Irrtum, Mr. Watson!

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Irrtum, Mr. Watson!1
Das Genom ist nur ein Konstrukt und der Mensch mehr als die Summe seiner Gene/ Eine Antwort von Peter Propping
Der amerikanische Biochemiker und Nobelpreisträger James D. Watson verwendet in seinem Beitrag zur Entschlüsselung
des menschlichen Genoms in dieser Zeitung ein Pathos, wie man es von amerikanischen Politikern und von den
Rassenhygienikern des frühen zwanzigsten Jahrhunderts kennt. Dieser Text wirkt hierzulande aber nicht nur seines Stils
wegen besonders befremdlich, sondern er verfehlt auch das Ziel, die eigentliche, viel umfassendere Bedeutung der
Entschlüsselung des menschlichen Genoms zu erklären.
Was dieses Projekt für die Humangenetik und die gesamte Medizin so wichtig macht, ist nicht nur die erstmalige
Entzifferung des gesamten, aus 3,2 Milliarden Buchstaben bestehenden genetischen Textes. Denn das menschliche
Genom gibt es in Wahrheit nicht. Es ist ein Konstrukt. Jeder Mensch hat vielmehr seine eigene genetische Individualität.
Etwa jeder tausendste Buchstabe im genetischen Text ist variabel. Obgleich die Menschen also in mehr als 99,99 Prozent
der insgesamt 3,2 Milliarden Buchstaben übereinstimmen, unterscheiden sie sich im Durchschnitt an immerhin drei
Millionen Positionen. Man nimmt allerdings an, daß davon nur 100000 bis 300000 funktionell relevant sind. Diese
Unterschiede sind die Ursache für ethnische Unterschiede, für Krankheitsdispositionen und manche Besonderheiten der
Reaktion auf Medikamente. Tatsächlich hat jeder Mensch auf Grund des persönlichen Musters von Varianten sein
individuelles Ge nom mit allen daraus resultierenden Stärken und Schwächen. Für den Genetiker ist die Variabilität das
,,Normale".
Der Austausch eines einzigen genetischen Buchstabens kann ganz unterschiedliche Folgen haben. Er kann völlig
irrelevant sein und ohne funktionelle Konsequenzen bleiben, oder er kann Störungen zur Folge haben, die der
Organismus nicht kompensieren kann. Im Extremfall resultiert eine Krankheit mit einfachem, das heißt Mendelschem
Erbgang. Merkmale mit einfachem Erbgang sind allerdings Sonderfälle. Sie sind Schlüssellöcher, durch die der Ge netiker
einen kleinen Ausschnitt des Ge noms untersuchen kann. Wenn ein Mendelscher Erbgang vorliegt, handelt es sich im
engeren Sinn um eine Erbkrankheit. Davon müssen die erblichen Dispositionskrankheiten unbedingt abgegrenzt werden.
Man kennt heute etwa siebentausend verschiedene Mendelsche Krankheiten, von denen die meisten selten sind oder
nur bei bestimmten Bevölkerungsgruppen vorkommen.
Die Medizin hat die Aufgabe, Krankheiten vorzubeugen oder zu heilen. Klassisches Beispiel für die erfolgreiche Therapie
einer Mendelschen Krankheit ist die Phenylketonurie, von der in Deutschland eines unter zehntausend Neugeborenen
betroffen ist. Unbehandelt führt die genetisch determinierte Funktionsstörung zu einer schweren Hirnschädigung mit der
Folge geistigen Abbaus. Wenn die Aminosäure Phenylalanin dagegen gleich nach der Geburt kontrolliert zugeführt wird,
kann die Entwicklung des Hirnschadens verhindert werden. Jedes Neugeborene wird deshalb unmittelbar nach der
Geburt auf Phenylketonurie untersucht. Durch diese Behandlung können in Deutschland jährlich 80 Kinder vor einer
schlimmen Krankheit bewahrt werden.
Auch bei den erblichen Krebskrankheiten spielt die genetische Diagnostik eine wichtige Rolle. In Deutschland erkranken
jährlich zweiundfünfzigtausend Menschen an Dickdarmkrebs und vierzigtausend Frauen an Brustkrebs. Jeweils etwa fünf
Prozent dieser Erkrankungen sind annähernd dominant erblich. Diese Krebsformen sind gut behandelbar, wenn die Diagnose rechtzeitig gestellt wird. Daher hat die vorhersagende genetische Diagnostik an den gesunden Verwandten der
Patienten, kombiniert mit systematischer Früherkennung, große Bedeutung. Gleiches gilt für eine ganze Reihe weiterer
erblicher Krebsformen. Die meisten Mendelschen Krankheiten sind wie gesagt selten. Sie haben wegen ihrer guten
Untersuchbarkeit überragende Bedeutung bekommen. Von ihnen müssen allerdings die Krankheiten abgegrenzt werden,
die zwar mit einer gewissen Häufung in einer Familie auftreten, aber keinem einfachen Erbgang folgen. Dazu gehören beispielsweise verschiedene Formen der Zuckerkrankheit, Bluthochdruck, Allergien, Arteriosklerose, Epilepsie, Schizophrenie - Krankheiten also, die in der Bevölkerung recht häufig vorkommen. Ihre Vererbung ist nicht exakt vorhersagbar,
weil sie eben nicht durch die Veränderung eines einzigen Gens hervorgerufen werden. Es handelt sich nicht um
Erbkrankheiten. Bisher ist das Gefüge der genetischen Grundlagen dieser Volksleiden noch weitgehend unverstanden.
Wahrscheinlich ist eine Kombination verschiedener genetischer Konstellationen nötig, die zunächst nur eine Disposition
schafft. Zur Manifestation muß die Wechselwirkung mit Umwelteinflüssen dazukommen, die die Disposition in Krankheit
umschlagen läßt. Die Sequenzierung des menschlichen Genoms schafft die Voraussetzungen, um die Ursachen der
Dispositionskrankheiten analysieren zu können. Dies wird die Medizin entscheidend verändern. Man untersucht in
Familien mit mehreren Erkrankten, welche genetischen Marker sich gemeinsam mit der Krankheit vererben. Auf diesem
Wege wird man auch solche Gene identifizieren, für deren Beteiligung an der Krankheit es bisher keinen Anhalt gab.
Wann eine genetische Konstitution einer Disposition zur Krankheit gleichkommt, hängt auch von den Lebensbedingungen ab. Viele Krankheitsdispositionen dürften in der Bevölkerung häufig sein, jedenfalls sehr viel häufiger als die zu
den Mendelschen Krankheiten führenden Gen - Änderungen. Was heute eine Disposition darstellt, hat das Überleben
unter den Existenzbedingungen der früheren Menschheit wahrscheinlich begünstigt. Dieser frühere Selektionsvorteil
kann die Häufigkeit der Dispositionen in der heutigen Bevölkerung erklären. Abgesehen davon, daß eine Veränderung
der genetischen Zusammensetzung der Bevölkerung im Sinne Watsons gar nicht möglich ist, wäre dies auch fatal, da wir
die Lebensbedingungen späterer Generationen nicht kennen. Immerhin hat in der Vergangenheit erst die genetische
Variabilität der Menschheit eine außerordentliche Anpassungsfähigkeit ermöglicht
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F.A.Z. Mittwoch, 04.10.2000, Nr. 230/Seite 67
Ein tiefes Verständnis für Krankheitsdispositionen wird eine spezifische und individuelle Prävention möglich machen sei
es durch Ernährung oder Infektionsbekämpfung, durch Impfung, frühzeitige Psychotherapie oder medikamentöse
Behandlung. Was berechtigt uns zu diesem Optimismus? Es sind die Befunde aus der klassischen Zwillingsforschung.
Wenn der eine Partner eines eineiigen Zwillingspaares von Bluthochdruck, Zuckerkrankheit, Arteriosklerose, Epilepsie
oder Schizophrenie betroffen ist, dann hat der andere Partner ein Erkrankungsrisiko von vierzig bis siebzig Prozent,
jedenfalls nicht hundert Prozent. Da beide Partner eines eineilgen Zwillingspaares genetisch identisch sind, müssen
äußere Einflüsse in dem zur Krankheit führenden Bedingungsgefüge eine Rolle spielen. Es gibt ganz offenbar einen
Spielraum, von dem die Manifestation einer Krankheit abhängt. Diesen Spielraum gilt es präventiv und therapeutisch zu
nutzen. Dabei ist keineswegs an Gentherapie gedacht, sondern an die Behandlung mit Medikamenten.
Nicht selten wird die Sorge geäußert, das Verhalten, ja sogar der ganze Lebensweg eines Menschen könnten durch
genetische Untersuchungen vorhersagbar werden. Es ist die Sorge vor einem genetischen Determinismus. Die Sorge ist
bei einigen schweren, bislang nicht behandelbaren Krankheiten mit einfachem Erbgang nicht ganz unberechtigt. Hierbei
handelt es sich jedoch um Ausnahmesituationen, die sich sogar ändern können, wenn eine Therapie verfügbar ist. Für
den großen Bereich der ,,normalen" Variabilität einschließlich der Disposition zu den sogenannten Volkskrankheiten ist
die Angst vor einer schicksalhaften Festlegung des Menschen unbegründet. Selbst wenn eines Tages alle Gene, die die
Disposition zu einer Geisteskrankheit bedingen, bekannt sind, wird es keinen genetischen Determinismus geben. Die
Obergrenze der Vorhersagbarkeit der Erkrankung eines Menschen ergibt sich aus der Übereinstimmung eineiiger
Zwillinge. Diese liegt zum Beispiel für die Schizophrenie bei fünfzig Prozent. Wir wissen es allzu gut: Der Mensch ist mehr
als die Summe seiner Ge ne. Neben vielen Chromosomenstörungen ist auch ein Teil der Mendelschen Krankheiten
bislang unbehandelbar und führt zu schweren Beeinträchtigungen. Wenn ein Elternpaar bereits ein krankes Kind hat
oder einer Risikogruppe angehört, kann man den Embryo mit Hilfe genetischer Methoden heute vielfach bereits in der
Frühschwangerschaft im Hinblick auf eine bestimmte genetische Krankheit untersuchen. Eine Schwangere muß vor einer
vorgeburtlichen Diagnostik vollständig informiert und beraten worden sein. Sie sollte sich bereits vor der Entscheidung
zu einer vorgeburtlichen Diagnostik darüber im klaren sein, wie sie sich verhalten wird, wenn die genetische
Untersuchung des Embryo auf eine Erkrankung des Kindes hinweist. Die vorgeburtliche Diagnostik betrifft den Konflikt
zwischen dem elterlichen Wunsch nach einem gesunden Kind und dem Lebensrecht des Ungeborenen. In dieser
schwierigen Situation sollte jedes Pathos, wie es sich Watson in seinem Beitrag für diese Zeitung zu eigen gemacht hat,
vermieden werden. Der Arzt sollte der Schwangeren statt dessen helfen, zu der für sie richtigen Entscheidung zu
kommen. Ein Schwangerschaftsabbruch kann nur die ultima ratio sein.
Gegenwärtig werden in Deutschland jährlich etwa achtzigtausend vorgeburtliche Untersuchungen durchgeführt.
Entgegen einer verbreiteten Befürchtung ist die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche wegen einer Behinderung des
Kindes in der Vergangenheit jedoch ständig zurückgegangen. Wurden 1980 in den alten Bundesländern noch etwa
dreitausend Schwangerschaften aus diesem Grund abgebrochen, so waren es 1994 unter neunhundert.
Bei den Dispositionskrankheiten kann der Nachweis disponierender oder protektiver Gene eine spätere Krankheit aus
prinzipiellen Gründen nie beweisen oder ausschließen. Genetische Methoden können hier nur die Disposition, nicht die
Krankheit erfassen. Deshalb kann bei den Volkskrankheiten eine vorgeburtliche Diagnostik nie in Betracht kommen. Die
Entschlüsselung des menschlichen Genoms läßt sich nicht durch die Perfektionierung der vorgeburtlichen Diagnostik
rechtfertigen. Aus der Sicht der Medizin ist die entscheidende Begründung ein tiefes Verständnis für die Ursachen von
Krankheiten sowie die Entwicklung neuer Präventions- und Behandlungsverfahren.
Der Autor lehrt Medizin am Institut für Humangenetik der Universität Bonn.
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