2 Indikationen zur Urinzytologie

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2
2 Indikationen zur Urinzytologie
P. Rathert, S. Roth
2.1
Einleitung
– 10
2.2
Ursachen des weiten Indikationsspektrums der Urinzytologie – 10
2.2.1 Urinzytologie als flächendeckende Urotheldiagnostik
– 10
2.2.2 Hohe Treffsicherheit der konventionellen Urinzytologie (High grade)
2.2.3 Therapiekontrolle nach operativer Therapie – 11
2.2.4 Urinzytologie und Hämaturie
– 12
2.2.5 Urinzytologie und Medikamentenabusus
– 12
2.2.6 Urinzytologie und Karzinogenexposition
– 12
2.2.7 Sonstige Indikationen zur Urinzytologie
– 13
P. Rathert, S. Roth, Urinzytologie,
DOI 10.1007/978-3-662-44779-6_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2007
– 10
10
Kapitel 2 · Indikationen zur Urinzytologie
Einleitung
2.1
2
Die Krebsstatistiken nicht nur der industrialisierten Regionen belegen eine weiter zunehmende Inzidenz urothelialer Tumoren (7 Kap. 4).
Als wesentliche Voraussetzungen für eine effektive
Therapie gilt auch bei diesen Malignomen eine frühzeitige Diagnosestellung des Primär- wie auch des Rezidivtumors (. Übersicht 2.1). Deshalb kommt der Urinzytologie als nichtinvasiver Untersuchungsmethode eine
herausragende Bedeutung zu.
Übersicht 2.1. Indikationen zur Urinzytologie
4
4
4
4
4
4
4
4
Mikro- und Makrohämaturie
Ungeklärte Algurie
Ungeklärte Dysurie
Urotheltumor:
– Verdacht
– primäre Diagnostik
Postoperative Urotheltumornachsorge:
– nach transurethraler Tumorresektion
– Verlaufskontrolle der Instillationstherapie
– Spülzytologie des Urethrastumpfes nach
Zystektomie
– nach supravesikaler Harnableitung
– nach Anlage einer Darmersatzblase
Screening von Risikopatienten:
– Analgetika (Phenacetin) Abusus
– berufliche Kanzerogenexposition
– Nikotinabusus
– nach Strahlentherapie im pelvinen Bereich
(gynäkologische Tumoren, Prostatakarzinom)
Verdacht auf vesikoenterale Fisteln
Penetrierend wachsende extraurologische
Tumoren
2.2
Ursachen des weiten Indikationsspektrums der Urinzytologie
2.2.1
Urinzytologie als flächendeckende
Urotheldiagnostik
Da mehr als 95% aller urothelialen Karzinome an der
Schleimhautoberfläche entstehen, werden sie durch die
Abschilferung (Exfoliation) von Tumorzellen in den Urin
nachweisbar. Bedeutsam ist dieser flächendeckende Aspekt der Urinzytologie insbesondere bei Dysplasien, flach
wachsenden Tumorarealen und dem Carcinoma in situ,
die einer endoskopischen, uroradiologischen und punktuell-bioptischen Diagnostik entgehen (. Abb. 2.1).
2.2.2
Hohe Treffsicherheit der konventionellen Urinzytologie (High grade)
Mit der konventionellen Urinzytologie können etwa 70%
aller Urothelkarzinome diagnostiziert werden (Esposti
et al. 1978, Murphy et al. 1986, Rübben et al. 1989, Koss
2006).
Diese rein numerisch zunächst relativ niedrig erscheinende Treffsicherheit geht hauptsächlich zu Lasten der
biologisch wenig aggressiven, hochdifferenzierten Urotheltumoren, die in weniger als 50% der Fälle erkannt werden.
Die von diesen Tumoren exfoliierten Zellen haben häufig
nur geringe morphologische Malignitätskriterien im
Sinne einer fehlenden Pathoanatomie. Zudem ist diese
Unterscheidung von reaktiv bedingten Zellveränderungen
infolge von Infekten oder Steinen ebenso wenig möglich
wie eine Differenzierung gegenüber leichten Urotheldysplasien. Letztere haben jedoch für den Patienten keinen
Krankheitswert (Jakse et al. 1986). Da die hochdifferenzierten Urotheltumoren in weniger als 2% invasiv wachsen (Seitz et al. 2005) und als Exophyten einfach zu diagnostizieren sind, hat die unzureichende Treffsicherheit
der konventionellen Urinzytologie bei diesen Tumoren
keine wesentliche klinische Bedeutung (Murphy 2006).
Dagegen ist die Tumorerkennungsrate, d. h. die Sensitivität der konventionellen Urinzytologie bei den häufig
invasiv wachsenden mittelgradig (G II) und entdifferenzierten Urotheltumoren (High grade) sehr hoch. Sie beträgt
für die entdifferenzierten Urotheltumoren 85‒90% und für
das Carzinoma in situ nahezu 100% (Jakse et al. 1986, Koss
2006, Murphy 2006). Die Spezifität, also der Prozentsatz
richtig negativer Befunde, liegt zwischen 78 und 95%.
Die klinische Relevanz der hohen Sensitivität der konventionellen Urinzytologie bei entdifferenzierten Urotheltumoren lässt sich exemplarisch anhand des Carcinoma in
situ aufzeigen (. Abb. 2.1). Diese Wuchsvariante des Urothelkarzinoms kann als Begleitkarzinom hochdifferenzierter Tumoren auftreten und bedingt im weiteren Verlauf eine deutlich verschlechterte Prognose (Althausen et
al. 1976). Da das Carcinoma in situ jedoch klinisch fast
stumm ist und der (Weißlicht-)Zystoskopie meist entgeht,
kommt der über 90%igen zytologischen Erkennungsrate
eine wegweisende Bedeutung zu. Als Konsequenz einer
entsprechenden präoperativen zytologischen Diagnose
müssen bei der Tumorresektion multiple Biopsien der
Blasenschleimhaut unabhängig von dem primär sichtbaren, exophytischen Tumorareal entnommen und eine
subtile Abklärung der oberen Harnwege vorgenommen
werden. Umgekehrt kann eine routinemäßig durchgeführte Biopsie im Rahmen einer Tumorresektion keinesfalls die zytologische Zusatzdiagnose ersetzen, da im Vergleich zu der flächendeckenden Zytologie mit der Biopsie
nur ein geringer Prozentsatz des Urothels erfasst wird.
11
2.2 · Ursachen des weiten Indikationsspektrums der Urinzytologie
. Abb. 2.1. Während zystoskopisch lediglich die exophytischen Tumoren zu identifizieren sind, können mit der Urinzytologie auch
exfoliierte Zellen flach wachsender Dysplasien und/oder Karzinome diagnostiziert werden. (Modifiziert nach Hofstädter)
Harving et al. (1988) konnten zeigen, dass die Zytologie
ein gleichzeitig bestehendes Carcinoma in situ sensitiver
als multiple Biopsien erkennt.
2.2.3
Therapiekontrolle nach operativer
Therapie
Die Verlaufskontrolle operativ behandelter Urotheltumoren variiert entsprechend der Vielfältigkeit der möglichen operativen Verfahren. Das Spektrum reicht von
der Urinzytologie nach transurethraler Blasentumorresektion hinsichtlich eventueller Residual- oder Rezidivtumoren in der Blase und im oberen Harntrakt über die
Urethraspülzytologie nach radikaler Zystoskopie bis zur
zytologischen Kontrolle nach erfolgter supravesikaler
Ableitung oder Anlage einer Darmersatzblase.
Urinzytologie nach transurethraler
Tumorresektion
Eine transurethrale Tumorresektion führt zu deutlichen
reaktiv-degenerativen Urothelveränderungen, die eine
zytologische Beurteilung erschweren. Obwohl bereits
3 Tage nach einer Blasentumorresektion evtl. verbliebene Tumoren zytologisch zu erkennen sind (Müller et
al. 1985), hat sich ein zeitliches Intervall von mindestens
7 Tagen zwischen Operation und zytologischer Kontrolle zur Optimierung der Lesbarkeit der Präparate und zur
Erhöhung der Treffsicherheit bewährt.
Urinzytologie des Urethrastumpfes
nach Zystektomie und Darminterponaten
Die Inzidenz eines Rezidivkarzinoms des Urethrastumpfes nach erfolgter radikaler Zystektomie beträgt 4%
(Cordonnier u. Spjut 1962) bis 18% (Gowing 1960).
Da die Heilungschance der Rezidivtumoren des
Urethralstumpfes mit dem Auftreten einer klinischen
Symptomatik gering ist (Schellhammer u. Whitemore
1976), wurde immer wieder die prophylaktische Urethrektomie in Kombination mit der Zystektomie gefordert.
Da sich dieses Vorgehen jedoch nur bei speziellen Indikationen wie beim Carcinoma in situ etablieren konnte,
stellt sich das Problem einer effektiven Nachsorge. Die
ungenügende Sensitivität der Urethroskopie als ausschließlicher Nachsorgemaßnahme zeigten Schellhammer u. Whitemore (1976), die nur die Hälfte der 24 Rezidivtumoren endoskopisch erkannten.
Somit kommt der Spülzytologie der Urethra – auch
unter dem Aspekt der minimalen Invasivität – eine
wichtige Bedeutung zu. Obwohl die Beurteilung der zytologischen Präparate aufgrund der reaktiven Veränderungen infolge Spülirritationen mitunter schwierig ist,
hat sie sich als effektiv erwiesen (Hermansen el 1988).
Rein technisch sollte eine Spülung mittels eines
dünnlumigen Einmalkatheters gegenüber einer externen Olivenapplikation im Meatus-urethrae-Bereich bevorzugt werden, um genügend Zellmaterial aus dem
relevanten Bereich der proximalen Urethra zu erhalten
(7 Kap. 7).
2
12
Kapitel 2 · Indikationen zur Urinzytologie
Hinweis
2
Nach supravesikaler Harnableitung oder Anlage
einer Darmersatzblase sollte mindestens einmal
jährlich eine urinzytologische Untersuchung erfolgen.
Urinzytologie während intravesikaler
Chemo-/Immun-Prophylaxe
Die durch die intravesikale Chemo- bzw. Immuntherapie bedingten reaktiven zytomorphologischen Veränderungen erschweren eine zytologische Verlaufskontrolle
erheblich (Roth u. Rathert 1989). Sie stellt jedoch nicht
nur in Anbetracht des Mangels sonstiger nicht invasiver
Maßnahmen eine wichtige Indikation der onkologischen
Urinzytologie dar.
! Die bisher eingeführten urinzytologischen
Marker (7 Kap. 9) sind in dieser Situation kontrainidiziert.
In einer Verlaufsstudie bei 65 mit BCG instillierten Patienten zeigten Bretton et al. (1989), dass die Tumorfreiheit (Spezifität) bei 36 Patienten 3 Monate nach Therapie von der konventionellen Zytologie in 81% (29/36)
der Fälle richtig erkannt wurde. Die parallel durchgeführte Durchflusszytometrie als automatisches Bildanalyseverfahren erreichte lediglich eine Spezifität von 56%
(20/36).
2.2.4
Urinzytologie und Hämaturie
Eines der häufigsten diagnostischen Probleme, mit dem
der Urologe konfrontiert wird, ist die Hämaturie (7 Kap.
10). Problematisch ist weniger die Makrohämaturie des
älteren Patienten, die obligatorisch als Signum male
ominis betrachtet werden muss und einen sorgfältigen
Karzinomausschluss erfordert, sondern vielmehr die
persistierende Mikrohämaturie insbesondere jüngerer
Patienten.
Hinweis
Warum ist die konsequente Nutzung der Urinzytologie im Rahmen der Hämaturieabklärung
sinnvoll?
4 Nur mittels der mikroskopischen Analyse gelingt
die Unterscheidung zwischen einer »echten«
und einer »scheinbaren«, z. B. durch Farbstoffe,
Medikamente oder einer Hämolyse bedingten
Hämaturie.
6
4 Die Hämaturie ist unabhängig von der Ausprägung (Mikro- oder Makrohämaturie) das
führende Leitsymptom urothelialer Karzinome.
Aufgrund der Exfoliation von Tumorzellen in den
Urin und der hohen Treffsicherheit ihres zytologischen Nachweises sollte die Urinzytologie die
Standarduntersuchung bei der Hämaturieabklärung sein, wie dies in den Leitlinien der Amerikanischen Gesellschaft für Urologie bereits berücksichtigt ist.
4 Eine glomeruläre Blutungsgenese ist aufgrund
charakteristischer Veränderungen der Erythrozytenmorphologie urinzytologisch mit einer
über 90%igen Sensitivität und Spezifität diagnostizierbar. Eine Beurteilung ist im Rahmen
der onkologischen Urinzytologie ohne spezielle
Färbe- oder Mikroskopieeinrichtungen möglich
(7 Kap. 10).
2.2.5
Urinzytologie
und Medikamentenabusus
Die ersten Berichte aus Schweden im Jahre 1969 über den
Zusammenhang zwischen chronischem Analgetikaabusus und Urotheltumoren des Nierenbeckens wurden
skeptisch aufgenommen (Rathert et al. 1975). Zahlreiche
kasuistische, pharmakologische und epidemiologische
Studien haben jedoch zeigen können, dass insbesondere
ein exzessiver Phenacetinabusus (mehr als 5 kg) nicht nur
zu renalen Papillennekrosen führt, sondern insbesondere
auch für die Induktion eines Urothelkarzinoms nach einer
mittleren Latenzzeit von 22 Jahren verantwortlich sein
kann (Rathert et al. 1975, Porpaczy u. Schramek 1981).
Obwohl inzwischen Phenacetin als Zusatz zu Analgetikamischpräparaten untersagt wurde, bleibt die urinzytologische Kontrolle von Patienten mit zurückliegendem
Abusus auch in Zukunft erforderlich. Zudem muss abgewartet werden, inwiefern ein Austausch des Phenacetins
gegen Paracetamol eine Problemlösung darstellt, da dem
Paracetamol nahezu alle Metabolisierungswege des Phenacetins offenstehen (Rathert 1987).
2.2.6
Urinzytologie
und Karzinogenexposition
Seit Ludwig Rehn 1895 auf den Zusammenhang zwischen
papillären Blasentumoren und einer Exposition mit Anilinfarbstoffen hinwies, wird die Frage möglicher exogener
und endogener Karzinogene im Urin geprüft (7 Kap. 4).
13
2.2 · Ursachen des weiten Indikationsspektrums der Urinzytologie
Als sog. exogene Karzinogene urothelialer Tumoren
sind die aromatischen Amine Alphanaphtylamin und
Paraaminodiphenyl, die aus Intermediärprodukten in
der Farbstoff-, Textil-, Leder- und Gummiindustrie entstehen, bekannt.
Diese Tatsache hat zu der Anerkennung des Blasentumors als Berufskrankheit bei einer Tätigkeit in entsprechenden Betrieben geführt. Konsequenterweise werden
von den Berufsgenossenschaften als arbeitsmedizinische
Vorsorgeuntersuchungen bei Personenkreisen, die regelmäßig aromatischen Nitro- oder Aminoverbindungen
ausgesetzt sind, zytologische Untersuchungen des Urinsedimentes vorgeschrieben (G 33-Berufsgenossenschaftliche Grundsätze 1981). Diese sollen je nach Vorbefund
alle 6‒12 Monate durchgeführt werden.
Eine erhöhte Inzidenz an Urotheltumoren bedingt
auch ein erhöhter Zigarettenkonsum. Weiterhin bedürfen
Patienten nach Chemotherapie, Strahlentherapie im Beckenbereich (gynäkologische Tumoren, Prostatakarzinom) einer langjährigen Kontrolle (7 Kap. 4).
2.2.7
Sonstige Indikationen
zur Urinzytologie
Vesikoenterale Fisteln
Der diagnostische Nachweis vesikoenteraler Fisteln ist
oftmals schwierig. Trotz eleganter uroradiologischer
Verfahren (Roth u. Rathert 1988) kann die Urinzytologie
hilfreich sein, da auch zystoskopisch in maximal 40%
eine Fistellokalisation gelingt. Typischerweise findet
man neben allgemein entzündlichen Urinbestandteilen
viele koliforme Bakterien und Faserbestandteile aus unverdauten pflanzlichen Essensresten und gelegentlich
auch Darmepithelien.
Penetrierend wachsende extraurologische
Tumoren
Auch wenn die Differenzierung nichturothelialer maligner Zellen urinzytologisch kaum möglich ist, können
im Falle eines extraurologisch penetrierend wachsenden
Tumors zumindest pathologisch verdächtige Zellen erkannt werden. In Einzelfällen können hieraus Rückschlüsse auf therapeutische Konsequenzen gezogen werden.
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