"Aus unserer Geschichte erwächst eine Verantwortung in der Gegenwart. Wenn wir am 27. Januar der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die tapferen Soldaten der Roten Armee erinnern, dürfen wir uns nicht nur hinter bedeutungsschweren Worten verstecken. Wir müssen uns daran messen lassen, ob und wie wir in der täglichen Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Rassismus und Islamfeindlichkeit, Homo- und Transphobie, Sexismus und Nationalchauvinismus reagieren. Und wenn wir der Menschen gedenken, die von den Nazis verschleppt und auf grausamste Weise gequält und ermordet wurden, müssen wir auch an jene denken, die das Grauen überlebt haben und noch heute unter uns sind. Es sind Organisationen wie beispielsweise AMCHA, die in herausragender Weise professionelle psychotherapeutische Hilfe für Holocaust-Überlebende und nachfolgende Generationen anbietet. Zwar hat die Koalition unsere Initiative zur Entschädigung sowjetischer Kriegsgefangener aufgegriffen, eine Brandmarkung ihrer kriegsrechtswidrigen Behandlung in den "Russenlagern" als nationalsozialistischen Unrecht steht immer noch aus, auch 71 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Es ist die Mehrheitsgesellschaft gefordert, sich schützend vor Jüdinnen und Juden und ihre Gotteshäuser zu stellen, wenn diese sich vor einem erstarkenden Antisemitismus in Europa fürchten. Und es ist an uns allen zu widersprechen, wenn Antisemitismus und Sexismus von Rechten für ihre rassistische Propaganda missbraucht werden. 2016 stellt uns vor große Herausforderungen. Leo Baeck, der 1945 die Befreiung im KZ Theresienstadt erlebte, schrieb in ‚Das Wesentum des Judentums‘: ‚Die Knechtung der Juden war nie eine vereinzelte Erscheinung, sondern nur ein Moment, freilich das traurigste, in einer allgemeinen Unterdrückung. Und ebenso ist ihre Emanzipation überall nur ein Teil … in der Befreiung des ganzen Volkes gewesen. … Nicht nur um uns handelt es sich, wo es sich um uns handelt. … Wir verlangen nicht, dass man uns ehre, sondern nur, dass man das Recht und die Wahrheit ehre.‘ Wir leben in einer Zeit, in der wir täglich neuen Versuchen der Ausgrenzung ein klare Ablehnung erteilen müssen. Wer Recht und Wahrheit ehrt, darf Minderheitenfeindlichkeit und einer Ideologie der Ungleichheit nicht das Wort reden: Seien es Disko- oder Schwimmbadverbote für Flüchtlinge, die asylrechtliche Bekämpfung von schutzsuchenden Roma, das Eheverbot für Homosexuelle und ein Rückfall in den Nationalismus einer aggressiven Grenzpolitik."