Deutsches Ärzteblatt 1995: A-2408

Werbung
MEDIZIN
KURZBERICHT
rich Langencec
Umwelt und Erbe in der
Entstehung des Brustkrebses
Ein Exkurs in Tumor Giologie unc molekularer Medizin
A
n bösartigen Neubildungen der
Brustdrüse sind im Jahr 1992 in
Deutschland 18 343 Frauen verstorben, 173 von ihnen waren
jünger als 35 Jahre. Die Zahl der Neuerkrankungen betrug 1991 in den alten
Bundesländern etwa 34 600. Diese hohe Inzidenz und Sterblichkeit belegen
die enorme soziale Bedeutung dieser
Krankheit. Deshalb und wegen der bekannten säkularen Zunahme des
Brustkrebses ist es nur zu verständlich,
wenn Umweltfaktoren, besonders Umweltgifte, als mögliche Ursache in der
öffentlichen Diskussion überwiegen.
Gegenüber chemischen, physikalischen und infektiösen Noxen als
mögliche Krebsursachen hat Vererbung im medizinischen Denken traditionell eine untergeordnete Rolle gespielt. Zwar zitierte K. H. Bauer
(1963) in der 2. Auflage seines Buches
„Das Krebsproblem" die Arbeiten
von F. Vogel über das Retinoblastom,
er resümierte aber dann recht apodiktisch: „ Gegenüber den im ganzen seltenen Formen von Krebsen, bei denen
die Vererbung mit hereinspielt, ist für
die große Mehrzahl der Krebsarten eine wesentliche Mitwirkung der Vererbung abzulehnen und die weit überwiegende Bedingtheit durch äußere
Faktoren anzunehmen."
Diese aus heutiger Sicht etwas
überzogene Schlußfolgerung war auch
methodisch bedingt: Erblichkeit wurde angenommen, wenn eineiige Zwillinge (EZ) um ein Mehrfaches häufiger gemeinsam erkrankten als zweieiige (ZZ). Dies ist beim Brustkrebs für
EZ und ZZ mit zum Beispiel zwölf
Prozent und zehn Prozent bei jüngeren oder 28 Prozent und zwölf Prozent
bei älteren Frauen nicht gegeben und
war auch bei anderen, damals untersuchten Malignomen eindeutig nicht
der Fall. So erbrachte dieses (damals)
„feinste Reagens der Humangenetik
geradezu den Gegenbeweis gegen eine
Überschätzung der Vererbung bei der
Krebsentstehung."
Die Häufung einer Krebsform in
Familien ist a priori kein Beweis für
die Wirkung von Genen, da Familienmitglieder nicht nur gemeinsame Gene, sondern in der Regel auch eine gemeinsame Umwelt haben. Andererseits schließt die Zunahme des Brustkrebses zum Beispiel bei den Nachfahren von Japanerinnen, die in die
USA einwanderten, die Beteiligung
prädisponierender Gene nicht grundsätzlich aus. So ist auch die jetzt beobachtete epidemieartige Zunahme des
Diabetes mellitus in Populationen,
die in vielen Generationen von Hungersnöten bedroht waren, kein Hinweis auf fehlende Bedeutung von
Erbfaktoren. Vielmehr gibt es Hinweise, daß der Prädiabetes als „sparsamer Genotyp" • das Überleben der
Menschen unter solchen Mangelbedingungen begünstigte. Erbe und
Umwelt wirken niemals isoliert voneinander.
Nach Zwillingsforschung, Stammbaumanalysen und genetischer Epidemiologie hat schließlich und endgültig
die massive Empirie der Kopplungsanalyse mit hochpolymorphen DNAMarkern in Risikofamilien den Beweis
erbracht, daß auch mehrere häufige
Erbanlagen zum Brustkrebs prädisponieren. Daher ist nun erstmals eine ausgewogenere Diskussion der Einflüsse
von Umwelt und Erbe bei der Entstehung dieses Malignoms möglich.
Epidemiologie
Das Ziel epidemiologischer Studien ist es, äußere nichtgenetische Ursachen für den Brustkrebs zu finden.
Die herausragenden und erklärungsbedürftigen Phänomene sind hierbei
die Zunahme in der westlichen Welt
in den vergangenen 50 Jahren, verInstitut für Humangenetik (Direktor: Prof. Dr.
med. Ulrich Langenbeck) Klinikum der Johann
Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt
A-2408 (54) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 37, 15. September 1995
stärkt noch einmal im letzten Jahrzehnt, und die erheblichen Häufigkeitsunterschiede in den verschiedenen Ländern und Kulturen der Erde
(9, 17).
Im Staat Connecticut hat die altersstandardisierte Inzidenz des
Brustkrebses von etwa 50 von 100 000
im Jahr 1940 auf über 100 im Jahr
1988 zugenommen. Eine solche Verdoppelung der Inzidenz wurde zwischen 1950 und 1980 auch in Island
gefunden. Die Mortalität ist seit 1950
nahezu unverändert, etwa 30 von
100 000. Wenn der beobachtete steilere Anstieg der Inzidenz in den 80er
Jahren durch bessere Frühdiagnostik
wegen vermehrter Inanspruchnahme
der Mammographie bedingt wäre,
dann müßte die Mortalität jetzt deutlich abnehmen. Diese Frage wird in
den nächsten Jahren zu klären sein.
Anders als in der öffentlichen
Diskussion wird in der Forschung
nicht Umweltbelastungen, sondern
hormonellen Faktoren und hiermit
zum Teil verknüpften Faktoren des
Lebensstils eine herausragende Rolle
bei der Erklärung der genannten
Trends beigemessen. Die Rolle der
Östrogene erhellt direkt aus der Beobachtung, daß Frauen, die vor der
Menopause ovariektomiert wurden,
nur halb so oft erkranken wie Frauen
mit natürlicher Menopause, und daß
Frauen mit natürlicher Menopause
nach dem 55. Lebensjahr doppelt so
häufig erkranken, wie Frauen mit Menopause vor dem 45. Jahr.
Die Zeitdauer der Östrogenwirkung auf das BrustdrüsengangEpithel kann nicht nur die regionalen
Unterschiede, sondern auch den säkularen Trend erklären. Während in
östlichen Kulturen die Menarche zum
Teil auch heute noch sehr spät, mit 17
bis 18 Jahren, einsetzt, ist sie in der
westlichen Welt kontinuierlich auf etwa zwölf Jahre zurückgegangen.
Hier hat außerdem das mütterliche Alter bei der ersten Geburt im-
MEDIZIN
KURZBERICHT
mer mehr zugenommen, und es ist unbestritten, daß frühe Menarche und
späte erste vollständige Schwangerschaft neben völliger Kinderlosigkeit
die praktisch bedeutsamsten externen
Risikofaktoren sind. Der Trend zu einer späten ersten Geburt ist durch die
oralen Kontrazeptiva verstärkt worden, so daß man deren eventuell eigene, aber kontrovers diskutierte Rolle
(15) bei der Zunahme des Brustkrebses erst nach weiteren langj ährigen Verlaufsbeobachtungen wird beurteilen können.
Auch eine Rolle der vorgeburtlichen Östrogenexposition wird diskutiert, denn bei einer Präeklampsie der
Mutter (mit sehr niedrigen mütterlichen Östrogenspiegeln) wurde bei den
Töchtern eine 50prozentige Minderung des Brustkrebsrisikos gefunden.
Eine besonders komplexe Verknüpfung von Variablen muß für die
Beobachtung angenommen werden,
daß die Inzidenz des Brustkrebses in
verschiedenen Ländern positiv und
signifikant mit der mittleren Körpergröße in diesen Ländern korreliert ist.
Zusammen mit den genannten endokrinologischen Korrelaten kann vermutet werden, daß der lebenslang
wirkende Umweltfaktor „Energiebilanz" im Zentrum des Ursachengefüges für säkularen Anstieg und nationale Unterschiede steht. So tritt auch
innerhalb einer Population der Brustkrebs häufiger bei mageren und
großen als bei kleinen Frauen auf.
Wesentliche und gleichzeitig vermeidbare Umweltfaktoren konnten
(außer hoher Strahlenexposition) für
den Brustkrebs bisher nicht gesichert
werden. Der Fettgehalt der Nahrung,
oder Herbizide, Haarfärbemittel und
Dioxine sind ohne erkennbaren,
mäßiger Zigaretten- und Alkoholkonsum ohne wesentlichen Einfluß.
Dagegen sind Stadtleben und hoher
Sozialstatus etablierte, die genannten
Einflüsse zum Teil widerspiegelnde
Risikofaktoren.
Empirische Risiken
In gleicher Weise unausweichlich
wie die in Lebensstil und Kultur begründeten Risikofaktoren waren bisher die Risiken, die sich aus der zum
Teil erheblichen Häufung des Brust-
krebses in Familien von fünf bis zehn
Prozent der Patientinnen ergeben
und die bedeutsamer sind als das Alter bei der ersten Geburt und bei der
Menopause.
Ohne Kenntnis des Anteils erblicher Fälle, des Vererbungsmodus und
der Zahl der involvierten Gene kann
das individuelle Risiko nur aus empirisch erhobenen Daten bestimmt werden. Seit 1983 sind solche Daten
mehrfach mitgeteilt worden, und es
wurden als wichtigste Risikofaktoren
die Zahl der betroffenen Verwandten
ersten Grades und deren Alter bei der
Erkrankung erkannt. Eine zusätzliche
Rolle des beidseitigen Betroffenseins
(synchron oder metachron) wird widersprüchlich beurteilt.
Die letzte bisher publizierte empirische Studie (2) beruht auf 4 730 Patienten mit zumeist invasiven Tumoren
und 4 688 Kontrollen. Gefragt wurde
nur nach betroffenen Verwandten ersten Grades und deren Erkrankungsalter. Die Risikoziffern resultieren aus
einer Modellrechnung mit den Annahmen, daß die meisten Patienten kein
prädisponierendes Allel tragen und
daß dieses Allel im heterozygoten Zustand nicht nur die allgemeine Suszeptibilität, sondern gleichzeitig auch das
(angenommen normalverteilte) Erkrankungsalter bestimmt. Das Modell
erscheint robust und erklärt die erhobenen Daten für Verwandte ersten
Grades. Zudem erlaubt es das Auffüllen fehlender Daten, zum Beispiel
auch der betroffenen Verwandten
zweiten Grades. Die publizierten kumulativen Erkrankungswahrscheinlichkeiten von 29 bis 79 Jahren gestatten eine Abschätzung des Risikos von
gesunden Frauen, bis zu einem gegebenen Alter noch zu erkranken.
Für eine 35jährige gesunde Frau
zum Beispiel, deren Mutter in diesem
Alter erkrankte, ist das Risiko immer
noch elf Prozent, in den nächsten 35
Jahren ebenfalls zu erkranken. Wenn
zusätzlich auch eine Schwester im
gleichen Alter erkrankt war, steigt
dieses Risiko auf 33 Prozent. Das allgemeine Lebensrisiko von etwa neun
bis zehn Prozent wird nicht mehr
überschritten, wenn eine Verwandte
ersten Grades älter als 50 Jahre war,
oder wenn zwei Verwandte ersten
Grades beide nach dem 70. Lebensjahr erkrankten.
A-2410 (56) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 37, 15. September 1995
Solche Zahlen können jedoch
nur einen allgemeinen Rahmen bieten, denn das Risiko wird im Einzelfall unter anderem durch gutartige
Brusttumoren, abhängig vom histologischen Typ, und durch Fälle von Eierstockkrebs in der Familie erhöht.
Ein verläßliches individuelles Risiko
wird daher erst dann angegeben werden können, wenn alle Suszeptibilitäts-Gene bekannt sind und wenn in
den zu beratenden Familien auch die
verursachenden Mutationen gefunden wurden. Dem Auffinden dieser
Gene können Zytogenetik, Tumorzytogenetik, molekulare Analyse von
Heterozygotieverlust in Tumoren,
molekulare Aufklärung von monogen
vererbten Syndromen mit unter anderem erhöhtem Brustkrebsrisiko und
Kopplungsanalysen in Risikofamilien
dienen.
Zytogenetik und
rumorzytogenetik
Konstitutionelle familiäre Translokationen, deren balancierte Träger
in der Familie regelmäßig von einer monogen dominant vererbten
Krankheit betroffen sind, weisen den
Weg zur Position des verursachenden Gens und erlauben dessen Isolierung.
Ein besonders bekanntes Beispiel für diesen modernen Weg der
Genisolierung durch sogenanntes
„positional cloning" ist die Neurofibromatose Typ 1 (NF1):
Richtungweisend waren zwei
Familien mit NF1 und Translokation
t(1; 17) (p34.3; q11.2), oder t(17; 22)
(q11.2; q11.2). Solche wiederkehrenden Translokationen sind beim familiären Brustkrebs bisher noch nicht
gefunden worden.
Die klassische Tumorzytogenetik
hat bisher beim Brustkebs keinen
Beitrag zur Aufdeckung onkogenetischer Mechanismen geleistet.
Mikroskopisch erkennbare primäre Anomalien sind der Verlust
eines Chromosoms 17 und eine Verdoppelung von Teilen des langen Armes von Chromosom 1. In den bisher
etwa 100 untersuchten Tumoren wurde eine verwirrende Vielzahl von sekundären numerischen und strukturellen Chromosomenanomalien ge-
MEDIZIN
KURZBERICHT
funden. Bei den Translokationen
überwiegen Brüche in den Zentromerbereichen. Brüche und Deletionen sind häufig im Bereich konstitutioneller fragiler Stellen und außerhalb von diesen vor allem in der Region 1p13, aber auch unter anderem in
den Regionen 1q23, 6q16, 6q23 und
16q21 (11).
Heterozygotieverlust
im Tumor
Gewissermaßen eine verfeinerte
Version der Zytogenetik solider Tumoren ist die Erfassung eines Verlustes von konstitutioneller Heterozy-
le Orte mit LOH, die zum Teil mikroskopisch erfaßten Deletionen entsprechen, liegen beim Brustkrebs unter anderem auch in fünf Regionen
des Chromosoms 17. Eine dieser Regionen betrifft den Tumorsuppressor
TP53 in 17p13.1. Dieses Gen (1) ist
als Keimbahnmutation für etwa die
Hälfte der Fälle des erstmals 1969
beschriebenen, dominant vererbten
Li-Fraumeni-Syndroms (LFS) verantwortlich. Patienten mit LFS erkranken schon im Kindesalter unter
anderem an Weichteilsarkomen,
Hirntumoren und Leukämien, und
etwa 30 bis 60 Prozent der Frauen
mit LFS erkranken zwischen dem 30.
und 50. Lebensjahr an Brustkrebs.
Kumulative Malignom-Risiken*
BRCA1-Heterozygote
Alter (J.)
40
50
60
70
Brust
17
45
55
59
Kontrollen
Brust und Ovar
23
58
76
85
Brust
0,5
2
4
7
*Angaben in Prozent für BRCA1-Heterozygote und Kontr llen
gotie (loss of heterozygosity, LOH)
im Genom der Tumorzellen mit molekularen Methoden.
Gedankliches Fundament dieses
Forschungsansatzes ist die Zweischritt (two hit)-Hypothese der Tumorgenese von Knudson, die zuerst
durch die molekulare Analyse von
Retinoblastomen glänzend bestätigt
wurde (13): Der erste Schritt auf dem
Weg zum Tumor ist eine ererbte
(oder eine somatische) Mutation in
dem einen Allel des Rb-Gens. Sie
läßt die Zellfunktion noch unbeeinträchtigt. Der zweite Schritt, der Verlust des Normallels, zum Beispiel
durch eine submikroskopische Deletion, hinterläßt das mutierte Allel im
hemizygoten Zustand, die Zelle ist
dadurch zur Krebszelle geworden.
Die Suszeptibilität wird also dominant vererbt, der maligne Phänotyp
aber ist rezessiv.
Submikroskopische DNA-Verluste auf jeweils einem der Chromosomenpaare signalisieren die Lokalisation eines für die Tumorprogression pathogenetisch bedeutsamen
Gens (7). Wesentliche chromosoma-
Etwa ein Prozent der Fälle von
Brustkrebs vor dem 40. Lebensjahr
sind Folge des LFS.
Brustkrebs als komplexes
genetisches Merkmal
Im Gegensatz zu klinisch gut definierten und durch einfachen Erbgang ausgezeichneten Syndromen,
wie zum Beispiel LFS, ist der familiär
gehäufte Brustkrebs ein sogenanntes
„Komplexes Merkmal" (complex
trait), an dessen Ausprägung, wie geschildert, Erbe und Umwelt in enger
Wechselwirkung beteiligt sind. Andere Beispiele eines komplexen
Merkmals sind Hypertonie (14) und
Alzheimersche Erkrankung (12).
Um bei solchen komplexen Familienmerkmalen dennoch die Methoden der Kopplungsanalyse anwenden zu können, bedarf es einer sehr
genauen Definition des Phänotyps,
der in die Untersuchungen einbezogen werden soll. Typischerweise werden hierfür aus dem Spektrum möglicher Manifestationen die extremen
A-2412 (58) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 37, 15. September 1995
Ausprägungen, zum Beispiel besonders hoher Blutdruck oder besonders
frühes Erkrankungsalter, ausgewählt, weil bei ihnen der Einfluß erblicher Faktoren überwiegt. Beim
Brustkrebs sind solche extremen
Ausprägungen invasives Tumorwachstum, frühes Erkrankungsalter
und gesicherte Erkrankung einer
größeren Zahl von Verwandten in
mehreren Generationen.
Dieser Ansatz führte in 23 erweiterten Familien mit 146 Patienten
mit 329 kooperierenden Verwandten
im Dezember 1990 zum Nachweis,
daß mit einer Wahrscheinlichkeit
von 106:1 ein Brustkrebs-Gen in der
Region 17q21 lokalisiert ist. In Erwartung weiterer Gene wurde es BRCA1 (breast cancer gene 1) genannt.
Am 7. Oktober 1994 sind in „Science" seine Sequenz und ursächliche
Mutationen bei Patienten mitgeteilt
worden (10).
Eigenschaften des
BRCAl-Gens
Das Genprodukt ist ein Protein
mit 1 863 Aminosäuren. Durch ein sogenanntes Zinkfinger-Motiv hat es
sich als Transkriptionsfaktor zu erkennen gegeben. Zugleich belegen
LOH-Befunde, daß es normal als Tumorsuppressor wirkt. Inzwischen sind
in diesem Gen etwa 80 verschiedene
Mutationen gefunden worden.
Vor der Isolierung des BRCA1Gens war durch Kopplungsanalysen
erkannt worden, daß Veränderungen
in diesem Gen für etwa 45 Prozent
der Familien mit Brustkrebs und für
mehr als 90 Prozent der Familien mit
Brustkrebs und mindestens einem
Fall von Ovarialkarzinom verantwortlich sind. Familien, in denen drei
oder mehr Fälle von Ovarialkarzinomen, aber kein Brustkrebs vor dem
50. Lebensjahr aufgetreten waren,
zeigten ebenfalls in einem hohen
Prozentsatz (7 von 9) eine Kopplung
zum BRCA1-Gen und in den Tumoren den erwarteten Verlust der normalen, nicht mit Krebsneigung verbundenen BRCA1-Region auf dem
zweiten Chromosom 17.
Seit 1991 ist wiederholt untersucht worden, welches Risiko Träger
einer indirekt durch Kopplung er-
MEDIZIN
KURZBERICHT
schlossenen BRCA1-Mutation haben, an einem Malignom zu erkranken. Die primäre Erfassung von Familien mit besonders vielen Betroffenen bedingt dabei, daß diese empirischen, aber ausgelesenen Daten das
Risiko überschätzen. Die altersabhängig gegebenen Risikozahlen des
Breast Cancer Linkage Consortium
(1993) sind, zusammen mit Daten von
Kontrollen, in der Tabelle zusammengefaßt (4, 5). Diesen Zahlen liegt die
Annahme zugrunde, daß alle BRCA1-Heterozygoten das gleiche Malignomrisiko haben.
Das gleiche Konsortium hat 1994
diese Annahme modifiziert und die
Existenz von zwei Typen von BRCA1-Mutationen vorgeschlagen: Typ
1 trägt bis zum 70. Lebensjahr ein Risiko für Brustkrebs von 91 Prozent
und für Ovarialkarzinom von 32 Prozent. Die entsprechenden Zahlen für
Typ 2 sind 70 Prozent und 84 Prozent.
Ein vier- bis elffach erhöhtes Risiko
für Kolonkarzinom scheint nur in den
Typ-1-Familien zu bestehen. BRCA1heterozygote Männer haben ein zweibis sechsfach erhöhtes Risiko für ein
Prostatakarzinom.
Von besonderem Interesse ist die
Beobachtung, daß in 90 Prozent der
Brust- und Ovarialtumoren von Frauen ohne betroffene Verwandte das
BRCA1-Gen bei direkter Analyse
unverändert gefunden wurde. In den
restlichen zehn Prozent war eine Mutation nicht nur im Tumor, sondern
auch in allen Geweben außerhalb des
Tumors, das heißt, „in der Keimbahn", nachweisbar (6). Dieses Ergebnis besagt zweierlei. Zum ersten
ist das BRCA1-Gen für die primäre
Entstehung nichterblicher Tumoren
ohne größere Bedeutung. Damit folgt
es nicht einem Hauptparadigma der
Tumorgenetik, daß nämlich vererbte
Tumorsuszeptibilität und onkogenetische somatische Mutationen in der
Regel im gleichen Gen auftreten.
Zum zweiten scheint es BRCA1-Mutationen zu geben, deren Expressivität so gering ist, daß, wenn überhaupt, in einer Familie nur sehr wenige Träger der Mutation wirklich erkranken. Es sind also nicht nur zwei
Typen von Mutationen zu erwarten,
sondern von diesen ein ganzes Spektrum mit sehr verschiedenen Expressivitäten.
Da, wie erwähnt, nur etwa 45
Prozent der Familien mit isoliertem
Brustkrebs durch Keimbahn-Mutationen im BRCA1-Gen bedingt sind,
waren weitere prädisponierende Gene zu erwarten.
Diese Lücke ist weitgehend, aber
noch nicht ganz durch das jetzt in der
Region 13q12-13 kartierte BRCA2Gen gefüllt worden.
BRCA2-heterozygote Frauen haben ein nur sehr gering erhöhtes Risiko für ein Ovarialkarzinom, jedoch ist
der familiäre männliche Brustkrebs
bevorzugt mit diesem Gen assoziiert
(18).
Es bleibt abzuwarten, ob die Eigenschaften des BRCA2-Gens „konventioneller" sind als die des BRCA1Gens, das in Geweben, zum Beispiel
Testis, exprimiert wird, für die ein erhöhtes Malignom-Risiko offensichtlich nicht besteht.
Prädiktive Tests
Der 97. Deutsche Ärztetag hat
1994 den Bundesminister für Gesundheit aufgefordert, die Früherkennung
und damit die sekundäre Prävention
des Mammakarzinoms zu einer vordringlichen Maßnahme der Gesundheitsfürsorge zu machen.
Es soll nicht nur das mammographische Screening durch Aufklärung
eine größere Verbreitung (zur Zeit
nur 30 Prozent) finden, sondern durch
die Einrichtung tumorgenetischer Beratungs- und Untersuchungsstellen
für Krebsfamilien und Krebspatientinnen soll (eventuell auch über
primäre Prävention) eine Senkung
der Mortalitätsrate erreicht werden.
Paradigmatisch für eine molekular orientierte Vorsorge ist die spät
auftretende, dominant vererbte und
prognostisch infauste Chorea Huntington.
Eine international anerkannte
und befolgte Richtlinie (8) fordert,
daß vor einer prädiktiven Diagnostik
bei noch gesunden Familienangehörigen fachpsychologisch eruiert wird,
ob der Wunsch nach Diagnostik in allen Folgen durchdacht ist und ob er
auf einer autonomen Entscheidung
beruht. Weiterhin fordert die Richtlinie, daß das Ergebnis in einem persönlichen Gespräch mitgeteilt wird
und daß auch danach noch fachpsychologische Hilfe verfügbar ist.
Erste Erfahrungen (3) zeigen,
daß die Probleme beim familiären
Brustkrebs ganz ähnlich gelagert sind,
weil präventive Optionen entweder
von ungesichertem Wert sind, zum
Beispiel Intensivscreening oder Chemoprophylaxe mit Tamoxifen, oder,
im Fall einer prophylaktischen Chirurgie, psychologisch enorm belasten.
Auch hier, wie in Familien mit Chorea
Huntington, ist bei Ausschluß der familiären Mutation das schwerwiegende „Schuldgefühl der Überlebenden"
beobachtet worden.
Aus allen diesen Gründen und
auch in Übereinstimmung mit den
Empfehlungen der American Society
of Human Genetics (16) sollten prädiktive Tests für Brust- und Ovarialkrebs nur im Rahmen wissenschaftlicher Projekte evaluiert werden, bei
gleichzeitiger weiterer Forschung
über die Wirksamkeit verschiedener
Methoden von Überwachung und
Prävention.
Die Deutsche BRCA1-Genteststudie (siehe J. Chang-Claude et al.
ab Seite A-2414 dieses Heftes) hat
sich diese Forschung zur Aufgabe gemacht und kann nur dann erfolgreich
sein, wenn sie von der gesamten Ärzteschaft unterstützt wird.
Die hier dargestellten Zusammenhänge und dargelegten Argumente verdeutlichen, daß es ein allgemeingültiges Populations-Screening
aus biologischen, technischen, psychologischen und aus medizinischen
Gründen in der näheren Zukunft
nicht geben wird.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärzteb11995; 92: A-2408-2413
[Heft 37]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf
das Literaturverzeichnis im Sonderdruck,
anzufordern über den Verfasser.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Ulrich Langenbeck
Klinikum der Johann Wolfgang
Goethe-Universität
Institut für Humangenetik
Theodor-Stern-Kai 7
60590 Frankfurt am Main
Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 37, 15. September 1995 (59) A-2413
Herunterladen