Psychisch kranke Eltern überfordern ihre Kinder

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Psychisch kranke Eltern überfordern ihre Kinder
Die WELT
27.3.2013
Sabine Kurz
Wenn Eltern psychisch krank sind, leiden vor allem deren Kinder. Sie
beziehen die Krankheit häufig auf sich selbst und opfern den Eltern
zuliebe ihre Kindheit – indem sie deren Rolle übernehmen.
Von Sabine Kurz
Foto: picture alliance / dpa-tmn Nicht ansprechbar oder oft traurig: Leiden die Eltern unter einer
psychischen Erkrankung, ist das für Kinder schwer zu verstehen. Oft geben sie sich selbst die Schuld
daran
Julia hat sich immer ins Badezimmer eingeschlossen, wenn ein Freund ihres Vaters zu Besuch kam.
Da war sie zehn Jahre alt. "Meine Mutter hat mich wieder und wieder gewarnt, dass Männer nur
sexuelle Übergriffe im Kopf hätten. Sogar meinen Vater hat sie verdächtigt, mich belästigen oder gar
vergewaltigen zu wollen."
Dass ihre Mutter anders war als andere, hat Julia erst sehr viel später realisiert – denn erst vor einigen
Jahren wurde bei der Mutter schließlich eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Da war Julia 33
und hatte es längst geschafft, sich von der Mutter abzunabeln.
Als Kind aber suchte sie die Schuld bei sich, wenn ihre Mutter wieder einmal drohte, sie werde in der
Gosse landen, oder sie davon abhielt, das Haus zu verlassen. Für Silke Wiegand-Grefe, Professorin
an der Hamburg Medial School, ist das typisch.
"Wenn ein Elternteil psychisch erkrankt, also etwa psychotisch oder schwer depressiv wird, beziehen
Kinder das auf sich", sagt die Psychologin, die auch am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
arbeitet.
Kinder ziehen sich zurück
Depressionen bei Kindern

Kürzeres Leben
Die Depression gilt als wichtigste Krankheitsursache für den Verlust gesunder Lebensjahre
durch gesundheitliche Einschränkungen, die mit dem internationalen Indikator YLD („years
lost due to disability“) gemessen wird. Das liegt vor allem daran, dass eine überstandene
Depression keine Garantie für die Zukunft ist.

Rückfälle
Das Risiko, nach einer depressiven Episode innerhalb von fünf Jahren erneut zu erkranken,
liegt bei etwa 50-70 Prozent. Bei einem Drittel der Betroffenen verläuft die Krankheit
chronisch, kommt also in Episoden lebenslang wieder. Von diesen chronisch Erkrankten
haben zwei Drittel ihre erste depressive Episode bereits vor dem 20. Lebensjahr.

Zu wenig behandelt
Je früher ein Kind eine angemessene Behandlung bekommt, desto besser ist deshalb die
Prognose für die kommenden Lebensjahre. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt,
dass bisher nur jedes dritte bis vierte depressive Kind behandelt wird.

Suizid-Risiko
Depressive Kinder unterliegen einem um das dreifach erhöhte Risiko, später einen
Selbstmordversuch zu unternehmen. Eine frühe Behandlung kann daher Leben retten.
Alkoholabhängigkeit


Körperliche Symptome
o Magenschmerzen durch eine Magenschleimhautentzündung oder Magengeschwüre
o blutiges Erbrechen
o schwere Blutungen beim Platzen von Krampfadern in der Speiseröhre
o Übelkeit
o Schwäche
o morgendliches Zittern aufgrund von Entzugssymptomen
o häufigere Blutergüsse
o Gerinnungsstörungen
o Schlafstörungen
Emotionale Symptome
o Bagatellisierung oder Leugnung eines Alkoholproblems
o starke Stimmungsschwankungen
o geringes Selbstwertgefühl
o depressive Gefühle
o starke Reizbarkeit
o verbale und körperliche Gewalt mit häufigeren Wutausbrüchen und übertriebenen
Verhaltensweisen
o Denken stellt sich auf das Thema Alkohol ein
o Andere Interessen oder Mitmenschen werden vernachlässigt.
Ängste oder Desorientierung sind häufig die Folge, oder aber die Kinder ziehen sich in eigene
Traumwelten zurück. "Bis heute erhalten 30 bis 40 Prozent der Kinder psychisch kranker Eltern selbst
keine professionelle Hilfe", so Wiegand-Grefe.
In den betroffenen Familien werden oft die Rollen getauscht: Die Kinder übernehmen Verantwortung
für ihre Eltern statt umgekehrt. Experten nennen dieses Phänomen Parentifizierung.
Die eigenen kindlichen Bedürfnisse stellen betroffene Kinder zurück und spielen die Probleme der
Eltern gegenüber Dritten oft herunter. Häufig wagen sie auch aus falsch verstandener Loyalität
gegenüber ihren Eltern nicht, sich einem Menschen außerhalb der Familie anzuvertrauen.
Dabei haben Kinder mit Unterstützung weitaus bessere Chancen, als Erwachsene später selbst ein
normales Leben zu führen. In besonders schlimmen Fällen werden psychisch kranke Eltern mitunter
gewalttätig gegen ihre eigenen Kinder.
Ab wann ist das Kindeswohl gefährdet?
Warum werden Mädchen und Jungen solchen Eltern nicht entzogen? "Eltern, die Gewalt gegen die
eigenen Kinder ausüben, suchen selten eine Beratung auf, sodass wir präventiv oft nicht eingreifen
können", sagt Wiegand-Grefe.
Ist ein Fall dagegen bekannt, prüft die Jugendhilfe, ob das Kindeswohl gefährdet ist. Dabei wird auch
die jeweilige psychische Erkrankung berücksichtigt.
Ob Vater oder Mutter aufgrund einer Depression mutlos und pessimistisch sind oder ob ein Elternteil
von Wahnvorstellungen gepeinigt wird, macht für die Kinder und die Wirkung der Erkrankung auf sie
einen großen Unterschied.
Leiden Eltern unter einer Erkrankung, die schubweise auftritt, etwa Schizophrenie, erleben die Kinder
sie auch in normalen Phasen, in denen sie zugänglich und verständnisvoll für die Bedürfnisse und
Sorgen der Kinder sind.
Entscheidend dafür, ob das Kind Hilfestellungen erhält, ist außerdem, ob der betroffene Elternteil
selbst überhaupt wahrnimmt, dass er oder sie krank ist. Das ist nicht bei allen psychischen
Erkrankungen der Fall, aber bei vielen.
Patenschaften geben Sicherheit
"Oft wünschen sich Betroffene, dass wir als Therapeuten den Kindern Informationen und Hilfestellung
geben", erlärt Wiegand-Grefe. Die Berliner Beraterin Katja Beeck begleitet mit ihrer Initiative Netz und
Boden betroffene Kinder ebenso wie deren erkrankte Eltern und schult Fachkräfte.
Vor gut sieben Jahren hat sie das Patenschaftsangebot beim Berliner Jugendhilfeträger Amsoc
gegründet. "Oft haben Kinder keine emotional stabile Bezugsperson im eigenen Umfeld", sagt sie.
"Unsere Paten geben den Kindern die Unterstützung, die sie brauchen."
Das kann allerdings nur dann funktionieren, wenn der erkrankte Elternteil der Patenschaft auch
zustimmt. Die Paten stehen dem Kind ähnlich wie Pflegeeltern ständig zur Seite, allerdings wohnt das
Kind weiterhin zu Hause.
Im Notfall, etwa wenn die Mutter für längere Zeit in eine psychiatrische Klinik muss, kann der Pate das
Kind aber bei sich aufnehmen. So hat das Kind eine vertraute und stabile Bezugsperson.
Notfallbriefe können entlasten
Psychisch erkrankte Mütter oder Väter nehmen oft selbst wahr, dass sie nicht immer gute Eltern sein
können, und leiden oft massiv darunter. Gemeinsam mit ihnen hat Beeck das Konzept der
sogenannten Notfallbriefe entwickelt.
Die Idee ist einfach, aber äußerst hilfreich: In einer relativ gesunden Phase formulieren die Eltern
liebevolle Briefe an ihre Söhne oder Töchter. Darin erklären sie ihnen zum Beispiel, dass sie
manchmal selbst Hilfe brauchen und dann nicht so gut für sie sorgen können.
Katja Beeck verwahrt solche Briefe und gibt sie den Kindern, beispielsweise wenn Vater oder Mutter
sich in der Psychiatrie behandeln lassen müssen. Dem Kind helfen die Briefe, die schwierige Phase
zu verstehen und zu überstehen, in der sie allein gelassen werden.
Lernen, ohne Scham zu sprechen
Die Briefe spenden nicht nur Trost – wenn die Eltern offen und ehrlich mit ihrer Krankheit umgehen,
ermutigt das auch die Kinder, über Sorgen und Probleme zu sprechen. "Sie müssen lernen, mit der
Krankheit umzugehen, etwa ohne Scham darüber zu sprechen", sagt auch Wiegand-Grefe.
Das zu lernen ist nicht nur wichtig, solange die Kinder Kinder sind – denn viele psychische
Krankheiten verlaufen chronisch, sodass man immer wieder mit ihr und den damit einhergehenden
Problemen konfrontiert wird, auch als Erwachsene.
Ebenso wichtig wie das Sprechen sind aber kontinuierliche Hilfe und Beratung, sofern nötig. Katja
Beeck hat erst kürzlich eine 80-jährige Frau beraten, die ihr ganzes Leben lang unter ihrer vom Krieg
traumatisierten Mutter gelitten hat.
Thematisiert wird erst im Erwachsenenalter
Vielen geht das so: Sie machen ihre problematische Kindheit erst im späten Erwachsenenalter zum
Thema. Das sagt auch die Psychologin Johanna Schams, die eine Selbsthilfegruppe erwachsener
Betroffener begleitet.
In einem Fall gab es etwa einen Mittfünfziger, der es als Jugendlicher geschafft hatte, die Probleme
seiner Mutter auszuklammern – sie litt unter einer bipolaren Störung und nahm sich das Leben, als er
20 war.
Doch erst als später seine eigene Partnerin schwer erkrankte und Gefühle von Ohnmacht und Wut ihn
überwältigten, setzte er sich mit seiner Kindheit auseinander. Seine Wut galt in Wirklichkeit der
kranken Mutter, die nie für ihn da gewesen war.
Laut Schams ist es für betroffene Kinder deshalb so wichtig, mit professioneller Hilfe die von der
Krankheit der Eltern überschattete Kindheit aufzuarbeiten.
Denn wenn es ihnen gelingt, diese fremdbestimmte Zeit gut zu reflektieren, dann können sie diese für
sich sogar ein Stück weit zurückerobern.
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