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Autoren und Herkunft mager
Forschung an der Universität Bielefeld 18/1998
1
Westfälisch-Lippische Universitätsgesellschaft
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Forschung an der Universität Bielefeld 18/1998
Vom Nutzen der Soziologie für das Verständnis des Lebens
Die Begegnung zwischen Simmel und Bergson
Gregor Fitzi
Fakultät für Soziologie
Die Soziologie ist gegen Ende des 19.
Jahrhunderts aus der Philosophie und
aus der Auseinandersetzung mit philosophischem Gedankengut hervorgegangen. Besonders mit den wissenschaftstheoretischen Auffassungen
von Immanuel Kant, die stark am Modell der Naturwissenschaften orientiert
waren, waren die frühen Soziologen
nicht einverstanden, weil mit einer so
konstruierten Wissenschaft das individuelle und soziale Leben des Menschen nicht abzubilden war. Der rasche
gesellschaftliche Wandel in der Gründerzeit verlangte nach einer soziologischen Deutung des menschlichen Lebens. Zwei Denker von höchst unterschiedlichem Ursprung, der deutsche
Philosoph und Soziologe Georg Simmel und der Franzose Henri Bergson,
beide um die Jahrhundertmitte geboren, pflegten in den Jahren vor dem
ersten Weltkrieg einen regen Gedankenaustausch über den Zusammenhang zwischen Lebensphilosophie und
Soziologie. Wie es dazu kam, welche
Form ihre persönliche Beziehung annahm und wie sie erkenntnistheoretisch aufeinander eingewirkt haben,
rekonstruiert ein Forschungsprojekt an
der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.
Wissenschaft und Leben
Georg Simmel (1858 bis 1918) nach einer Fotografie aus
dem Jahre 1910. Georg Simmel war einer der Gründerväter der klassischen Soziologie. Er entstammte einer jüdischen Familie in Berlin. Aufgrund einer Erbschaft konnte er
sich ungestört seinen geschichtlichen, völkerpsychologischen und philosophischen Studien widmen. Simmel war
ab 1885 Privatdozent an der Universität Berlin und lehrte
dort Philosophie und Soziologie. Trotz großer Zuhörerschaft und internationalem Ruhm erhielt er erst 1914
einen Ruf als Professor an die Universität Straßburg. Seine
berühmtesten Schriften sind die „Philosophie des Geldes“
(1900), die „Soziologie“ (1908) und die „Lebensanschauung“ (1918).
Forschung an der Universität Bielefeld 18/1998
Im Vorwort zu seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung schrieb Friedrich Nietzsche 1874, daß die
Historie als Erkenntnis nur hochzuschätzen sei, wenn
sie nicht zur bequemen Abkehr von Leben und Tat
diene. Allein unter dieser Voraussetzung sei es sinnvoll, sich ihr zu widmen.
Welche Beziehung die Wissenschaft zu den allgemeinen Zielen des Lebens unterhalten soll, blieb eine
der grundlegenden Erkenntnisfragen der frühen
Soziologen, ohne daß sie zu ihrer endgültigen Beantwortung finden konnten. Was viele unter ihnen zu
diesem Thema meinten, läßt sich an einem Brief des
französischen Philosophen Elie Halévy an seinen
Freund, den Soziologen Célestin Bouglé vom 14. Juli
1895 erläutern.1 Bouglé, hatte ihm mitgeteilt, er
wolle sich mit Soziologie beschäftigen. Halévy antwortete, er habe recht „de faire de la sociologie; car
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la fin de tout système philosophique est de fonder
une sociologie“. Dies könne jedoch nur unter der
Voraussetzung verwirklicht werden, daß die Gesellschaftswissenschaft auf einer übergreifenden philosophischen Lehre begründet werde. Dieser gegenüber
würde nun die Soziologie die „Theorie der modernen
Welt“ darstellen.
Es gehörte zum Selbstverständnis der Soziologie
um die Jahrhundertwende, daß sie eine Brücke zwischen den historischen bzw. philosophischen Wissenschaften und den Spannungen des modernen
Lebens aufspannen wollte.
Diese „Attitüde zu Welt und Leben“ galt insbesondere für einen der Gründerväter der klassischen
Soziologie, Georg Simmel. Er befaßte sich Zeit seines
Lebens mit den Besonderheiten der modernen Lebensform: mit dem geistigen Leben in der Großstadt,
mit der Wirkung des Geldes auf den Lebensstil, mit
der Mode, mit neuesten Strömungen in der Kunst
und in der Literatur, mit der aufkommenden Frauenbewegung. Simmel bezog die Interpretation von
Lebensformen in den wissenschaftlichen Aufbau der
Soziologie mit ein.
Diese Haltung ist vor allem aus seiner Stellung an
der Grenzscheide zweier Zeiten zu begreifen. Simmel
war einer der Repräsentanten des Augenblickes, in
dem das zentrale erkenntnistheoretische Paradigma
der Wissenschaft um die Jahrhundertwende, die
Transzendentalphilosophie Kants, zerbrach. Sie hatte
sich als unfähig erwiesen, „ ... die in das Zeitbewußtsein heraufdrängende neue Problematik einer Erkenntnis des Konkreten, des So-Seins der Dinge und
Individuen, des hinc et nunc des Lebens zu bewältigen“.2
Soziologie und modernes Leben
in der Reflexion von Georg Simmel
Simmels wissenschaftliche Fragestellung ging auf das
Problem zurück, die Lage des individuellen Lebens in
der modernen Gesellschaft mit soziologischen Kategorien zu thematisieren. Die materiellen Aspekte des
Lebens hatten in der Moderne erhebliche Fortschritte
erzielt; die Möglichkeiten der Individuen, sich in
ihrem Rahmen zu verwirklichen, blieben aber weitgehend hinter diesem Niveau zurück. Nachdem sich
die Individuen durch die Entwicklung der modernen
Gesellschaftsform von persönlichen Abhängigkeitsbeziehungen befreit hatten, profilierte sich schließlich
eine neue Problematik: Die Ausdifferenzierung der
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Persönlichkeit im Netz der sozialen Beziehungen des
Individuums stellte ihre Einheit in Frage. Der Individualität drohte die Spaltung ihrer öffentlich sozialen
Bereiche von ihren intimen und qualitativ unterschiedlichen Dimensionen. Der „Fragmentcharakter“
des Lebens erwies sich als grundlegend für die existentielle Lage der modernen Menschen. Konnte die
Soziologie den Zusammenhang und die Spannung
zwischen sozialen Beziehungsformen und individuellem Leben wissenschaftlich thematisieren?
Diese Frage war Simmel ein ständiger Antrieb,
seine Recherchen und Kategorien weiterzuentwikkeln. Dafür sollte sich aber seine soziologische Methodologie vom ihrem ursprünglichen „Soziologismus“ lossprechen. Die Prägung der Individuen durch
die sozialen Beziehungen war zwar ausschlaggebend
für das moderne Leben, dadurch wurden die nicht
vergesellschafteten Sphären der Persönlichkeit jedoch
nicht zu einem soziologisch irrelevanten Residuum.
Die Problematik der modernen Individualität konnte
also nicht bloß aufgrund der Kreuzung sozialer Kreise
erfaßt werden.
Simmel entwickelte ein theoretisches Modell, mit
dem er sowohl die vergesellschafteten als auch die
spezifisch individuellen Dimensionen der modernen
Lebensform soziologisch problematisieren konnte.
Dies tat er zuerst aufgrund des damals vorherrschenden Wissenschaftsparadigmas: der Transzendentalphilosophie Kants. Kant hatte die Kategorien der
Naturwissenschaften (Zeit, Raum, Kausalität usw.)
zur Grundlage aller menschlichen Erfahrung erhoben.
Was ihren erkenntnistheoretischen Kriterien nicht
entsprach, gehörte folglich zum Reich des Irrealen
und konnte kein Gegenstand philosophischer Reflexion werden. Dieses Instrumentarium erwies sich
jedoch als zu eng, der Vielfalt moderner Erfahrungsdimensionen (aufgrund ihrer Mannigfaltigkeit, ihrer
Ausdifferenzierung, ihres Rhythmus’) gerecht zu werden.
Damit stellte sich die Aufgabe, eine Theorie der
modernen Lebenserfahrung über das transzendentale
Paradigma hinaus zu entwickeln. Simmel nahm sie
durch die fortwährende Auseinandersetzung mit den
Autoren wahr, die sich in der Philosophie (Schopenhauer, Dilthey, Nietzsche) und in der Kunst (Goethe,
Rodin, Rembrandt) mit den Problemen des Lebens
befaßt hatten. Auf diesem Weg traf er später auch
auf Bergson.
Forschung an der Universität Bielefeld 18/1998
Henri Bergsons Philosophie des Lebens
Die gesamte Reflexion Henri Bergsons entstand aus
der Deutung der inneren Zeitlichkeit, der durée
réelle, die sich durch ihren Unterschied zur Wahrnehmung der äußeren Objekte der Erfahrung auszeichnete. Es waren für ihn zwei verschiedene
Bewußtseinsarten, die das menschliche Leben charakterisierten: die der räumlichen Gegenstände und
die der psychischen Zustände. Je tiefer man in das
Bewußtsein eindrang, desto wirrer und unbestimmter
war die Vielfalt seiner Inhalte, die sich nicht mehr
voneinander unterscheiden ließen wie in der räumlichen Wahrnehmung. Folglich konnte man die
Bewußtseinstatsachen nur aufgrund einer symbolischen Darstellung erfassen und nicht direkt einordnen und aufzählen. Dies erfolgte durch ihre „Verräumlichung“, so daß sie als homogen und voneinander abgetrennte Zustände dargestellt wurden. Eine
solche Projektion der psychischen Inhalte in räumliche Kategorien verlieh ihnen jedoch eine andere
Form als die, die sie in der unmittelbaren Apperzeption hatten. Der Empfindungsfluß des psychischen
Lebens erlebte so eine Umwandlung, die ihre Zeitlichkeit als durée nicht mehr zum Ausdruck brachte.
Dadurch ergab sich für Bergson eine Spaltung der
individuellen Erfahrung in zwei Realitäten unterschiedlicher Ordnung: die heterogene Wirklichkeit
der innerlichen Empfindungsqualitäten und die
homogene Wirklichkeit des äußerlichen Raumes. Die
letzte charakterisierte das Reich des praktischen
Lebens und erlaubte den Menschen, sprachlich zu
kommunizieren und vermöge der Intelligenz ihre
Bedürfnisse zu befriedigen. Mit der inneren Zeitlichkeit hatte sie jedoch nichts mehr zu tun, da die praktische Gewöhnung an die Raumvorstellung schließlich eine zweite Zeitkategorie ins Leben rief. Damit
war die Grundlage für die Verdoppelung der Zeiterfahrung in innere und äußerliche Zeitlichkeit gegeben, die für Bergson das Ich zu entzweien drohte, so
daß die Frage seiner Einheit eine zentrale Stelle in der
Philosophie des Lebens gewann. An ihren äußeren
Schichten kam die Subjektivität in Berührung mit der
externen Welt, von der sie den homogenen Charakter ihrer Inhalte übernahm, da dort die Empfindungen etwas von der gegenseitigen Abtrennung ihrer
äußerlichen Ursachen beibehielten. Dagegen charakterisierte sich das tiefere Bewußtsein als durée. Da
aber schließlich das Ich einheitlich war, dehnte sich
die symbolische Verwandlung immer mehr auf die
tieferen Bewußtseinszustände aus, so daß der Raum
nach und nach das Bewußtsein eroberte.
Forschung an der Universität Bielefeld 18/1998
Henri Bergson (1859 bis 1941) nach einer
Fotografie aus dem Jahre 1921. Bergson
wurde als Sohn einer jüdischen Familie in
Paris geboren. Seine ausgeprägte mathematische Begabung eröffnete ihm ein Studium
an der Ecole Normale Supérieure. Durch
frühe Arbeiten über das innere Zeitbewußtsein hat Bergson einen völlig neuen Weg
zur Deutung der Lebenserfahrung eröffnet.
Als er 1907 mit dem Buch „L'évolution
créatrice“ (Die schöpferische Entwicklung)
seinen Ansatz auf die Gesamtheit der
Lebensphänomene ausdehnte, wurde seine
Philosophie weltberühmt und als Durchbruch in eine neue Epoche der Geistesgeschichte begrüßt. 1928 erhielt er den
Nobelpreis für Literatur.
Dieser Prozeß der Verdichtung ließ sich für
Bergson bestens am Beispiel der Sprache zeigen, die
mit denselben Worten Empfindungen bezeichnete,
die sich ständig änderten. Eine Raumintuition gäbe
es auch, wenn die Menschen ganz individuell leben
würden, sie zeichnet sich jedoch als Schritt zum
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Teilnehmer des 2. Internationalen Philosophischen Kongresses , der im Jahre 1904 in
Genf stattfand. Derartige Kongresse hatte
es im 19. Jahrhundert noch nicht gegeben.
Auf dem Genfer Kongreß hatten deutsche
Philosophen erstmals persönlichen Kontakt
mit Henri Bergson (auf dem Foto in der
zweiten Reihe die fünfte Person von rechts
mit weißem Hut). So entstand die Idee,
Bergsons Werke ins Deutsche zu übersetzen.
Kultureller Austausch
im deutsch-französischen Kontext vor 1914
sozialen Leben aus. Sie trägt dazu bei, sich eine Welt
außerhalb der subjektiven Empfindung vorzustellen,
die ein gemeinsames Eigentum aller bewußten Wesen ist. Je mehr sich nun das soziale Leben vervollständigte, desto stärker war für Bergson der Strom,
der die Bewußtseinszustände von Innen nach Außen
zog und räumlich verdichtete. Damit versachlichte
sich das psychische Leben der Menschen fortwährend, so daß dieser Prozeß ihre Daseinslage maßgebend charakterisierte. Ihr gegenüber qualifizierte
sich schließlich die Philosophie des Lebens als Methode, die Objektivierung der Kultur kritisch zu hinterfragen und die intuitiven Grundlagen der Erkenntnis zu ergründen, die in der durée wurzeln.
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Simmel und Bergson hatten schon um die Jahrhundertwende verschiedene Möglichkeiten gehabt, sich
gegenseitig wahrzunehmen und die Ähnlichkeiten
ihrer Forschungsvorhaben – vor allem was die Kantkritik anging – festzustellen. Dies war dank des
transnationalen Charakters von Philosophie und
Soziologie vor 1914 möglich, der sich besonders
durch das Engagement der Schüler von Simmel und
Eucken (der heute so gut wie unbekannte Rudolf
Eucken gehörte vor 1914 zu den führenden Intellektuellen Europas) und der französischen Gruppierung
um die Revue de métaphysique et morale verwirklichte. Wie Hans Simmel berichtet, korrespondierte
sein Vater regelmäßig mit Bergson. Diese Korrespondenz ist jedoch leider während des Zweiten Weltkrieg vernichtet worden, so daß die Beziehung zwischen Bergson und Simmel nur anhand indirekter
Zeugnisse rekonstruiert werden kann. Was feststeht,
ist, daß beide eine bestimmte Überzeugung verband:
die Überzeugung, auf dem eigenen Gebiet das trans-
Forschung an der Universität Bielefeld 18/1998
zendentale Erkenntnisparadigma überwinden zu
müssen, um der Wirklichkeit des Lebens näher zu
kommen. Diese theoretische Nähe schlug sich unmittelbar in der Absicht nieder, die Werke des anderen
in die eigene Sprache übersetzen zu lassen. Der Austausch entwickelte sich dann zu einer Debatte über
die Grundlagen der Philosophie des Lebens weiter,
die beide beeinflußte und zur einer Rezeptionsgeschichte beitrug, die sich bis in die zwanziger Jahre
hinein erstreckte. Der Ausbruch des ersten Weltkriegs setzte der persönlichen Beziehung zwischen
Bergson und Simmel ein Ende, da sich beide patriotisch engagierten und es ihnen nicht gelang, eine
transnationale Kommunikation aufrechtzuerhalten.
Mit Simmels Tod am 26. September 1918 ging auch
die Möglichkeit verloren, den Kontakt nach dem
Krieg wieder aufzunehmen.
Das lebensphilosophische Paradigma
als Grundlage der Soziologie
Was auf der persönlichen Ebene wegen des Krieges
nicht mehr denkbar war, ging jedoch auf der theoretischen Ebene weiter. Simmel baute zwischen 1914
und 1918 seinen soziologischen Ansatz zu einer allgemeinen Kultursoziologie auf lebensphilosophischer
Basis aus. Bergson veröffentlichte erst 1932 sein letztes Buch über Moral und Religion. Dieses entstand
unter Einflüssen, die mit der komplexen Kulturgeschichte der zwanziger Jahren zu tun haben, fand
aber im unterbrochenen Dialog mit Simmel einen
wichtigen Ausgangspunkt. Die späte Simmelsche
Lebensphilosophie zeichnete sich als Antwort auf
den Bergsonschen Dualismus zwischen durée und
Raum aus: Hier löste sich der Konflikt zwischen
Leben und Formen in dem zyklischen Prozeß des
Lebens auf. Dies galt auch für die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Soziologie
konnte dem Leben insofern nützlich sein, indem sie
auf die Umstände hinwies, unter denen sich die Individualität trotz der gesellschaftlichen Zwänge der
Moderne bilden konnte.
Als letztes Ergebnis des transnationalen Austauschs zwischen Soziologie und Lebensphilosophie
übergab Simmel sein letzes Buch „Die Lebensanschauung“ der Nachwelt.
Gregor Fitzi ist in Florenz
geboren und aufgewachsen
und Schweizer Bürger. Er hat
an der UniversitB degli Studi
di Firenze und an der Freien
Universität Berlin Philosophie, Soziologie und Geschichte studiert und 1992
mit einer Magisterarbeit
„Zur Geschichte des Gemeinschaftsbegriffs in Deutschland zwischen Ferdinand
Tönnies, Max Weber und
Hans Freyer“ seinen Studienabschluß (Laurea) in Philosophie erreicht. 1994/95 hatte
er ein Stipendium der
Schweizer Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften zum Thema „Die Institutionentheorie in der zeitgenössischen philosophischen Anthropologie und das
Erbe der deutschen klassischen Soziologie“.1995/96
arbeitete er in Bielefeld an
der Georg-Simmel-Gesamtausgabe mit; er ist Mitherausgeber des 16. Bandes.
Seit 1996 führt Gregor Fitzi
das Projekt „Zum Nutzen
und Nachteil der Soziologie
für das Leben“durch, eine
Untersuchung über die intellektuelle und persönliche
Beziehung zwischen Georg
Simmel und Henri Bergson.
Dieses Projekt wird von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert und ist
von Prof. Dr. Otthein Rammstedt von der Fakultät für
Soziologie der Universität
Bielefeld beantragt worden.
1 Elie Halévy: Correspondance 1891–1937,
Hrsg. H. Guy-Loe, Paris, Edition de Fallois,
1996, S. 165
2 Margarete Susman: Die geistige Gestalt
Georg Simmels, Tübingen, Mohr, 1959, S. 3
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