DTA0309_09-10_Saral 19.03.2009 16:02 Uhr Seite 9 Endo Tribune Endodontische Behandlung im Milchgebiss?* von Dr. Susanne Hansen Saral, Schweiz LAUSANNE/MONTREUX – Eine präventiv orientierte Zahnheilkunde umfasst neben endodontischen Maßnahmen im bleibenden Gebiss auch die Milchzahnendodontie. Durch den Erhalt von Milchmolaren wird sowohl die Kaufunktion als auch die Platzhalterfunktion (in horizontaler und vertikaler Richtung) erhalten; darüber hinaus verlaufen sowohl Sprach- als auch Muskel- und Kieferentwicklung ungestört. Nicht zuletzt wird eine endodontische Behandlung den auch bei jungen Patienten durchaus vorhandenen ästhetischen Bedürfnissen gerecht. Besonders bei Milchzähnen gibt es spezielle Faktoren, die bei der Entscheidung für eine endodontische Behandlung oder aber letztendlich für eine Milchzahnextraktion eine wichtige Rolle spielen. Bei der Entscheidung für eine Milchzahnbehandlung bzw. für eine Extraktion ist in jedem Fall eine vorhergehende genaue Analyse erforderlich. Zu den zu berücksichtigenden Faktoren zählen eine altersabhängige psychische Struktur des Patienten, anatomisch-morphologische Besonderheiten und der altersabhängige, physiologische Stellenwert der Zähne für die regelgerechte Zahn- und Gebissentwicklung. Die allgemeinen Kontraindikationen liegen bei einer fehlenden Kooperationsbereitschaft des Kindes, einem stark vernachlässigten Gebiss mit nicht mehr zu restaurierenden Zahnkronen, einer bereits stark erhöhten Zahnbeweglichkeit und/oder starker interradikulärer oder apikaler Aufhellung vor. Auch bei einer fortgeschrittenen physiologischen Wurzelresorption (Endodontie nur als Notfallmaßnahme), einer starken Beeinträchtigung des kindlichen Allgemeinbefindens sowie bei koronalen Vorerkrankungen stellt die Extraktion des betroffenen Milchzahnes die Therapie der Wahl dar. – Der Pulpaboden ist perforiert. Hier ist die Extraktion die einzige Behandlungsmöglichkeit begleitend mit Einsetzen eines Platzhalters entsprechend der Situation und des Alters des Kindes. • Allgemeiner Gesundheitszustand des Kindes – Kardiopathierisiko – Kinder mit einer Immunsuppression (AIDS, Krebs, Transplantation) – Nicht eingestellter Diabetes • Allgemeinzustand der verbleibenden Zähne Sind die verbleibenden Zähne in gutem Zustand und ein einzelner Zahn weist eine Caries penetrans auf, ist die Behandlung der Wahl die Erhaltung des Zahns durch eine Pulpektomie. Die Zähne sind vernachlässigt, hier entschied man sich für die Extraktion bei Einsetzen eines Platzhalters (zum Beispiel Omega-Schlaufe, Lingualbogen) sowie anschließender Konsultation eines Kieferorthopäden. Herrscht eine Agenesie der bleibenden Zähne vor, hängt die Wahl der Behandlung von der Okklusion ab. In manchen Fällen ist es besser, den Milchzahn zu erhalten, in anderen Fällen, zu extrahieren. In derartigen Fällen ist es auf jeden Fall ratsam, einen Kieferorthopäden heranzuziehen. • Lokale Faktoren (1) Fistel auf der Höhe des Apex von Zahn 54 Das Kind ist nicht kooperativ. Zwei Sitzungen waren ohne Behandlungserfolg. Angesichts des unkooperativen Kindes und der Entwicklung einer Fistel ist die Extraktion unter Sedierung die einzig mögliche Behandlung. Die Behandlung wurde schnell durchgeführt und die Pathologie beseitigt. (3) Ektopischer Durchbruch von Zahn 16 – Erosion der distovestibulären Wurzel von Zahn 55, was zu einer akuten Pulpitis führte Wenn es sich um eine Pulpanekrose handelt, muss der Zahn unter Antibiotikatherapie extrahiert werden. Weitere Faktoren für die Entscheidung Behandlung oder Extraktion sind: Klinische Aufnahmen und Röntgenaufnahmen von Zahn 51, 61 und 62 mit Kontusion. Um die Schmerzen zu lindern und eine weitere Mesialisation von Zahn 6 zu verhindern, ist die beste Wahl für die Behandlung eine Pulpektomie. Anschließend sollte der Patient dringend zu einem Kieferorthopäden geschickt werden. 2 Jahre später – Zahn 21 vorhanden – Zahn 21 ist schneller als normal durchgebrochen. Grauwerden des Schneidezahns mit Entwicklung einer Pulpanekrose in der Kontrollphase: Vorteile und Nachteile einer frühzeitigen Extraktion Die Vorteile einer frühzeitigen Extraktion liegen in der schnellen Behandlung, wenn eine endodontische Behandlung zu lang dauern würde und die Prognose nicht günstig ist. Durch die Extraktion können Exazerbationen, rezidivierende Abszedierungen und Zahnkeimschädigungen (Turnerzähne) vermieden werden. Nachteilig wirkt sich eine frühzeitige Extraktion hinsichtlich auf den Platzverlust, der eventuelle spätere kieferorthopädische Behandlungen erforderlich macht. Weiterhin kann es zu Beeinträchtigungen des Aussehens im anterioren Bereich kommen, vor allem wenn das Kind sehr jung ist. Zahnkaries und Zahntrauma: wichtigste Ursache für eine Schädigung der Pulpa an konkreten Fallbeispielen Das Mädchen war bei dem Unfall 4 Jahre alt. Es entwickelte sich eine Pulpanekrose in der Kontrollphase. Das Kind war sehr kooperativ. Behandlung der Wahl: Pulpektomie. Grauwerden des Schneidezahns ohne Abszessbildung in der Kontrollphase: Tag des Unfalls Das Kind war zum Zeitpunkt des Unfalls 3 Jahre alt – 2 Jahre nach dem Unfall gab es keine Spur einer Pulpanekrose, jedoch blieben die Zähne grau. Behandlung: Kontrolle fortsetzen, bis der Milchzahn ausfällt. Gelegentlich ist die Resorption des geschädigten Milchschneidezahns, der grau geworden ist, durch den bleibenden Zahn beeinträchtigt, sodass der Milchzahn bleibt und der bleibende Schneidezahn ektopisch durchbricht. Um Probleme mit einer Fehlstellung des bleibenden Zahns am Ende zu verhindern, wird empfohlen, den Durchbruch zu kontrollieren und möglicherweise den betreffenden Milchschneidezahn zum Zeitpunkt der normalen Exfoliation zu extrahieren. • Schädigung der Pulpa durch Zahnkaries Pulpotomie an Zahn 85 – die Röntgenaufnahmen zeigen den Verlauf der Exfoliation des mit der Pulpektomie erhaltenen Zahns – natürlicher Platzhaltereffekt. • Schädigung der Pulpa aufgrund eines Unfalls • Peroperative Diagnostik – Die Pulpablutung ist kontrollierbar, also ist die Pulpa vital: es wird eine Pulpektomie durchgeführt. – Die Pulpablutung ist nicht kontrollierbar. Erhalten des Zahns mit einer Pulpektomie möglich. – Die Wiederherstellung der Zahnkrone erweist sich als unmöglich, da die Krone klinisch durch Karies zu stark geschädigt ist: Hier bleibt die Extraktion die einzige Lösung. Bei Bedarf kann ein Platzhalter eingesetzt werden. In diesem Fall muss man versuchen, den Zahn zu erhalten, unter der Bedingung, dass der Allgemeinzustand des Kindes gut und es kooperativ ist: Ist dies nicht der Fall, wandert Zahn 6 nach mesial und nimmt dem Prämolar, der später kommt, den Platz. Grauwerden des Schneidezahns mit Abszessbildung: 3 Wochen nach dem Unfall (2) Milchzahn 5: Pulpanekrose mit Fistelbildung, Zahn 6 am Durchbrechen. Extraktion oder endodontische Behandlung? * Der Vortrag basiert auf einer PowerPoint-Präsentation, vorgetragen auf dem SSO-Kongress in Montreux 2008. Foto eines vier Jahre alten Mädchens, das auf Zahn 61 gefallen ist. 1 Jahr nach dem Unfall Foto von Zahn 64 mit Bildung eines vestibulären Abszesses. In diesem Fall ist die Behandlung der Wahl die Extraktion und das anschließende Einsetzen eines Platzhalters, oder wenn ein guter ª DTA0309_09-10_Saral 19.03.2009 16:02 Uhr Seite 10 10 Endo Tribune ª Schlussbiss vorhanden ist, muss kontrolliert werden, dass der Platz zwischen Zahn 55 und 53 nicht kleiner wird. notwendig. Die Röntgenaufnahme vor und nach der Extraktion zeigt, dass man zumindest Zahn 55 bis zum kompletten Durchbruch von Zahn 16 erhalten konnte. Materialien für die Pulpafüllung Hier schlug die Behandlung fehl. Es bildete sich eine Fistel an Zahn 85. Zahn 46 ist dabei durchzubrechen. In diesem Fall muss versucht werden, Zahn 85 mit einer Pulpektomie zu erhalten, um eine Mesialisation von Zahn 46 zu verhindern. Apikaler Bereich auf Höhe von Zahn 55 nach Pulpektomie: Die Extraktion war die einzige Lösung, aber das Einsetzen eines Platzhalters erwies sich als nicht Bisher wurde noch kein Material für die endodontische Füllung von Milchzähnen gefunden, das vom klinischen, radiologischen und biologischen Standpunkt her 100 % zufriedenstellend und erschwinglich wäre. Im Folgenden eine Liste der verwendeten Materialien: (1) ZnO mit Eugenol: Bei histologischen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass ZnO Eugenol im Kontakt mit Pulpagewebe eine chronische Entzündungsreaktion hervorruft, die sich in Richtung Zahnapex ausbreiten kann. (2) Ca(OH)2: Bei klinischen, histologischen und radiologischen Untersuchungen wurde eine beträchtliche innere Resorption nach einer Füllung mit Ca(OH)2 festgestellt. Die Resorption geht auf die mangelnde Hämostase beim Einsatz von Ca(OH)2 zurück. (3) Phenol, zum Beispiel Walkoff, Rockley’s: Der klinische und radiologische Erfolg beträgt bis zu 90 %, die Phenole haben eine gute antimikrobielle Wirkung, ihr Nachteil ist, dass sie toxisch, allergen, mutagen und karzinogen sind. (4) Aldehyde, zum Beispiel N2: Die klinischen Ergebnisse sind mit den von Phenolen vergleichbar, aber die Aldehyde sind potenziell toxisch und karzinogen. (5) MTA – (Mineraltrioxidaggregat): Das Material wird von der vitalen Pulpa gut vertragen und ist bakterizid. Es wurde nachgewiesen, dass das MTA eine sehr zufriedenstellende Dichtigkeit (Versiegelung der Verbindungen zwischen dem Kanalsystem und der äußeren Zahnoberfläche) gewährleistet. Bei mehreren Studien wurde die Bildung einer Kalkbrücke zwischen dem Pulpagewebe in den Kanälen und dem MTA in der Pulpakammer nachgewiesen. Das MTA ist jedoch noch zu teuer, um zur Pulpafüllung bei Milchzähnen eingesetzt zu werden. Sobald die Kosten für das MTA auf ein annehmbares Niveau sinken, ist es möglich, dass das MTA als Füllung der Goldstandard für die Pulpekotomie bei lebenden Milchzähnen wird. Pulpa auch im Milchgebiss unter Lokalanästhesie und nach Möglichkeit unter absoluter Trockenlegung (Kofferdam) erfolgen ! ET Zusammenfassung Zahnarztpraxis für Kinder und Erwachsene Dr. med. dent. Susanne Hansen Saral Rue Pichard 11 CH-1003 Lausanne Tel.: +41-21/312 54 52 [email protected] www.cabinet-dentaire-hansen.ch Mit den Milchzähnen lernt das Kind zu kauen und zu sprechen. Mit dem Erhalt der Kaufunktion wird eine wichtige Voraussetzung zur gesunden Entwicklung des Kindes geleistet. Parallel sind gesunde Zähne für eine gemäße Sprachentwicklung notwendig. Außerdem sind gepflegte Zähne wichtig für die soziale Integration im Kreis der Spielgefährten. Kontakt: Kurzvita ANZEIGE Bild eines gesunden Milchzahngebisses. Darüber hinaus haben die Milchzähne eine wichtige Funktion als Platzhalter für die bleibenden Zähne und gewährleisten den regulären Durchbruch der bleibenden Zähne. Kariös zerstörte Milchzähne können diese Funktion nicht ausüben und die entzündlichen Prozesse an den Milchzahnwurzeln können den Schmelz des darunter liegenden bleibenden Zahnes schädigen. Hinzu kommt die Tatsache, dass Löcher in den Zähnen die idealen Lebensbedingungen für alle kariesauslösenden Keime bieten und damit das Kariesrisiko insgesamt steigern. Foto eines natürlichen Platzhalters. Es ist offensichtlich, dass die Prävention von Karies und Dentaltraumen unser wichtigstes Ziel ist. In der Realität sehen wir uns leider gelegentlich mit Pulpaschäden konfrontiert und es müssen in jedem Fall (1) das Ausmaß der Kooperation des Kindes, (2) sein Allgemeinzustand, (3) der Zustand der verbleibenden Zähne des Kindes und (4) lokale Faktoren berücksichtigt werden, bevor die Entscheidung endodontischer Behandlung, Extraktion oder gar keiner Behandlung (Kontrolle) getroffen wird: und zwar im höchsten Interesse der Zahngesundheit und der Zahnfunktion des Kindes. Grundsätzlich sollte jede endodontische Behandlung der vitalen Dr. med. dent. Susanne Hansen Saral – 1985: Diplom in Zahnmedizin an der Zahnmedizinischen Fakultät von Kopenhagen in Dänemark – 1985–1989: Assistenz-Zahnärztin in privater Zahnarztpraxis in Lausanne sowie an der Policlinique Dentaire der Policlinique, klinische Leiterin des Service de l’OdontoStomatologie am Centre Hospitalier Universitaire Vaudois in Lausanne in der Schweiz – 1999: Erlangung des Doktorgrads an der Zahnmedizinischen Fakultät von Bern in der Schweiz – 2000–2004: Leiterin des schulzahnärztlichen Dienstes in Lausanne in der Schweiz – Seit 2004: Private Zahnarztpraxis in Lausanne in der Schweiz – Schwerpunkte: präventive Zahnmedizin, allgemeine Zahnmedizin und Kinderzahnmedizin – Mitglied der Société Suisse d’Oonto-Stomatologie (SSO) sowie der Société Vaudoise de Médecins-Dentistes