© F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 1, Februar 1997, S. 3-21 3 D ie Provokation der „Artificial Societies“ Warum die Soziologie sich mit den Sozialmetaphern der Verteilten Künstlichen Intelligenz beschäftigen sollte Thomas Malsch Technische Universität Hamburg-Harburg, Schloßmühlendamm 32, D-21073 Hamburg Z u s a m m e n fa ssu n g : Fast unbemerkt von der Soziologie haben soziale Metaphern und soziologische Konzepte in den Forschungsarbeiten der „Verteilten Künstlichen Intelligenz“ (VKI) eine immer gewichtigere Rolle zu spielen begonnen. Inzwischen wird sogar der Anspruch erhoben, die Soziologie computerwissenschaftlich zu fundieren und zur Lösung soziologischer Grundfragen beizutragen. Der Artikel nimmt dies zum Anlaß einer Erörterung, inwiefern die von der VKI bereitgestellten Mittel zu nutzen sind, um die Debatte über die Formalisierbarkeit soziologischer Theorien neu zu eröffnen. Um die konventionellen Argumente in dieser Debatte zu unterlaufen, ist jenseits der angeblichen sozialwissenschaftlichen (Un)zulängiichkeit der Metaphern der VKI anzusetzen und zu untersuchen, ob sich die offen­ kundige Repräsentationsschwäche vielleicht als heimliche Kreationsstärke der VKI entpuppen könnte. Damit fragt der Aufsatz nach dem Innovationspfad der „Metaphernmigration“, der schrittweisen Transformation von Sozialmetaphern in Technik. Aus techniksoziologischer Sicht geht es dann nicht mehr um die soziologische Angemessenheit der VKIModelle, sondern um die technologische Exploitierbarkeit sozialer Metaphern und soziologischer Konzepte für die Ent­ wicklung verteilter Computersysteme. Das kann, wenn die Metaphernmigrationsthese stimmt, nicht ohne Rückwirkun­ gen auf die soziologische Theoriebildung bleiben. L Kann die Technik von der Gesellschaft lernen? Ist es möglich, Anregungen aus der sozialen Welt und ihren Interaktions- und Organisationssystemen aufzugreifen, um daraus intelligente Computer­ technologien zu entwickeln? Das sind Fragen, die zunächst reichlich exotisch klingen und bei einem unvoreingenommenen Leser ungläubiges Staunen, wenn nicht unwilliges Kopfschütteln hervorrufen dürften. Und dennoch beginnt sich seit einigen Jahren im Grenzgebiet zwischen Soziologie und „künstlicher Intelligenz“ (KI) eine neue For­ schungsrichtung zu entwickeln, die solche Fragen stellt und erste Antworten zu geben versucht: die „Verteilte Künstliche Intelligenz“ (VKI). Für Soziologen, die sich seit Max Weber angewöhnt haben, den Zusammenhang von Technik und Ge­ sellschaft in völlig entgegengesetzter Blickrichtung zu konzeptualisieren, nämlich als Umwandlung der Gesellschaft nach dem Vorbild technischer Ra­ tionalität oder, seit Habermas, als Kolonialisierung der Lebenswelt durch wuchernde Subsysteme instrumentellen Handelns, müssen solche Fragen fremdartig bis provozierend klingen. Für Technik­ soziologen jedoch, die sich seit der durch Bloor (1976) eingeleiteten Wende der Wissenschaftssozi­ ologie mit dem kontraintuitiven Gedanken der so­ zialen Konstruiertheit technischer Artefakte ver­ traut gemacht haben, eröffnet sich eine Perspekti­ ve von hochinteressanten „sozionischen“ An­ schlußfragen. Diese Forschungsperspektive zu erschließen, ist das Anliegen des vorliegenden Beitrags. Dabei handelt es sich um programmatische Überlegun­ gen vorläufigen und tentativen Charakters: Ab­ sichtserklärungen werden formuliert, aber nicht eingelöst; wo man genauere Ausführungen erwar­ tet hätte, bleibt es bei Andeutungen; und es wer­ den viele Fragen gestellt, aber nur wenige werden beantwortet. Angesichts des unübiichen Themas könnte man der hier gewählten explorativen Dar­ stellungsform freilich zugute halten, daß sie eher als ihre konventionelleren Alternativen geeignet ist, erste Schritte auf unbekanntem Gelände zu wagen. Mit meinem Beitrag möchte ich zeigen, daß es sich lohnt, dies zu tun und die Provokation der VKI soziologisch ernstzunehmen. Es gilt über die Möglichkeiten einer „Sozionik“ (Malsch 1995, Malsch et al. 1996) nachzudenken, in der Soziolo­ gie und Technik eine neuartige, kreative Verbin­ dung eingehen. Wenn man dazu bereit ist und ei­ nen zweiten Blick riskiert, kann man sehen, daß die Bionik ganz ähnlich verfährt: Biologie und Technik unternehmen gemeinsame Anstrengun­ gen, um biologische Vorbilder und Phänomene des natürlichen Lebens für ihre technischen Entwick­ lungen zu nutzen. Unauthenticated Download Date | 10/31/17 3:22 AM 4 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 1, Februar 1997, S. 3-21 Wenn man sich weiterhin vor Augen führt, daß die Genetik ohne den Informationsbegriff, den sie ja ebenfalls aus einem völlig anderen Kontext über­ nommen hat, völlig undenkbar wäre, und daß selbst die Soziologie, beispielsweise die Luhmannsche, geradezu davon lebt, daß sie fremde Begriffe wie „binäre Codierung“ oder „Autopoiesis“ metaphorisiert, indem sie diese aus ihren informations­ wissenschaftlichen oder biologischen Entstehungs­ kontexten herauslöst und als Bausteine benutzt, um sie dem eigenen soziologischen Begriffsappa­ rat einzuverleiben und eine neue „Theoriebau­ technik“ zu begründen, dann verflüchtigt sich die exotische Aura der Frage, ob die Technik von der Gesellschaft lernen kann. Dann verweisen diese sehr unterschiedlichen Beobachtungen auf ein ge­ meinsames Innovationsmuster: auf den Innova­ tionspfad der „Metaphernmigration“. Ausgehend von ersten Vorüberlegungen zur Metaphernmigra­ tion werden wir im weiteren die VKI vorstellen und ihr Verhältnis zur Soziologie mit Blick auf das Problem der Formalisierbarkeit des Sozialen dis­ kutieren (freilich ohne schon einen befriedigenden Lösungsvorschlag präsentieren zu können), um dann wieder zur Metaphernmigrationsthese zu­ rückzukehren und weiterführende Präzisierungen vorzuschlagen. II. Metaphern sind nicht bloß als übertragene, „litera­ rische“ Wortbedeutungen, sondern mehr noch we­ gen ihrer kreativen Leistungen und ihrer Erfin­ dungskraft interessant. Darauf wird neuerdings immer nachdrücklicher und zwar vor dem Erfah­ rungshintergrund sehr verschiedenartiger fachwis­ senschaftlicher Diskurse hingewiesen (Joerges 1977, Sacks 1979, Krämer 1990, Nolan 1992, Paton 1994, Keller 1995, Maasen/Weingart 1995). Wie das geschieht und was da genau passiert, wenn Me­ taphern zu wissenschaftlichen oder technischen In­ novationen umgearbeitet werden, ist dagegen eine noch weitgehend ungeklärte Frage. In erster An­ näherung an unser Thema ist davon auszugehen, daß sich Metaphemmigrationen in mehreren Schritten vollziehen: Begriffe werden metaphorisiert, d.h. aus ihrem ursprünglichen Zusammen­ hang herausgelöst und in neuen Bedeutungszu­ sammenhängen „im übertragenen Sinne“ verwen­ det (z.B. soziale Kooperation oder Rollenerwar­ tung im Diskurs der VKI); die derart entstandenen Metaphern werden nach Maßgabe ihres neuen Verwendungskontextes zu neuen wissenschaftli­ chen Begriffen oder Paradigmen umgearbeitet; die neuen Theorien und Begriffe werden zu tech­ nologischen Innovationen weiterentwickelt (z.B. zu Multiagenten-Systemen der VKI); die techno­ logischen Innovationen werden als Computerpro­ gramme implementiert. Aus technikgenetischer Sicht interessieren hier vor allem die besonders prekären Schritte der technologischen Innovation und der Implementierung. Gleichwohl ist die gan­ ze Innovationskette zu beachten. Wenn man be­ denkt, daß der Innovationspfad der Metaphernmi­ gration auf jeder seiner Etappen scheitern kann, daß erfolgreiche Metaphernmigration eine höchst unwahrscheinliche Angelegenheit ist, daß auf vor­ ausgehenden Etappen möglicherweise weitrei­ chende Vorentscheidungen über die nachfolgen­ den Schritte des Innovationspfads getroffen wer­ den, dann darf man sich nicht auf die Untersu­ chung der letzten Migrationsschritte beschränken, sondern muß die Transformation von Sozialmeta­ phern in der VKI im Ganzen untersuchen. Mit der Frage nach den Sozialmetaphem in der VKI betreten wir Neuland. Man kann das nicht konstatieren, ohne der bisherigen soziologischen Forschung, die sich unter Aufbietung nicht eben geringer politischer, finanzieller und intellektuel­ ler Ressourcen von (Coulter 1979) bis (Collins 1995) mit der KI auseinandersetzte, zugleich ein arges Versäumnis Vorhalten zu müssen. Denn das Gros der Kl-interessierten Soziologen hat die VKI und ihre soziologische Herausforderung schlichtweg verschlafen. Das ist umso erstaunlicher, als sich die Entstehung der VKI ab 1980 gleichsam un­ ter den argwöhnischen Augen von Soziologen ab­ spielte, die zeitgleich begannen, sich der kogni­ tionswissenschaftlichen Herausforderung durch die klassische KI zu stellen. Dabei hätte sich die soziologisch inspirierte VKI durchaus als Bündnis­ partner im Streit mit dem kognitivistischen Para­ digma des klassischen „mainstream“ der KI angeboten. Dies zur Kenntnis zu nehmen hätte für die Soziologie dann freilich bedeutet, sich mit einer viel ernsthafteren, das soziologische Selbstver­ ständnis im Innersten berührenden Herausforde­ rung auseinandersetzen zu müssen. Auffällig ist je­ doch, daß die Soziologen, indem sie in der lärmen­ den Hauptströmung der offiziellen KI mitschwam­ men, ohne den stilleren Nebenarm der VKI zu be­ merken, sich in die erkenntnistheoretische, sprachphilosophische, phänomenologische KI-Kritik von Dreyfus, Searle, Haugeland u.a. unauffällig ein­ reihten, ohne daß es ihnen gelingen wollte, ein spe­ zifisch soziologisches Erkenntnisinteresse hinrei­ chend kenntlich zu machen. Warum das nicht ge­ Unauthenticated lang und warum diese ungleich wichtigere Ausein­ Download Date | 10/31/17 3:22 AM 5 Thomas Malsch: Die Provokation der „Artificial Societies' andersetzung unterblieben ist, läßt sich hier nicht abschließend klären. Jedenfalls kann man die wohlfeile Ausrede, daß Reizworte wie „Artificial Social Systems“ oder gar „Artificial Societies“ erst seit zwei oder drei Jahren zu zirkulieren begonnen haben, nicht gelten lassen. Denn die Herausforde­ rung der VKI liegt seit Ende der 80er Jahre un­ übersehbar auf dem Tisch. Dabei sieht sich die Soziologie auf dreifache Weise herausgefordert: als Konkurrentin, als Koopera­ tionspartnerin und als Beobachterin. Als Konkur­ rentin hat sie sich mit der theoretischen Frage aus­ einanderzusetzen, ob die Versuche der VKI, ge­ sellschaftliche Zusammenhänge als Computerpro­ gramme zu modellieren, gemessen an den („so­ ziologiereferentiellen“) Kriterien soziologischer Theoriebildung akzeptiert werden können, und in­ wieweit dies überhaupt möglich ist und vor allem: ob dies möglich ist, ohne unterstellen zu müssen, die Gesellschaft funktioniere wie ein Computer­ programm oder wie ein Netzwerk von Computern. Als Kooperationspartnerin kann sie gemeinsam mit der VKI die praktische Aufgabe angehen, so­ ziologische Konzepte zu simplifizieren und zu for­ malisieren, und dabei zu prüfen, wieweit das Ar­ beitsergebnis entweder für Soziologen oder für VKI-ler (oder für beide?) neue Erkenntnisfrüchte abwirft. Als Beobachterin ist sie zu strenger Neu­ tralität gegenüber den Erkenntnisansprüchen der VKI verpflichtet und hat empirisch zu beschrei­ ben, wie die VKI soziale Alltagsvorstellungen oder soziologische Konzepte aufgreift und verar­ beitet, in welcher Terminologie sie ihr eigenes Vor­ gehen beschreibt und nach welchen („VKI-referenziellen“) Kriterien sie ihre eigenen Arbeitser­ gebnisse bewertet. Dies ist die im weiteren einzu­ nehmende Perspektive, in der man sich zuallererst davor zu hüten hat, die metaphorische Zweckent­ fremdung soziologischer Begriffe durch die VKI als „Mißverständnis“ zu beklagen, so wie man sich mit Maturana völlig zurecht über Luhmanns miß­ bräuchliche Verwendung des Maturanaschen Be­ griffs der Autopoiesis beschweren mag, und gera­ de deshalb den entscheidenden Punkt verfehlt. Erst wenn wir diese Maxime beherzigen und auf wohlbegründete Klagsamkeit verzichten, können wir als Soziologen zu verstehen versuchen, welche Bedeutung die Sozialmetaphorik in der VKI hat. in. etwa fünfzehn Jahren in den USA entstanden ist. In der VKI-Gemeinschaft beschäftigt man sich mit der Frage, wie es möglich ist, technische Systeme zu entwerfen und herzustellen, die sich am Vorbild sozialer Systeme orientieren. Man tut dies erst in zweiter Linie deshalb, weil man begreifen möchte, wie menschliche Gesellschaften funktionieren. In erster Linie ist man auf der Suche nach allgemei­ nen, computertechnisch verwertbaren Funktions­ prinzipien der Komplexitätssteigerung, die es er­ möglichen, die Begrenzungen zentraler Kontrollarchitekturen zu überwinden. Die Stichworte dazu heißen Parallelität, Verteiltheit, Dezentralität, Ko­ operation, Emergenz. Dabei ist das „Urproblem“, das die VKI-Forschungen ausgelöst hat und bis heute antreibt, beileibe kein sozialwissenschaftli­ ches, sondern ein genuines Problem der klassi­ schen KI. Es ist das Unentscheidbarkeitsproblem der Deduktionslogik: Was geschieht, wenn zwei in sich geschlossene „Mikrotheorien“, die beide glei­ chermaßen das Recht der Deduktionslogik auf ih­ rer Seite haben, zu konträren Ergebnissen kom­ men? Dieser Widerspruch ist logisch unentscheid­ bar und läßt sich nur durch Verhandlung auflösen und das wiederum erklärt, warum „Verhandlung“ die erste Sozialmetapher ist, die Prominenz erlang­ te (Davis/Smith 1983). Es geht der VKI also dar­ um, die Grenzen von individueller maschineller Intelligenz durch Techniken des verteilten Pro­ blemlösens, der Multiagenten-Systeme, der offe­ nen Systemarchitekturen u.ä. zu überschreiten und leistungsfähige Programme zu entwickeln, die auf Prinzipien einer kooperativen, aushandlungsfähi­ gen und sozialen Intelligenz beruhen. Weil sich solche Prinzipien aber nicht aus der unmittelbaren Anschauung des Computers allein ergeben, gehört es nach Auffassung der „DAI community“ zu ih­ rem eigenen Kerngeschäft, über den Tellerrand der Computerwissenschaften hinauszublicken und sich von den Organisations- und Sozialwissen­ schaften, die an ähnlichen Fragen arbeiten, anre­ gen zu lassen. Daher hat die VKI nach ihrem eige­ nen Bekunden nicht nur ein starkes Interesse am interdisziplinären Diskurs, sondern versteht sich selbst als eine Forschungsrichtung, die ein massi­ ves Interesse daran hat, soziale Zusammenhänge zu verstehen. Dies wird in allen einschlägigen Ver­ öffentlichungen und Sammelbänden und nicht zu­ letzt auch in dem von Bond und Gasser herausge­ gebenen Dokumentationsband, der sogenannten „Bibel“ der VKI (Bond/Gasser 1988), nachdrück­ lich betont und als Leitmotiv herausgestellt. Die VKI (DAI, Distributed Artificial Intelligence) ist ein jüngerer Forschungszweig der KI, der vor Zwischen dem zukunftsweisenden Leitmotiv der interdisziplinären Unauthenticated Erforschung emergenter KoDownload Date | 10/31/17 3:22 AM 6 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 1, Februar 1997, S. 3-21 operation und dem heutigen „state of the art“ der technischen Entwicklung funktionsfähiger Multiagenten-Systeme besteht ein unverkennbares Spannungsverhältnis, und dieses Spannungsver­ hältnis ist das Thema, das aus techniksoziologi­ scher Perspektive besonders interessant ist. Inner­ halb der „DAI-community“ artikuliert sich dieses Spannungsverhältnis in Gestalt von zwei verschie­ denen Forschungs- und Entwicklungsinteressen: Das theoretische (Erkenntnis)Interesse der VKI besteht darin, soziale Kooperationsprozesse soge­ nannter autonomer Agenten zu verstehen und auf dem Computer nachzubauen, d. h. computerwis­ senschaftlich zu klären und zu erklären. Damit macht sie der Soziologie ein starkes Kooperations­ angebot, tritt aber zugleich als Konkurrentin auf den Plan. Das praktische (ingenieurtechnische) Interesse besteht darin, neuartige verteilte Syste­ me zu entwickeln, die die Mängel der klassischen KI überwinden und zur softwaretechnischen Er­ schließung der noch ungenutzten Potentiale einer neuen Generation von Parallelrechnern beitragen sollen. Dabei ist man sich in der „DAI-community“ weitgehend einig, daß beides zusammengehört und daß zwischen den theoretischen Erkenntnis­ zielen und den ingenieurtechnischen Entwick­ lungszielen ein enger Zusammenhang besteht. Einigkeit besteht weitgehend auch darin, daß die VKI mit Blick auf ihre beiden Ziele vor einem ungelösten „Gesellschaftskonstruktionsproblem“ (Müller 1993) steht, und daß die von der klassi­ schen KI bereitgestellten Konzepte nicht ausrei­ chen, um die Fragen der Kooperationsfähigkeit verteilter Intelligenz zu beantworten und lei­ stungsfähige technische Systeme zu entwickeln. Offen und ungeklärt bleibt insbesondere die Fra­ ge, wie das „Gesellschaftskonstruktionsproblem“ zu lösen ist und ob und wie man zur Lösung des Problems auf Sozialmetaphern, auf Alltagsvorstel­ lungen des Sozialen oder sogar auf soziologische Konzepte zurückgreifen kann. Ein Rückblick auf die Anfänge der VKI macht die Relevanz dieser Fragestellung deutlich. Damals machte Carl Hewitt, einer der Pioniere der VKI, in seinem Aufsatz zum „message passing“ frei nach G.H.Mead den Vorschlag, die Bedeutung einer Mitteilung an der Reaktion festzumachen, die sie beim Addressaten auslöst (Hewitt 1977), und tech­ nologische Systeme der KI als verteilte und par­ allele Systeme nach dem Vorbild einer sozialen Gemeinschaft von gleichberechtigt kooperieren­ den Wissenschaftlern zu konzipieren. Dieser Vor­ schlag wurde unter dem heute sprichwörtlich ge­ wordenen Titel der „scientific community meta­ phor“ (Kornfeld/Hewitt 1981) veröffentlicht, und damit begannen die Sozialmetaphern in den Com­ puterwissenschaften ihren Einzug zu halten. Seit­ her ist die Gesellschaftsmetapher in der VKI un­ trennbar mit der Idee verbunden, die Begrenzun­ gen der „closed world assumption“ und der „microtheories“ der klassischen KI durch die Ent­ wurfsprinzipien von „open systems“ und sozialer Kooperation (Hewitt 1986) zu überwinden. Be­ sonders bemerkenswert aber ist die Tatsache, daß die Sozialmetaphern auch außerhalb der VKI in anderen Zweigen der KI-Forschung, vor allem im Konnektionismus und neuerdings auch in der Ar­ tificial Life-Forschung, auf Resonanz stießen. So warnte Minsky in seiner „Society of Mind“ (Mins­ ky 1986), beeindruckt vom frischen Wind der konnektionistischen Ideen, die damals aufkamen und die Debatte neu belebten, eindringlich vor dem methodologischen Individualismus der klassischen KI. Stattdessen schlug er vor, Intelligenz als emergentes Phänomen zu konzipieren, das aus der Konnektivität vieler subintelligenter Elemente entsteht. Währenddessen gelangte die Arbeits­ gruppe um Holland auf einem ganz anderen Wege zur Modellierung sozialer Welten, nämlich über die Auseinandersetzung mit dem Induktionspro­ blem und der Entwicklung von induktiven Model­ len, mit denen die Entdeckung naturwissenschaft­ licher Gesetze simuliert werden sollte (Holland et al. 1987). Diese Arbeiten dürften resonanzverstärkend auf die VKI zurückgewirkt und der Konjunktur der Soziaimetaphern in den 90er Jahren weiteren Auf­ trieb gegeben haben. Was den Resonanzboden der Soziaimetaphern betrifft, ist damit zwar einiges klarer geworden, aber die grundsätzliche Frage, worin das Interesse der VKI an sozialen Meta­ phern wie „scientific community“, „negotiation“, „role expectation“ etc. besteht, harrt noch immer einer Antwort. Dem Rückgriff auf Sozialmetaphem liegt die Erwartung zugrunde, gesellschaftli­ che Funktionsprinzipien softwaretechnologisch exploitieren zu können. In der Tat stellt die Gesell­ schaft mit ihren Interaktions- und Organisations­ systemen eine erstrangige Ressource für die Ent­ wicklung paralleler Algorithmen und verteilter Multiagenten-Systeme dar, wie sie u.a. für die künftige multimediale Applikationssoftware („In­ formationsagenten“) in Internet und World Wide Web benötigt werden (Florian 1996). Soziale Sy­ steme scheinen über genau die Eigenschaften zu verfügen, die von den weltweiten kommunika­ tionstechnischen Netzwerken der Zukunft ver­ Unauthenticated langt werden. Soziale Systeme gelten als besonders Download Date | 10/31/17 3:22 AM 7 Thomas Malsch: Die Provokation der „Artificial Societies* robust und fehlertolerant, denn sie verfügen über enorme Fähigkeiten der Selbstreparatur und der Selbstevolution, und das macht sie für technologi­ sche Unternehmen wie die VKI so interessant und attraktiv. Daher ist zu erwarten, daß die heute in und außerhalb der VKI zu beobachtenden An­ strengungen, aus der Kombination von sozialwis­ senschaftlichen und computerwissenschaftlichen Ansätzen neue Technologien zu entwickeln, erst am Anfang stehen. Hier befindet sich die VKI of­ fenbar in einer ähnlichen Lage wie die neuen „kombitechnologischen“ (Jonas et al. 1995) For­ schungsgebiete Bionik, Artificial Life, Neuroinformatik, Bioinformatik etc., denen ein enormes tech­ nisches Entwicklungspotential attestiert wird. Auch hier scheint das Phänomen der Metaphern­ migration eine unübersehbare Rolle zu spielen, wobei man sich an biologischen Vorbildern und Begriffen orientiert: vom Gehirn über den Insek­ tenstaat bis hin zum Evolutionsbegriff. Wenn dies zutrifft und der VKI eine ähnliche Zukunft bevor­ steht wie den biologisch ausgerichteten Kombi­ technologien, dann dürfte das technologisch moti­ vierte Interesse an den Sozialmetaphern in den kommenden Jahren noch beträchtlich zunehmen. Eine Durchsicht neuerer Veröffentlichungen scheint diese Einschätzung zu bestätigen. So hat die Bereitschaft, am Vorbild tierischer oder menschlicher Gesellschaften zu lernen und intelli­ gente Computersysteme nach dem Muster sozialer Kooperation zu bauen, in den 90er Jahren weit über die Fachgrenzen der VKI hinaus in der ge­ samten „AI Community“ ihre Wurzeln geschlagen und beträchtlich an Einfluß gewonnen (Gasser 1992, Bibel 1995, Staniford/Paton 1995, Wooldridge/Jennings 1995). Inzwischen beschränkt man sich nicht mehr nur darauf, von der Gesellschaft lernen zu wollen, sondern verfolgt das ehrgeizige Ziel, Algorithmen für ganze Gesellschaftsstruktu­ ren auszuarbeiten und künstliche Gesellschaften (Gilbert 1991, Burkhard 1993, Radermacher 1995) zu entwerfen. Tagungsbände mit programmati­ schen Titeln wie „Simulating Societies“ (Gilbert/ Doran 1994), „Artificial Social Systems“ (Castelfranchi/Werner 1994) und „Artificial Societies“ (Gilbert/Conte 1995) unterstreichen diesen An­ spruch. Dabei scheint man sich mehr und mehr der Tatsache bewußt zu werden, daß man es bei der Modellierung von Multiagenten-Systemen zu­ gleich mit einem zentralen Problem soziologischer Theoriebildung zu tun hat: dem „micro-macro link“ zwischen gesellschaftlichem Handeln und Sozialstruktur. Unter Verweis auf Arbeiten von Alexander, Giesen, Münch und Smelser (Alexan­ der et al. 1987) führen Conte und Castelfranchi folgendes aus: „AI is required in the treatment of the well-known problem of the micro-macro link. Only by representing (either formally or experi­ mentally) agents’ internal mechanisms, interac­ tions and global functions can we have a chance to solve this problem in a non-speculative way. On the other hand, in order for AI to provide a sig­ nificant contribution, and deal with issues of social theory in a non-naive way, it must be able to handle social science’s typical puzzles and relevant data, and closely approach existing theories.“ (Conte/Castelfranchi 1995, S. vi) Das mag in sozio­ logischen Ohren provozierend klingen. Und wenn man dann noch lesen muß, daß Hewitt das ehrgei­ zige Ziel verfolgt „to accomplish the task of provi­ ding adequate foundations for Sociology“ (Hewitt 1991: 100), dann ist das in der Tat starker Tobak. Aber wir sollten uns weder zu vorschnellem Urteil hinreißen lassen noch unter Verweis auf längst er­ ledigte soziologische Kontroversen müde abwin­ ken. Stattdessen kommt es darauf an, genau hinzu­ hören. Man muß schon auf Zwischentöne achten, um die feinen Unterschiede bemerken zu können, die zwischen naiver Anmaßung und wissenschaftli­ cher Ernsthaftigkeit bestehen. Wenn wir das tun, stoßen wir auf einen bemer­ kenswerten Unterschied im Metapherngebrauch der VKI: auf den Unterschied zwischen gesell­ schaftlichen Alltagsvorstellungen und soziolo­ gischen Begriffen. In den Publikationen der VKI werden soziale Metaphern zumeist naiv (Compu­ terlinguisten würden sagen: natürlichsprachlich) verwendet, d.h. man greift auf alltagssprachliche Vorstellungen des Sozialen zurück, ohne sich mit der Anstrengung sozialwissenschaftlicher Begriffs­ bildung zu beschweren. Demgegenüber ist der Re­ kurs auf soziologische Theoriebegriffe eher die Ausnahme. Auch hier war es Ende der 70er Jahre zunächst wiederum Carl Hewitt, der in Zusam­ menarbeit mit Soziologen wie Gerson und Star die Weichen in Richtung Soziologie stellte, und im Anschluß an Hewitt war es vor allem Les Gasser, der ab Mitte der 80er Jahre die „Sozionisierung“ programmatisch vorantrieb und auf eine soziologi­ sche Fundierung der VKI hinarbeitete. Die tech­ niksoziologische Bedeutung des Programms einer soziologischen Grundlegung der VKI liegt meines Erachtens darin, daß sie von ihren Protagonisten primär technologisch legitimiert wird. Diese ist nämlich nicht primär durch soziologische Erkennt­ nisinteressen motiviert. Es geht hier nicht in erster Linie darum, Gesellschaft zu erklären, sondern es Unauthenticated geht vor allem darum, neuartige Computertechno­ Download Date | 10/31/17 3:22 AM 8 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 1, Februar 1997, S. 3-21 logien zu erfinden und bessere Softwaresysteme zu bauen. Dazu muß man wissen, daß die VKI bei der Modellierung von sehr großen („large scale“) Multiagenten-Systemen, wie sie für „real world appli­ cations“ benötigt werden, vor schier unlösbaren Komplexitätsproblemen steht. Das zentrale Argu­ ment der von Gasser so energisch verfochtenen Position lautet nämlich: ohne soziologische Fun­ dierung kein substantieller Fortschritt in der VKI und somit auch kein technologischer Durchbruch zu „large-scale open systems“ (Gasser 1991). Das ist offenkundig das glatte Gegenteil von dem, was Hewitt, Castelfranchi und Conte mit ihrer Idee ei­ ner computerwissenschaftlichen Fundierung der Soziologie leisten wollen. Für Techniksoziologen, die sich für die innovative Kraft von Sozialmeta­ phern interessieren, ist Gassers These zweifellos das interessantere Studienobjekt. IV. Gegenüber den Ansprüchen und Vorschlägen der „DAI community“ werde ich versuchen, zugleich eine kritische Position und die Rolle des neutralen Beobachters einzunehmen. Das gilt sowohl für das starke „sozionische“ Paradigma von Gasser und Hewitt als auch für schwächere Varianten, die frei von soziologischen Ambitionen mit Vorgefunde­ nen sozialen Alltagsvorstellungen operieren. Aus dieser gegenüber den wissenschaftlichen Wahrheits- sowie den technischen Wirksamkeitsansprü­ chen des „Feldes“ zugleich unparteiischen wie kri­ tischen Perspektive interessieren die folgenden programmatischen Fragen: Wie wird in den Veröf­ fentlichungen der VKI auf Sozialmetaphern Bezug genommen? Welche (vermeintliche, faktische oder potentielle) Relevanz haben soziale Alltags­ vorstellungen und soziologische Begriffe in der Außendarstellung und im technologischen Inno­ vationsprozeß der VKI? Und andersherum, näm­ lich aus der ingenieurtechnischen Perspektive ge­ fragt: Welche technischen Innovationen hat die VKI bisher hervorgebracht und wie wurden sie er­ zeugt? Wie greifen die (gesellschafts)theoretischen und (ingenieur)praktischen Interessen der VKI ineinander? In welchem Sinne beanspruchen Vertreter der VKI wie Hewitt oder Castelfranchi, soziologische Konzepte oder soziale Systeme mit ihren Mitteln angemessen modellieren zu können? Oder um die Frage provokant zuzuspitzen: In wel­ chem Sinne meinen sie die Soziologie belehren zu können? Die hier genannten Fragen kreisen um zwei Problemkomplexe: den der (direkten oder in­ direkten) Exploitierbarkeit gesellschaftlicher Vor­ bilder und der Inspirationskraft von Phänomenen des sozialen Lebens für die Erforschung, Entwick­ lung und Erprobung neuartiger verteilter Informa­ tions- und Kommunikationstechniken; und den der Differenzen zwischen VKI und soziologischer Theorie um die richtige Erklärung des Sozialen. An dieser Stelle ist nun etwas genauer auszufüh­ ren, wie es dazu kam, daß die Soziologen, die sich mit der klassischen KI auseinandersetzten, die VKI übersehen konnten. Einerseits ist das ein gänzlich überraschender Befund, da die Soziologie durch die VKI und ihren metaphorischen Gesell­ schaftsbezug doch ganz unmittelbar angesprochen und durch ihren impliziten soziologischen Erklä­ rungsanspruch direkt herausgefordert ist. Ande­ rerseits ist das wiederum gar nicht so überra­ schend, wenn man sich mit den Eigentümlichkei­ ten der soziologischen KI-Rezeption bekannt macht. Daß die zunächst kleine, dann aber schnell wachsende Schar von Soziologen, die sich in den letzten zehn Jahren mit der klassischen KI ausein­ andersetzte, die Herausforderung der VKI überse­ hen konnte, hat zunächst einmal einen ganz bana­ len Grund. Die VKI stand jahrelang im Schatten ihrer großen Schwester, der klassischen KI, und gewann erst mit dem Ende der 80er Jahre soweit an Statur, daß sie nicht mehr übersehen werden konnte. Inzwischen hatte sich die soziologische KIRezeption längst auf eine andere Gegnerin einge­ stellt, nämlich auf die „computational metaphor“ der großen Schwester, von der Nolan in aller Be­ scheidenheit sagen konnte, es handele sich um eine „extremely influential notion“ (Nolan 1992). Damit ist schon fast alles gesagt. Es galt, die machtvolle Deutung des Ich, der Welt und der Ge­ sellschaft nach dem Bilde des Computers abzu­ wehren. Und nachdem sich die Soziologen erst einmal in diese von anderen Disziplinen vorgege­ bene Schlachtordnung um die Deutungsmacht der computationalen Metapher eingereiht hatten, mußten sie sich in immer neuen Variationen und mit immer unergiebigeren „fringe benefits“ an der Frage abarbeiten, ob Maschinen denken können. Dabei ist diese Frage ungefähr so leicht zu beant­ worten wie die, ob Maschinen arbeiten können: selbstverständlich können sie das! Statt die frucht­ lose pro- und anticartesianische Frontstellung zu unterlaufen und sich der Frage zuzuwenden, wie und auf welche Weise die Reproduktion des sozia­ len Lebens technisch und wie die Technik ihrer­ seits gesellschaftlich vermittelt ist, blieben sie im Streit um den Hiring Test oder um John Searles Unauthenticated berühmt gewordenes chinesisches Zimmer auf ein Download Date | 10/31/17 3:22 AM 9 Thomas Malsch: Die Provokation der „Artificial Societies4 präsoziologisches Weltverhältnis des individuellen Menschen fixiert. Um im Bilde zu bleiben: Die So­ ziologen blieben eingesperrt im selbstgewählten Stubenarrest des chinesischen Zimmers, ohne zu einer gegenüber den Philosophen und Psycholo­ gen eigenständigen soziologischen Problemstel­ lung vorzustoßen. In dieser Lage war es außeror­ dentlich schwer, die Beziehung von Gesellschaft und Computer anders zu sehen als im Perzeptions­ schema der extrem einflußreichen computationalen Metapher, die die Gesellschaft nach ihrem Bil­ de prägt. So wurde auch die VKI kaum anders denn als eine Unterart der die computationale Geistmetapher propagierenden Kognitionswissen­ schaften wahrgenommen, die gegenüber dem „mainstream“ der KI nichts neues zu bieten schien. So gesehen wird verständlich, warum die Soziolo­ gen, abgesehen von Gerson und Star, die aus dem unmittelbaren Kreis um Gasser und Hewitt stam­ men und sich bezeichnenderweise nicht am allge­ meinen Streit um die KI beteiligten, die VKI bis heute ignorieren konnten. Die Literaturübersicht spricht hier eine ganz klare Sprache. Zwar liegen viele soziologische Veröffentlichungen zur klassi­ schen KI vor und inzwischen ist sogar, wenn auch mit dem üblichen akademischen Viertel verspätet gegenüber der angloamerikanischen Debatte, ein Sammelband zur KI-Rezeption in der deutsch­ sprachigen Soziologie erschienen (Rammert 1995). Doch das Teilgebiet der VKI wird von den Soziologen, von einer (rühmlichen?) Ausnahme abgesehen (Baecker 1995), ebensowenig zur Kenntnis genommen wie die Rolle der Sozialmeta­ phern im Innovationsprozeß von „advanced com­ putation“. Blickt man über die deutschsprachige Literatur hinaus und nimmt die soziologischen Veröffentlichungen insgesamt in Augenschein, so lassen sich diese etwa folgendermaßen einteilen: Studien zur Geschichte und zu den wissenschaftsund forschungspolitischen Entstehungsbedingun­ gen der „AI community“ (Fleck 1982, Ahrweiler 1995); Auseinandersetzungen mit den erkenntnisund kognitionstheoretischen Ansprüchen und Grenzen der KI sowie zur wissenschaftstheoreti­ schen Grundlagengeschichte des Computers (Coulter 1979, Woolgar 1987, Wolfe 1991, Heintz 1993); diskursanalytische Arbeiten zur maschinel­ len Sprachverarbeitung, zu den sogenannten na­ türlichsprachlichen Systemen und zur MenschMaschine-Kommunikation (Gilbert/Heath 1985, Suchman 1987, Luff et al. 1990); Untersuchungen über die Probleme der Wissenstransformation und die Entwicklungsmethoden der sogenannten Wis- sensaquisition (Collins 1987, Malsch 1987, Forsy­ the 1993, Becker et al. 1994); und vor allem Stu­ dien über die Einsatzbedingungen, das schwächli­ che Leistungsvermögen und die sozialen Folgen der mit viel Vorschußlorbeer bedachten wissens­ basierten Expertensysteme (Collins 1990, Hatchuel/Weil 1990, Bachmann et al. 1992, Malsch et al. 1993, Rammert et al. 1993, Degele 1994, Rei­ cherts 1994). Auffällig daran ist, daß sich das soziologische In­ teresse vor allem an Themen wie dem „Akquisi­ tionsdialog“ zwischen Experte und Wissensinge­ nieur, der Mensch-Maschine-Kommunikation oder der Interaktion zwischen Expertensystem und Benutzer festmacht. Stets geht es den Soziolo­ gen darum, den menschlichen Akteur ins Spiel zu bringen und zu zeigen, wie Menschen intelligente Programme produzieren und wie sie sie benutzen. Dabei geht man pro- oder antithetisch von der bald energisch verteidigten (Wolfe 1991), bald ve­ hement geleugneten Differenz (Woolgar 1985) des Gesellschaftlichen und des Technischen aus und setzt sich mit der Frage auseinander, was es heißt, die Derivattechniken der KI als sozial konstituiert zu betrachten. So geht es denn in der soziolo­ gischen KI-Rezeption, wie auch im neuerlich ent­ flammten soziologischen Forschungsinteresse am Cyberspace und an den virtuellen Welten des In­ ternet, typischerweise um die zwischen Technikfol­ gen und Technikgenese angesiedelten, zweifellos wichtigen Fragen, warum an sich dumme, weil al­ lein und auf sich selbst gestellt, handlungsunfähige computationale Programme und Netzwerke gleichwohl, sofern in gesellschaftliche Kontexte eingewoben, für uns intelligent sein können; wie sie mit ihrer technischen Intelligenz das kulturelle Leben, die Erwerbsarbeitswelt und die politische Öffentlichkeit „informatisieren“; und wie sie unse­ re gesellschaftlichen Vorstellungen von „Intelli­ genz“ und „Wissen“ formen, vielleicht sogar per­ vertieren können. Im Kern geht es letztendlich im­ mer wieder um das, was Soziologie und klassische KI gemeinsam zu erklären beanspruchen: Wissen. Das gemeinsame Erkenntnisinteresse am Wissens­ begriff wird denn auch von Collins bis Rammert, sofern die Soziologen angesichts der hilfsbedürfti­ gen Derivattechniken der KI, auf die sie bei ihren empirischen Untersuchungen stießen, nicht auf der Stelle zu theoretisch desinteressierten, dafür gutwilligen soziotechnischen Designwissenschaft­ lern mutierten, als die eigentliche Herausforde­ rung für unsere Disziplin angesehen. Spätestens hier beginnt man jedoch, sich im Kreise zu drehen: Wissenstechnik ist Unauthenticated „sozial konstruiert“, weil sie Download Date | 10/31/17 3:22 AM 10 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 1, Februar 1997, S. 3-21 ebenso wie menschliches Wissen sozial situiert, eingebettet, kontextuiert, adressiert ist und nie­ mals für sich selbst stehen kann; und sie ist einge­ bettet, weil sie „sozial konstruiert“ ist; man ersetze den Turingschen Laborversuch durch die realge­ sellschaftlichen Bedingungen und Anforderungen und erhalte den von Star vorgeschlagenen „Dürk­ heim Test“ (Star 1989), eine ökologisch akzeptable Bewährungsprobe für die These der „sozialen Konstruiertheit“ maschinellen Wissens, die dann ihrerseits wiederum für ein sozialverträgliches Softwaredesign in Anspruch genommen werden kann. Aber so verlagert man die Problemstellung bloß. Ob Turing- oder Durkheim-Test: Das Wissen der Wissenstechnik ist dann nichts anderes als eine Inskription durch Menschen, die mit der Wissens­ technik interagieren. Wenn man nun bedenkt, daß sich „dieses Produkt einer Zuschreibung weder der Maschine noch dem Menschen, sondern ihrer Interaktion oder eben: Kommunikation, ver­ dankt“ (Baecker 1995:165) könnte man eigentlich auch gleich fragen, wie sich der interaktive Aufbau von „Zuschreibungen“ (oder um den semantisierenden Beigeschmack des radikalen Konstrukti­ vismus zu tilgen: von gesellschaftlichen Hand­ lungsstrukturen) maschinell darstellen ließe, und hätte damit unversehens die Grundfrage der ver­ teilten KI gestellt. Baecker hat dies zwar gesehen, hat aber die grundlegende Bedeutung der Diffe­ renz zwischen klassischer und verteilter KI nicht klar genug markiert und so die spezifisch soziolo­ gische Herausforderung der VKI nicht sichtbar machen können (Baecker 1995: 177ff). Das liegt wohl daran, daß man sich offenbar (noch?) nicht vorstellen kann, wie soziale Konstruktionsprozes­ se auf soziologisch nicht-triviale Weise durch Computerprogramme darzustellen wären. Um ein besonderes soziologisches Interesse an der VKI zu begründen, ist es zweckmäßig sich zu ver­ gegenwärtigen, worin sich die Herausforderungen der Soziologie durch die VKI von der durch die klassische KI unterscheiden. Die Antwort auf die­ se Frage findet sich im gemeinsamen Gegen­ standsbereich der beiden Disziplinen. Das soziolo­ gische Erkenntnisinteresse besteht darin, Gesell­ schaft zu erklären, und das ist der entscheidende Grund, sich als Soziologe für die VKI zu interes­ sieren. Selbst wenn es der VKI in erster Linie dar­ um geht, computerwissenschaftliche Innovationen zu erzeugen und Softwaresysteme zu bauen, arbei­ tet sie mit ihren Multiagenten-Systemen nolens volens immer auch daran, Gesellschaft zu verste­ hen, also Gesellschaftserklärungsmodelle hervor­ zubringen. Genau das ist auch der Grund, warum von der Soziologie eine besondere Sensibilität hin­ sichtlich der Sozialmetaphern in der VKI erwartet werden darf. Und das gilt umso mehr, als sich die VKI mit ihren protosoziologischen Ambitionen, d. h. mit der Frage nach der technischen Modellier­ barkeit des sozialen Lebens, ja nicht erst seit ge­ stern, sondern bereits vor anderthalb Jahrzehnten, als man die klassische KI als soziologisches For­ schungsthema eben erst zu „entdecken“ begann, zu Wort meldete und damit die Grenze zum ange­ stammten Terrain der Soziologie überschritt. Demgegenüber teilen Soziologie und klassische KI lediglich den gemeinsamen Gegenstandsbereich des Wissens. Das betrifft, wenn man Soziologie nicht in Semantik auflösen will, also nur einen Teil­ bereich des soziologischen Erkenntnisinteresses. Was nun die impliziten oder expliziten soziolo­ gischen Ambitionen der VKI betrifft, so ist es in­ struktiv, sich ihrer Abgrenzung gegenüber klassi­ scher KI und modernem Konnektionismus zuzu­ wenden. Dabei begegnen uns immer wieder zwei Begriffe, um die das Denken der VKI kreist: Agent und Kooperation. Mit diesen Begriffen ver­ sucht die VKI einen Weg zu gehen, der sich sowohl vom individualistischen Intelligenzbegriff der tra­ ditionellen symbolischen KI als auch vom subsym­ bolischen Intelligenzbegriff des Konnektionismus und seinen neuronalen Netzen unterscheidet. Während der „klassische“ Ansatz der symboli­ schen KI von der kognitivistischen Grundannah­ me geprägt ist, intelligentes Handeln sei allein dem Einzelakteur zuzurechnen und funktioniere nach den irreduziblen Prinzipien der logischen Symbol­ verarbeitung, ist der Konnektionismus daran inter­ essiert, die Funktionalität des Gehirns mit Compu­ terprogrammen (den sogenannten neuronalen Netzen) „subsymbolisch“ darzustellen. Danach ist Intelligenz als emergentes Phänomen anzusehen, das aus der neuronalen Verbindung vieler „dum­ mer“ oder „blinder“ Komponenten hervorgeht. Die Kontroverse zwischen symbolischer und sub­ symbolischer KI kann an dieser Stelle nur ange­ deutet werden. Daher nur soviel: Beide Ansätze sind nach Auffassung der VKI kaum geeignet, um die soziale Kooperation vieler intelligenter, (teil)autonomer Agenten zu erfassen und angemessen zu modellieren. Die symbolische KI vertritt zwar ein hochabstraktes „humanoides“ Intelligenzkon­ zept, wonach Denken nichts anderes ist als Sym­ bolmanipulation nach syntaktischen Regeln. Aber dieser Intelligenzbegriff beruht auf den Grundan­ nahmen einer bis auf Descartes zurückgehenden „asozialen“ Robinsonade, d. h. das denkende Ich wird als außerhalb Unauthenticated des gesellschaftlichen LebensDownload Date | 10/31/17 3:22 AM 11 Thomas Malsch: Die Provokation der „Artificial Societies' Zusammenhangs stehend konzipiert: „Current AI is largely asocial, and because of this, it has been inadequate in dealing with much human behavior and many aspects of intelligence.“ (Gasser 1991: 108) Dagegen verfügt die subsymbolische, konnektionistische KI mit ihren spezifischen Formalis­ men, die den Neuronen und Synapsen des Gehirns nachempfunden sind, wenigstens über einen rudi­ mentären Interaktionsbegriff, aber sie muß pas­ sen, wenn sie die soziale Interaktion von mensch­ lichen Akteuren modellieren soll, die mit eigenem Willen und Bewußtsein begabt sind. Demgegen­ über geht man in der VKI im Unterschied zum klassischen Ansatz der sogenannten physikali­ schen Symbolsysteme und zum subsymbolischen Paradigma des Konnektionismus von der Leitvor­ stellung einer Gesellschaft vieler intelligenter und sozialkompetenter Akteure aus und beansprucht, geeignetere konzeptionelle Mittel (MultiagentTestbeds, agentenorientierte Programmierspra­ chen) bereitstellen zu können, um gesellschaftli­ che Aushandlungs- und Koordinationsprozesse zu modellieren. V. Wenn die Soziologie dies zur Kenntnis und die protosoziologischen Ansprüche der VKI-Forschung ernst nimmt, muß sie sich mit der Frage nach der soziologischen Angemessenheit compu­ tertechnischer Modelle des Sozialen in einer Weise auseinandersetzen, die die Turing- und DurkheimTests hinter sich läßt. Wenn sie die Konstruktion des Technischen nach dem Vorbild des Gesell­ schaftlichen zu denken beginnt, muß auch die alte Schlachtordnung um die computationale Meta­ pher des Geistes durcheinander geraten. Denn ei­ nerseits werden VKI-ler und Soziologen sich als Konkurrenten, möglicherweise aber auch Koope­ rationspartner, hinsichtlich der Deutung und Er­ klärung von Gesellschaft betrachten müssen. An­ dererseits sind sie quasi natürliche Bündnispartner in gemeinsamer Skepsis gegenüber dem kognitivistischen Ansatz und im Streit mit der traditionel­ len KI. Die Soziologie hat ja, seit sie vor etwa fünf­ zehn Jahren die KI „entdeckte“, das in der klassi­ schen KI dominierende kognitivistische Paradig­ ma der Philosophie des Geistes stets kritisiert und ihren eigenen Wissensbegriff dagegengehalten, freilich, so wird man retrospektiv wohl einräumen müssen: ohne besonders viel dabei gelernt zu ha­ ben. In dieser Auseinandersetzung ging es nicht ei­ gentlich um den methodologischen Individualis­ mus der klassischen KI, sondern um ihr positivi­ stisch halbiertes Wissenschaftsverständnis. Das wurde vor allem in der Kontroverse um die soge­ nannten „discovery programs“ der KI und um den Erklärungsanspruch der sozialkonstruktivistischen Wissenschaftssoziologie deutlich. In der „SlezakDebatte“ (Slezak 1989, Social Studies of Science V o ll9/1989) um die Wissenschaftsforschung, in welcher Anhänger der KI und der Wissenschafts­ soziologie mit großer Vehemenz aufeinander ein­ schlugen und um „kognitive“ Konstitution versus „soziale“ Konstruktion wissenschaftlicher Entdekkungen stritten, wurde dies geradezu exemplarisch vorgeführt (zur detaillierten Kommentierung des Pro und Contra vgl. Kertösz 1993). Dabei ging es um die grundlagentheoretische Frage, ob wissen­ schaftliche Entdeckungen kraft ihres sachlichen Inhalts gültig sind oder ob sie sich durch Aushand­ lungsprozesse soziale Geltung verschaffen, und ob die in der klassischen KI-Forschung entwickelten „discovery programs“ fähig oder unfähig sind, na­ turwissenschaftliche Gesetze zu entdecken. Wir brauchen diese Kontroverse hier nicht weiter nachzuvollziehen. Hier genügt es deutlich zu ma­ chen, daß die Soziologie die KI stets vor allem als wissenschaftliche Konkurrenz aufgefaßt hat. Geht man den Motiven nach, die sich hinter dieser Kritik verbergen, so kommt eine tiefsitzende so­ ziologische Skepsis nicht nur gegenüber einem in­ dividualistischen Erkenntnisbegriff, sondern ge­ genüber den Möglichkeiten der Formalisierung und Kodifizierung von Wissen schlechthin zum Vorschein. Dieser Vorbehalt, der wohl am schärf­ sten von Woolgar formuliert worden ist (Woolgar 1987, gegen Woolgar vgl. aber Mcllvenny 1990), wird in fast allen soziologischen Stellungnahmen zur KI vorgetragen, dabei freilich mit je unter­ schiedlicher Begründung und mit je anderer Akzentsetzung versehen (vgl. zuletzt Collins 1995 und die Beiträge im Sammelband von Rammert 1995). Daß sich die soziologische Kritik auf die „asoziale“ kognitivistische Idee des einsamen Er­ kenntnis- und Handlungssubjekts der KI bezieht, kann nicht überraschen. Daraus indes zu folgern, daß die Soziologie die VKI mit offenen Armen empfangen würde, weil ja beide in gemeinsamer Front gegen die kognitivistischen Konzepte der klassischen KI stehen, wäre jedoch mehr als vorei­ lig. Vielmehr dürfte das Gegenteil der Fall sein, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen ist der „mainstream“ der VKI keineswegs prononciert antikognitivistisch eingestellt, sondern orientiert sich noch weitgehend am Akteursbegriff der klas­ Unauthenticated sischen KI (Schuiz-Schaeffer 1993). Und zum Download Date | 10/31/17 3:22 AM 12 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 1, Februar 1997, S. 3-21 anderen gilt umgekehrt für den „mainstream“ der Soziologie, daß dort wenig Zutrauen in die Inno­ vations- und Aussagekraft formaler Modelle be­ steht, vor allem wenn diese mit explizit soziologi­ schem Theorieanspruch auftreten. Jedenfalls fin­ det sich, vielleicht mit Ausnahme von James Cole­ man, unter den bekannteren Namen, die das Bild der Gegenwartssoziologie prägen, kaum einer, der der Formalisierung oder gar einer Algorithmisie­ rung soziologischer Grundprobleme das Wort re­ det. Inwiefern lassen sich soziale Welten auf dem Com­ puter nachbilden und inwieweit können Compu­ termodelle dem sozialwissenschaftlichen Gegen­ stand „Gesellschaft“ gerecht werden? Auch wenn ich die Antwort schuldig bleiben muß, ist es zum Verständnis der Problemstellung unerläßlich, die Formalisierungsfrage zu stellen und ihr einen an­ gemessenen (nämlich zweitrangigen) Ort im sozionischen Argumentationszusammenhang zuzuwei­ sen. Um wenigstens die Richtung anzudeuten, in der nach Antworten zu suchen ist, dürfte es nütz­ lich sein, einen Blick auf die Gemeinsamkeiten von symbolischer KI und Konnektionismus zu werfen. Als Forschungszweige der Informatik ste­ hen beide ja ebenfalls vor einem Problem der Übereinstimmung von Modell und Realität (Malsch 1992) und vielleicht lassen die dort gefun­ denen Lösungen erste Rückschlüsse auf die informatische Modellierbarkeit von Gesellschaft zu. Bemerkenswert ist allein schon die Tatsache, daß beide versuchen, wissenschaftlich angemessene Modelle je unterschiedlicher Realitätsausschnitte mit computerwissenschaftlichen Mitteln zu bauen, ohne über die den jeweiligen Realitätsausschnitt betreffende fachwissenschaftliche Kompetenz zu verfügen. Um realitätsangemessene Computermo­ delle entwerfen zu können, sind sie auf Theorien angewiesen, die sie von den zuständigen Fachwis­ senschaften übernehmen, d. h. sie sind auf die Mit­ arbeit von Philosophie, Psychologie und Neurolo­ gie angewiesen. Was die klassische KI angeht, so orientiert sie sich an der philosophischen Auffas­ sung von menschlicher Intelligenz als Symbolver­ arbeitung und an der „physical symbol systems hy­ pothesis“ (Newell/Simon). Ihre Leitidee ist die computertechnische Modellierbarkeit des mensch­ lichen Geistes, und hier lautet die Frage: Kann der Ansatz der physikalischen Symbolsysteme dem Gegenstand „Denken“ gerecht werden? Das muß sich nach Auffassung der klassischen KI an Com­ putermodellen erweisen können, die die Opera­ tionsweise des menschlichen Intellekts imitieren. Dementsprechend müssen sich die Programme der KI an ihrer Übereinstimmung mit dem mensch­ lichen Geist wissenschaftlich legitimieren, und sie tun das, indem sie Anleihen machen bei Philoso­ phie, Psychologie und Linguistik. Solange die Übereinstimmung nicht erwiesen ist, entsprechen die Programme nur in einem hypothetischen oder metaphorischen Sinne dem, was die alteuropäi­ sche Aufklärung als „Geist“ bezeichnete. Ähnliches gilt für die Gehirn- und Lebensmeta­ phern aus Neurologie und Biologie. Auch hier ha­ ben Informatiker ihre Anleihen gemacht (Paton 1994). Es geht um die computertechnische Abbil­ dung von Gehimfunktionen durch neuronale Net­ ze oder um die informatische Modellierung biolo­ gischer Vorgänge durch sogenannte evolutionäre Algorithmen (Holland, Varela). Auch hier stellt sich die Frage: Können diese Computerprogram­ me der Realität „Gehirn“ oder „Evolution“ ge­ recht werden? Stimmen sie mit dem neurologi­ schen oder biologischen Stand der Forschung überein? Und hier sind es die Biologen und Neu­ rologen, die über die Übereinstimmung zwischen Programm und Realität aus wissenschaftlicher Perspektive zu entscheiden haben. Hier wie in der symbolverarbeitenden KI gilt, daß sich die ent­ sprechenden Computerprogramme an externen Referenzen bewähren müssen, die außerhalb der Computerwissenschaften liegen, nämlich bei den zuständigen Fachwissenschaften. Die Referenzkri­ terien, an denen sich die Computerprogramme messen lassen müssen, die beanspruchen als künst­ liche Intelligenz, künstliches Gehirn oder künstli­ che Evolution bezeichnet werden zu wollen, wer­ den von den fachwissenschaftlichen Diskursen der Biologie, Neurologie, Kognitionspsychologie usw. festgelegt und bleiben insofern außer-informatisch. Es ist nicht die Informatik, sondern es sind stets andere Wissenschaften, die die Validitätskri­ terien festlegen und darüber wachen, ob und in welchem Geltungsbereich die vorgestellten Com­ putermodelle voll und ganz oder nur annähernd oder gar nur metaphorisch stimmen. Was nun die „Artificial Social Systems“ oder ähnli­ che Unternehmen der Modellierung des Sozialen betrifft, so erhellt sich aus dem zuvor Gesagten, daß auch hier eine bestimmte Disziplin zuständig ist, nämlich die Soziologie. Das gilt jedenfalls dann, wenn man mit Computerprogrammen ange­ messene Aussagen über „das Soziale“ zu treffen beansprucht und die Auffassung teilt, daß soziale Tatsachen nicht unmittelbar aus der Teilnehmer­ perspektive begriffen werden können, sondern der Vermittlung durch soziologische Theorien bedür­ Unauthenticated fen. Insofern müssen soziale Tatsachen soziolo­ Download Date | 10/31/17 3:22 AM 13 Thomas Malsch: Die Provokation der „Artificial Societies' gisch rekonstruiert werden, bevor sie mittels eines Computermodells angemessen dargestellt werden können. Dahinter steht die These, daß soziologi­ sche Begriffe aus dem unmittelbaren Erleben nicht umstandslos konzeptualisiert und modelliert werden können. Aus dem Blickwinkel des am sozialen Geschehen unmittelbar Beteiligten kann es nur zu einer unzulänglichen und naiven Katego­ rienbildung kommen. Angemessen lassen sich so­ ziale Tatsachen erst dann modellieren, wenn sie zuvor in soziologische Begriffe umgearbeitet wur­ den. Wenn man also den Gedanken akzeptiert, daß auch hier eine Fachwissenschaft zu konsultie­ ren ist, nämlich die Soziologie, dann kann man die Auffassung vertreten, daß die VKI an der Soziolo­ gie nicht vorbei kommt, wenn ihr daran gelegen ist, angemessene künstliche Gesellschaften oder virtuelle Gemeinschaften zu bauen. Bekanntlich stehen viele Soziologen der Idee, for­ male Modelle des Sozialen zu entwickeln, skep­ tisch gegenüber. Sie halten bei allem Respekt für den Wissenschaftspluralismus in den eigenen Rei­ hen recht wenig von der Idee, soziales Handeln, Kommunikationsverhältnisse, Gruppenbeziehun­ gen, Institutionen oder Gesellschaftsstrukturen auf dem Computer nachzubauen. Ich beschränke mich hier auf die zentralen Argumente, mit denen sich der Erkenntnisgewinn entsprechender Com­ puterprogramme aus soziologischer Sicht bestrei­ ten läßt: Die „faits sociaux“ lassen sich, um einen Begriff aus der Computer-Linguistik zu verwen­ den, nur „natürlichsprachlich“ explizieren; soziale Welten sind nicht als syntaktisch konsistente und geschlossene Modelle darstellbar; formale Model­ le haben stets einen objektivistischen „bias“ und sind ungeeignet, die Reflexivität und Rekursivität sozialer Verhältnisse zu erfassen; selbst hochkom­ plexe Simulationsprogramme mit einer Vielzahl von Variablen und Parametern sind immer noch viel zu einfach gebaut, um der sozialen Welt „realitätsnah“ beikommen zu können. All das sind triftige Gründe, die aus soziologischer Sicht dagegen sprechen, Anleihen beim Modellplato­ nismus der traditionellen KI oder der VKI oder bei beliebigen anderen Ansätzen der Computersi­ mulation zu machen. Um das Anliegen der Sozio­ logie positiv zu formulieren: Wer neue Erkennt­ nisse beispielsweise über Lebensstile und soziale Normen, Rollenerwartungen und Interessenkon­ flikte, Institutionenbildung und Wertewandel und vieles andere mehr gewinnen möchte, der benö­ tigt nach herrschender soziologischer Auffassung hochkomplexe Theorien und interpretative Be­ schreibungssprachen von der Art, wie sie die So­ ziologie in ihrer über hundertjährigen Geschichte ausgearbeitet hat. Die Resistenz der Soziologen gegenüber dem Vor­ schlag, soziale Interaktionsbeziehungen, Organisa­ tionen oder gar Gesellschaftsstrukturen zu kalkülisieren oder zu algorithmisieren, erklärt sich aus der kontroversenreichen Historie der Soziologie. Ge­ stritten wurde nicht zuletzt auch um Erkenntnisge­ winn und -grenzen formaler Modelle. Dieser Streit ist längst erloschen und flackert nur hin und wieder noch einmal auf. Heute hat er einem breiten Kon­ sens Platz gemacht, wonach formale Modelle und Computerprogramme als methodologisches Rüst­ zeug der empirischen Sozialforschung gern benutzt werden, aber im soziologischen Theoriediskurs eher als unergiebig gelten. Über die Qualität sozio­ logischer Theorien wird offenbar nach anderen Re­ geln geurteilt, und so ist wohl auch Colemans Theo­ rie der rationalen Wahl nicht so sehr wegen ihrer mathematischen Anteile, sondern vor allem ihrer begrifflichen Inhalte wegen auf allgemeinsoziologi­ sche Resonanz gestoßen. Dessen ungeachtet hat sich in der Grauzone zwischen Empirie und Theorie eine inzwischen recht gewichtige Forschungsrich­ tung entwickelt, die sich mit soziologischer Compu­ tersimulation ä la KI beschäftigt (Carley 1996). Die­ se neue Richtung, die sich vor allem in den USA aus­ zubreiten begonnen hat, ist von der allgemeinen so­ ziologischen Theoriedebatte bislang weitgehend ig­ noriert worden - ein meines Erachtens schwerer Fehler, der fatale Folgen nach sich ziehen könnte, wenn er nicht schleunigst korrigiert wird. Die ver­ breitete Ignoranz gegenüber dem neuen Phänomen hat ihre (scheinbare) Berechtigung freilich darin, daß die Vertreter der Modellsimulation offenbar keinerlei nennenswerte Theorieambitionen verfol­ gen. Ablesbar ist das an den Artikeln eines neueren Sammelbandes, der mit seinem Titel „Simulating Societies“ (Gilbert/Doran 1994) bei einem Leser, der an den theoretischen Grundfragen der Soziolo­ gie interessiert ist, die Erwartung weckt, hier etwas über den Erkenntnisgewinn formaler Modelle er­ fahren zu können. Diese Erwartung wird, was den soziologischen Theoriediskurs betrifft, bitter ent­ täuscht: nicht die Spur von Anschlußfähigkeit! Dabei ist daran zu erinnern, daß die im Streit um die KI engagierten Soziologen vor allem an Theo­ riefragen interessiert sind und soziologischen Mi­ lieus entstammen, denen der Gedanke, man könne sich als Soziologe sinnvollerweise mit dem Entwer­ fen von soziologischen Computermodellen be­ schäftigen, völlig fremd ist. Man hält die Anwend­ Unauthenticated barkeit von KI-Konzepten auf die soziale Welt für Download Date | 10/31/17 3:22 AM 14 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 1, Februar 1997, S. 3-21 dermaßen abwegig, daß man sie mit großer Selbst­ verständlichkeit überhaupt nicht in Betracht zieht. Und wenn man sie doch in Betracht zieht, wird sie sogleich als unzumutbares Ansinnen zurückgewie­ sen. So hält selbst ein Harry Collins, der sich be­ sonders gründlich mit der KI beschäftigt hat und für seine konstruktiven Vorschläge zur Entwick­ lung von wissensbasierten Systemen mit einem Preis der „British Computer Society“ ausgezeich­ net wurde, eine Formalisierung oder Algorithmi­ sierung der Sozialwissenschaften für deplaziert. Nur dort, sagt Collins, wo die Gesellschaft aus sich selbst heraus hochgradig standardisierte und durchrationalisierte technische Handlungsstruktu­ ren (wie den Abacus oder das Fließband) hervor­ gebracht hat, sind modelltheoretische Konzepte angebracht. Generell aber gilt: „...neither regular science nor machines can model social life.“ (Col­ lins 1992: 730) VI. Die dargelegten Einwände sind zweifellos ernstzu­ nehmen. Es wäre jedoch zu fragen, ob die Soziolo­ gie nicht besser daran täte, sich angesichts der VKI rechtzeitig auf eine Neuauflage ihres Grundlagen­ streits einzustellen und dabei die neuen computationalen Ressourcen zu nutzen. Denn wir wissen noch viel zu wenig darüber, um abschließend beur­ teilen zu können, ob und wie die VKI mit ihren Mitteln zur „Validierung“ soziologischer Theorien beitragen könnte (v. Martial 1992). Das diesbezüg­ liche Angebot der VKI lautet, „(to) provide the social sciences with conceptual and experimental tools, namely the capacity to model, and make up in parallel, reactive and cognitive systems, and the means to observe their interactions and emerging effects.“ (Conte/Castelfranchi 1995, S. v) Diesem Angebot sollten sich die Soziologen nicht ver­ schließen und sich gleichzeitig die Frage stellen, was sie umgekehrt zur „Validierung“ von VKIModellen beitragen könnten. In beiden Richtun­ gen ist indes vor falschen Versprechen und depla­ zierten Hoffnungen zu warnen. Man wird sich wohl, so oder so, auf Enttäuschungen einstellen müssen, aber das können Erwartungsenttäuschun­ gen auf durchaus hohem Niveau sein, die überra­ schende Einsichten bereithalten werden. Daher möchte ich nachdrücklich dafür plädieren, die bis­ her versäumte Auseinandersetzung mit der VKI und ihren Sozialmodellen nachzuholen. Es sind hauptsächlich drei Argumente, mit denen ich die­ ses Plädoyer unterstreichen will: (1) Das erste Argument verweist auf eine Analo­ gie und appelliert an die wissenschaftliche Neugier der Soziologie, sich auf ein unbekanntes Unter­ nehmen einzulassen. Es lautet, daß man erst dann, wenn man sich auf das Angebot der VKI einläßt, ernsthaft ausloten kann, ob sich daraus neuartige Erkenntnismöglichkeiten des Sozialen ergeben können oder nicht. Wenn wir (analog zu der auf Searle zurückgehenden Unterscheidung von star­ ker und schwacher KI) so etwas wie schwache VKI oder schwache „Sozionik“ annehmen, dann kön­ nen wir als Soziologen von vornherein vermeiden, VKI-Modelle unangemessen zu reifizieren, d.h. sie mit wirklichen sozialen Systemen zu verwech­ seln. Dann können wir uns auf ungewohnte Modellierungs- und Simulationsexperimente einlas­ sen und ausprobieren, ob Computermodelle sozio­ logischer Konzepte oder Theorien tatsächlich zu überraschenden Einsichten führen könnten. An­ gesichts dessen ist es schon erstaunlich zu beob­ achten, wie selbst jene Soziologen, die sich gründ­ lich mit der klassischen KI beschäftigten, die kriti­ sche Frage ignorieren konnten, wie es denn wäre, wollten sie versuchen, ihre eigenen Sozialtheorien mit den Mitteln der KI zu rekonstruieren. Bisher haben auch die mit der KI befaßten Soziologen ja immer nur gefragt, ob und unter welchen Bedin­ gungen gesellschaftliche Wissensbestände durch „Wissensakquisition“ soweit umstrukturiert wer­ den können, bis sie zu den vorhandenen Tech­ niken und Formalismen der KI „passen“. Hier geht es jedoch um die ganz andere Frage, ob und in welchem Sinne es möglich ist, aus dem Fundus der VKI heraus neuartige „nicht-kognitivistische“ Sy­ stementwürfe zu kreieren, die auf Phänomene des gesellschaftlichen Lebens im Sinne einer angemes­ senen soziologischen Darstellungsform „passen“. (2) Dabei geht es auch um eine genauere Beschäf­ tigung mit dem Sinn von „angemessener Reprä­ sentation“. Vor allem ist die verbreitete Konfusio­ nen zwischen der Modellierung des sozialen Le­ bens und der Mechanisierung sozialen Handelns zu vermeiden, zu der klassische KI und VKI selbst beigetragen haben. Tatsächlich unterscheiden sie sich grundlegend voneinander, denn Modellierung des sozialen Lebens ist eine theoretisch-wissen­ schaftliche Darstellungsweise, eine Theoriebau­ technik, während Mechanisierung sozialen Han­ delns ein praktisch-technisches Ziel realisiert. Zweifellos trifft es zu, daß sich reguläres soziales Handeln einer Mechanisierung weitgehend ent­ zieht und daß es nur im Extremfall standardisier­ ter und repetitiver Operationen möglich ist, sozia­ Unauthenticated les Handeln durch Computerprogramme zu erset­ Download Date | 10/31/17 3:22 AM 15 Thomas Malsch: Die Provokation der „Artificial Societies4 zen (Collins 1990). Wenn es dagegen um die Frage der wissenschaftlichen Modellierung sozialer Zu­ sammenhänge geht, gelten andere Beurteilungs­ kriterien, weil die wissenschaftliche Darstellung des Sozialen nicht identisch mit seiner technischen Substituierbarkeit ist. Vielleicht können Modelle der VKI Sozialtheorien repräsentieren, aber sie können nicht die soziale Wirklichkeit ersetzen. In­ sofern ist ein Begriff wie „Artificial Societies“ na­ türlich ebenso vorbelastet und mißverständlich wie der Begriff der „Artificial Intelligence“ und trägt wenig zur Klärung der Frage bei, wie und was die Technik von der Gesellschaft lernen kann. In der Frage der soziologischen Angemessenheit von VKI-Formalismen geht es darum, ein tieferes Ver­ ständnis sozialer Zusammenhänge zu erarbeiten und dabei von den Mitteln und Möglichkeiten der VKI Gebrauch zu machen, ohne diesen Weg durch vermeidbare Reizworte wie „künstliche Gesell­ schaften“ zu verbauen (Burkhard 1993). mit den kognitivistischen Annahmen der klassi­ schen KI endgültig zu brechen. Die weitestgehende und zugleich soziologisch fun­ dierteste Position wird, soweit ich sehe, von Les Gasser vertreten. Nach Gasser sind die konzeptio­ nellen Probleme der Kooperation und Koordina­ tion in der VKI nicht zu lösen, solange man vom Einzelakteur und seinen Motiven, Interessen und Intentionen ausgeht. „The traditional set of analy­ tical categories and implementation techniques used in AI does not include fundamentally social elements; the focus is on the individual actor as the locus of reasoning and knowledge and the indivi­ dual proposition as the object of truth and kno­ wing. (...) To make substantial theoretical pro­ gress, we must begin to lay firm social foundations for DAI research. (...) DAI systems, as they invol­ ve multiple agents, are social in character; there are properties of DAI systems which will not be derivable or representable solely on the basis of (3) Das Forschungsgebiet der VKI hält ein weite­ properties of their component agents. We need to res gewichtiges Argument bereit, das in der sozio­ begin to think through and articulate the bases of logischen KI-Rezeption bisher weitgehend unbe­ knowledge and action for DAI in the light of their achtet geblieben ist. Obgleich der „mainstream“ social character.“ (Gasser 1991: 11 If) Dem liegt der VKI nach wie vor auch vom kognitivistischen die Auffassung zugrunde, daß Gesellschaft nicht Paradigma der traditionellen KI beeinflußt wird, aus dem Zusammenwirken von vereinzelten Indi­ mehren sich die Stimmen in der VKI, die ein gene­ viduen resultiert, sondern umgekehrt: mensch­ relles Unbehagen an dem kognitivistischen Para­ liche Individuen und ihre „mental states“ sind so­ digma zum Ausdruck bringen und eine Neuaus­ zial konstruiert, sie entstehen aus sozialer Interak­ richtung an sozialen Metaphern und soziolo­ tion. Insofern ist auch die Idee des autonomen gischen Konzepten vorschlagen. Auch in dieser Subjekts gesellschaftlich erzeugt. Dasselbe gilt Frage, wie in der VKI generell, ist die Vorreiterrol­ dann auch für die Kategorie des „commitment“, le der „DAI community“ der USA nicht zu über­ die nur als soziale Kategorie, basierend auf rezi­ sehen (Hewitt 1977, Komfeld/Hewitt 1981, Hewitt proker Rollenübernahme, begriffen werden kann. 1986, Bendifallah et al. 1988, Gasser et al. 1989, „In other words, the notion of commitment is di­ Star 1989, Gasser 1991, Hewitt 1991, Gasser 1992, stributed because the agent of commitment is a di­ Gasser 1993, Gasser/Majchrzak 1994, Shoham/ stributed entity.“ (113) Gasser hat das in seiner Tennenholtz 1992 und 1994). Allerdings hat die Kritik an der einflußreichen mentalistischen Auf­ europäische VKI inzwischen nachgezogen und fassung von Cohen und Levesque deutlich ge­ weitere und teilweise eigene „sozionische“ Akzen­ macht und gezeigt, daß man unmöglich bis zur so­ te gesetzt (Werner 1989, Castelfranchi/Conte 1992, zialen Konstruktion von „webs of commitment“ Burkhard 1993, Müller 1993, Castelfranchi/Werner vorstoßen kann (Gasser 1991), wenn man den Be­ 1994, Conte/Castelfranchi 1994, Conte/Castelfran- griff der Intention mentalistisch als „choice with chi 1995, Gilbert/Conte 1995). Dabei wird die in commitment“ (Cohen/Levesque 1990) definiert. der VKI durchaus (noch?) gängige Vorstellung des Stattdessen schlägt Gasser vor, das Gesellschafts­ individualistischen und rationalistischen Akteurs, konstruktionsproblem völlig anders zu lösen, näm­ wie sie beispielsweise auch der Spieltheorie zu­ lich auf der Grundlage soziologischer Basiskatego­ grunde liegt, zunehmend in Frage gestellt. H.-J. rien: „AI research must set its foundations in ways Müller hat dieses allgemeine Unbehagen auf die that treat the existence and interaction of multiple schon mehrfach angesprochene prägnante Formel actors as a fundamental category.“ (Gasser 1991: gebracht, daß die VKI mit einem „Gesellschafts­ 112) Unter ausdrücklicher Berufung auf G.H. konstruktionsproblem“ (Müller 1993) konfron­ Mead und den symbolischen Interaktionismus for­ tiert ist. Das geht in Teilen der „DAI community“ muliert Gasser das Ziel, die Basiskategorie der in­ Unauthenticated die Basiskategorie der inzwischen offenbar soweit, daß man gewillt ist, dividuellen Aktion durch Download Date | 10/31/17 3:22 AM 16 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 1, Februar 1997, S. 3-21 sozialen Interaktion zu ersetzen und VKI-Systeme auf dieser neuen Grundlage zu entwickeln. Gas­ sers Kritik an der klassischen KI ist also grundsätz­ licher Natur. Nun können die von Gasser artikulierten Deside­ rata einer soziologisch fundierten VKI-Forschung heute beileibe (noch?) nicht als Mehrheitsmei­ nung der „DAI community“ gelten. Überblickt man jedoch die Veröffentlichungen der letzten Jahre und weiß die darin der Soziologie mehr und mehr erwiesene Reverenz zu würdigen, so könnte man fast schon von einer soziologischen Wende der VKI sprechen. Dabei wäre freilich noch geson­ dert zu beachten, daß die Sozioniker in der „DAI community“ sich nicht bloß an Mead, sondern of­ fenbar auch an anderen soziologischen Referen­ zautoren orientieren. So benutzt Werner (1989) ei­ nen Rollenbegriff, der an Parsons erinnert, Marsh (1994) bezieht sich auf Luhmanns Vertrauenskon­ zeption, und Conte und Castelfranchi (1995) refe­ rieren auf Giddens Theorie der Strukturation. Im übrigen ist auch Gassers eigener Ansatz nicht nur von Mead, sondern mindestens ebenso stark von Latours „actor-network“-These geprägt. Das sind Differenzen, die möglicherweise weitreichende Konsequenzen für die Ausarbeitung eines sozionischen Forschungsprogramms haben. Dessen unge­ achtet ist die von Gasser vorgetragene starke Be­ hauptung, die VKI könne ohne soziologisches Fundament keine entscheidenden Fortschritte er­ zielen und keine „large-scale open systems“ ent­ wickeln, eine offene Frage, die sich nur empirisch beantworten läßt. An die Adresse der „DAI com­ munity“ richtet sich Gasser mit der ausdrücklichen Empfehlung, die von ihr benutzten Alltagsvorstel­ lungen des Sozialen auf den Begriff zu bringen, d.h. vage Sozialmetaphem durch soziologische Theoriebegriffe zu ersetzen. Für Gasser verbindet sich damit die Hoffnung, die VKI als technologi­ sches Unternehmen entscheidend voranbringen zu können. Aus techniksoziologischer Sicht ist die These der „soziologischen Fundierung“, wonach Innovationen durch soziologische Fundierung von Sozialmetaphern entstehen, indessen nur eine plausible Annahme unter mehreren, doch es ist ge­ nau diese These, die die Frage der Konkurrenz zwischen Soziologie und VKI besonders stark be­ rührt. Daher ist dem Thema der möglichen Para­ digmenkonkurrenz zwischen soziologischer Theo­ rie und VKI die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Aber das darf uns als Techniksoziolo­ gen nicht dazu verleiten, die Perspektive des neu­ tralen Beobachters aufzugeben. Wir müssen uns, gerade wenn wir die Perspektive des neutralen Be­ obachters durchhalten wollen, mit ganz besonders kritischer Sorgfalt der Frage nach der soziolo­ gischen Angemessenheit von Modellen der VKI widmen. Nur wenn man sich dieser Problematik bewußt ist, kann man die ganz andere und un­ gleich subtilere Frage verfolgen, wie Innovationen durch „Metaphernmigration“, d. h. durch Umstel­ lung von Sozialmetaphem von soziologischer Re­ ferenz auf computerwissenschaftliche Referenz, entstehen können. VII. In den beiden vorigen Abschnitten ging es um die soziologische Adäquanz und um die soziologische Anschlußfähigkeit von Modellen der VKI. Dabei wurde vor allem Gassers These herausgestellt, wo­ nach der wissenschaftliche und technologische Fortschritt der VKI auf der soziologischen Ad­ äquanz ihrer Modelle beruhe. Folgt man Gasser, so geht der technische Fortschritt der VKI direkt aus der soziologischen Fundierung, d. h. hier: aus dem Anschluß an die Theoriebegriffe des symboli­ schen Interaktionismus hervor. Das ist eine inter­ essante, freilich noch unausgearbeitete und vor al­ lem ungeprüfte Annahme. Mit gleichem Recht könnte man bis zum Beweis des Gegenteils aber behaupten, die beschworene soziologische Grund­ legung sei eine rein akademische, rein rhetorische Übung, die mit dem technologischen Fortschritt der VKI nichts zu tun habe. Ich halte beide An­ nahmen für fragwürdig und möchte stattdessen die These vertreten, daß der technologische Fort­ schritt der VKI nicht geradlinig von der soziolo­ gischen Adäquanz ihrer Grundbegriffe ausgeht, sondern geradezu von einem in der VKI-For­ schung selbst angelegten Spannungsverhältnis zwi­ schen Sozialreferenz und Computerreferenz lebt: Aus dem Widerspruch zwischen den konzeptionel­ len und technischen Mitteln der VKI und dem (sozial)wissenschaftlichen Ziel sozialadäquater (nicht: sozialverträglicher!) Modellbildung könn­ ten technologische Innovationen entstehen, indem die vom ursprünglichen Bezugsrahmen der menschlichen Gesellschaft abgelösten Begriffe als Sozialmetaphern über mehrere Zwischenschritte erst in informatische Konzepte und Formalismen und schließlich in technische Artefakte transfor­ miert werden. Dieser Innovationspfad läßt sich als „Metaphernmigration“ bezeichnen: Es kommt zu einem schrittweisen Umbau von Vorbildern des sozialen Lebens zu technischen Artefakten, denen Unauthenticated die Inspirationsquelle, der sie sich ursprünglich Download Date | 10/31/17 3:22 AM Thomas Malsch: Die Provokation der „Artificial Societies* 17 verdanken, nicht mehr anzusehen ist (Malsch et al. 1996). Wendet man sich in dieser Frage an die soziologi­ sche Rezeption der KI-Forschung, so ist, wie schon zuvor hinsichtlich der Frage nach der Herausfor­ derung der soziologischen Theorie durch die Multiagenten-Systeme der VKI, wiederum Fehlanzei­ ge zu vermelden, obgleich die Sozialmetaphern, wie oben gezeigt, durchaus nicht nur in der VKI Vorkommen, sondern auch in der Induktionsfor­ schung der klassischen KI, im Konnektionismus und in den Forschungen zum „Artificial Life“ an­ gesprochen werden. Soweit der Metaphernge­ brauch der KI in der soziologischen Literatur überhaupt an gesprochen wird, geschieht dies in warnender Absicht: um der irreführenden Meta­ phorik vom Computer als sozialem Akteur, als Schmetterling oder Fledermaus entgegenzutreten, oder, um in umgekehrter Blickrichtung, die Com­ putermetapher der Gesellschaft zurückzuweisen (Joerges 1988); um auf das Blendwerk von schein­ bar klaren Termini wie Intelligenz, situative Hand­ lungskompetenz, geteiltes Wissen etc. hinzuweisen und begriffliche Klärungen zur Schließung der „Metaphernlücke“ einzufordern (Star 1989), oder um diese Forderung als illusionär abzutun (Collins 1995); oder um ausgehend von der „symmetriebre­ chenden“ Potenz von Metaphern im distribuierten Verhältnis von künstlicher und menschlicher Intel­ ligenz für eine zugleich de- und remetaphorisierende Verschränkung der Beobachtungsperspekti­ ven von KI und Soziologie zu plädieren (Baecker 1995), deren Sinn dunkel und unergründlich bleibt. Einen Hinweis auf die techniksoziologisch interessante innovatorische Potenz von Sozialme­ taphern sucht man indes vergebens: Nirgendwo wird die Frage des technologischen Innovations­ potentials von Sozialmetaphern angesprochen, ob­ gleich den Autoren die Kreativität des metaphori­ schen Denkens durchaus nicht fremd ist und nota­ bene fast immer miterwähnt wird. Statt etwas dar­ aus zu machen, verstricken sie sich jedoch in bloße Abwehrkämpfe und sind vollauf damit beschäftigt, das Illusionäre, Unstimmige und Verschleiernde im Metapherngebrauch der KI zu brandmarken. Auch daran läßt sich ablesen, wie wenig es der So­ ziologie gelungen ist, sich dem Einfluß der über­ mächtigen computationalen Metapher zu entzie­ hen. Daß die Soziologie hinsichtlich ihrer KI-Rezeption von der allgemeinen Einsicht in die kreative Po­ tenz von Metaphern (Joerges 1977, Sacks 1979, Maasen/Weingart 1995) bisher keinen ernsthaften Gebrauch gemacht hat, liegt offenbar wiederum am Konkurrenzverhältnis zwischen beiden Diszi­ plinen. Dieses erweist sich als außerordentlich hin­ derlich, wenn man weiterführende techniksoziolo­ gische Fragen stellen will. Um die technikgeneti­ sche These der Metaphernmigration in Augen­ schein nehmen zu können, muß man die paradig­ matische Kontroverse zwischen Soziologie und (V)KI rigoros beiseite lassen. Das verlangt denje­ nigen, die an soziologischen Grundfragen interes­ siert sind, zweifellos eine gewisse Selbstverleug­ nung ab. Erleichtert wird diese methodisch erfor­ derliche ‘Als-ob-Einstellung’ jedoch dadurch, daß sie in keiner Weise dazu nötigt, eine etwaige for­ malisierungskritische Grundhaltung aufzugeben. Im Gegenteil: Aus forschungspraktischen Grün­ den muß man geradezu rigoros voraussetzen dür­ fen, daß die VKI ihren erklärten Anspruch auf so­ ziologische Fundierung und Schließung der Meta­ phernlücke verfehlt. Erst wenn wir dies tun, haben wir den Rücken frei und können uns unbeschwert von den Einwänden gegen die Formalisierbarkeit soziologischer Konzeptionen auf die techniksozio­ logisch spannende Frage einlassen, wie Multiagenten-Systeme im praktischen Arbeitsprozeß von VKI-Wissenschaftlern tatsächlich konstruiert wer­ den. Dabei ist der Frage nachzugehen, welche Be­ deutung soziale Metaphern und Begriffe für die Erzeugung computerwissenschaftlicher Innovatio­ nen (nicht: für die soziologischen Erklärungen und Deutungen der sozialen Welt!) tatsächlich haben. Bei dem hier angesprochenen Migrationspfad geht es überdies ganz generell um die Frage, wie psychologische, linguistische oder biologische Konzepte oder Metaphern die Informatiker dazu anregen können, sich ihrerseits computerwissen­ schaftlich neuartige Konzepte und Formalismen auszudenken und Programmiersprachen oder Computermodelle zu erfinden - und zwar eben ausdrücklich mit Blick auf das, was ich als „Com­ puterreferenz“ bezeichnen möchte: Rechenzeit und Tempogewinn, Speicherbedarf und -Optimie­ rung, algorithmische Effizienz, architektonische Eleganz und softwaretechnische Wartbarkeit von Sprachen, Programmen und Werkzeugen sind die hier gültigen computerreferenziellen Bewertungs­ kriterien, an denen sich die innovativen Leistun­ gen der VKI (und das gilt analog für die klassische KI, den Konnektionismus und die Artificial LifeForschung) messen lassen müssen. Es sind die Kri­ terien der Kerninformatik, um die es hier geht. So gesehen sind die technologischen Produkte der VKI-Forschung wie „blackboard architektures“, Kooperationsprotokolle, „agent-oriented pro­ Unauthenticated gramming“ usw. (analog in anderen Gebieten des Download Date | 10/31/17 3:22 AM 18 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 1, Februar 1997, S. 3-21 „advanced computation“: semantische Netze, neu­ ronale Netze, genetische Algorithmen usw.) nichts anderes als computertechnische Formalismen, die letztlich daraufhin befragt werden müssen, was sie in der Kerninformatik gelten. Sobald auf Computerreferenz umgestellt worden ist, lautet die Frage nur noch, ob und auf welchen Gebieten die Konzepte der VKI sich in Software­ technik niederschlagen, ob sie mit den Optimie­ rungsalgorithmen anderer Informatikzweige kon­ kurrieren können und was man in computertechni­ scher Hinsicht mit ihnen anfangen kann. Die ganz und gar andere Frage, ob die mit der Erforschung neuronaler Netze, evolutionärer Algorithmen oder Multiagenten-Systeme beschäftigten Infor­ matiker in der Lage sind, einen für die Neurolo­ gen, Biologen oder Soziologen relevanten Beitrag zur Erforschung von Gehirndefekten oder Im­ munsystemen oder sozialen Systemen zu leisten, kann in der hier eingenommenen Perspektive zu­ nächst völlig vernachlässigt werden. In der beson­ deren Perspektive der Metaphernmigration lauten die weiterführenden Fragen: Was haben die Un­ ternehmungen der KI, der Neuroinformatik und des Artificial Life eigentlich der Keminformatik gebracht, was haben sie generell zur Erforschung des Computers beigetragen? Für die Metaphern­ migrationsthese heißt das, daß sie im Vergleich und in Konfrontation mit alternativen Thesen wei­ ter ausgearbeitet, präzisiert und operationalisiert werden muß. Dazu sind die beiden bereits ange­ sprochenen konkurrierenden Annahmen zum for­ schungslogischen Status von Sozialmetaphern in der VKI gleichsam als Sparringspartner heranzu­ ziehen, die ich als (1) die Gasser-These der sozio­ logischen Fundierung und als (2) die Kontingenz­ these der Metaphernrhetorik bezeichnen möchte. Diese sollen als wahmehmungs- und problem­ schärfende Komplementärthesen fungieren, die den Bezugsrahmen abstecken helfen, innerhalb dessen (3) die These der Metaphernmigration ihre Plausibilität gewinnen muß. (1) Die These der soziologischen Fundierung läßt sich auf den Punkt bringen, daß die VKI-Forschung keine substantiellen theoretischen Fort­ schritte machen kann und auch keinen technologi­ schen Durchbruch zu „large-scale open systems“ erzielen wird, wenn es ihr nicht gelingt, an die Grundbegriffe und theoretischen Konzeptionen der Soziologie anzuschließen. Sie artikuliert sich unter anderem im Bedauern darüber, daß „fre­ quently enough DAI social notions are merely me­ taphorical“ (Castelfranchi/Wemer 1994, p.xiii). Danach reicht es nicht aus, soziale Metaphern aus der Alltagssprache aufzugreifen und „naiv“ in Computerprogramme umzusetzen. Um die VKIForschung computertechnisch entscheidend vor­ anzubringen, kommt es demgegenüber darauf an, gesellschaftliches Handeln und soziale Strukturen vorab wissenschaftlich angemessen d.h.: soziolo­ gisch zu begreifen. Das ist eine ebenso interessante wie starke These. Ob soziologisch angemessene VKI-Modelle tatsächlich vorausgesetzt sind, um technisch leistungsfähige verteilte Systeme zu bau­ en, bleibt indessen fraglich, wenn man einerseits die Themenkarriere des Problems der „Gesell­ schaftskonstruktion“ überblickt und andererseits die lose Kopplung zwischen erkenntnistheoreti­ scher und ingenieurtechnischer VKI zur Kenntnis nimmt. Insofern kann diese These nur begrenzte Plausibilität für sich in Anspruch nehmen. (2) Die Gegenthese dazu lautet, daß der techni­ sche Progress der VKI-Forschung nichts mit Fra­ gen der angemessenen Rezeption soziologischer Ansätze und sozialer Sachverhalte zu tun hat. Die­ ser „Rhetorikthese“ zufolge besteht überhaupt kein Zusammenhang, sondern höchstens eine kopplungsfreie Koinzidenz zwischen soziologi­ scher Adäquanz und computertechnischer Rele­ vanz von VKI-Modellen. Demgemäß läßt sich ar­ gumentieren, daß die wachsende Popularität, de­ rer sich die sozialen Metaphern in den Veröffentli­ chungen der VKI-Gemeinschaft erfreuen, nichts mit ihrer technologischen Forschungs- und Ent­ wicklungspraxis und der Qualität ihrer techni­ schen Artefakte zu tun hat. Auch die Rhetorikthe­ se ist angreifbar. Sie setzt sich dem Einwand aus, den technologischen Fortschritt der VKI aus­ schließlich durch die immanente technische Ent­ wicklungslogik erklären zu wollen. Um diesen Ein­ wand auszuräumen, müßte man zeigen können, daß der Bezug auf „extratechnische“ Bedingungen dem Innovationsprozeß äußerlich ist, und daß technische Innovationen auf rein computerrefe­ renzielle Erwägungen reduzierbar sind - eine an­ gesichts der kumulierten wissenschaftssoziologi­ schen Forschungserfahrungen eher unwahrschein­ liche Annahme. Dennoch ist diese „Nullhypothe­ se“ als ein unerläßliches und forschungspraktisch nützliches Korrektiv zu den beiden anderen The­ sen anzusehen. (3) Die These der Metaphemmigration ergibt sich gewissermaßen aus den Einwänden gegen die er­ sten beiden Thesen. Sie eröffnet größere Interpre­ tationsspielräume und ist insofern klärungsbedürf­ tiger, aber auch „wahrscheinlicher“ als die über­ starke These der soziologischen Fundierung und Unauthenticated die bloß skeptische, irrtumsängstliche These der Download Date | 10/31/17 3:22 AM 19 Thomas Malsch: Die Provokation der „Artificial Societies* Metaphemrhetorik. Die interessante Frage lautet hier: Gibt es neben oder jenseits von „soziologi­ scher Fundierung“ und „Metaphemrhetorik“ eine dritte Interpretationsmöglichkeit zum Status von Sozialmetaphem in der VKI? Um diese Frage plausibel zu machen, muß die Problemsicht gegen­ über der „adäquanztheoretischen“ Orientierung an der soziologischen Begriffsbildung ebenso wie gegenüber der Orientierung an der skeptischen „Antithese“ der kontingenten oder rein legitimatorischen Rhetorik verschoben werden. Stattdessen ist zu fragen, ob sich die VKI in ähnlicher Wei­ se durch soziale Metaphern anregen lassen kann wie die klassische KI oder die Artificial Life-Forschung durch Geist- und Lebensmetaphem oder die Bionik durch Vorbilder aus der Biologie. In der Perspektive der Metaphernmigration ist die streng wissenschaftliche Übereinstimmung der entworfe­ nen Computerprogramme mit den Sozial-, Gei­ stes-, Gehirn- oder Lebensvorbildern unerheblich. Vielmehr ist geradezu umgekehrt zu unterstellen, daß die Modelle der VKI die soziale Realität, auf die sie bezugnehmen, nicht oder nur unzulänglich abbilden beziehungsweise repräsentieren können. Dies vorausgesetzt, können wir nun jenseits der wissenschaftlichen (Un)zulänglichkeit von Meta­ phern ansetzen und einigermaßen entlastet von substanziellen Darstellungsproblemen fragen, ob sich die offenkundige (Repräsentations-)Schwäche vielleicht als die heimliche (Kreations-)Stärke der VKI entpuppen könnte. Dahinter steht die Vermutung, daß das „hidden curriculum“ der Me­ taphern, das es aufzudecken gilt, in ihrer innovato­ rischen Inspirationskraft liegt. Die Programme der VKI könnten, so möchte ich diese Annahme ab­ schließend zuspitzen, selbst wenn sie über die Ge­ sellschaft als soziologischem Gegenstand rein gar nichts aussagten, dennoch aus computerwissen­ schaftlicher Sicht von hohem Erkenntnis- und technologischem Innovationswert sein. 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