Prof. Dr. Xuewu Gu China: Energiepartner oder Energiekonkurrent im 21. Jahrhundert? Rede auf dem BP Forum Berlin 30. November 2011 Der deutsche Dichter und Schriftsteller Johann Wolfgang von Goethe hat einmal gesagt: „Wenn du eine weise Antwort verlangst, musst du vernünftig fragen.“ Ich denke, wir sind vernünftig, wenn wir uns heute hier in Berlin versammeln und die Frage aufwerfen, ob und inwiefern China – ein kommunistisch-regierter, autoritärer Staat und zugleich die Lokomotive der Weltwirtschaft – als ein Energiepartner oder Energiekonkurrent im 21. Jahrhundert für den Rest der Welt einzuordnen ist. Diese Frage ist nicht nur vernünftig, sondern auch berechtigt. Diejenigen, die den „World Energy Outlook 2011“ der Internationalen Energie Agentur unter die Lupe genommen haben, wissen, wie ernst es mit den Energieherausforderungen seitens Chinas aussieht. Bis 2035, so prognostiziert die IEA, wird China „seine Stellung als weltgrößter Energieverbraucher festigen“. 2035 werden fast 1 70% mehr Energie durch China konsumiert werden als in den USA, dem dann zweitgrößten Energieverbraucher. Auch wenn die Feststellung der IEA, dass in jenem Jahr „der Pro-Kopf-Energieverbrauch in China noch weniger als halb so hoch sein wird wie in den USA“, uns tröstet mag, herrscht doch die Ungewissheit darüber, wie China seinen gigantischen Energiehunger befriedigen wird, zumal Chinas Abhängigkeit vom importierten Öl die psychologisch wichtige Grenze von 50% bereits überschritten hat. Realistisch gesinnte Denker und Akteure, die die Kooperationsfähigkeit von Staaten grundsätzlich in Frage stellen, glauben, schon eine „weise“ Antwort auf die aufgeworfene Frage gefunden zu haben. Für sie lässt sich die Geschichte des Ölzeitalters als ein „epischer“ Kampf um Macht und Ressourcen lesen, in dem Energiepartnerschaft zwischen Nationen mit unterschiedlichen Wirtschafts- und Politikinteressen nur im absoluten Ausnahmefall vorstellbar wären. In der Tat sehen zahlreiche Politiker, Publizisten und Wissenschaftler im Wettkampf um die weltweiten Erdöl- und Erdgasvorkommen den Dreh- und Angelpunkt nationaler Interessen sowie der internationalen Politik. Zugrunde liegt hier die Vorstellung, dass zwischen „Großmächten“ natürlicherweise geostrategische Rivalitäten um Rohstoffe und Energiereserven vorhanden sind und sie nicht anderes können, als diese Rivalität konfrontativ auszutragen. 2 In diesem Sinne warnte der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger seit Jahren vor dem Aufkommen eines neuen „großen Spiels“ und verwies darauf, dass der Wettbewerb um den Zugang zu Energie für viele Gesellschaften eine Frage von „Leben und Tod“ werden könne. Bei allem Respekt vor dem Scharfsinn und der Nüchternheit der realistischen Sichtweise bei der Analyse von geopolitischen Rivalitäten zwischen etablierten und aufbrechenden Großmächten muss darauf hingewiesen werden, dass die ontologische Grundlage des Realismus nicht mehr zeitgemäß erscheint, aus der diese pessimistischen Prognosen abgeleitet wurden. In einer globalisierten Welt mit derart dichter Vernetzung und intensiver Interdependenz samt der daraus resultierenden gegenseitigen Verwundbarkeit der Nationen – wie wir heute auch hautnahe an der europäischen Schuldenkrise erleben – führen Interessenkonflikte (Rivalitäten um Energien und Ressourcen eingeschlossen) nicht unbedingt zum Kampf um „Leben oder Tod“. Was im 18., 19. und 20. Jahrhundert als weltpolitische Gesetze galt, muss im 21. Jahrhundert nicht unbedingt als Weisheit gelten. Die Zeiten haben sich geändert. Die Welt des 21. Jahrhunderts ist zwar nach wie vor durch die „Anarchie“ im Sinne der Abwesenheit einer Weltregierung geprägt – in diesem Sinne trifft die Grundannahme der realistischen Ontologie nach wie vor zu. Aber diese Anarchie ist im Zug der Globalisierung schon längst transnationalisiert und in3 terdependent. Mit anderen Worten haben sich die Strukturen von Weltpolitik und Weltwirtschaft durch Zunahme der wechselseitigen Abhängigkeiten von politischen Konstellationen und globalen Arbeitsaufteilungen verändert. Insbesondere sind durch die globale Durchsetzung des Kapitalismus und den damit verbundenen liberalen Freilauf der Wirtschaft über die nationalen Grenzen hinweg Strukturen entstanden, die Staaten zu Kooperation veranlassen oder sogar zwingen. Sie stehen zunehmend vor der Notwendigkeit, mit Hilfe zwischenunternehmerischer, internationaler und interregionalen Verhandlungsplattformen Kooperationen zu vereinbaren, um den Herausforderungen der immer umfassenderen Komplexität und Verflochtenheit ihrer Volkswirtschaften zu begegnen. Es ist eine neue Gesetzmäßigkeit in der Weltpolitik zu beobachten: diejenigen, die sich Kooperation verweigern, werden wegen hoher Opportunitätskosten für Alleingänge bei der Suche nach Lösungen von Problemen, deren Ursachen sich aber außerhalb ihrer Kontrolle befinden, bestraft. Hingegen wird kooperatives Verhalten belohnt, weil Transaktionskosten, bedingt durch hohe Interdependenz, reduziert werden. Diese neue Gesetzmäßigkeit wirkt wie eine Art „Kooperationszwang“, dem sich kein rational denkender Akteur zu entziehen vermag. In der Tat kann sich auch das autoritäre und eigenwillige China, das den produktiveren Kapitalismus freiwillig gegen den unproduktiven Sozialismus eintauschte und sich somit der Globalisie4 rung mit all ihren Vor- und Nachteilen freiwillig angeschlossen hat, dem Kooperationszwang nicht entziehen. Die Antizipation potenziell hoher Kosten verbietet den politischen Verantwortlichen in Peking jede naive Idee, das Energieinteresse des Landes konfrontativ gegen die Energieinteressen anderer durchzusetzen. Bedingt durch die Schwäche eines Nachzüglers in der internationalen Energiewirtschaft hat die Volksrepublik von Anfang an einen ungewöhnlichen, aber konfliktvermeidenden Weg eingeschlagen, um als eine „verspätete Nation“ Fuß in der globalen Energiewirtschaft zu fassen. Als chinesische Ölfirmen Anfang der neunziger Jahre ins Ausland aufbrachen, waren die traditionellen Weltölmärkte bereits weitgehend unter den amerikanischen und europäischen Ölkonzernen aufgeteilt. Dem Marktnachzügler China standen nur zwei Alternativen offen: entweder aggressiv in die von westlichen Ölkonzernen kontrollierten Energiemärkte einzudringen mit der Gefahr einer direkten Konfrontation oder dieser Gefahr aus dem Wege zu gehen und stattdessen zu versuchen, neue Märkte bzw. Marktnischen zu erschließen. Peking entschied sich für die zweite Option. So landeten die chinesischen staatlichen Ölkonzerne größtenteils in Förderländern, die von westlichen Regierungen vernachlässigt bzw. geächtet wurden. Insgesamt wählten Chinas Ölkonzerne jene Förderländer für ihre Investitionen und Öleinfuhren aus, die für die Ölversorgung 5 Europas und Nordamerikas bisher keine Rolle spielten, wie etwa Papua Neuguinea, Kongo, Oman oder Ecuador. Sie verfolgten eine Ausweich-Strategie um sich nicht dem hohen internationalen Wettbewerbsdruck aussetzen zu müssen und einer direkten Konfrontation mit amerikanischen Ölinteressen aus dem Wege zu gehen. So stammten bis zur Jahrtausendwende mehr als die Hälfte aller chinesischen Ölimporte aus benachbarten Ländern im asiatisch-pazifischen Raum (im wesentlichen Indonesien) sowie aus Jemen und Oman – Länder, die für die Energieversorgung westlicher Volkswirtschaften unbedeutend sind. Auch heute noch stammen ca. 30% aller Ölimporte aus kleinsten, für andere Importstaaten unbedeutenden Quellen. Chinas aktive Energiekooperation mit Sudan und dem Iran ist auch in diesem Licht zu sehen. Im Sudan war Mitte der 1990er Jahre eine Nische entstanden, die so gut wie keinen Wettbewerbsdruck aufwies, weil alle westlichen Ölkonzerne, gezwungen durch die Sanktionsmaßnahmen ihrer Regierungen und den öffentlichen Druck in ihren Heimatländern, abziehen mussten. Chinas Einstieg in die iranische Gas- und Ölproduktion ist ein weiteres Beispiel für das Ausweichen auf einen Energiemarkt, auf dem wegen internationaler Sanktionsmaßnahmen kein hoher Konkurrenzdruck herrscht. Heute, nachdem das japanische Unternehmen INPEX im Oktober 2010 komplett aus dem Ölgeschäft mit dem Iran ausgeschieden ist, dominiert China die internationale Energiekooperation mit dem iranischen Staatsöl6 konzern NIOC bei der Erschließung der zwei größten Ölfelder des Landes: Azadegan und Yadavaran. Dass diese auf Konfrontationsvermeidung ausgerichtete Ausweichstrategie als Politik der Sabotage westlicher Außenpolitik in Afrika und gegenüber dem Iran missverstanden wird, kränkt China zutiefst. Die internationale Debatte hat bislang kaum die Überlegung berührt, ob es strategisch klug ist, China einerseits den Weg zur Integration in die Weltenergiemärkte zu versperren, wie etwa das Scheitern der Übernahme des amerikanischen Unternehmen Unocal durch den chinesischen Staatsölkonzern CNOOC aufgrund massiver Einmischung des US-Kongresses zeigte; und anderseits seine Nischenstrategie als moralisch unvertretbar zu brandmarken. Das Reich der Mitte braucht Zugang zu ausreichenden Öl- und Gasquellen, um seine steigende Energienachfrage, die zugleich aufgrund seiner Funktion als „Werkbank der Welt“ eine globale Energienachfrage darstellt, abdecken zu können. Diesen Aspekt zu erwähnen ist insofern wichtig, weil die Frage nach der chinesischen Energiekooperationsfähigkeit nicht einseitig beantwortet werden kann. Ob China als Energiepartner zu gewinnen oder Energiekonkurrent wahrzunehmen ist, hängt auch entscheidend davon ab, ob und inwiefern es die etablierten Energiemächte zulassen, dass China in ihre traditionellen Energiemärkte einsteigt. Bislang ist chinesischen Energiefirmen der Zugang zu amerikanischen, europäischen und japanischen Ener7 giemärkten versperrt worden. Frustriert und gekränkt kann das Reich der Mitte sich nur in den Peripherien der globalen Zentralenergiemärkte bewegen. Ob dies auf Dauer gut geht, ist fraglich. An der bisher geführten Debatte lässt sich derzeit noch nicht deutlich erkennen, inwiefern die Politik der westlichen Industriestaaten bereit ist, ihre Ölmacht mit China zu teilen, um Peking den Anreiz zur Kooperation mit den als „Schurkenstaaten“ deklarierten Ländern zunehmen. Dennoch sorgt die Logik des durch Interdependenz bedingten Kooperationszwangs dafür, dass es für China zur Sicherung seiner Energieversorgungssicherheit keine anderen, kostengünstigeren und risikoärmeren Alternativen zur Partnerschaft mit den internationalen Konkurrenten gibt. Zunehmend und immer sichtbarer treten die „Großen Drei“ der chinesischen Energiebranche CNPC, SINOPEC und CNOOC als Geschäftspartner westlicher Weltmarktführer wie Exxon Mobil, Royal Dutch Shell, BP, Total und Chevron auf. Die neuste intensive Kooperation der CNPC mit BP beim gemeinsamen Wettbewerb um das gigantische Ölfeld „Rumaila“ im Südirak zeigt, dass China trotz seiner andauernden, teilweise aggressiven Vorstöße auf den internationalen Energiemärkten als Energiepartner zu gewinnen ist. Dem von BP mit einem Anteil von 38% angeführten Konsortium, an dem CNPC und das Ölministerium Iraks jeweils mit 37% und 25% beteiligt ist, wurde von der irakischen Regierung der Auftrag erteilt, die 8 Produktionskapazität von „Rumaila“ in wenigen Jahren zu verdreifachen. Sollte es den Briten und den Chinesen gelingen, dieses Ziel zu erreichen, würde „Rumaila“ mit einem Output von 2,85 Mio. Fässern pro Tag im Jahre 2016 das zweitgrößte Ölfeld der Welt sein. Dieses Volumen würde „Rumaila“ verantwortlich machen für 3% der globalen Ölproduktion, 7% aller OPEC-Produktion und unglaublichen 10% der Ölproduktion im Mittleren Osten. Washington zeigte sich enttäuscht, weil amerikanische Ölkonzerne dabei nicht berücksichtigt wurden. Das Gefühl, dass das Blut amerikanischer Soldaten China den Weg zum irakischen Öl geebnet hätte, drängte sich vielen Amerikanern unvermeidlich auf. Die Logik des globalisierten Kooperationszwangs zeigt auch Wirkung auf Chinas Energieverhalten in Asien. Selbst bei der Konkurrenz mit seinen regionalen Rivalen Japan und Indien scheint Beijing seinen konfliktvermeidenden Kompass nicht verloren zu haben. Ein energiepolitischer Ausrutscher ist gegenüber Tokyo und New Delhi bislang ausgeblieben, ein deutlicher Kontrast zu realistischen Erwartungen, die unter dem Eindruck der andauernden Territorialstreitigkeiten eine substanzielle Energiekooperation zwischen den Betroffenen ausschließen. Während eine echte Energiekooperation zwischen China und Japan, durch die derzeitige Unüberbrückbarkeit zwischen der japanischen Geschichtsvergessenheit und der chinesischen 9 Geschichtsbesessenheit blockiert und tatsächlich vorerst in den Sternen steht, liefern Indien und China schulbücherhafte Beispiele dafür, dass sich aus Rivalität und Konkurrenz anständige und vor allem dauerhafte Partnerschaft entwickeln kann. Beide Länder standen sich anfänglich zunehmend als Bieter bei Versteigerungen von Ölfeldern in Afrika und Zentralasien gegenüber. Indien, das bei seiner Ölversorgung sogar zu über 70% von Einfuhren abhängig ist, ist nicht weniger energiehungrig als China. Auf der Suche nach erwerbbaren Ölfeldern trafen indische Ölfirmen daher wiederholt auf ihre chinesischen Konkurrenten und unterlagen diesen z.B. bei Verhandlungen in Ecuador, Myanmar und Kasachstan. Aber die Chinesen mussten für ihre Überbietungsmanöver teuer bezahlen. Bei einem Bieterwettbewerb für ein Bohrvorhaben in Angola gewann Chinas Regierung beispielsweise gegen indische Konzerne indem sie das Gebot von CNOOC mit einem zwei Mrd. US-Dollar umfassenden Entwicklungshilfekredit vergoldete, was wirtschaftlich betrachtet ein regelrechter Kuhhandel war. Diese kostspielige „Ausschwärmen-Strategie“ schadet nicht nur den Konkurrenten, sondern mittel- und langfristig auch China selbst. Zu dieser Einsicht scheinen die Energieverantwortlichen in Beijing zügig gekommen zu sein. Die Einsicht in die gegenseitigen Vorteile einer Bietergemeinschaft setzte sich bei den Regierungsspitzen in Beijing und New Delhi schnell durch. Bei10 de Seiten entschieden sich für einen Kurswechsel und haben im Januar 2006 ein umfassendes Rahmenabkommen zur bilateralen Zusammenarbeit im Energiebereich vereinbart. Tatsächlich ergatterten chinesische und indische Ölkonzerne seitdem Hand in Hand ein Ölfeld nach dem anderen auf dem internationalen Markt. Dazu zählen ein syrisches Ölfeld, an dem Chinas CNPC und Indiens ONGC zu gleichen Teilen einen 37%igen Anteil erworben; die gemeinsame Übernahme einer kolumbianischen Ölfirma für 850 Mio. US-Dollar jeweils mit einem Anteil von 50% für Chinas SINOPEC und Indiens ONGC; der gemeinsame Bieterwettbewerb von ONGC und CNPC in der Elfenbeinküste; die gemeinsame Erschließung eines Ölfelds in Nigeria; chinesisch-indische Gemeinschaftsunternehmungen in Russland, Indonesien, Iran und Australien. Die chinesischindische Energiepartnerschaft funktioniert offensichtlich so vertrauensbildend, dass New Delhi trotz aller bestehenden Grenzstreitigkeiten und Verstimmung wegen des Dalai Lamas entschlossen scheint, Chinas Energiekonzerne am Bau einer geplanten Gaspipeline vom Iran durch Pakistan nach Indien zu beteiligen. Ich erwähne die Energiepartnerschaft zwischen China und Indien deswegen so ausführlich, weil sie die Welt überrascht hat. Niemand hatte erwartet, dass die Energiekooperation zwischen den traditionellen Rivalen um geopolitische und geoökonomische, ja sogar um zivilisatorische Dominanz in Asien eine derar11 tige Intensität und Dichte gewinnen könnte. Man braucht keine große Theorie, um dieses Phänomen zu erklären. Es ist der Kooperationszwang in einer globalisierten Welt, der auf die beteiligten Akteuren sanktionierend wie belohnend wirkt: Wer kooperiert, boomt und gedeiht; wer nicht, dem droht die Gefahr des Verlusts von Wohlstand und des Aussetzens aus dem Spiel. Diese Logik scheint mir die zentrale Botschaft der Zeit an uns alle zu sein. Wenn ich mich nicht täusche, hat China diese Botschaft schon längst verstanden, mit der Konsequenz für die Welt, dass diese ostasiatische Milliardennation nicht nur als starker Konkurrent wahrgenommen werden sollte, sondern vielmehr auch als ein zuverlässiger Partner zu gewinnen ist. Es kommt darauf an, wie man mit diesem aufbrechenden, selbstbewusster werdenden, aber dennoch weiterhin verwundbaren Land umgehen möchte. Ich hoffe, mit dieser Antwort auf die eingangs gestellte Frage zumindest einen Teil jenes Maßstabes erreicht zu haben, den Goethe für eine „weise Antwort“ veranschlagt hätte. 12