ÜV Internationale Beziehungen, 26.11.02 Von der Theorie zur Empirie I: Krieg und Frieden Bestandsaufnahme Kriege = universales Phänomen der Weltgeschichte? • seit 1500 ca. 600 zwischenstaatl. Kriege m. ca. 142,000,000 Toten • 20. Jahrhundert: besonders kriegerisch 1. Weltkrieg: ∼ 12 Mill. Tote 2. Weltkrieg: seit 1945: ∼ 55 Mill. Tote 150-250 Kriege mit 25-35 Mill. Tote, davon 70 % Zivilbevölkerung • Trends (Schlichte 2002; Daase 1999a; Geller und Singer 1998; Levy 2002; Münkler 2002): Deutliche Zunahme der weltweit geführten Kriege pro Jahr seit 1945 Deutliche, zum Teil drastische Abnahme zwischenstaatlicher Kriege Dramatische Zunahme innerstaatlicher Kriege (60% in den 1950er Jahren ca. 90 % in den 1990er Jahren) Kriegsopfer zunehmend Zivilbevölkerung (1990er: 90 %) Trend zur „Entstaatlichung“ von Gewalt: Gewaltmärkte, terroristische Netzwerke Aufteilung der Welt in zwei Regionen nach Kriegshäufigkeit: 1. „Zone des (demokratischen) Friedens“ = West- und Mitteleuropa; Nordamerika; Ostasien; zunehmend Lateinamerika 2. „Zone der Krisen und Kriege“: Vorderer Orient, Afrika 2 Die Globalisierung der Rüstungsdynamik (Stockholm International Peace Research Institute 2002) • Rüstung: 1985: US $ 1.213 Mrd. = 6,5 % Welt-BSP 2001: US $ 839 Mrd. = 2,6 % Welt-BSP • Waffenexporte: 1987: US $ 89 Mrd. davon UdSSR 35 %, USA 26 % 1997-2001: US $ 72 Mrd. davon USA 45 %, Westeuropa 40 % Die Verregelung der Rüstungsdynamik: Sicherheitsregime Parallel zur Entwicklung der weltweiten Rüstungen nimmt auch die weltweite Verregelung der Rüstungsdynamik zu. • Nuklearwaffen: Multilateral: Nuklearer Nichtweiterverbreitungsvertrag (1968) • Biologische und chemische Waffen: u.a. Verbot des Gebrauchs chemischer und bakteriologischer Waffen (1925); Bio-Waffenvertrag (1972); Chemie-Waffenvertrag (1993) • Konventionelle Waffen: z.B. Vertrag über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Europa (1990); UN-Register über konventionelle Waffenexporte (1991); Landminenvertrag (1998) 3 Ursachen von Rüstung und Krieg und „Therapievorschläge“ (Müller 2002) Realismus (Mearsheimer 2001; Mearsheimer 1990) • Kriege ergeben sich aus der anarchischen Struktur des internationalen Systems Häufigkeit und Intensität von Kriegen unter Großmächten • Rüstungsdynamik als Folge des Sicherheitsdilemmas Was tun? • Unipolarität (hegemoniale Stabilität): relativ friedlich, aber häufige und blutige Kriege in Zeiten des hegemonialen Übergangs • Bipolarität: stabiles Mächtegleichgewicht • Multipolarität: häufig wechselnde Allianzen häufige, aber weniger intensive Kriege • Bi-/Multipolarität: Abschreckungsgleichgewicht möglich Problem/Kritik: Realistische Theorie hat wenig zu sagen zu den „kleinen Kriegen“ und den immer häufiger werdenden innerstaatlichen und ethnischnationalistischen Kriegen sowie zur „Entstaatlichung“ von Gewalt. 4 Liberale Theorie internationaler Politik Rüstung und Krieg ergeben sich aus innenpolitischen Kräftekonstellationen sowie aus politischen sowie sozio-ökonomischen Strukturen der Staaten („von innen nach außen“), z.B.: • innenpolitische Struktur Krieg ("demokratischer Friede") • "Sündenbock"-Theorie tischen Problemen Krieg als Ablenkung von innenpoli- • Transformationskonflikte/Modernisierungsprozesse nationalistische Konflikte (Fearon und Laitin 2000) • die „dunkle Seite“ Terrornetzwerke der Globalisierung: ethno- transnationale Was tun? • Förderung von Menschenrechten, Demokratisierung und sozialer Gerechtigkeit als wichtigster Beitrag zum Frieden • Stabilisierung „schwacher Staaten“; friedliche Transformation ethno-nationalistischer Konflikte; Rückgewinnung des staatlichen Gewaltmonopols Probleme/Kritik: Liberalismus kann die neuen innerstaatlichen Kriege besser erklären als Realismus, aber muss durch Literatur zu ethno-nationalistischen Kriegen (Überblick: Cederman 2002) und deren Ursachen ergänzt werden. Hier Übergang von IB-Theorien zur Vergleichenden Politikwissenschaft, Regionalanalyse, Soziologie innerstaatlicher Konflikte etc.! 5 (Rationalistischer) Institutionalismus (vgl. Müller 2002; Levy 2002; Jervis 1978; Haftendorn u. a. 1999): Rüstungsdynamik, Krisen und Kriege erklären sich wesentlich aus der Abwesenheit und der Schwäche internationaler Institutionen in diesem Bereich. Um die Spirale aus Rüstungsdynamik, Krise und Krieg zu durchbrechen, bedarf es der Etablierung von Sicherheitsregimen zur Eindämmung und Kontrolle von Gewalt. • Rüstungskontrolle als begrenzte Kooperation trotz Anarchie (Sicherheitsdilemma einhegen) • (Weltweite oder regionale) Friedensordnungen durch internationale Verträge, Regime, Organisationen (z.B. EU als Institutionalisierung des „demokratischen Friedens“) • unterstützende Funktionen internationaler Institutionen (UN, EU, OSZE) in humanitären Krisen und bei der Überwindung innerstaatlicher Gewalt; humanitäre Intervention der Völkergemeinschaft als ultima ratio bei Genoziden Probleme/Kritik: Auch der neoliberale Institutionalismus ist staatszentriert und betrachtet Staaten als einheitliche Akteure, wenn er nicht durch liberale Ansätze ergänzt wird (z.B. „Zwei-Ebenen-Spiele“). Seine „Therapievorschläge“ über Sicherheitsregime setzen funktionierende Staaten voraus. Die Befriedung und Stabilisierung entstaatlichter Gesellschaften durch internationale Institutionen (UN u.a.) kann allenfalls unterstützend erfolgen, ist aber kaum erzwingbar (Probleme von „peace-keeping“ und „peace enforcement“; sehr kritisch Barnett 2002; vgl. Daase 1999b). 6 Literatur Barnett, Michael 2002: Eyewitness to a Genocide. The United Nations and Rwanda, Ithaca NY. Cederman, Lars-Erik 2002: Nationalism and Ethnicity, in: Handbook of International Relations, hrsg. von Walter Carlsnaes, Thomas Risse und Beth Simmons, London, 409-428. Daase, Christopher 1999a: Kleine Kriege - Große Wirkung. Wie unkonventionelle Kriegführung die internationale Politik verändert, Baden-Baden. --- 1999b: Spontaneous Institutions: Peacekeeping as an International Convention, in: Imperfect Unions. Security Institutions over Time and Space, hrsg. von Helga Haftendorn, Robert O. Keohane und Celeste A. Wallander, Oxford, 223-258. Fearon, James D. und David D. Laitin 2000: Violence and the Social Construction of Ethnic Identity, in: International Organization 54: Nr. 4, 845-877. Geller, Daniel S. und David J. Singer 1998: Nations at War. A Scientific Study of International Conflict, Cambridge UK. Haftendorn, Helga, Robert O. Keohane und Celeste A. Wallander 1999: Imperfect Unions. Security Institutions over Time and Space, Oxford. Jervis, Robert 1978: Cooperation Under the Security Dilemma, in: World Politics 30: Nr. 2, 167214. Levy, Jack S. 2002: War and Peace, in: Handbook of International Relations, hrsg. von Walter Carlsnaes, Thomas Risse und Beth Simmons, London - New York, 350-368. Mearsheimer, John 1990: Back to the Future: Instability in Europe after the Cold War, in: International Security 15: Nr. 1, 5-56. Mearsheimer, John J. 2001: The Tragedy of Great Power Politics, New York - London. Müller, Harald 2002: Security Cooperation, in: Handbook of International Relations, hrsg. von Walter Carlsnaes, Thomas Risse und Beth Simmons, London, 369-391. Münkler, Herfried 2002: Die neuen Kriege, Reinbek b. Hamburg. Schlichte, Klaus 2002: Neues über den Krieg? Einige Anmerkungen zum Stand der Kriegsforschung in den Internationalen Beziehungen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 9: Nr. 1, 113-138. Stockholm International Peace Research Institute 2002: SIPRI Yearbook 2002: Armaments, Disarmament, and International Security, Oxford.