Überschrift 12 pt fett, Schriftbtreite 105%, Zeilenabstand16 pt, nicht am Grundlinienraster ausgerichtet, unten Bildrand Unterüberschrift 9,5 pt fett Vorspann 9,5 pt fett, schmalere Spalte Autoren und Herkunft mager Forschung an der Universität Bielefeld 18/1998 1 Westfälisch-Lippische Universitätsgesellschaft – Verein der Freunde und Förderer e.V.– Werden Sie Mitglied! Eine Universität braucht Freunde. Sie braucht Kontakt zur Öffentlichkeit. Sie braucht das Engagement aller Bürger und aller privaten oder öffentlichen Körperschaften und Firmen der Region. Sie braucht auch die Verbundenheit ihrer Studenten über die Studienzeit hinaus. Sie braucht die Unterstützung aller Kreise zur Erfüllung ihrer Aufgaben. Dies gilt erst recht für eine junge und expandierende Universität. Wir laden zum Beitritt ein! Was wir tun: Förderung von Forschung und Lehre der Universität: Unterstützung von Fakultäten, Einrichtungen und Forschungsvorhaben. Pflege der Beziehungen zwischen Universität und Bevölkerung: Durchführung und Unterstützung von Vorträgen, Konzerten, Kunstausstellungen, Sportveranstaltungen usw. Hilfe bei Problemen der Studentenschaft: Förderung von Studentenwohnheimen, Vergabe von Auslandsstipendien, praxisorientierte Betreuung (Gesprächskreise, Firmenbesichtigungen) und andere Aktivitäten. Förderung wissenschaftlicher Arbeiten: Jährliche Verleihung von Preisen für hervorragende Habilitations- und Dissertationsarbeiten. Unterstützung von förderungswürdigen wissenschaftlichen Arbeiten im allgemeinen. Vertiefung der Beziehungen zwischen Universitätsgesellschaft und Lehrkörper: Veranstaltungsreihe „Fakultäten stellen sich vor“. Wir brauchen den gut ausgebildeten Nachwuchs. Deshalb tun wir etwas dafür. Die Westfälisch-Lippische Universitätsgesellschaft – Verein der Freunde und Förderer e.V. – wurde 1966 durch Persönlichkeiten aus Politik, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft gegründet. Zu ihren Mitgliedern gehören heute Bürger aus allen Schichten der Bevölkerung, Personen aus Handel und Industrie sowie öffentliche Körperschaften und Firmen. Vorsitzender des Kuratoriums: Regierungspräsident i. R. Walter Stich, Detmold, stellvertretender Vorsitzender: Prof. Dr. Gert Rickheit, Bielefeld, weitere Mitglieder: Dr. Dietmar Baumeister, Bielefeld, Eberhard David, Bielefeld, Dr. Werner Efing, Bielefeld, Dr. Alfred Giere, Minden, Margrit Harting-Kohlhase, Espelkamp, Wolfang Kaeller, Bielefeld, Helmut Kruse, Detmold, Karen Leffers, Werther-Isingdorf, Rudolf Miele, Gütersloh, Dr. Peter von Möller, Bielefeld, Günther Remmel, Bielefeld, Joachim Schultz-Tornau, Bielefeld, Herbert Sommer, Bielefeld, Reinhold Trinius, Porta Westfalica, Dr. Dr. Jürgen Weitkamp, Lübbecke, Dr. Werner Zeppenfeld, Bielefeld. Vertreter der Universität Bielefeld: Dr. Barbara Moschner, Karl Herman Huvendick, Bastian Simon. Vorsitzender des Vorstandes: Gerd Seidensticker, Bielefeld, stellvertretender Vorsitzender: Ortwin Goldbeck, Bielefeld, Geschäftsführer und Schatzmeister: Prof. Helmut Steiner, Bielefeld, weitere Mitglieder: Oberbürgermeisterin Angelika Dopheide, Bielefeld, Bürgermeister Dr. Gerhard Klippstein, Herford, Dr. Siegfried Luther, Gütersloh, Walter Maaß, Bielefeld, Dr. Uwe Schäkel, Bonn, Dr. Rainer Wend, Bielefeld, Ehrenmitglieder: Rudolf August Oetker, Ernst Graumann†, Prof. Dr. Karl Peter Grotemeyer, Dr. Kurt Schober. Die Mitglieder werden durch die Herausgabe von Mitteilungen und Mitgliederversammlungen auf dem laufenden gehalten. Außerdem erhalten sie kostenlos die Bielefelder Universitätszeitung. Alle Mitglieder der Universitätsgesellschaft erhalten auch das Forschungsmagazin der Universität Bielefeld kostenlos! Die Universitätsgesellschaft ist steuerlich als gemeinnützige Institution anerkannt. Mitgliedschaft Wenn Sie Mitglied werden wollen, wenden Sie sich bitte an: Westfälisch-Lippische Universitätsgesellschaft, Prof. Helmut Steiner, Wilhelmstr. 3a, 33602 Bielefeld, Tel. (05 21) 12 43 47. Ich/Wir wünsche(n) eine Firmenmitgliedschaft zu einem Jahresbeitrag von DM o 500,- o 800,- o 1000,- o (der Mindestbeitrag beträgt DM 500,-) Die zuständige Kontaktperson in der Firma ist Bitte senden Sie die Beitrittsbestätigung an: Name Firma Straße PLZ/Ort o eine Einzelmitgliedschaft zu einem Jahresbeitrag von DM o 50,- o 100,- o 200,- o (der Mindestbeitrag beträgt DM 50,-) Datum Unterschrift Die Überweisung erfolgt auf das Konto-Nr. 0 669 499 (BLZ 480 700 20) der Deutschen Bank AG in Bielefeld. 38 Forschung an der Universität Bielefeld 18/1998 Vom Nutzen der Soziologie für das Verständnis des Lebens Die Begegnung zwischen Simmel und Bergson Gregor Fitzi Fakultät für Soziologie Die Soziologie ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus der Philosophie und aus der Auseinandersetzung mit philosophischem Gedankengut hervorgegangen. Besonders mit den wissenschaftstheoretischen Auffassungen von Immanuel Kant, die stark am Modell der Naturwissenschaften orientiert waren, waren die frühen Soziologen nicht einverstanden, weil mit einer so konstruierten Wissenschaft das individuelle und soziale Leben des Menschen nicht abzubilden war. Der rasche gesellschaftliche Wandel in der Gründerzeit verlangte nach einer soziologischen Deutung des menschlichen Lebens. Zwei Denker von höchst unterschiedlichem Ursprung, der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel und der Franzose Henri Bergson, beide um die Jahrhundertmitte geboren, pflegten in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg einen regen Gedankenaustausch über den Zusammenhang zwischen Lebensphilosophie und Soziologie. Wie es dazu kam, welche Form ihre persönliche Beziehung annahm und wie sie erkenntnistheoretisch aufeinander eingewirkt haben, rekonstruiert ein Forschungsprojekt an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Wissenschaft und Leben Georg Simmel (1858 bis 1918) nach einer Fotografie aus dem Jahre 1910. Georg Simmel war einer der Gründerväter der klassischen Soziologie. Er entstammte einer jüdischen Familie in Berlin. Aufgrund einer Erbschaft konnte er sich ungestört seinen geschichtlichen, völkerpsychologischen und philosophischen Studien widmen. Simmel war ab 1885 Privatdozent an der Universität Berlin und lehrte dort Philosophie und Soziologie. Trotz großer Zuhörerschaft und internationalem Ruhm erhielt er erst 1914 einen Ruf als Professor an die Universität Straßburg. Seine berühmtesten Schriften sind die „Philosophie des Geldes“ (1900), die „Soziologie“ (1908) und die „Lebensanschauung“ (1918). Forschung an der Universität Bielefeld 18/1998 Im Vorwort zu seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung schrieb Friedrich Nietzsche 1874, daß die Historie als Erkenntnis nur hochzuschätzen sei, wenn sie nicht zur bequemen Abkehr von Leben und Tat diene. Allein unter dieser Voraussetzung sei es sinnvoll, sich ihr zu widmen. Welche Beziehung die Wissenschaft zu den allgemeinen Zielen des Lebens unterhalten soll, blieb eine der grundlegenden Erkenntnisfragen der frühen Soziologen, ohne daß sie zu ihrer endgültigen Beantwortung finden konnten. Was viele unter ihnen zu diesem Thema meinten, läßt sich an einem Brief des französischen Philosophen Elie Halévy an seinen Freund, den Soziologen Célestin Bouglé vom 14. Juli 1895 erläutern.1 Bouglé, hatte ihm mitgeteilt, er wolle sich mit Soziologie beschäftigen. Halévy antwortete, er habe recht „de faire de la sociologie; car 39 la fin de tout système philosophique est de fonder une sociologie“. Dies könne jedoch nur unter der Voraussetzung verwirklicht werden, daß die Gesellschaftswissenschaft auf einer übergreifenden philosophischen Lehre begründet werde. Dieser gegenüber würde nun die Soziologie die „Theorie der modernen Welt“ darstellen. Es gehörte zum Selbstverständnis der Soziologie um die Jahrhundertwende, daß sie eine Brücke zwischen den historischen bzw. philosophischen Wissenschaften und den Spannungen des modernen Lebens aufspannen wollte. Diese „Attitüde zu Welt und Leben“ galt insbesondere für einen der Gründerväter der klassischen Soziologie, Georg Simmel. Er befaßte sich Zeit seines Lebens mit den Besonderheiten der modernen Lebensform: mit dem geistigen Leben in der Großstadt, mit der Wirkung des Geldes auf den Lebensstil, mit der Mode, mit neuesten Strömungen in der Kunst und in der Literatur, mit der aufkommenden Frauenbewegung. Simmel bezog die Interpretation von Lebensformen in den wissenschaftlichen Aufbau der Soziologie mit ein. Diese Haltung ist vor allem aus seiner Stellung an der Grenzscheide zweier Zeiten zu begreifen. Simmel war einer der Repräsentanten des Augenblickes, in dem das zentrale erkenntnistheoretische Paradigma der Wissenschaft um die Jahrhundertwende, die Transzendentalphilosophie Kants, zerbrach. Sie hatte sich als unfähig erwiesen, „ ... die in das Zeitbewußtsein heraufdrängende neue Problematik einer Erkenntnis des Konkreten, des So-Seins der Dinge und Individuen, des hinc et nunc des Lebens zu bewältigen“.2 Soziologie und modernes Leben in der Reflexion von Georg Simmel Simmels wissenschaftliche Fragestellung ging auf das Problem zurück, die Lage des individuellen Lebens in der modernen Gesellschaft mit soziologischen Kategorien zu thematisieren. Die materiellen Aspekte des Lebens hatten in der Moderne erhebliche Fortschritte erzielt; die Möglichkeiten der Individuen, sich in ihrem Rahmen zu verwirklichen, blieben aber weitgehend hinter diesem Niveau zurück. Nachdem sich die Individuen durch die Entwicklung der modernen Gesellschaftsform von persönlichen Abhängigkeitsbeziehungen befreit hatten, profilierte sich schließlich eine neue Problematik: Die Ausdifferenzierung der 40 Persönlichkeit im Netz der sozialen Beziehungen des Individuums stellte ihre Einheit in Frage. Der Individualität drohte die Spaltung ihrer öffentlich sozialen Bereiche von ihren intimen und qualitativ unterschiedlichen Dimensionen. Der „Fragmentcharakter“ des Lebens erwies sich als grundlegend für die existentielle Lage der modernen Menschen. Konnte die Soziologie den Zusammenhang und die Spannung zwischen sozialen Beziehungsformen und individuellem Leben wissenschaftlich thematisieren? Diese Frage war Simmel ein ständiger Antrieb, seine Recherchen und Kategorien weiterzuentwikkeln. Dafür sollte sich aber seine soziologische Methodologie vom ihrem ursprünglichen „Soziologismus“ lossprechen. Die Prägung der Individuen durch die sozialen Beziehungen war zwar ausschlaggebend für das moderne Leben, dadurch wurden die nicht vergesellschafteten Sphären der Persönlichkeit jedoch nicht zu einem soziologisch irrelevanten Residuum. Die Problematik der modernen Individualität konnte also nicht bloß aufgrund der Kreuzung sozialer Kreise erfaßt werden. Simmel entwickelte ein theoretisches Modell, mit dem er sowohl die vergesellschafteten als auch die spezifisch individuellen Dimensionen der modernen Lebensform soziologisch problematisieren konnte. Dies tat er zuerst aufgrund des damals vorherrschenden Wissenschaftsparadigmas: der Transzendentalphilosophie Kants. Kant hatte die Kategorien der Naturwissenschaften (Zeit, Raum, Kausalität usw.) zur Grundlage aller menschlichen Erfahrung erhoben. Was ihren erkenntnistheoretischen Kriterien nicht entsprach, gehörte folglich zum Reich des Irrealen und konnte kein Gegenstand philosophischer Reflexion werden. Dieses Instrumentarium erwies sich jedoch als zu eng, der Vielfalt moderner Erfahrungsdimensionen (aufgrund ihrer Mannigfaltigkeit, ihrer Ausdifferenzierung, ihres Rhythmus’) gerecht zu werden. Damit stellte sich die Aufgabe, eine Theorie der modernen Lebenserfahrung über das transzendentale Paradigma hinaus zu entwickeln. Simmel nahm sie durch die fortwährende Auseinandersetzung mit den Autoren wahr, die sich in der Philosophie (Schopenhauer, Dilthey, Nietzsche) und in der Kunst (Goethe, Rodin, Rembrandt) mit den Problemen des Lebens befaßt hatten. Auf diesem Weg traf er später auch auf Bergson. Forschung an der Universität Bielefeld 18/1998 Henri Bergsons Philosophie des Lebens Die gesamte Reflexion Henri Bergsons entstand aus der Deutung der inneren Zeitlichkeit, der durée réelle, die sich durch ihren Unterschied zur Wahrnehmung der äußeren Objekte der Erfahrung auszeichnete. Es waren für ihn zwei verschiedene Bewußtseinsarten, die das menschliche Leben charakterisierten: die der räumlichen Gegenstände und die der psychischen Zustände. Je tiefer man in das Bewußtsein eindrang, desto wirrer und unbestimmter war die Vielfalt seiner Inhalte, die sich nicht mehr voneinander unterscheiden ließen wie in der räumlichen Wahrnehmung. Folglich konnte man die Bewußtseinstatsachen nur aufgrund einer symbolischen Darstellung erfassen und nicht direkt einordnen und aufzählen. Dies erfolgte durch ihre „Verräumlichung“, so daß sie als homogen und voneinander abgetrennte Zustände dargestellt wurden. Eine solche Projektion der psychischen Inhalte in räumliche Kategorien verlieh ihnen jedoch eine andere Form als die, die sie in der unmittelbaren Apperzeption hatten. Der Empfindungsfluß des psychischen Lebens erlebte so eine Umwandlung, die ihre Zeitlichkeit als durée nicht mehr zum Ausdruck brachte. Dadurch ergab sich für Bergson eine Spaltung der individuellen Erfahrung in zwei Realitäten unterschiedlicher Ordnung: die heterogene Wirklichkeit der innerlichen Empfindungsqualitäten und die homogene Wirklichkeit des äußerlichen Raumes. Die letzte charakterisierte das Reich des praktischen Lebens und erlaubte den Menschen, sprachlich zu kommunizieren und vermöge der Intelligenz ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Mit der inneren Zeitlichkeit hatte sie jedoch nichts mehr zu tun, da die praktische Gewöhnung an die Raumvorstellung schließlich eine zweite Zeitkategorie ins Leben rief. Damit war die Grundlage für die Verdoppelung der Zeiterfahrung in innere und äußerliche Zeitlichkeit gegeben, die für Bergson das Ich zu entzweien drohte, so daß die Frage seiner Einheit eine zentrale Stelle in der Philosophie des Lebens gewann. An ihren äußeren Schichten kam die Subjektivität in Berührung mit der externen Welt, von der sie den homogenen Charakter ihrer Inhalte übernahm, da dort die Empfindungen etwas von der gegenseitigen Abtrennung ihrer äußerlichen Ursachen beibehielten. Dagegen charakterisierte sich das tiefere Bewußtsein als durée. Da aber schließlich das Ich einheitlich war, dehnte sich die symbolische Verwandlung immer mehr auf die tieferen Bewußtseinszustände aus, so daß der Raum nach und nach das Bewußtsein eroberte. Forschung an der Universität Bielefeld 18/1998 Henri Bergson (1859 bis 1941) nach einer Fotografie aus dem Jahre 1921. Bergson wurde als Sohn einer jüdischen Familie in Paris geboren. Seine ausgeprägte mathematische Begabung eröffnete ihm ein Studium an der Ecole Normale Supérieure. Durch frühe Arbeiten über das innere Zeitbewußtsein hat Bergson einen völlig neuen Weg zur Deutung der Lebenserfahrung eröffnet. Als er 1907 mit dem Buch „L'évolution créatrice“ (Die schöpferische Entwicklung) seinen Ansatz auf die Gesamtheit der Lebensphänomene ausdehnte, wurde seine Philosophie weltberühmt und als Durchbruch in eine neue Epoche der Geistesgeschichte begrüßt. 1928 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Dieser Prozeß der Verdichtung ließ sich für Bergson bestens am Beispiel der Sprache zeigen, die mit denselben Worten Empfindungen bezeichnete, die sich ständig änderten. Eine Raumintuition gäbe es auch, wenn die Menschen ganz individuell leben würden, sie zeichnet sich jedoch als Schritt zum 41 Teilnehmer des 2. Internationalen Philosophischen Kongresses , der im Jahre 1904 in Genf stattfand. Derartige Kongresse hatte es im 19. Jahrhundert noch nicht gegeben. Auf dem Genfer Kongreß hatten deutsche Philosophen erstmals persönlichen Kontakt mit Henri Bergson (auf dem Foto in der zweiten Reihe die fünfte Person von rechts mit weißem Hut). So entstand die Idee, Bergsons Werke ins Deutsche zu übersetzen. Kultureller Austausch im deutsch-französischen Kontext vor 1914 sozialen Leben aus. Sie trägt dazu bei, sich eine Welt außerhalb der subjektiven Empfindung vorzustellen, die ein gemeinsames Eigentum aller bewußten Wesen ist. Je mehr sich nun das soziale Leben vervollständigte, desto stärker war für Bergson der Strom, der die Bewußtseinszustände von Innen nach Außen zog und räumlich verdichtete. Damit versachlichte sich das psychische Leben der Menschen fortwährend, so daß dieser Prozeß ihre Daseinslage maßgebend charakterisierte. Ihr gegenüber qualifizierte sich schließlich die Philosophie des Lebens als Methode, die Objektivierung der Kultur kritisch zu hinterfragen und die intuitiven Grundlagen der Erkenntnis zu ergründen, die in der durée wurzeln. 42 Simmel und Bergson hatten schon um die Jahrhundertwende verschiedene Möglichkeiten gehabt, sich gegenseitig wahrzunehmen und die Ähnlichkeiten ihrer Forschungsvorhaben – vor allem was die Kantkritik anging – festzustellen. Dies war dank des transnationalen Charakters von Philosophie und Soziologie vor 1914 möglich, der sich besonders durch das Engagement der Schüler von Simmel und Eucken (der heute so gut wie unbekannte Rudolf Eucken gehörte vor 1914 zu den führenden Intellektuellen Europas) und der französischen Gruppierung um die Revue de métaphysique et morale verwirklichte. Wie Hans Simmel berichtet, korrespondierte sein Vater regelmäßig mit Bergson. Diese Korrespondenz ist jedoch leider während des Zweiten Weltkrieg vernichtet worden, so daß die Beziehung zwischen Bergson und Simmel nur anhand indirekter Zeugnisse rekonstruiert werden kann. Was feststeht, ist, daß beide eine bestimmte Überzeugung verband: die Überzeugung, auf dem eigenen Gebiet das trans- Forschung an der Universität Bielefeld 18/1998 zendentale Erkenntnisparadigma überwinden zu müssen, um der Wirklichkeit des Lebens näher zu kommen. Diese theoretische Nähe schlug sich unmittelbar in der Absicht nieder, die Werke des anderen in die eigene Sprache übersetzen zu lassen. Der Austausch entwickelte sich dann zu einer Debatte über die Grundlagen der Philosophie des Lebens weiter, die beide beeinflußte und zur einer Rezeptionsgeschichte beitrug, die sich bis in die zwanziger Jahre hinein erstreckte. Der Ausbruch des ersten Weltkriegs setzte der persönlichen Beziehung zwischen Bergson und Simmel ein Ende, da sich beide patriotisch engagierten und es ihnen nicht gelang, eine transnationale Kommunikation aufrechtzuerhalten. Mit Simmels Tod am 26. September 1918 ging auch die Möglichkeit verloren, den Kontakt nach dem Krieg wieder aufzunehmen. Das lebensphilosophische Paradigma als Grundlage der Soziologie Was auf der persönlichen Ebene wegen des Krieges nicht mehr denkbar war, ging jedoch auf der theoretischen Ebene weiter. Simmel baute zwischen 1914 und 1918 seinen soziologischen Ansatz zu einer allgemeinen Kultursoziologie auf lebensphilosophischer Basis aus. Bergson veröffentlichte erst 1932 sein letztes Buch über Moral und Religion. Dieses entstand unter Einflüssen, die mit der komplexen Kulturgeschichte der zwanziger Jahren zu tun haben, fand aber im unterbrochenen Dialog mit Simmel einen wichtigen Ausgangspunkt. Die späte Simmelsche Lebensphilosophie zeichnete sich als Antwort auf den Bergsonschen Dualismus zwischen durée und Raum aus: Hier löste sich der Konflikt zwischen Leben und Formen in dem zyklischen Prozeß des Lebens auf. Dies galt auch für die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Soziologie konnte dem Leben insofern nützlich sein, indem sie auf die Umstände hinwies, unter denen sich die Individualität trotz der gesellschaftlichen Zwänge der Moderne bilden konnte. Als letztes Ergebnis des transnationalen Austauschs zwischen Soziologie und Lebensphilosophie übergab Simmel sein letzes Buch „Die Lebensanschauung“ der Nachwelt. Gregor Fitzi ist in Florenz geboren und aufgewachsen und Schweizer Bürger. Er hat an der UniversitB degli Studi di Firenze und an der Freien Universität Berlin Philosophie, Soziologie und Geschichte studiert und 1992 mit einer Magisterarbeit „Zur Geschichte des Gemeinschaftsbegriffs in Deutschland zwischen Ferdinand Tönnies, Max Weber und Hans Freyer“ seinen Studienabschluß (Laurea) in Philosophie erreicht. 1994/95 hatte er ein Stipendium der Schweizer Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften zum Thema „Die Institutionentheorie in der zeitgenössischen philosophischen Anthropologie und das Erbe der deutschen klassischen Soziologie“.1995/96 arbeitete er in Bielefeld an der Georg-Simmel-Gesamtausgabe mit; er ist Mitherausgeber des 16. Bandes. Seit 1996 führt Gregor Fitzi das Projekt „Zum Nutzen und Nachteil der Soziologie für das Leben“durch, eine Untersuchung über die intellektuelle und persönliche Beziehung zwischen Georg Simmel und Henri Bergson. Dieses Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert und ist von Prof. Dr. Otthein Rammstedt von der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld beantragt worden. 1 Elie Halévy: Correspondance 1891–1937, Hrsg. H. Guy-Loe, Paris, Edition de Fallois, 1996, S. 165 2 Margarete Susman: Die geistige Gestalt Georg Simmels, Tübingen, Mohr, 1959, S. 3 Forschung an der Universität Bielefeld 18/1998 43