34 Titelthema KV-Blatt 10.2017 Die Telematikinfrastruktur für die Gesundheitskarte kommt zu spät Das Jahr 2003: Die meisten Fernseher sind noch dick, der letzte Schrei ist das erste Mobiltelefon mit integrierter Kamera, und die elektronische Gesundheitskarte (eGK) wird beschlossen. Eigentlich soll sie schon drei Jahre später zusammen mit einem neuen Netzwerk für die Akteure im Gesundheitswesen, der Telematikinfrastruktur (TI), vor allem zu einer Verbesserung der Patientensicherheit beitragen, bspw. durch das elektronische Rezept oder die elektronische Patientenakte. Seither haben die gesetzlichen Krankenkassen schätzungsweise 1,7 Mrd. Euro an Beitragsgeldern [1] für die Umsetzung ausgegeben. Das Resultat: Seit 2011 werden auch Geschlecht sowie Zuzahlungsstatus gespeichert und ein Foto ziert die Plastikkärtchen. Mehr scheint bisher nicht wirklich passiert zu sein. Nun soll(te) es aber dieses Jahr endlich richtig losgehen: Ab dem 1. Juli dürf(t)en Ärzte und Psychotherapeuten die auf der Karte gespeicherten Stammdaten mit der Krankenkasse abgleichen (VSDM). Leider fehlt dazu bisher die nötige technische Ausstattung: Die zwingend vorgeschriebenen „Konnektoren“ sind nicht rechtzeitig fertig geworden. Im Vergleich dazu mag der Flughafen Willy Brandt fast schon als Beispiel für gute Planung und pünktliche Umsetzung brillieren, mit dem Unterschied, dass den Piloten keine Gehaltskürzung angedroht wird, wenn sie nicht bald von dort aus abheben. Aber genug der Häme: Wir brauchen dringend eine gut funktionierende, standardisierte und sichere Digitalisierung des patientenbezogenen Informationsaustausches der Leistungserbringer, die im Idealfall folgende Ziele erreichen würde: Sechs Ziele der Digitalisierung: • Patientensicherheit erhöhen, • Datenschutz und -autonomie sicherstellen, • Arbeit von Ärzten und Psychotherapeuten erleichtern, • Zeit sparen, • Kosten sparen, • Zukunftssicherheit gewährleisten. Dass diese sechs Ziele in einem Spannungsfeld stehen und sich teils gegenseitig einschränken, liegt auf der Hand. Dennoch müsste es möglich sein, einen vernünftigen Kompromiss zu finden und auch zeitnah umzusetzen. Eine sinnvolle Digitalisierung im Praxisalltag würde im besten Fall u. a. die folgenden beiden konkreten Aufgaben erfüllen: 1.Alle relevanten Gesundheitsdaten des Patienten (in einem von ihm selbst bestimmten Umfang) bereitstellen, diese Daten aber gleichzeitig vor unbefugtem Zugriff schützen; 2.einfache, sichere und zuverlässige Kommunikation zwischen Behandlern erleichtern. Diese beiden Hauptaufgaben ließen sich jedoch vollkommen unabhängig voneinander erreichen: Eine Verknüpfung mittels TI unter Zuhilfenahme von Konnektoren und anderen unwirtschaftlichen Insellösungen wäre hierfür heute nicht mehr erforderlich (s. „Ideen für eine unabhängige Alternativlösung“). Jetzt werden die Karten neu gemischt Äußerste Vorsicht ist daher geboten, nun eine ziemlich alte Konzeption mit jahrelanger Verspätung und dazu noch mit verwaschenen Zielen (VSDM etc.) an den Start zu bringen, die technisch schon lange überholt ist, deren Wartung und Pflege (weil exotisch und antiquarisch) in den nächsten Jahren unüberschaubare Kosten verursachen kann und deren (Zukunfts-)Sicherheit mehr als fraglich ist. Doch realistisch betrachtet wird uns Ärzte und Psychotherapeuten die Konzeption aus 2003 einholen und erst einmal mit einer Aufgabe beschäftigen, die früher die Krankenkassenmitarbeiter übernommen haben: die Überprüfung und Änderung der Basisdaten der Patienten auf der Karte (VSDM). Untersuchungen aus der Testregion dazu, wie aufwändig oder nutzerfreundlich das mit der geplanten TI funktioniert (Stichwort „Usability“), sind bis heute (Anfang September 2017) nicht veröffentlicht [3,4]. Ob und wann ein elektronisches Rezept oder gar die elektronische Fallakte eingeführt wird, steht in den Sternen. Falls – über einige Notfallinformationen hinaus – Behandlungsdaten für Ärzte digital verfügbar sein sollen, muss dies nach heutiger Planung zwingend online erfolgen, nämlich über den Abruf von in einem Rechenzentrum gespeicherten Daten. Fragen zur Finanzierung und zur Sicherheit dieser Datenspeicherung sind ungeklärt. Stattdessen winken uns 28 Cent für einen elektronisch versandten Arztbrief und 27 Cent, wenn wir einen empfangen. Die dafür erforderlichen Investitionen (Fixkosten für den Konnektor, das Kartenterminal, VPN-Anschlussgebühr und Praxisausfall sowie laufende Kosten für den VPN-Zugang, für SMC-B- und HBA-Karten) sollen zwar erstattet werden, nach derzeitiger Planung sinkt jedoch die Pauschale für den Konnektor von 2620 Euro (für den – weil nicht verfügbar – unmöglichen Start im 3. Quartal 2017) auf 720 Euro Titelthema KV-Blatt 10.2017 (für den Start ab dem 3. Quartal 2018) [5]. Wie realistisch ein solcher Preissturz innerhalb eines Jahres ist, das mag jeder selbst beurteilen. Welche Rolle spielt die KV Berlin? Die KV Berlin sollte sich bemühen, für größtmögliche Transparenz auch in dieser Transition zu sorgen. Und bei Entscheidungsprozessen, in die sie eingebunden ist, sollte sie einen guten Kompromiss aus den o. g. sechs Zielen anstreben. Die KV Berlin sollte dafür Sorge tragen, dass die Hoheit über die intimsten persönlichen Daten bei den Patienten und ihren Behandlern bleibt, und verhindern, dass der zusätzlich entstehende zeitliche und finanzielle Aufwand eines gesetzlichen Auftrags wieder (wie bspw. beim Papier-Medikationsplan) den Vertragsärzten und -psychotherapeuten aufgebürdet wird. Und nicht zuletzt sollte sich die KV Berlin bemühen, für ihre Mitglieder wirklich nur anwenderfreundliche, ausreichend getestete und ausgereifte Änderungen der alltäglichen bürokratischen Arbeitsprozesse zu akzeptieren. Denn die Arbeit am Patienten muss weiterhin im Mittelpunkt stehen. Quellen: [1] https://www.ikkev.de/politik/egk/ [2] http://openpgp.org/ [3] https://www.evaluation-egk.de/ [4] http://www.validierungsprojekt.net/ [5] http://www.kbv.de/media/sp/ Anlage_32_TI_Vereinbarung.pdf Dr. Carsten Urbanek, niedergelassener Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Berlin-Wilmersdorf Foto: privat Ideen für eine unabhängige Alternativlösung: 2003 war Speicherplatz verhältnismäßig rar und teuer, heute noch beträgt der Speicherplatz auf der eGK nur ungefähr 90 bis 144 KB (entspricht ca. 50-100 Seiten reinem Text oder einem kleinen Bild). Mittlerweile sind aber fingernagelgroße Speicherkärtchen mit 400 GB verfügbar (mehr als das Millionenfache der eGK), das entspricht einer Datenmenge von mehr als 500 CDs: mehr als genug also, um die allermeisten medizinisch relevanten Daten eines Patienten, vom Medikationsplan über Arztbriefe und Laborbefunde bis hin zu MRT-Bildern, zu speichern. Man könnte neben dem Speicherchip gleich einen Fingerabdrucksensor in die neue Gesundheitskarte integrieren: So ließe sich eine sichere und praktikable Verschlüsselung realisieren. Einen Backup-Service (für die natürlich verschlüsselt bleibenden Daten) könnten die Krankenkassen anbieten. Sichere Kommunikation mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und Authentifizierung ist heutzutage einfach, beispielsweise mit kostenlosen, auf OpenPGP [2] basierenden PC-Anwendungen, möglich (vergleichbar mit Smartphone-Messengern wie z. B. Signal). Diese Dr. Carsten Urbanek Systeme beruhen auf offenen Standards und werden seit Jahren weltweit von Experten auf Sicherheitslücken überprüft. Durch einen einfachen Verzeichnisdienst könnte man diese bewährten Systeme ergänzen und in unserem Kommunikationsalltag etablieren. Auf dieser Basis wäre eine Digitalisierungsinitiative im deutschen Gesundheitssystem möglich, die einen sehr guten Kompromiss aus den formulierten sechs Zielen erreichen und die beiden Hauptaufgaben unabhängig voneinander erfüllen würde. 35