ROLF MONHEIM: Nachhaltige Mobilitätskultur. Mannheim: MetaGIS

Werbung
Geographische Zeitschrift, Band 100 · 2012 · Heft 4
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart
BUBA, HANSPETER, GRÖTZBACH, JOCHEN und
ROLF MONHEIM: Nachhaltige Mobilitätskultur.
Mannheim: MetaGIS, 2010, 230 S., (Studien zur
Mobilitäts- und Verkehrsforschung 22), ISBN
978-3-936438-29-1, € 24,00
Wenn die beiden Brüder Rolf und Heiner Monheim
aus Bayreuth bzw. Trier an einem Buchprojekt beteiligt sind, ist Engagement und Herzblut zu erwarten.
Dies bestätigt sich in der jüngsten, rd. 200 Seiten
umfassenden Studie zur nachhaltigen Mobilitätskultur, die von den drei Autoren Hanspeter Buba,
Jochen Grötzbach und Rolf Monheim federführend
verantwortet wird. Die Veröffentlichung stellt ein
Gemenge aus einem Abschlussbericht eines UBAForschungsprojekts mit dem etwas sperrigen Titel
„Bestandsaufnahme und Weiterentwicklung der
Nachhaltigkeitskommunikation über die Neubestimmung der Mobilität aus kulturpolitischer Sicht“
sowie einigen Beiträgen dar, die für einen Workshop
zu diesem Forschungsprojekt entstanden und in einen
durchlaufenden Text in dem Buch integriert sind.
Die einzelnen Beiträge, die im Rahmen des Workshops geschrieben wurden und einzelne Abschnitte
des Buches darstellen, stammen von Jeffrey Hands,
Silvia Körntgen, Heiner Monheim und Annette
Rauterberg-Wulff.
Trotz aller guten Argumente, den Autoverkehr
zu reduzieren, ist das Verkehrswachstum in den
letzten Jahren ungebrochen. Deshalb versuchen die
Autoren der Studie, jenseits der ökonomischen und
politischen Gründe neue Ansatzpunkte zu finden, den
Gebrauch des Autos über das Konsumverhalten und
die Alltagsroutinen ihrer Nutzer zu erklären. Ziel der
Studie ist es, „eine kulturpolitische Perspektive von
Mobilität“ zu entwickeln und daraus „strategische
Überlegungen zur Kommunikation nachhaltiger
Mobilitätskultur“ abzuleiten. Eine bisher weitgehend
erfolglose Politik gegen das Auto hat die Autoren
also veranlasst, für eine andere, auf Nachhaltigkeit
ausgerichtete Politik in den Bereich der Kultursoziologie einzutauchen.
So erfährt der Leser in dem Buch dann zunächst
einiges über eine veränderte Organisation und
Struktur des wissenschaftlichen Arbeitens im Rahmen einer sozialökologischen Forschung, über die
kulturelle Dimension von Nachhaltigkeit und über
partizipative Vorgehensweisen für eine Politik der
Nachhaltigkeit, um daraus im Sinne einer Kulturanalyse das Phänomen der Mobilität besser zu verstehen
– immer mit dem Ziel, strategische Überlegungen zur
Kommunikation einer nachhaltigen Mobilitätskultur
zu entwickeln.
Es werden dann in einzelnen Abschnitten die
bisherigen Forschungserkenntnisse zum Zusammenhang von Lebensstilen und Mobilität zusammengetragen, die Ideen zu einer Typisierung von
„ökologischen Sozialcharakteren“ auf den Aspekt
der Mobilität bezogen sowie die soziologische
Analyse von Lebenswelten mit Mobilitätsmustern
in Verbindung gebracht. Andere Abschnitte sind auf
die Genderperspektive zum Themenfeld Mobilität
gerichtet bzw. stellen eine Studie zu ortsspezifischen
Mobilitätskulturen am Beispiel der Nutzung des
Fahrrades vor.
Es geht dann weiter mit Überlegungen zur „symbolischen Vermittlung von Mobilität“. Dahinter
verbirgt sich in einem ersten Schritt eine interessante
Analyse der Werbestrategien für das Auto, um dann
in einem zweiten Schritt die Erfolgsfaktoren aus der
Autowerbung auf einige Beispiele zu beziehen, die
sich einer umweltgerechten Mobilität verschrieben
haben. In einem nächsten Abschnitt werden schließlich die Ziele, Formen und Chancen von Marketing
bzw. Social Marketing für eine nachhaltige Mobilität
diskutiert. Dabei dienen die beiden Institutionen
„Kindergärten“ und „Kirche“ als Beispiele, wie die
Ziele einer nachhaltigen Verkehrspolitik verankert
werden könnten. Schließlich bietet das Buch einen
eigenen Abschnitt über allgemeine gesellschaftliche
Trends, die in ihren Folgen auf die Mobilität untersucht werden.
Es bleibt resümierend festzuhalten, dass sich die
unterschiedlichen Ansatzpunkte der verschiedenen
Autoren in ihren jeweils eigenen Schreibstilen recht
deutlich in dem Buch zeigen. So wechseln sich die
einzelnen Abschnitte zwischen eher grundsätzlichen
Gedanken und einem theoretischen Anspruch mit
anwendungsbezogenen Überlegungen zu konkreten
Maßnahmen und praktischen Anleitungen ab, wie
Mobilität zukünftig umweltgerecht gestaltet werden
könnte. Ein konsistentes Theoriegebäude einer nachhaltigen Mobilitätskultur wird dabei nicht entwickelt
und ist letztendlich wohl auch nicht das Ziel des
Buches. Vielmehr geht es den Autoren darum, neue
Strategien für eine alternative Verkehrspolitik gegen
das Auto aus ihren kulturpolitischen Perspektiven
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012
248
Buchbesprechungen
abzuleiten – und hier bietet das Buch viele anregende
Gedanken, bei denen abzuwarten bleibt, ob es gelingt, sie in eine konkrete alternative Verkehrspolitik
einzubinden.
Autor: Prof. Dr. Claus-C. Wiegandt, Geographisches Institut, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Meckenheimer Allee 166, 53115 Bonn, E-Mail:wiegandt@
uni-bonn.de
Geographische Zeitschrift, Band 100 · 2012 · Heft 4
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart
MICHEL, BORIS: Stadt und Gouvernementalität. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2005,
154 S., (Einstiege 15), ISBN 3-89691-686-6,
€ 14,90
In der deutschsprachigen (Stadt-)Geographie erfreuen sich zur Analyse gegenwärtiger Machtverhältnisse
seit einigen Jahren die an Foucault anschließenden
Governmentality Studies größerer Beliebtheit. In
dem Band „Stadt und Gouvernementalität“, welcher
2005 in der Reihe „Einstiege“ im Verlag „Westfälisches Dampfboot“ erschienen ist, geht Boris Michel
aus einer eben solchen Perspektive der Frage nach,
inwiefern sich im Postfordismus Programme urbanen
Regierens entwickelt haben, die sich signifikant von
der fordistisch-modernen Rationalität der umfassenden Planbarkeit und Einheitlichkeit der Großstadt
unterscheiden. Exemplarisch und ohne Anspruch auf
Vollständigkeit betrachtet er dazu Diskurse, Maßnahmenbündel und Architekturen aus dem Bereich
städtischer Kriminal- und Sozialpolitiken sowie aus
dem Feld des New Urbanism. Dabei kommt er zu
dem Schluss, dass mit Prozessen der Fragmentierung, fortschreitenden Ausgrenzung und sozialen
Segregation Veränderungen in den Vorstellungen
von Subjektivität und Sozialem einhergehen, welche
das Bild vom autonomen Subjekt reaktivieren, eine
zunehmende Raumorientierung sozialer Kontrolle
hervorbringen sowie kleinräumige homogene Gemeinschaften erfinden.
Um die grundlegende Reorganisation urbaner
Räume gesellschaftlich einbetten zu können, lenkt
Boris Michel zu Beginn seines Buches den Blick auf
die „makrogesellschaftlichen Strukturveränderungen
der Metropolen“ (30) im Zuge der letzten zwanzig
Jahre. Dadurch wird es ihm möglich, gegenwärtige
Entwicklungen auf der städtischen Ebene im Verhältnis zum neoliberalen Umbau der ökonomischen und
politischen Verhältnisse zu diskutieren. Dabei kommt
er zu dem Schluss, dass zum Verständnis der Stadt
im Postfordismus erstens die Deindustrialisierung
und der damit verbundene Bedeutungszuwachs des
Dienstleistungssektors, zweitens eine neue sozialräumliche Polarisierung als Ausdruck einer Zunahme
von Armut und prekären Arbeitsverhältnissen sowie
drittens die Entstehung einer unternehmerischen
Form neoliberaler (Standort-)Politik von besonderem
Interesse sind. Als Ausdruck einer generellen Ver-
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012
Book Reviews
änderung gesellschaftlicher Verhältnisse bedingen
diese drei Tendenzen eine verstärkte soziale Desintegration, Spaltung und Fragmentierung der Stadt.
Das Besondere postfordistischer Stadtentwicklung ist nun gemäß Michel, dass die Auflösung städtischer Integrationskräfte mit einer grundlegenden
Reorganisation städtischer Räume einhergeht. In
Kontrast zu dem fordistischen Verwaltungsdenken
einer umfassenden und flächendenkenden sozialtechnologischen Planbarkeit von Gesellschaft erzeugt die zunehmende Fragmentierung der Stadt ein
Spannungsverhältnis, wobei nun durch kleinteilige
Abgrenzungs- und Ausschlussprozesse Ordnung
erzeugt und Ambivalenzen bekämpft werden sollen.
Die Vielzahl der darunter zu fassenden Entwicklungen differenziert Michel in zwei Stränge, indem
er den Zwangscharakter sozialer Ausschließung
von der freiwilligen Selbstausgrenzung der Mittelund Oberschichten unterscheidet. Bezogen auf die
fortgeschrittene Ausgegrenztheit marginalisierter
Gruppen diskutiert er zuerst die Herausbildung der
„strafenden Stadt“ (63), wonach gemäß der broken
windows-Theorie eine repressive Sicherheitspolitik
implementiert, die sozialen Ursachen von Kriminalität negiert, zunehmend präventiv statt reaktiv agiert
sowie nicht am Individuum angesetzt, sondern eine
raumorientierte soziale Kontrolle ausgeübt wird.
Exemplarisch drückt sich dieser stadtpolitische
Wandel hin zu einem Kampf gegen die Armen (und
nicht gegen die Armut) etwa in der Verrechtlichung,
Privatisierung und technischen Überwachung öffentlicher Räume sowie in einer Diskreditierung und
Kriminalisierung von abweichendem Verhalten aus.
Verbunden ist das Programm der strafenden Stadt mit
einer ebenso territorial ausgerichteten aktivierenden
Sozialpolitik, welche sich – in Deutschland etwa in
Gestalt des Programms „Soziale Stadt“ – durch eine
lokale Fixierung und aktivierende Quartiersbezogenheit auszeichnet sowie statt einer Umverteilung
gesellschaftlichen Reichtums an die Selbstverantwortlichkeit und Autonomie der Marginalisierten
appelliert.
Der zunehmend räumlich organisierten Ausgrenzung der Marginalisierten stellt Michel Phänomene
städtischer Entwicklung entgegen, welche die wahrgenommene Fragmentierung – dem Ideal der homogenen Gemeinschaft folgend – qua Selbstausschluss
durch die Schaffung neuer, überschaubarer Räume
bzw. durch „Tendenzen der Vereinheitlichung, (Neu-)
Ordnung und Sicherung“ (75) aufheben wollen. Am
Beispiel der kommunitaristischen Stadtplanungsbe-
249
wegung des New Urbanism sowie den architektonischen Gebilden der Gated Communities und der
Shopping Malls kann er jedoch überzeugend zeigen,
dass derartige Entwicklungen als Reterritorialisierungsversuche zu beschreiben sind, welche die
Fragmentierung des städtischen Raumes letztlich
nur verstärken und daher „keine Gegenbewegungen zum neoliberalen Individualisierungsdiskurs“
(115) darstellen, sondern selbst zu den treibenden
Momenten der Desintegration gehören. Demgemäß
führt der Versuch, der Fragmentierung und Desintegration durch eine kleinräumige Reterritorialisierung
zu entkommen, zu einer segregierten Homogenität,
welche die Konflikte um die postfordistische Stadt
nicht löst, sondern lediglich soziale Ungleichheit optisch nivelliert und dabei deren Ursachen unbeachtet
lässt.
Die bisherige Beschreibung und gesellschaftliche Einbettung von Prozessen der kleinräumigen
Zwangs- und Selbstausgrenzung ist selbstverständlich an sich nicht neu, sondern in der Stadtforschung
bereits vielfach diskutiert worden. Das Besondere
an der Arbeit von Boris Michel ist allerdings, dass
es ihm aufgrund seiner gouvernementalitätstheoretischen Perspektive gelingt, die Reorganisation
städtischer Räume im Postfordismus nicht nur und
auch nicht primär in negativen Begriffen „als Verlust von Demokratie, Öffentlichkeit und sozialer
Gerechtigkeit“ (104) zu begreifen. Vielmehr macht
die Betonung des produktiven Charakters von Programmen städtischen Regierens in vielerlei Hinsicht
deutlich, wie Realitäten und Subjektpositionen
sowie Vorstellungen von Urbanität „im Kontext
sich verändernder Weisen des Denkens über Subjektivität und Sozialität“ (105) gesellschaftlich neu
hergestellt werden. So ist laut Michel beispielsweise
gegenwärtig nicht der Verlust bzw. „das Ende des
öffentlichen Raumes“ (102) zu beklagen, sondern
eine Auflösung der klaren Unterscheidung von privaten und öffentlichen Räumen zu diagnostizieren.
Vor diesem Hintergrund lässt sich eine veränderte
Beziehung zwischen sozialen Ängsten und öffentlichen Räumen feststellen, da paradoxerweise durch
die Implementierung neuer Sicherheitsstrategien die
subjektive Unsicherheit eher zunimmt, wodurch der
öffentliche Raum an gesellschaftlicher Integrationskraft verliert. Gleichermaßen beschreibt auch der
sozialpolitische Wandel von welfare zu workfare kein
Ende des Sozialstaates, wohl aber eine grundlegende
Transformation der Sozialpolitik, welche gegenwärtig ganz anderen Rationalitäten der aktivierenden
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012
250
Buchbesprechungen
Nahraumorientierung statt flächendeckender Umverteilung folgt. Durch die Betonung des produktiven
Charakters ist es ihm darüber hinaus möglich, die
sämtlichen beschriebenen Programmen städtischen
Regierens zugrunde liegende Verschränkung der
Vorstellung eines autonomen Subjekts mit der Wiedergeburt der homogenen Gemeinschaft sichtbar zu
machen. Hervor tritt dadurch eine Rationalität des
Regierens, welche Individuen einerseits als selbstverantwortliche Unternehmer anruft, welche „ihre
sozialen Beziehungen als auch ihre Selbstpraktiken
nach der Logik der Verwertbarkeit“ (116) zu managen haben, selbige aber andererseits angesichts der
scheinbaren Problemlösungsfähigkeit kleinräumiger
Einheiten zugleich zu homogenen Gemeinschaften
zusammenfasst. Indem Michel solche Rationalitäten denaturalisiert und danach fragt, warum sie
„in der Gegenwart von solcher Bedeutung sind“,
eröffnet er Wege, der neoliberalen „Atomisierung
der Gesellschaft“ nicht homogene Gemeinschaften,
sondern eine heterogene und klassenübergreifende
sowie konflikt- und prozesshafte Vorstellung von
„Solidarität auf der Grundlage von Toleranz“ (124)
entgegenzusetzen.
Grundlegend sind abschließend m. E. drei zentrale Aspekte hervorzuheben, welche die Arbeit auch
Jahre nach ihrem Erscheinen lesenswert machen.
Erstens hat sie durch die frühe Verbindung von
Themen der Stadtforschung mit Ansätzen Foucaults
dazu beigetragen, die Governmentality Studies als
fruchtbare Perspektive in der deutschsprachigen
Stadtgeographie zu etablieren und zeugt daher von
einem hohen innovativen Potenzial. Zu bedenken ist
jedoch, dass die erst 2004 veröffentlichten Vorlesungen zur „Geschichte der Gouvernementalität“ und
die daran anschließende Intensivierung der Debatte
noch nicht berücksichtigt werden konnten. Davon
abgesehen wird zwar der damalige Forschungsstand
zu den Governmentality Studies pointiert in groben
Zügen skizziert und deren Stärken als Analyseinstrument gegenwärtiger Programme neoliberalen
Regierens herausgearbeitet, jedoch sollte man
trotz der Veröffentlichung in einer „Einstiege“Reihe keine allgemeinverständliche Einführung
zur Gouvernementalität bei Foucault erwarten. Im
Gegensatz zu den recht knappen Ausführungen zur
Gouvernementalität liefert Michel aber zweitens über
das gesamte Buch hinweg en passant eine breite,
kenntnisreiche und gut lesbare Auseinandersetzung
mit zentralen Debatten der Stadtforschung, welche
von Georg Simmel und Walter Benjamin über Jane
Jacobs bis hin zu Mike Davis bzw. von der Chicagoer Schule bis zur LA-School reichen. Erfreulich
ist drittens, dass der Autor nicht bei der Analyse von
Regierungsweisen, Machttechniken und Diskursen
stehen bleibt, sondern selbige stets konsequent in
ihrem Verhältnis zu Transformationsprozessen kapitalistischer Gesellschaften situiert, was – entgegen
seiner selbstironischen Einschätzung – keineswegs
als „ökonomistisch“ (20) zu bezeichnen ist, sondern
sowohl das Erklärungs- als auch Kritikpotenzial
deutlich vertieft.
Autor: Dipl.-Geogr. Sebastian Schipper, Goethe-Universität Frankfurt a. M., Institut für Humangeographie,
Robert-Mayer-Str. 6-8, 60325 Frankfurt am Main, E-Mail:
[email protected]
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012
Book Reviews
Geographische Zeitschrift, Band 100 · 2012 · Heft 4
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart
STRUBELT, WENDELIN (Hrsg.): Der gebändigte
Raum. Bilder und Texte zur Raumnutzung in
Deutschland. Tübingen: Wasmuth Verlag, 2010,
210 S., ISBN 978-3-8030-0720-9, € 35,00
Im Gegensatz zu Bildbänden mit Luftaufnahmen
von Gerster (1975) oder Arthus-Bertrand (2001)
werden hier Fotos vorgelegt, die sehr nüchtern
Raumnutzung, Siedlungsformen und Flächenverbrauch dokumentieren. Entsprechend wird als Ziel
des Bandes formuliert: „Es mangelt immer noch an
Darstellungen/Veröffentlichungen, die versuchen,
die räumlich-empirische Analyse mit bildhaften
Dokumentationen und Analysen zu verbinden, sie
in einen dialektischen Bezug zu setzen […]. Hier
besteht eine Lücke, die wir versuchen wollen mit
unserem Band/Buch über die ‚gebändigten Räume’
in Deutschland aufzufüllen“ (29).
In seinem einleitenden Essay, dem auch dies
Zitat entstammt, untersucht Wendelin Strubelt Bildbände über Deutschland aus früheren Jahrzehnten,
angefangen mit dem Kaiserreich. Dazu gehören das
Buch „Deutschland“ mit Kommentaren von Ricarda
Huch (1932), das ein eher konservativ-bewahrendes
Bild von Deutschland zeichnet. Es wurde 1939 nicht
wieder aufgelegt, weil die Nationalsozialisten einen
neuen Kommentar wollten, der Schweizer Verlag
sich jedoch weigerte. 1951 erschien der Band erneut,
1960 in der 6. Auflage (14). Sodann schreibt Strubelt über „Deutschland“ (1956 und 1958) von der
Büchergilde Gutenberg sowie „Deutschland“ vom
Bertelsmann Lesering (1960), letzteres mit einem
einleitenden Essay von Theodor Heuss und einer
Gliederung nach Bundesländern. Eine Luftbildreihe
bei Westermann aus den späten 1960ern zeigt die
„Landschaft als menschliches Tätigkeitsfeld“ (22),
hingegen der Band „Im Flug über Deutschland“
(1977) ein schönes Deutschland, seien es Burgen
oder Ölraffinerien. „Im Flug über die DDR“ (Bayreuth 1984) vermittelt ein „realistisches Bild der
gesellschaftlichen und baulichen Wirklichkeit“
Ostdeutschlands (24).
Zwei Bände hebt Strubelt hervor. Zum einen
den Band „Das Land der Deutschen“ von Eugen
Diesel (1931). Er enthält schon Luftbilder aus dem
Zeppelin und Freiballon von Robert Petschow. Es
ist wohl der Band, der am stärksten den sozialen
Wandel bildlich erfasst, gegliedert in „Naturland-
251
schaft“ – Kulturlandschaft“ – Maschinenlandschaft“.
Diesel „lässt die räumliche Inzidenz dieser neuen
Form von Gesellschaft, der Massengesellschaft des
Industriezeitalters eindrücklich erkennbar werden“,
wie Strubelt kommentiert (19). Zum anderen ist es
der Band von Brugger mit Luftbildern von BadenWürttemberg (1990) aus 35 Jahren (3. Band 2009),
weil er den Wandel sehr gut dokumentiert. Darüber
hinaus sei der „Widerspruch zwischen gesellschaftlichen und individuellen Ansprüchen an den Raum
[…] einzigartig im Detail dargestellt“ (25).
Insgesamt wird aus diesem sehr informativen
Essay erkennbar, wie sehr die Bildbände anschauliche Dokumente sowohl der Objekte als auch der
historischen Sichtweisen sind. Und sie belegen,
was Hans-Jochen Vogel schrieb: „Städte sind Stein
gewordene Gesellschaftspolitik“ (20).
Im folgenden Beitrag geben Fabian Dosch und
Gisela Beckmann eine „analytische Sicht auf die
gesellschaftlichen Nutzung des Raumes“. Sie belegen den zunächst ungebremsten Gestaltungswillen,
die ständige Transformation der Landschaft. Sie
gerät nun in einen Gegensatz zu einer ökologisch
orientierten Raumordnung. Dazu wird auf das dritte
Leitbild der Raumordung von 2006, „Ressourcen
bewahren, Kulturlandschaften gestalten“ verwiesen
und wir werden belehrt: „Mit dem Leitbild wird der
Übergang von einer eher ordnenden zu einer stärker
entwickelnden, dialogorientierten Raumordnungsplanung evident“ (35). Es folgen kurze Abschnitte
und thematische Karten u. a. zur Waldfläche, zur
Siedlungsstruktur, zu Freiflächen und dem demographischen Wandel im Raum. Das ist informativ,
aber ein Bezug zu den Fotos wird nicht hergestellt.
Der Kontrast dieses administrativen Textes („un froid
inventaire de mots et de chiffres“, wie Strubelt auf
Seite 10 zu einem anderen Buch zitiert) zu dem fast
literarischen von Strubelt könnte kaum größer sein.
Der Hauptteil sind 151 Schrägluftbilder, aufgenommen mit einer Kamera an einem Mini-Zeppelin
60 Meter über der Erde. Die Luftbilder sind nach
vier räumlichen Kategorien geordnet: Stadtraum
– Stadtrand – Kleinstadt/Dorf – Ländlicher Raum.
Sie sollen den Raumordnungskategorien der BBR
entsprechen.
Hierzu einige Beispiele: Unter „Stadtraum“ ist
in Berlin ein deutlicher Kontrast zwischen der alten
Blockrandbebauung (73) und den irgendwie in den
Raum gesetzten Ministergärten (71) dokumentiert,
ferner die vertane Chance einer städtebaulichen
einheitlichen Konzeption des Potsdamer Platzes
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012
252
Buchbesprechungen
(61). Zu besichtigen ist auch die spielzeughafte
Entsprechung von in Reih und Glied aufgestapelten
Containern und parkenden Pkw im Eucaro in Bremen (95) oder die wahllose Anordnung der neuen
Wohngebäude in Dessau (97).
Am „Stadtrand“ findet sich ein Foto des TagebauRestlochs in Bitterfeld (104) und das Beispiel einer
Gartensiedlung in Dessau (105). Zu sehen ist der
Flächenverbrauch von eingeschossigen Industriegebäuden und Fachmärkten, hier am Beispiel BerlinBlumberg (107); ferner die merkwürdige Anordnung
dreigeschossiger Giebelhäuser im Landkreis Mittenwalde (115). Insgesamt sind die Unterschiede
im suburbanen Raum von west- und ostdeutschen
Städten nicht (mehr) erkennbar.
Für „Kleinstadt/Dorf“ mag man sich über eine
Ei-förmige grüne Verkehrsinsel mit zwei Bäumen
in Sangershausen (124) wundern, mehr noch über
zwei große, fast leere Parkplätze im historischen
Stadtkern von Doberlug (127), sowie nach der Wende modernisierte viergeschossige Wohngebäude in
Dessau (129) – aber auch alte dörfliche Strukturen
(140, 141).
Im „ländlichen Raum“ ist vor allem eindrucksvoll zu erkennen, wie stark er den Verkehrstrassen
geopfert wurde, insbesondere im Kontrast zu der
noch erhaltenen Havellandschaft (180).
Was bedauerlich ist: Im Text finden sich keine
Hinweise darauf, warum man was ausgewählt hat.
Den Lesern geht es so, wie Strubelt es in seinem Text
über das Buch Kein „Einst und Jetzt“ (Gütersloh
1960er) geschrieben hat: zu wenig Interpretation,
„der Leser ist ziemlich auf sich selbst gestellt“ (20).
Vielleicht ist das aber eine zumindest unproduktive
Frage, weil die Antwort hierzu von den Autoren so
rasch nicht zu erhalten ist. Also sollte man die Frage
zugunsten folgender aufgeben: Was sagt mir dieses
Foto? Die Antworten können je nach Betrachter/
in unterschiedlich ausfallen. Sie können vor allem
von der Dimension abhängen, in der man das Foto,
den „Befund“, untersucht, z. B. Flächenverbrauch,
Ästhetik, architektonische Qualität, rechtliche
Grundlagen. Weitere Fragen sind, was der Vergleich
der Fotos innerhalb einer Kategorie und was der
Vergleich zwischen den Kategorien erbringt.
Warum sollten Planer, Geographen und Soziologen diesen Band lesen? Zum einen, weil erkennbar
wird, dass jede Auswahl von Fotos ihrer Zeit und
deren Sichtweise verhaftet ist. Zum anderen, weil
diese Kontextgebundenheit auch für die Stadt- und
Raumplanung gilt. Deshalb eignen sich die Fotos
auch besonders gut dazu, zu fragen: Warum wurde
hier so gebaut? Luftbilder sind eine Makroperspektive, sozusagen das aggregierte Ergebnis des Handelns
individueller und kollektiver Akteure. Man muss untersuchen, welche Bedingungen auf der Makroebene
der Gesellschaft oder Stadt zu diesem Ergebnis geführt haben, und weiter: welche dieser Bedingungen
die individuellen (u. a. Politiker) und kollektiven
Akteure (u. a. Baubehörden) dazu gebracht haben,
die Landschaft und den Raum derart umzubauen,
sodass wir am Ende das Ergebnis erhalten, welches
uns das Luftbild zeigt.
Anregend wäre ein Universitäts-Seminar, geleitet
von einer Geographin oder einen Geographen und
einem/einer Stadt- oder Raumplaner/in, in dem diese
Fotos untersucht werden. Vielleicht entstünde dann
ein Buch, das die Luftbilder in reale ökonomische
und politische Zustände auflöste – also in eine gesellschaftliche Naherkundung.
Der Band zeigt nicht nur die Raumnutzung, sondern auch dessen Zerstörung. Insofern ist der Titel
irreführend: Den Raum kann man nicht bändigen wie
einen Tiger, eher schon schlachten wie Vieh – und
das träfe die Sache besser. Es ist der Raum, den wir
uns täglich weiter untertan machen.
Literatur
Arthus-Bertrand, Y. (2001): Die Erde von oben – Tag
für Tag. München: Knesebeck.
Gerster, G. (1975): Der Mensch auf seiner Erde. Ein
Flugbild. Zürich-Freiburg: Atlantis.
Autor: Prof. Dr. Jürgen Friedrichs, Universität zu Köln,
Institut für Angewandte Sozialforschung, Greinstr. 2,
50939 Köln, E-Mail: [email protected]
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012
Herunterladen