MEDIZIN KURZBERICHT rich Langencec Umwelt und Erbe in der Entstehung des Brustkrebses Ein Exkurs in Tumor Giologie unc molekularer Medizin A n bösartigen Neubildungen der Brustdrüse sind im Jahr 1992 in Deutschland 18 343 Frauen verstorben, 173 von ihnen waren jünger als 35 Jahre. Die Zahl der Neuerkrankungen betrug 1991 in den alten Bundesländern etwa 34 600. Diese hohe Inzidenz und Sterblichkeit belegen die enorme soziale Bedeutung dieser Krankheit. Deshalb und wegen der bekannten säkularen Zunahme des Brustkrebses ist es nur zu verständlich, wenn Umweltfaktoren, besonders Umweltgifte, als mögliche Ursache in der öffentlichen Diskussion überwiegen. Gegenüber chemischen, physikalischen und infektiösen Noxen als mögliche Krebsursachen hat Vererbung im medizinischen Denken traditionell eine untergeordnete Rolle gespielt. Zwar zitierte K. H. Bauer (1963) in der 2. Auflage seines Buches „Das Krebsproblem" die Arbeiten von F. Vogel über das Retinoblastom, er resümierte aber dann recht apodiktisch: „ Gegenüber den im ganzen seltenen Formen von Krebsen, bei denen die Vererbung mit hereinspielt, ist für die große Mehrzahl der Krebsarten eine wesentliche Mitwirkung der Vererbung abzulehnen und die weit überwiegende Bedingtheit durch äußere Faktoren anzunehmen." Diese aus heutiger Sicht etwas überzogene Schlußfolgerung war auch methodisch bedingt: Erblichkeit wurde angenommen, wenn eineiige Zwillinge (EZ) um ein Mehrfaches häufiger gemeinsam erkrankten als zweieiige (ZZ). Dies ist beim Brustkrebs für EZ und ZZ mit zum Beispiel zwölf Prozent und zehn Prozent bei jüngeren oder 28 Prozent und zwölf Prozent bei älteren Frauen nicht gegeben und war auch bei anderen, damals untersuchten Malignomen eindeutig nicht der Fall. So erbrachte dieses (damals) „feinste Reagens der Humangenetik geradezu den Gegenbeweis gegen eine Überschätzung der Vererbung bei der Krebsentstehung." Die Häufung einer Krebsform in Familien ist a priori kein Beweis für die Wirkung von Genen, da Familienmitglieder nicht nur gemeinsame Gene, sondern in der Regel auch eine gemeinsame Umwelt haben. Andererseits schließt die Zunahme des Brustkrebses zum Beispiel bei den Nachfahren von Japanerinnen, die in die USA einwanderten, die Beteiligung prädisponierender Gene nicht grundsätzlich aus. So ist auch die jetzt beobachtete epidemieartige Zunahme des Diabetes mellitus in Populationen, die in vielen Generationen von Hungersnöten bedroht waren, kein Hinweis auf fehlende Bedeutung von Erbfaktoren. Vielmehr gibt es Hinweise, daß der Prädiabetes als „sparsamer Genotyp" • das Überleben der Menschen unter solchen Mangelbedingungen begünstigte. Erbe und Umwelt wirken niemals isoliert voneinander. Nach Zwillingsforschung, Stammbaumanalysen und genetischer Epidemiologie hat schließlich und endgültig die massive Empirie der Kopplungsanalyse mit hochpolymorphen DNAMarkern in Risikofamilien den Beweis erbracht, daß auch mehrere häufige Erbanlagen zum Brustkrebs prädisponieren. Daher ist nun erstmals eine ausgewogenere Diskussion der Einflüsse von Umwelt und Erbe bei der Entstehung dieses Malignoms möglich. Epidemiologie Das Ziel epidemiologischer Studien ist es, äußere nichtgenetische Ursachen für den Brustkrebs zu finden. Die herausragenden und erklärungsbedürftigen Phänomene sind hierbei die Zunahme in der westlichen Welt in den vergangenen 50 Jahren, verInstitut für Humangenetik (Direktor: Prof. Dr. med. Ulrich Langenbeck) Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt A-2408 (54) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 37, 15. September 1995 stärkt noch einmal im letzten Jahrzehnt, und die erheblichen Häufigkeitsunterschiede in den verschiedenen Ländern und Kulturen der Erde (9, 17). Im Staat Connecticut hat die altersstandardisierte Inzidenz des Brustkrebses von etwa 50 von 100 000 im Jahr 1940 auf über 100 im Jahr 1988 zugenommen. Eine solche Verdoppelung der Inzidenz wurde zwischen 1950 und 1980 auch in Island gefunden. Die Mortalität ist seit 1950 nahezu unverändert, etwa 30 von 100 000. Wenn der beobachtete steilere Anstieg der Inzidenz in den 80er Jahren durch bessere Frühdiagnostik wegen vermehrter Inanspruchnahme der Mammographie bedingt wäre, dann müßte die Mortalität jetzt deutlich abnehmen. Diese Frage wird in den nächsten Jahren zu klären sein. Anders als in der öffentlichen Diskussion wird in der Forschung nicht Umweltbelastungen, sondern hormonellen Faktoren und hiermit zum Teil verknüpften Faktoren des Lebensstils eine herausragende Rolle bei der Erklärung der genannten Trends beigemessen. Die Rolle der Östrogene erhellt direkt aus der Beobachtung, daß Frauen, die vor der Menopause ovariektomiert wurden, nur halb so oft erkranken wie Frauen mit natürlicher Menopause, und daß Frauen mit natürlicher Menopause nach dem 55. Lebensjahr doppelt so häufig erkranken, wie Frauen mit Menopause vor dem 45. Jahr. Die Zeitdauer der Östrogenwirkung auf das BrustdrüsengangEpithel kann nicht nur die regionalen Unterschiede, sondern auch den säkularen Trend erklären. Während in östlichen Kulturen die Menarche zum Teil auch heute noch sehr spät, mit 17 bis 18 Jahren, einsetzt, ist sie in der westlichen Welt kontinuierlich auf etwa zwölf Jahre zurückgegangen. Hier hat außerdem das mütterliche Alter bei der ersten Geburt im- MEDIZIN KURZBERICHT mer mehr zugenommen, und es ist unbestritten, daß frühe Menarche und späte erste vollständige Schwangerschaft neben völliger Kinderlosigkeit die praktisch bedeutsamsten externen Risikofaktoren sind. Der Trend zu einer späten ersten Geburt ist durch die oralen Kontrazeptiva verstärkt worden, so daß man deren eventuell eigene, aber kontrovers diskutierte Rolle (15) bei der Zunahme des Brustkrebses erst nach weiteren langj ährigen Verlaufsbeobachtungen wird beurteilen können. Auch eine Rolle der vorgeburtlichen Östrogenexposition wird diskutiert, denn bei einer Präeklampsie der Mutter (mit sehr niedrigen mütterlichen Östrogenspiegeln) wurde bei den Töchtern eine 50prozentige Minderung des Brustkrebsrisikos gefunden. Eine besonders komplexe Verknüpfung von Variablen muß für die Beobachtung angenommen werden, daß die Inzidenz des Brustkrebses in verschiedenen Ländern positiv und signifikant mit der mittleren Körpergröße in diesen Ländern korreliert ist. Zusammen mit den genannten endokrinologischen Korrelaten kann vermutet werden, daß der lebenslang wirkende Umweltfaktor „Energiebilanz" im Zentrum des Ursachengefüges für säkularen Anstieg und nationale Unterschiede steht. So tritt auch innerhalb einer Population der Brustkrebs häufiger bei mageren und großen als bei kleinen Frauen auf. Wesentliche und gleichzeitig vermeidbare Umweltfaktoren konnten (außer hoher Strahlenexposition) für den Brustkrebs bisher nicht gesichert werden. Der Fettgehalt der Nahrung, oder Herbizide, Haarfärbemittel und Dioxine sind ohne erkennbaren, mäßiger Zigaretten- und Alkoholkonsum ohne wesentlichen Einfluß. Dagegen sind Stadtleben und hoher Sozialstatus etablierte, die genannten Einflüsse zum Teil widerspiegelnde Risikofaktoren. Empirische Risiken In gleicher Weise unausweichlich wie die in Lebensstil und Kultur begründeten Risikofaktoren waren bisher die Risiken, die sich aus der zum Teil erheblichen Häufung des Brust- krebses in Familien von fünf bis zehn Prozent der Patientinnen ergeben und die bedeutsamer sind als das Alter bei der ersten Geburt und bei der Menopause. Ohne Kenntnis des Anteils erblicher Fälle, des Vererbungsmodus und der Zahl der involvierten Gene kann das individuelle Risiko nur aus empirisch erhobenen Daten bestimmt werden. Seit 1983 sind solche Daten mehrfach mitgeteilt worden, und es wurden als wichtigste Risikofaktoren die Zahl der betroffenen Verwandten ersten Grades und deren Alter bei der Erkrankung erkannt. Eine zusätzliche Rolle des beidseitigen Betroffenseins (synchron oder metachron) wird widersprüchlich beurteilt. Die letzte bisher publizierte empirische Studie (2) beruht auf 4 730 Patienten mit zumeist invasiven Tumoren und 4 688 Kontrollen. Gefragt wurde nur nach betroffenen Verwandten ersten Grades und deren Erkrankungsalter. Die Risikoziffern resultieren aus einer Modellrechnung mit den Annahmen, daß die meisten Patienten kein prädisponierendes Allel tragen und daß dieses Allel im heterozygoten Zustand nicht nur die allgemeine Suszeptibilität, sondern gleichzeitig auch das (angenommen normalverteilte) Erkrankungsalter bestimmt. Das Modell erscheint robust und erklärt die erhobenen Daten für Verwandte ersten Grades. Zudem erlaubt es das Auffüllen fehlender Daten, zum Beispiel auch der betroffenen Verwandten zweiten Grades. Die publizierten kumulativen Erkrankungswahrscheinlichkeiten von 29 bis 79 Jahren gestatten eine Abschätzung des Risikos von gesunden Frauen, bis zu einem gegebenen Alter noch zu erkranken. Für eine 35jährige gesunde Frau zum Beispiel, deren Mutter in diesem Alter erkrankte, ist das Risiko immer noch elf Prozent, in den nächsten 35 Jahren ebenfalls zu erkranken. Wenn zusätzlich auch eine Schwester im gleichen Alter erkrankt war, steigt dieses Risiko auf 33 Prozent. Das allgemeine Lebensrisiko von etwa neun bis zehn Prozent wird nicht mehr überschritten, wenn eine Verwandte ersten Grades älter als 50 Jahre war, oder wenn zwei Verwandte ersten Grades beide nach dem 70. Lebensjahr erkrankten. A-2410 (56) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 37, 15. September 1995 Solche Zahlen können jedoch nur einen allgemeinen Rahmen bieten, denn das Risiko wird im Einzelfall unter anderem durch gutartige Brusttumoren, abhängig vom histologischen Typ, und durch Fälle von Eierstockkrebs in der Familie erhöht. Ein verläßliches individuelles Risiko wird daher erst dann angegeben werden können, wenn alle Suszeptibilitäts-Gene bekannt sind und wenn in den zu beratenden Familien auch die verursachenden Mutationen gefunden wurden. Dem Auffinden dieser Gene können Zytogenetik, Tumorzytogenetik, molekulare Analyse von Heterozygotieverlust in Tumoren, molekulare Aufklärung von monogen vererbten Syndromen mit unter anderem erhöhtem Brustkrebsrisiko und Kopplungsanalysen in Risikofamilien dienen. Zytogenetik und rumorzytogenetik Konstitutionelle familiäre Translokationen, deren balancierte Träger in der Familie regelmäßig von einer monogen dominant vererbten Krankheit betroffen sind, weisen den Weg zur Position des verursachenden Gens und erlauben dessen Isolierung. Ein besonders bekanntes Beispiel für diesen modernen Weg der Genisolierung durch sogenanntes „positional cloning" ist die Neurofibromatose Typ 1 (NF1): Richtungweisend waren zwei Familien mit NF1 und Translokation t(1; 17) (p34.3; q11.2), oder t(17; 22) (q11.2; q11.2). Solche wiederkehrenden Translokationen sind beim familiären Brustkrebs bisher noch nicht gefunden worden. Die klassische Tumorzytogenetik hat bisher beim Brustkebs keinen Beitrag zur Aufdeckung onkogenetischer Mechanismen geleistet. Mikroskopisch erkennbare primäre Anomalien sind der Verlust eines Chromosoms 17 und eine Verdoppelung von Teilen des langen Armes von Chromosom 1. In den bisher etwa 100 untersuchten Tumoren wurde eine verwirrende Vielzahl von sekundären numerischen und strukturellen Chromosomenanomalien ge- MEDIZIN KURZBERICHT funden. Bei den Translokationen überwiegen Brüche in den Zentromerbereichen. Brüche und Deletionen sind häufig im Bereich konstitutioneller fragiler Stellen und außerhalb von diesen vor allem in der Region 1p13, aber auch unter anderem in den Regionen 1q23, 6q16, 6q23 und 16q21 (11). Heterozygotieverlust im Tumor Gewissermaßen eine verfeinerte Version der Zytogenetik solider Tumoren ist die Erfassung eines Verlustes von konstitutioneller Heterozy- le Orte mit LOH, die zum Teil mikroskopisch erfaßten Deletionen entsprechen, liegen beim Brustkrebs unter anderem auch in fünf Regionen des Chromosoms 17. Eine dieser Regionen betrifft den Tumorsuppressor TP53 in 17p13.1. Dieses Gen (1) ist als Keimbahnmutation für etwa die Hälfte der Fälle des erstmals 1969 beschriebenen, dominant vererbten Li-Fraumeni-Syndroms (LFS) verantwortlich. Patienten mit LFS erkranken schon im Kindesalter unter anderem an Weichteilsarkomen, Hirntumoren und Leukämien, und etwa 30 bis 60 Prozent der Frauen mit LFS erkranken zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr an Brustkrebs. Kumulative Malignom-Risiken* BRCA1-Heterozygote Alter (J.) 40 50 60 70 Brust 17 45 55 59 Kontrollen Brust und Ovar 23 58 76 85 Brust 0,5 2 4 7 *Angaben in Prozent für BRCA1-Heterozygote und Kontr llen gotie (loss of heterozygosity, LOH) im Genom der Tumorzellen mit molekularen Methoden. Gedankliches Fundament dieses Forschungsansatzes ist die Zweischritt (two hit)-Hypothese der Tumorgenese von Knudson, die zuerst durch die molekulare Analyse von Retinoblastomen glänzend bestätigt wurde (13): Der erste Schritt auf dem Weg zum Tumor ist eine ererbte (oder eine somatische) Mutation in dem einen Allel des Rb-Gens. Sie läßt die Zellfunktion noch unbeeinträchtigt. Der zweite Schritt, der Verlust des Normallels, zum Beispiel durch eine submikroskopische Deletion, hinterläßt das mutierte Allel im hemizygoten Zustand, die Zelle ist dadurch zur Krebszelle geworden. Die Suszeptibilität wird also dominant vererbt, der maligne Phänotyp aber ist rezessiv. Submikroskopische DNA-Verluste auf jeweils einem der Chromosomenpaare signalisieren die Lokalisation eines für die Tumorprogression pathogenetisch bedeutsamen Gens (7). Wesentliche chromosoma- Etwa ein Prozent der Fälle von Brustkrebs vor dem 40. Lebensjahr sind Folge des LFS. Brustkrebs als komplexes genetisches Merkmal Im Gegensatz zu klinisch gut definierten und durch einfachen Erbgang ausgezeichneten Syndromen, wie zum Beispiel LFS, ist der familiär gehäufte Brustkrebs ein sogenanntes „Komplexes Merkmal" (complex trait), an dessen Ausprägung, wie geschildert, Erbe und Umwelt in enger Wechselwirkung beteiligt sind. Andere Beispiele eines komplexen Merkmals sind Hypertonie (14) und Alzheimersche Erkrankung (12). Um bei solchen komplexen Familienmerkmalen dennoch die Methoden der Kopplungsanalyse anwenden zu können, bedarf es einer sehr genauen Definition des Phänotyps, der in die Untersuchungen einbezogen werden soll. Typischerweise werden hierfür aus dem Spektrum möglicher Manifestationen die extremen A-2412 (58) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 37, 15. September 1995 Ausprägungen, zum Beispiel besonders hoher Blutdruck oder besonders frühes Erkrankungsalter, ausgewählt, weil bei ihnen der Einfluß erblicher Faktoren überwiegt. Beim Brustkrebs sind solche extremen Ausprägungen invasives Tumorwachstum, frühes Erkrankungsalter und gesicherte Erkrankung einer größeren Zahl von Verwandten in mehreren Generationen. Dieser Ansatz führte in 23 erweiterten Familien mit 146 Patienten mit 329 kooperierenden Verwandten im Dezember 1990 zum Nachweis, daß mit einer Wahrscheinlichkeit von 106:1 ein Brustkrebs-Gen in der Region 17q21 lokalisiert ist. In Erwartung weiterer Gene wurde es BRCA1 (breast cancer gene 1) genannt. Am 7. Oktober 1994 sind in „Science" seine Sequenz und ursächliche Mutationen bei Patienten mitgeteilt worden (10). Eigenschaften des BRCAl-Gens Das Genprodukt ist ein Protein mit 1 863 Aminosäuren. Durch ein sogenanntes Zinkfinger-Motiv hat es sich als Transkriptionsfaktor zu erkennen gegeben. Zugleich belegen LOH-Befunde, daß es normal als Tumorsuppressor wirkt. Inzwischen sind in diesem Gen etwa 80 verschiedene Mutationen gefunden worden. Vor der Isolierung des BRCA1Gens war durch Kopplungsanalysen erkannt worden, daß Veränderungen in diesem Gen für etwa 45 Prozent der Familien mit Brustkrebs und für mehr als 90 Prozent der Familien mit Brustkrebs und mindestens einem Fall von Ovarialkarzinom verantwortlich sind. Familien, in denen drei oder mehr Fälle von Ovarialkarzinomen, aber kein Brustkrebs vor dem 50. Lebensjahr aufgetreten waren, zeigten ebenfalls in einem hohen Prozentsatz (7 von 9) eine Kopplung zum BRCA1-Gen und in den Tumoren den erwarteten Verlust der normalen, nicht mit Krebsneigung verbundenen BRCA1-Region auf dem zweiten Chromosom 17. Seit 1991 ist wiederholt untersucht worden, welches Risiko Träger einer indirekt durch Kopplung er- MEDIZIN KURZBERICHT schlossenen BRCA1-Mutation haben, an einem Malignom zu erkranken. Die primäre Erfassung von Familien mit besonders vielen Betroffenen bedingt dabei, daß diese empirischen, aber ausgelesenen Daten das Risiko überschätzen. Die altersabhängig gegebenen Risikozahlen des Breast Cancer Linkage Consortium (1993) sind, zusammen mit Daten von Kontrollen, in der Tabelle zusammengefaßt (4, 5). Diesen Zahlen liegt die Annahme zugrunde, daß alle BRCA1-Heterozygoten das gleiche Malignomrisiko haben. Das gleiche Konsortium hat 1994 diese Annahme modifiziert und die Existenz von zwei Typen von BRCA1-Mutationen vorgeschlagen: Typ 1 trägt bis zum 70. Lebensjahr ein Risiko für Brustkrebs von 91 Prozent und für Ovarialkarzinom von 32 Prozent. Die entsprechenden Zahlen für Typ 2 sind 70 Prozent und 84 Prozent. Ein vier- bis elffach erhöhtes Risiko für Kolonkarzinom scheint nur in den Typ-1-Familien zu bestehen. BRCA1heterozygote Männer haben ein zweibis sechsfach erhöhtes Risiko für ein Prostatakarzinom. Von besonderem Interesse ist die Beobachtung, daß in 90 Prozent der Brust- und Ovarialtumoren von Frauen ohne betroffene Verwandte das BRCA1-Gen bei direkter Analyse unverändert gefunden wurde. In den restlichen zehn Prozent war eine Mutation nicht nur im Tumor, sondern auch in allen Geweben außerhalb des Tumors, das heißt, „in der Keimbahn", nachweisbar (6). Dieses Ergebnis besagt zweierlei. Zum ersten ist das BRCA1-Gen für die primäre Entstehung nichterblicher Tumoren ohne größere Bedeutung. Damit folgt es nicht einem Hauptparadigma der Tumorgenetik, daß nämlich vererbte Tumorsuszeptibilität und onkogenetische somatische Mutationen in der Regel im gleichen Gen auftreten. Zum zweiten scheint es BRCA1-Mutationen zu geben, deren Expressivität so gering ist, daß, wenn überhaupt, in einer Familie nur sehr wenige Träger der Mutation wirklich erkranken. Es sind also nicht nur zwei Typen von Mutationen zu erwarten, sondern von diesen ein ganzes Spektrum mit sehr verschiedenen Expressivitäten. Da, wie erwähnt, nur etwa 45 Prozent der Familien mit isoliertem Brustkrebs durch Keimbahn-Mutationen im BRCA1-Gen bedingt sind, waren weitere prädisponierende Gene zu erwarten. Diese Lücke ist weitgehend, aber noch nicht ganz durch das jetzt in der Region 13q12-13 kartierte BRCA2Gen gefüllt worden. BRCA2-heterozygote Frauen haben ein nur sehr gering erhöhtes Risiko für ein Ovarialkarzinom, jedoch ist der familiäre männliche Brustkrebs bevorzugt mit diesem Gen assoziiert (18). Es bleibt abzuwarten, ob die Eigenschaften des BRCA2-Gens „konventioneller" sind als die des BRCA1Gens, das in Geweben, zum Beispiel Testis, exprimiert wird, für die ein erhöhtes Malignom-Risiko offensichtlich nicht besteht. Prädiktive Tests Der 97. Deutsche Ärztetag hat 1994 den Bundesminister für Gesundheit aufgefordert, die Früherkennung und damit die sekundäre Prävention des Mammakarzinoms zu einer vordringlichen Maßnahme der Gesundheitsfürsorge zu machen. Es soll nicht nur das mammographische Screening durch Aufklärung eine größere Verbreitung (zur Zeit nur 30 Prozent) finden, sondern durch die Einrichtung tumorgenetischer Beratungs- und Untersuchungsstellen für Krebsfamilien und Krebspatientinnen soll (eventuell auch über primäre Prävention) eine Senkung der Mortalitätsrate erreicht werden. Paradigmatisch für eine molekular orientierte Vorsorge ist die spät auftretende, dominant vererbte und prognostisch infauste Chorea Huntington. Eine international anerkannte und befolgte Richtlinie (8) fordert, daß vor einer prädiktiven Diagnostik bei noch gesunden Familienangehörigen fachpsychologisch eruiert wird, ob der Wunsch nach Diagnostik in allen Folgen durchdacht ist und ob er auf einer autonomen Entscheidung beruht. Weiterhin fordert die Richtlinie, daß das Ergebnis in einem persönlichen Gespräch mitgeteilt wird und daß auch danach noch fachpsychologische Hilfe verfügbar ist. Erste Erfahrungen (3) zeigen, daß die Probleme beim familiären Brustkrebs ganz ähnlich gelagert sind, weil präventive Optionen entweder von ungesichertem Wert sind, zum Beispiel Intensivscreening oder Chemoprophylaxe mit Tamoxifen, oder, im Fall einer prophylaktischen Chirurgie, psychologisch enorm belasten. Auch hier, wie in Familien mit Chorea Huntington, ist bei Ausschluß der familiären Mutation das schwerwiegende „Schuldgefühl der Überlebenden" beobachtet worden. Aus allen diesen Gründen und auch in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der American Society of Human Genetics (16) sollten prädiktive Tests für Brust- und Ovarialkrebs nur im Rahmen wissenschaftlicher Projekte evaluiert werden, bei gleichzeitiger weiterer Forschung über die Wirksamkeit verschiedener Methoden von Überwachung und Prävention. Die Deutsche BRCA1-Genteststudie (siehe J. Chang-Claude et al. ab Seite A-2414 dieses Heftes) hat sich diese Forschung zur Aufgabe gemacht und kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie von der gesamten Ärzteschaft unterstützt wird. Die hier dargestellten Zusammenhänge und dargelegten Argumente verdeutlichen, daß es ein allgemeingültiges Populations-Screening aus biologischen, technischen, psychologischen und aus medizinischen Gründen in der näheren Zukunft nicht geben wird. Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärzteb11995; 92: A-2408-2413 [Heft 37] Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über den Verfasser. Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. med. Ulrich Langenbeck Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Institut für Humangenetik Theodor-Stern-Kai 7 60590 Frankfurt am Main Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 37, 15. September 1995 (59) A-2413