Evolution, Fossilien und das Aussterben auch aus dem evolutionären System verschwinden, ohne dass ihr bisheriger Anpassungserfolg bei normalen Umweltveränderungen und/oder beim zwischenartlichen Wettbewerb eine Rolle spielen würde – also bei jenen Veränderungen, denen sich die Spezies infolge normaler natürlicher Selektion ausgesetzt sehen. Solche raren Ereignisse würden zwar am äußersten Ende des Spektrums der Umweltherausforderungen stehen, denen sich die Arten kurz-, mittel- und langfristig stellen müssen. Betrachtet man jedoch den dynamischen Charakter der Umweltveränderungen auf allen Ebenen im Zusammenspiel mit dem unnachgiebigen (darwinistischen) Drang jeder Spezies, (mehr oder weniger) mit jeder anderen in ihrer unmittelbaren Umgebung um überlebenswichtige Ressourcen zu konkurrieren, so scheint keine Spezies jemals einen Wettbewerbsvorteil entwickeln zu können, der sich langfristig erhält. Mit anderen Worten: Jede Art muss (im adaptiven Sinne) so schnell wie möglich „rennen“, nur um in derselben Position im lokalen Wettbewerb bleiben zu können. Wegen ihrer Anspielung auf eine Beobachtung der Roten Königin in Lewis Carrolls Geschichte Alice hinter den Spiegeln wurde diese Erklärung der konstanten Aussterberaten die Red-Queen-Hypothese genannt, welche Van Valen mit einem „neuen evolutionären Gesetz“ verglich. Der Großteil dieses Buchs widmet sich einer detaillierten, wenngleich kurzen, Beschreibung der Resultate dieser Neubeurteilung der Bandbreite physikalischer Prozesse, die zur zufälligen Auslöschung von Organismen führen, sowie der Konsequenzen dieser Neubewertung für das Verständnis der Effekte von globalen Umweltveränderungen, die von uns Menschen verursacht werden. Im Besonderen werde ich der Frage nachgehen, ob hauptsächlich eine einzelne Klasse intensiver und ungewöhnlicher Ereignisse für die großen geologischen Aussterbeereignisse verantwortlich ist oder ob sich diese eher mit einer ungewöhnlichen Verkettung von Ereignissen in Verbindung bringen lassen, welche die globale Umwelt weniger stark, aber über längere Zeiträume stören. Zur Unterscheidung dieser beiden Szenarien werde ich das erstere als Einzelursachenszenario (EU-Szenario) und das letztere als Szenario der multiplen interaktiven Ursachen (MIU-Szenario) bezeichnen. Der fossilBefund Da die primären Daten für die Erforschung von Ursachen und Auswirkungen sehr großer Aussterbeereignisse aus dem Fossilbefund stammen, müssen wir den Charakter dieses Befundes und seiner Komponenten verstehen. Fossilien sind die versteinerten Relikte früherer Organismen. Die Fossilisation ist ein natürlicher Prozess. Er beginnt, wenn die Über- 21 22 Arten sterben reste des toten Organismus – einschließlich der Abdrücke und/oder chemischen Spuren, die er zu Lebzeiten in seiner Umgebung hinterließ – von Sedimenten bedeckt werden. Einmal von den Bedingungen an der Oberfläche abgeschnitten, können der Körper beziehungsweise die Spuren des Organismus unter günstigen Bedingungen entweder in der Originalform erhalten bleiben oder (häufiger) von Mineralien ersetzt werden, welche die Form des originalen Körperteils oder Abdrucks erhalten. Daher verändern sich Fossilien später nicht mehr. Auf diese Weise kann die Morphologie eines Organismus ganz oder teilweise für lange Zeit bewahrt werden, in manchen Fällen sogar für Milliarden von Jahren. Die physikalischen und chemischen Prozesse der Fossilisation wirken schon seit Beginn des Lebens auf der Erde. Daher sind viele der Fossilien, die in den Sedimentgesteinen der Erde eingeschlossen sind, Repräsentanten ausgestorbener Arten. In manchen Fällen ist die Erhaltung eines Fossils so gut, dass es direkt mit lebenden Arten verglichen werden kann, deren Morphologie den modernen Wissenschaftlern bekannt ist, und so umfassend untersucht werden kann, wie es die moderne Technik erlaubt. Wenn das Fossil von der Form einer lebenden Art nicht zu unterscheiden ist, wird es allgemein als Vertreter derselben Spezies angesehen, der nur in einem früheren Abschnitt der Erdgeschichte lebte. Wenn das Fossil allerdings eine ganz eigene Form besitzt oder ein einzigartiges Detail aufweist, das nicht unter den heute lebenden Spezies zu finden ist, erhält es den Namen einer neuen Art und wird als Repräsentant einer Spezies betrachtet, die zwar irgendwann in der Vergangenheit existierte, aber zum jetzigen Zeitpunkt bereits ausgestorben ist. Nachdem ein Fossil identifiziert worden ist, kann die Dauer seiner Existenz geschätzt werden als die Zeitspanne zwischen dem ersten und letzten dokumentierten Auftreten von Exemplaren, die seiner Art zuzuordnen sind. Diese Zeitspanne lässt sich auf unterschiedliche Weise darstellen: als messbare Strecke in einem stratigrafischen Abschnitt, als relative Datierung mit Bezug auf die geologische Zeitskala oder als absolute Datierung anhand radioisotopisch datierbaren Materials, das zusammen mit dem Exemplar oder in seiner näheren Umgebung gefunden wurde. In manchen Fällen kann die absolute Datierung der Existenzdauer eines Fossils auch durch die radioisotopische Kalibration der jeweiligen Endpunkte der Zeitspannen abgeschätzt werden, aus denen die geologische Zeitskala aufgebaut ist (S. 23). Wie viele fossile Arten gibt es? In gewissem Sinne ist das unmöglich zu beantworten, da jedes Jahr Hunderte bis Tausende an neuen fossilen Arten von Paläontologen und Hobby-Fossilienforschern entdeckt werden. Trotzdem gibt es Schätzungen. Evolution, Fossilien und das Aussterben Tabelle 1. Schätzung der Existenzspanne von Arten in verschiedenen taxonomischen Gruppen, basierend auf Daten aus dem Fossilbefund. GruppeDurchschnittliche Lebensdauer (in Millionen Jahren) Alle Säugetiere 1 Känozoische Säugetiere 1–2 Diatomeen 8 Dinoflagellaten13 Planktische Foraminiferen 7 Känozoische Muscheln10 Stachelhäuter 6 Aus der durchschnittlichen Lebensdauer fossiler Arten (Tabelle 1) kann man mit einiger Sicherheit schließen, dass der Anteil der heute lebenden Arten weniger als einen Prozent aller Arten ausmacht, die je auf der Erde gelebt haben. Mit anderen Worten: Der Fossilbefund ist die einzige verfügbare Quelle, um die überwältigende Mehrheit der Arten nachzuweisen, die unseren Planeten in den letzten 3,4 Milliarden Jahren bevölkert haben. Nichtsdestoweniger ist der Fossilbefund weit davon entfernt, ein unfehlbares Verzeichnis dieses Pantheons vergangenen Lebens darzustellen. Realistischerweise können Paläontologen nicht darauf hoffen, jemals ein komplettes Verzeichnis aller wirbellosen Organismen aufstellen zu können, insbesondere wenn diese klein waren und/oder eine ephemere Umgebung bewohnten (z. B. Wälder, Flussbetten). Die Tatsache, dass ein Großteil des modernen Artenreichtums gerade dieser Kategorie angehört, sorgt für einiges Kopfzerbrechen bei vielen verschiedenen paläontologischen Interpretationen. Allerdings wissen Biologen und Ökologen selbst heutzutage noch überraschend wenig über diese Art von Organismen. Sicherlich werden wir größere Fortschritte in unserem Wissen über sie erzielen, nicht zuletzt durch die Methode des DNSBarcoding, die zu einem besseren Verständnis ihrer taxonomischen und phylogenetischen Verwandtschaft führen wird. Dies wiederum wird eine ganze Reihe anderer Untersuchungen ermöglichen. Im Augenblick können wir uns jedoch nur auf den Teil der modernen Biota konzentrieren, deren Körper Materialien beinhalten, die als Basis für die Fossilisation geeignet sind (z. B. Schalen, Zähne, Knochen, Hornschuppen, Stacheln). Davon gibt es etwa 250 000 lebende Arten. 23 Arten sterben Geschätzte Qualität der Fossilien in verschiedenen marinen Gruppen von Wirbeltieren und Wirbellosen (Neuzeichnung nach Foote und Raup 1996). Man beachte den Unterschied zwischen den Fossilien von Kopffüßern (Tintenfische, Kraken, Ammoniten, oben links) und Knorpelfischen (Haie und Rochen, unten rechts). Nur wenige noch lebende Kopffüßerfamilien sind als Fossilien bekannt, denn sie besitzen keine harte äußere Schale. Da jedoch viele frühere Kopffüßer eine harte, robuste Außenschale besaßen (z. B. Ammoniten), geht man davon aus, dass der fossile Befund alter Kopffüßerarten relativ vollständig ist. Im Gegensatz dazu wurden nur wenige Fossilien von modernen Haiund Rochenarten gefunden, und da sie recht wenige harte Körperteile besitzen, ist auch zu erwarten, dass der fossile Befund dieser Arten von schlechter Qualität ist. Die Qualität des fossilen Befunds der meisten Gruppen von Organismen liegt zwischen diesen beiden Extremen. Anhand verschiedener Annahmen über den Artenbestand in der Vergangenheit und den Artenwechsel, die auf bereits beschriebenen fossilen Arten basieren, können wir schätzen, dass möglicherweise rund zwölf Millionen Arten aus dem Fossilbefund geborgen werden können. Hiervon sind bis heute vielleicht 500 000 entdeckt und beschrieben worden. Das würde bedeuten, dass die Wissenschaft aktuell lediglich fünf Prozent aller Arten kennt, die im Fossilbefund enthalten sein könnten. Natürlich sind manche Gruppen vollständiger unter den Fossilien vertreten als andere. Beispielsweise ist die Beschreibung einer neuen Art der pleistozänen planktischen Foraminiferen (einer einzelligen Zooplankton-Gruppe) in der paläontologischen Literatur eher ungewöhnlich, wohingegen in beeindruckender Regelmäßigkeit immer wieder neue Dinosaurierarten entdeckt werden. Leider ist der große Teil aller Dinosaurierarten tatsächlich nur durch ein einziges und oft auch noch bruchstückhaftes Exemplar belegt. Ebenso wichtig ist der Umstand, dass sich die Genauigkeit des Fossilbefunds von Organismengruppe zu Organismengruppe unterscheidet. So sind etwa Fossilien mariner Organismen mit harten Schalen (z. B. Ammoniten, Brachiopoden) sehr detailgetreu im Gegensatz zu marinen Organismen, deren Körper nur kleine Zähne, Stacheln und Hornschuppen (z. B. Würmer, Haie und Rochen) aufweisen (siehe unten). Auch die Zahl der Aufschlussflächen von Sedimentgestein an der Erdoberfläche variiert zwischen Zeitabschnitten unterschiedlichen Alters (siehe S. 25, oben). Im Allgemeinen sind jüngere Zeitabschnitte in 1.0 Wahrscheinlichkeit der Gattungserhaltung je stratigrafisches Intervall 24 Brachiopoden 0.9 Cephalopoden 0.8 0.7 Bryozoen Echinoiden 0.6 Poriferen 0.5 Anthozoen 0.4 Ostrakoden Bivalven Gastropoden Crinoiden 0.3 Osteichthyes Asterozoen 0.2 Malakostraken 0.1 Chondrichthyes Polychaeten 0 0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 Anteil lebender Familien mit Fossilbefund 1.0 Aufschlussfläche von Sedimentgesteinen (Anzahl der Karten) Evolution, Fossilien und das Aussterben 25 Unbestimmt Marin Terrestrisch 400 300 200 100 Kam. Ord. Sil. Dev. Kar. Per. Tri. Jur. Zyklus 1 größeren Teilen der Aufschlussflächen vertreten als ältere. Unter sonst gleichen Umständen ist der Fossilbefund jüngerer Zeitintervalle daher mit höherer Wahrscheinlichkeit vollständiger als der Fossilbefund älteText-fig. 2new rer Zeitintervalle. Bei der Diskussion der Naturgeschichte des Aussterbens müssen wir also diese Unterschiede zwischen den verschiedenen taxonomischen Gruppen und Altersklassen immer im Hinterkopf behalten. Oft genug lässt der Fossilbefund viel zu wünschen übrig. Das ist eine Tatsache, die von zahlreichen Biologen betont wurde, darunter von Charles Darwin, der frustriert darüber war, dass ihm der Fossilbefund keine direkteren Beweise für seine Theorie der Evolution durch natürliche Auslese liefern konnte. Andererseits kann der Fossilbefund für uns auch ein überraschend lückenloses und detailgenaues Fenster zur Geschichte des Lebens auf der Erde sein. Vor allem halten uns Fossilien dazu an, in unserer Suche nach Hinweisen auf die Vergangenheit unserer Erde erfinderisch zu werden, und nicht selten werden wir für unsere Kreativität mit atemraubenden Einzelheiten belohnt. Dessen ungeachtet und trotz aller Mängel bleiben Fossilien die besten – und in der Tat die einzigen – direkten Belege, die uns zum Wesen, zur Form, zu den Opfern und Überlebenden der großen Aussterbeereignisse zur Verfügung stehen, und sie sind zugleich die einzigen zuverlässigen Quellen hinsichtlich der Frage, wie die Biosphäre die massiven Umweltveränderungen verkraften konnte, die immer wieder in der Erdgeschichte stattgefunden haben. Kre. Pal. Neo. Zyklus 2 Oberfläche von aufgeschlossenen Sedimenten unterschiedlichen Alters und aus verschiedenen Umgebungen in Spanien, Frankreich, England und Wales. Man beachte die generell ansteigende Tendenz in der durchschnittlichen Aufschlussfläche für jüngere Zeitabschnitte im marinen Befund und die Lücke in Aufschlüssen des mittleren Mesozoikums (einer Periode mit hohem Meeresspiegel) im terrestrischen Befund. Man beachte ebenso den relativen Mangel an fossilen Ablagerungen jeder Art während des oberen Perms und der Oberkreide. Die variierenden Wahrscheinlichkeiten, Fossilien eines bestimmten Alters aufzufinden, beeinflussen unsere Schätzungen des Artenreichtums und des Aussterbens (Neuzeichnung nach Smith und McGowan 2007).