tradition kam mit allseits angefachtem Nationalismus und Rassismus, wobei in der Region der Separatismus von Griechenland den Anfang machte, was wiederum, verstärkt durch die Demütigungen seitens westlicher Mächte, den türkischen Nationalismus radikalisierte. Die schließlich durch den griechisch-türkischen Krieg eskalierende ‚ethnische Entflechtung‘ nach dem Ersten Weltkrieg führte zur erzwungenen ‚Repatriierung‘ von 1,2 Millionen Griechen und einer halben Million Türken, die meist über Generationen im ‚falschen‘ Land gelebt hatten. Nach türkischen Angaben sind zwischen 1923 und 1960 1,2 Millionen Menschen aus Balkanländern in die Türkei emigriert (was in diesem Band Didem Danis bis hin zur aktuellen Problematik illegaler Immigranten kommentiert). Die als politische Strategie geschürte Hoffnung, durch annähernde ‚ethnische Reinheit‘ künftig landesinterne Konflikte zu vermeiden, sie auf externe Kontroversen zwischen Nationalstaaten zu verlagern, stellte sich bekanntlich als eine der folgenreichsten Fehleinschätzungen des 20. Jahrhunderts heraus. „Bis 1914 waren vor russischen Pogromen flüchtende Juden bereitwillig aufgenommen worden“, konstatiert Philip Mansel, dann radikalisierte sich auch die türkische Situation, mit dem Genozid an den der Kollaboration mit Russland verdächtigten Armeniern, mit zumindest 600.000, möglicherweise bis zu 1,5 Millionen Toten, was bekanntlich in der Türkei immer noch ein höchst neuralgisches Tabuthema ist. Im Zweiten Weltkrieg „verhielt sich die Türkei so gefühllos wie andere neutrale Länder“. Dafür steht die Tragödie der „Struma”, eines kaum manövrierfähigen Schiffes, dem mit fast 800 jüdischen Flüchtlingen aus Rumänien an Bord wochenlang das Anlegen in Istanbul verweigert wurde und das Anfang 1942 – in Berlin tagte die Wannseekonferenz zur „Endlösung“ – schließlich aufs offene Meer geschleppt wurde, wo es nach Fluchtort Istanbul 533 grauedonau_RZ 22.04.2008 9:23 Uhr Seite 534 einer ungeklärten, vermutlich von einem sowjetisches U-BootTorpedo ausgelösten Explosion gesunken ist. David Stoliar war der einzige Überlebende. Bevor es wegen der Kriegslage immer unmöglicher geworden war, ist insgesamt etwa 17.000 Juden die Flucht über Donau und Bosporus nach Palästina und anderen Destinationen gelungen. Das verlassene, die Abwanderung der letzten Jahrzehnte evident machende jüdische Viertel am „Goldenen Horn“ ist inzwischen kaum noch als solches erkennbar; heute wird die Zahl jüdischer Bewohner auf 20.000 geschätzt. 60.000 Armenier leben in der Stadt. Nach den Ausschreitungen von 1955 gegen Nicht-Muslime, die vom Zypernkonflikt und dem Gerücht eines Bombenanschlags auf das Geburtshaus Kemal Atatürks in Thessaloniki ausgelöst wurden, emigrierten fast alle der 100.000 verbliebenen Griechen oder wurden, wenn ohne türkische Staatsangehörigkeit, ausgewiesen. Es „verließen mehr Griechen die Stadt als in den Jahrhunderten seit 1453“ (Geert Mak). Etwa 4.000 bis 5.000 soll es derzeit noch geben; um 1914 war es eine halbe Million. Über Jahrhunderte hinweg hatte die Stadt mehrere hunderttausend Einwohner, in jüngster Zeit ist ihre Bevölkerung durch Zuzug aus ländlichen Gebieten auf zwölf oder sogar inoffizielle siebzehn Millionen angewachsen, was dem Ballungsgebiet von Paris und der türkischen Gesamtbevölkerung von 1927 (heute: 74 Millionen) entspricht. Allein dadurch ist ihr multikultureller Charakter weitgehend verschwunden; es bilden sich neue Differenzierungen. Dennoch macht gerade das Beispiel Konstantinopel – als exemplarisches Zentrum durchlässiger Mittelmeerbeziehungen am Rand Europas – deutlich, welche Schwankungsbreiten an Toleranz die Moderne charakterisieren und welche Freiheitsgrade im Zusammenleben bereits einmal erreicht waren. Kemal Atatürk hatte durch die Verlegung der Hauptstadt nach Ankara (1923) bewusst mit den Traditionen Istanbuls und seiner ‚Kompliziertheit‘ gebrochen. Er machte, „als aufgeklärter Diktator“, wie Muammer Kaylan betont, aus den Türken Kleinasiens „eine neue Nation“, da sie im Osmanischen Reich nie das Staatsvolk in westlichem Sinn gewesen sind. Innerhalb 534 Ost-West-Bezüge Flussabwärts Zwischeneuropa Außengrenzen der neuen Staatsgrenzen sollte die türkische Staatsbürgerschaft vor jeder ethnischen Zugehörigkeit Priorität haben. Weil alle früheren, sich von der Französische Revolution und der Tanzimat-Neuordnung ab 1839 herleitenden Reformen „an Despotismus, Ignoranz und religiöser Intoleranz“ gescheitert waren, setzte er auf sechs Prinzipien: „Republikanismus, Säkularismus, Reformismus, Nationalismus und Planwirtschaft“. Die harten Bestimmungen des Friedensvertrages von Sèvres, vielfach als Schlusspunkt der ‚Türkenkriege‘ angesehen, hatten nicht nur das Endes des Osmanischen Reiches gebracht, sondern die künftige Türkei auf ein anatolisches Kernland reduziert, Istanbul war von den Alliierten besetzt, Griechenland sind große Gebiete um Smyrna/Izmir und Thrakien zugesprochen, das Land in eine internationale, eine britische, französische und italienische Zone aufgeteilt worden. Erst der unerwartete Sieg türkischer Einheiten gegen die angreifende griechische Armee, die mit alliierter Unterstützung nach Zentralanatolien vorgedrungen war, ermöglichte – unter schrecklichen Massakern gerade im Raum Smyrna und einer Massenflucht von Griechen, wofür die Melancholie ihrer Rembetiko-Musik die charakteristische Ausdrucksform wurde – eine Konsolidierung des türkischen Staates. Als einziges Mittelmeerland zwischen Tanger und dem Bosporus konnte sich die Türkei, obwohl 1918 zu den Besiegten gehörend, kolonialer Unterordnung entziehen. Das dürfte mitgewirkt haben, antitürkische Reflexe zu prolongieren, denn der sich interessiert gebende und der tatsächlich interessierte europäische „Orientalismus“ war, wie Edward Said (1935– 2003) explizit herausgearbeitet hat, vom Kolonialismus nicht zu trennen, was an neu ‚zu erschließende‘, einmal als Teil des Orients geltende Länder wie Bulgarien und Rumänien denken lässt: „Die Entdeckungen der Europäer hinsichtlich des manifesten und modernen Orients erhielten eine verstärkte Bedeutung, als die Gebietsaneignungen des Westens im Orient zunahmen.“ In der Türkei sollte dieser „Orient“ so rasch als möglich zurückgedrängt werden. Parallel zur gewaltsamen sowjetischen Modernisierung islamisch geprägter Gesellschaften, mit ihrer Zerschlagung von Feudalstrukturen bis hin zum An- grauedonau_RZ 22.04.2008 9:23 Uhr Seite 535 spruch einer Befreiung der Frauen, ging Kemal Atatürk, selbst entschieden antikommunistisch eingestellt, den angefachten Nationalismus nutzend, seine, von Islamisten militant bekämpften, einschneidenden Reformen an, die einflussreicher wurden und nachhaltiger wirkten als analoge spätere Initiativen, ob in Algerien, in Ägypten, im Irak oder in Pakistan. Lange blieb die Türkei ein singulärer Fluchtpunkt für Erneuerung, und zwar, so Muammer Kaylan, ohne „rassistische, faschistische oder kommunistische Ideologien“ zu übernehmen. Kaum sonst wo ist Säkularisierung so schnell erreicht worden, vor allem wenn die gleichzeitig in Europa machtvoll werdenden ‚säkularen Religionen‘ im Blick bleiben. Zu ersten freien Parlamentswahlen kam es allerdings erst 1950. Seither wurden 40.000 neue Moscheen errichtet. So radikalisiert wie unter dem Militärregime in Griechenland oder in Franco-Spanien ist die Lage trotz militanter Rechts-Links-Auseinandersetzungen nie geworden. Verbindungen zwischen Turkvölkern, Persern, Arabern und ein dauerhaftes Zurückdrängen von Islamisten stellten sich fortwährend als Illusion heraus. Durch die Existenz Israels, die propagierte arabische Einheit, den Rückzug ansässiger Europäer entmischten sich die zwischen Kleinasien und Ägypten „Levante“ genannten ostmediterranen Länder, was auch in Istanbul markant spürbar wurde. Der in Alexandria lebende, mit Istanbul durch einen mehrjährigen Aufenthalt bei Verwandten verbundene, von seiner Jugend in England geprägte griechische Dichter Konstantinos Kavafis (1863–1933) war ein exemplarisches Beispiel für solche sich auflösende mediterrane Konstellationen. Für den Islamwissenschaftler Bernard Lewis war Kemal Atatürk „the first great secularizing reformer in the Muslim world“, weshalb ihm allerdings zu unkritische USA- und Türkei-Nähe vorgeworfen wurde; uneingeschränkt gewürdigt hat er dessen Einsatz für die Frauenemanzipation, da Atatürk es für unsinnig hielt, „if we only modernize half the population“. Die Gleichgültigkeit der Landbevölkerung und der Provinzstädte und weiterhin lähmende, vieles präjudizierende Sozialstrukturen blieben das aktivierbare Gegengewicht. Seit 1952 als Nato-Mitglied zur antikommunistischen Bastion aufgebaut, seit 1963 in EU-Warteposition, ist trotz der Ängste vor einem islamistischen Umschwung latent zu hören, das Land werde weiterhin von internationalen Konstellationen manipuliert. Zu den EUBeitrittsverhandlungen, so der Eindruck, stehen urbane Menschen durchwegs positiv, als wünschenswerter Reformschub; ein Beitritt selbst wird hingegen durchaus ambivalent gesehen. Manche von Kemal Atatürks zornig-freimütigen Aussagen gegen „the merchants of religion“ sind in West und Ost inzwischen undenkbar, etwa diese, in der von Bernd Rill verfassten Rowohlt-Monographie zitierte Begründung offensiver Säkularisierung: „Seit mehr als 500 Jahren haben die Regeln und Theorien eines alten Araberscheichs und die abstrusen Auslegungen von Generationen von schmutzigen und unwissenden Pfaffen in der Türkei sämtliche Zivil- und Strafgesetze festgelegt. Sie haben die Form der Verfassung, die geringsten Handlungen und Gesten eines Bürgers festgesetzt, seine Nahrung, die Stunden für Wachen und für Schlafen, den Schnitt der Kleider, den Lehrstoff in der Schule, Sitten und Gewohnheiten und selbst die intimsten Gedanken. Der Islam, diese absurde Gotteslehre eines unmoralischen Beduinen, ist ein verwesender Kadaver, der unser Leben vergiftet.“ In deutlichem Gegensatz zu anderen Radikalisten seiner Zeit setzte er nicht auf nationalen, verengenden Chauvinismus: „Es gibt verschiedene Länder, aber nur eine Zivilisation. Voraussetzung für den Fortschritt der Nation ist, an dieser einen Zivilisation teilzuhaben.“ Offenbar war er überzeugt, mit seinen Intentionen dem Lauf der Geschichte zu folgen, denn „seit Jahrhunderten haben die Türken sich ständig in die gleiche Richtung bewegt – wir sind immer von Osten nach Westen gegangen“. Die entsprechende Hegel-Devise lautet: „Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang.“ Von den Hunderttausenden, die Istanbul in Richtung Westen verlassen haben, wurden manche so prägend wie der Filmregisseur Elia Kazan (1909–2003) oder der Komponist und Produzent Ahmet Ertegun (1923–2006), der Gründer von Atlantic Records und damit Partner von Ray Charles, Aretha Franklin oder Mick Jagger. Genau so signifikant ist jedoch „Istanbuls Fluchtort Istanbul 535 grauedonau_RZ 22.04.2008 9:23 Uhr Seite 536 Invasion durch ‚Außenseiter‘“, wie die Cultural Studies-Expertin Ayşe Öncü den Hauptstrang der Entwicklungen nennt, also vor allem von Millionen Bauern aus Anatolien, für die es der primäre Fluchtpunkt wurde. Die damit verbundene „soziale und kulturelle Spaltung des städtischen Lebens“ charakterisiere die letzten Jahrzehnte. Abgesehen von riesigen Slumgebieten, der unplanbar gewordenen Eigendynamik oder sich „völlig gleichgültig gegenüber den symbolischen Hierarchien“ zeigenden Aufsteigerschichten, äußerte sich Modernisierung als Eindringen einer „schwindelerregenden Fülle globalisierter Bilder, Images, Sounds und Waren in die kulturellen Räume der Stadt“ und darin, „dass in der städtischen Peripherie neuartige populare Kulturen entstanden“. Zugleich verstärkte sich auch unter Städtern der Islamisierungsprozess. „Dabei spielte“, wie der Soziologe Cihan Tuǧal betont, „der weltweite Rückgang der linken Bewegungen und ihre Unterdrückung nach dem Militärputsch ebenso eine Rolle wie die weltweite Tendenz, im Islam eine revolutionäre Ideologie zu sehen.“ Damit „die Akteure der Globalisierung isoliert und geschützt leben konnten“, entstand durch das darauf ausgerichtete Baugeschehen eine „Doppelstruktur“, die ein „völlig sich selbst überlassenes“ Istanbul überlagert. Wie auch anderswo, haben „diese Veränderungen der achtziger und neunziger Jahre“, so der Architekt und Stadtforscher Ihsan Bilgin, „mit der Stadt Istanbul und dem Großteil ihrer Bewohner nichts zu tun“. Auch als Megacity ist Konstantinopel/Istanbul ein neuralgischer, undurchsichtig funktionierender, Härte und Weichheit polarisierender Weltpunkt geblieben. 536 Ost-West-Bezüge Flussabwärts Zwischeneuropa Außengrenzen Margarete Schütte-Lihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand 1938–1945, Hamburg 1985, S. 47ff., 59, 79, 185 | Friedrich Kurrent: Clemens Holzmeister der Lehrer: Wechselwirkung Türkei–Österreich, in: Friedrich Kurrent: Texte zur Architektur, Salzburg 2006, S. 165ff. | Leo Trotzki: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, übersetzt von Alexandra Ramm, Frankfurt am Main 1982, S. 19, 97, 10f. | Polonezköy: Neal Ascherson: Schwarzes Meer (London 1995), übersetzt von H. Jochen Bußmann, Berlin 1996, S. 261ff | Philip Mansel: Constantinople. 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