Geographische Zeitschrift, Band 100 · 2012 · Heft 4 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart BUBA, HANSPETER, GRÖTZBACH, JOCHEN und ROLF MONHEIM: Nachhaltige Mobilitätskultur. Mannheim: MetaGIS, 2010, 230 S., (Studien zur Mobilitäts- und Verkehrsforschung 22), ISBN 978-3-936438-29-1, € 24,00 Wenn die beiden Brüder Rolf und Heiner Monheim aus Bayreuth bzw. Trier an einem Buchprojekt beteiligt sind, ist Engagement und Herzblut zu erwarten. Dies bestätigt sich in der jüngsten, rd. 200 Seiten umfassenden Studie zur nachhaltigen Mobilitätskultur, die von den drei Autoren Hanspeter Buba, Jochen Grötzbach und Rolf Monheim federführend verantwortet wird. Die Veröffentlichung stellt ein Gemenge aus einem Abschlussbericht eines UBAForschungsprojekts mit dem etwas sperrigen Titel „Bestandsaufnahme und Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitskommunikation über die Neubestimmung der Mobilität aus kulturpolitischer Sicht“ sowie einigen Beiträgen dar, die für einen Workshop zu diesem Forschungsprojekt entstanden und in einen durchlaufenden Text in dem Buch integriert sind. Die einzelnen Beiträge, die im Rahmen des Workshops geschrieben wurden und einzelne Abschnitte des Buches darstellen, stammen von Jeffrey Hands, Silvia Körntgen, Heiner Monheim und Annette Rauterberg-Wulff. Trotz aller guten Argumente, den Autoverkehr zu reduzieren, ist das Verkehrswachstum in den letzten Jahren ungebrochen. Deshalb versuchen die Autoren der Studie, jenseits der ökonomischen und politischen Gründe neue Ansatzpunkte zu finden, den Gebrauch des Autos über das Konsumverhalten und die Alltagsroutinen ihrer Nutzer zu erklären. Ziel der Studie ist es, „eine kulturpolitische Perspektive von Mobilität“ zu entwickeln und daraus „strategische Überlegungen zur Kommunikation nachhaltiger Mobilitätskultur“ abzuleiten. Eine bisher weitgehend erfolglose Politik gegen das Auto hat die Autoren also veranlasst, für eine andere, auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Politik in den Bereich der Kultursoziologie einzutauchen. So erfährt der Leser in dem Buch dann zunächst einiges über eine veränderte Organisation und Struktur des wissenschaftlichen Arbeitens im Rahmen einer sozialökologischen Forschung, über die kulturelle Dimension von Nachhaltigkeit und über partizipative Vorgehensweisen für eine Politik der Nachhaltigkeit, um daraus im Sinne einer Kulturanalyse das Phänomen der Mobilität besser zu verstehen – immer mit dem Ziel, strategische Überlegungen zur Kommunikation einer nachhaltigen Mobilitätskultur zu entwickeln. Es werden dann in einzelnen Abschnitten die bisherigen Forschungserkenntnisse zum Zusammenhang von Lebensstilen und Mobilität zusammengetragen, die Ideen zu einer Typisierung von „ökologischen Sozialcharakteren“ auf den Aspekt der Mobilität bezogen sowie die soziologische Analyse von Lebenswelten mit Mobilitätsmustern in Verbindung gebracht. Andere Abschnitte sind auf die Genderperspektive zum Themenfeld Mobilität gerichtet bzw. stellen eine Studie zu ortsspezifischen Mobilitätskulturen am Beispiel der Nutzung des Fahrrades vor. Es geht dann weiter mit Überlegungen zur „symbolischen Vermittlung von Mobilität“. Dahinter verbirgt sich in einem ersten Schritt eine interessante Analyse der Werbestrategien für das Auto, um dann in einem zweiten Schritt die Erfolgsfaktoren aus der Autowerbung auf einige Beispiele zu beziehen, die sich einer umweltgerechten Mobilität verschrieben haben. In einem nächsten Abschnitt werden schließlich die Ziele, Formen und Chancen von Marketing bzw. Social Marketing für eine nachhaltige Mobilität diskutiert. Dabei dienen die beiden Institutionen „Kindergärten“ und „Kirche“ als Beispiele, wie die Ziele einer nachhaltigen Verkehrspolitik verankert werden könnten. Schließlich bietet das Buch einen eigenen Abschnitt über allgemeine gesellschaftliche Trends, die in ihren Folgen auf die Mobilität untersucht werden. Es bleibt resümierend festzuhalten, dass sich die unterschiedlichen Ansatzpunkte der verschiedenen Autoren in ihren jeweils eigenen Schreibstilen recht deutlich in dem Buch zeigen. So wechseln sich die einzelnen Abschnitte zwischen eher grundsätzlichen Gedanken und einem theoretischen Anspruch mit anwendungsbezogenen Überlegungen zu konkreten Maßnahmen und praktischen Anleitungen ab, wie Mobilität zukünftig umweltgerecht gestaltet werden könnte. Ein konsistentes Theoriegebäude einer nachhaltigen Mobilitätskultur wird dabei nicht entwickelt und ist letztendlich wohl auch nicht das Ziel des Buches. Vielmehr geht es den Autoren darum, neue Strategien für eine alternative Verkehrspolitik gegen das Auto aus ihren kulturpolitischen Perspektiven Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 248 Buchbesprechungen abzuleiten – und hier bietet das Buch viele anregende Gedanken, bei denen abzuwarten bleibt, ob es gelingt, sie in eine konkrete alternative Verkehrspolitik einzubinden. Autor: Prof. Dr. Claus-C. Wiegandt, Geographisches Institut, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Meckenheimer Allee 166, 53115 Bonn, E-Mail:wiegandt@ uni-bonn.de Geographische Zeitschrift, Band 100 · 2012 · Heft 4 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart MICHEL, BORIS: Stadt und Gouvernementalität. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2005, 154 S., (Einstiege 15), ISBN 3-89691-686-6, € 14,90 In der deutschsprachigen (Stadt-)Geographie erfreuen sich zur Analyse gegenwärtiger Machtverhältnisse seit einigen Jahren die an Foucault anschließenden Governmentality Studies größerer Beliebtheit. In dem Band „Stadt und Gouvernementalität“, welcher 2005 in der Reihe „Einstiege“ im Verlag „Westfälisches Dampfboot“ erschienen ist, geht Boris Michel aus einer eben solchen Perspektive der Frage nach, inwiefern sich im Postfordismus Programme urbanen Regierens entwickelt haben, die sich signifikant von der fordistisch-modernen Rationalität der umfassenden Planbarkeit und Einheitlichkeit der Großstadt unterscheiden. Exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit betrachtet er dazu Diskurse, Maßnahmenbündel und Architekturen aus dem Bereich städtischer Kriminal- und Sozialpolitiken sowie aus dem Feld des New Urbanism. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass mit Prozessen der Fragmentierung, fortschreitenden Ausgrenzung und sozialen Segregation Veränderungen in den Vorstellungen von Subjektivität und Sozialem einhergehen, welche das Bild vom autonomen Subjekt reaktivieren, eine zunehmende Raumorientierung sozialer Kontrolle hervorbringen sowie kleinräumige homogene Gemeinschaften erfinden. Um die grundlegende Reorganisation urbaner Räume gesellschaftlich einbetten zu können, lenkt Boris Michel zu Beginn seines Buches den Blick auf die „makrogesellschaftlichen Strukturveränderungen der Metropolen“ (30) im Zuge der letzten zwanzig Jahre. Dadurch wird es ihm möglich, gegenwärtige Entwicklungen auf der städtischen Ebene im Verhältnis zum neoliberalen Umbau der ökonomischen und politischen Verhältnisse zu diskutieren. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass zum Verständnis der Stadt im Postfordismus erstens die Deindustrialisierung und der damit verbundene Bedeutungszuwachs des Dienstleistungssektors, zweitens eine neue sozialräumliche Polarisierung als Ausdruck einer Zunahme von Armut und prekären Arbeitsverhältnissen sowie drittens die Entstehung einer unternehmerischen Form neoliberaler (Standort-)Politik von besonderem Interesse sind. Als Ausdruck einer generellen Ver- Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Book Reviews änderung gesellschaftlicher Verhältnisse bedingen diese drei Tendenzen eine verstärkte soziale Desintegration, Spaltung und Fragmentierung der Stadt. Das Besondere postfordistischer Stadtentwicklung ist nun gemäß Michel, dass die Auflösung städtischer Integrationskräfte mit einer grundlegenden Reorganisation städtischer Räume einhergeht. In Kontrast zu dem fordistischen Verwaltungsdenken einer umfassenden und flächendenkenden sozialtechnologischen Planbarkeit von Gesellschaft erzeugt die zunehmende Fragmentierung der Stadt ein Spannungsverhältnis, wobei nun durch kleinteilige Abgrenzungs- und Ausschlussprozesse Ordnung erzeugt und Ambivalenzen bekämpft werden sollen. Die Vielzahl der darunter zu fassenden Entwicklungen differenziert Michel in zwei Stränge, indem er den Zwangscharakter sozialer Ausschließung von der freiwilligen Selbstausgrenzung der Mittelund Oberschichten unterscheidet. Bezogen auf die fortgeschrittene Ausgegrenztheit marginalisierter Gruppen diskutiert er zuerst die Herausbildung der „strafenden Stadt“ (63), wonach gemäß der broken windows-Theorie eine repressive Sicherheitspolitik implementiert, die sozialen Ursachen von Kriminalität negiert, zunehmend präventiv statt reaktiv agiert sowie nicht am Individuum angesetzt, sondern eine raumorientierte soziale Kontrolle ausgeübt wird. Exemplarisch drückt sich dieser stadtpolitische Wandel hin zu einem Kampf gegen die Armen (und nicht gegen die Armut) etwa in der Verrechtlichung, Privatisierung und technischen Überwachung öffentlicher Räume sowie in einer Diskreditierung und Kriminalisierung von abweichendem Verhalten aus. Verbunden ist das Programm der strafenden Stadt mit einer ebenso territorial ausgerichteten aktivierenden Sozialpolitik, welche sich – in Deutschland etwa in Gestalt des Programms „Soziale Stadt“ – durch eine lokale Fixierung und aktivierende Quartiersbezogenheit auszeichnet sowie statt einer Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums an die Selbstverantwortlichkeit und Autonomie der Marginalisierten appelliert. Der zunehmend räumlich organisierten Ausgrenzung der Marginalisierten stellt Michel Phänomene städtischer Entwicklung entgegen, welche die wahrgenommene Fragmentierung – dem Ideal der homogenen Gemeinschaft folgend – qua Selbstausschluss durch die Schaffung neuer, überschaubarer Räume bzw. durch „Tendenzen der Vereinheitlichung, (Neu-) Ordnung und Sicherung“ (75) aufheben wollen. Am Beispiel der kommunitaristischen Stadtplanungsbe- 249 wegung des New Urbanism sowie den architektonischen Gebilden der Gated Communities und der Shopping Malls kann er jedoch überzeugend zeigen, dass derartige Entwicklungen als Reterritorialisierungsversuche zu beschreiben sind, welche die Fragmentierung des städtischen Raumes letztlich nur verstärken und daher „keine Gegenbewegungen zum neoliberalen Individualisierungsdiskurs“ (115) darstellen, sondern selbst zu den treibenden Momenten der Desintegration gehören. Demgemäß führt der Versuch, der Fragmentierung und Desintegration durch eine kleinräumige Reterritorialisierung zu entkommen, zu einer segregierten Homogenität, welche die Konflikte um die postfordistische Stadt nicht löst, sondern lediglich soziale Ungleichheit optisch nivelliert und dabei deren Ursachen unbeachtet lässt. Die bisherige Beschreibung und gesellschaftliche Einbettung von Prozessen der kleinräumigen Zwangs- und Selbstausgrenzung ist selbstverständlich an sich nicht neu, sondern in der Stadtforschung bereits vielfach diskutiert worden. Das Besondere an der Arbeit von Boris Michel ist allerdings, dass es ihm aufgrund seiner gouvernementalitätstheoretischen Perspektive gelingt, die Reorganisation städtischer Räume im Postfordismus nicht nur und auch nicht primär in negativen Begriffen „als Verlust von Demokratie, Öffentlichkeit und sozialer Gerechtigkeit“ (104) zu begreifen. Vielmehr macht die Betonung des produktiven Charakters von Programmen städtischen Regierens in vielerlei Hinsicht deutlich, wie Realitäten und Subjektpositionen sowie Vorstellungen von Urbanität „im Kontext sich verändernder Weisen des Denkens über Subjektivität und Sozialität“ (105) gesellschaftlich neu hergestellt werden. So ist laut Michel beispielsweise gegenwärtig nicht der Verlust bzw. „das Ende des öffentlichen Raumes“ (102) zu beklagen, sondern eine Auflösung der klaren Unterscheidung von privaten und öffentlichen Räumen zu diagnostizieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine veränderte Beziehung zwischen sozialen Ängsten und öffentlichen Räumen feststellen, da paradoxerweise durch die Implementierung neuer Sicherheitsstrategien die subjektive Unsicherheit eher zunimmt, wodurch der öffentliche Raum an gesellschaftlicher Integrationskraft verliert. Gleichermaßen beschreibt auch der sozialpolitische Wandel von welfare zu workfare kein Ende des Sozialstaates, wohl aber eine grundlegende Transformation der Sozialpolitik, welche gegenwärtig ganz anderen Rationalitäten der aktivierenden Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 250 Buchbesprechungen Nahraumorientierung statt flächendeckender Umverteilung folgt. Durch die Betonung des produktiven Charakters ist es ihm darüber hinaus möglich, die sämtlichen beschriebenen Programmen städtischen Regierens zugrunde liegende Verschränkung der Vorstellung eines autonomen Subjekts mit der Wiedergeburt der homogenen Gemeinschaft sichtbar zu machen. Hervor tritt dadurch eine Rationalität des Regierens, welche Individuen einerseits als selbstverantwortliche Unternehmer anruft, welche „ihre sozialen Beziehungen als auch ihre Selbstpraktiken nach der Logik der Verwertbarkeit“ (116) zu managen haben, selbige aber andererseits angesichts der scheinbaren Problemlösungsfähigkeit kleinräumiger Einheiten zugleich zu homogenen Gemeinschaften zusammenfasst. Indem Michel solche Rationalitäten denaturalisiert und danach fragt, warum sie „in der Gegenwart von solcher Bedeutung sind“, eröffnet er Wege, der neoliberalen „Atomisierung der Gesellschaft“ nicht homogene Gemeinschaften, sondern eine heterogene und klassenübergreifende sowie konflikt- und prozesshafte Vorstellung von „Solidarität auf der Grundlage von Toleranz“ (124) entgegenzusetzen. Grundlegend sind abschließend m. E. drei zentrale Aspekte hervorzuheben, welche die Arbeit auch Jahre nach ihrem Erscheinen lesenswert machen. Erstens hat sie durch die frühe Verbindung von Themen der Stadtforschung mit Ansätzen Foucaults dazu beigetragen, die Governmentality Studies als fruchtbare Perspektive in der deutschsprachigen Stadtgeographie zu etablieren und zeugt daher von einem hohen innovativen Potenzial. Zu bedenken ist jedoch, dass die erst 2004 veröffentlichten Vorlesungen zur „Geschichte der Gouvernementalität“ und die daran anschließende Intensivierung der Debatte noch nicht berücksichtigt werden konnten. Davon abgesehen wird zwar der damalige Forschungsstand zu den Governmentality Studies pointiert in groben Zügen skizziert und deren Stärken als Analyseinstrument gegenwärtiger Programme neoliberalen Regierens herausgearbeitet, jedoch sollte man trotz der Veröffentlichung in einer „Einstiege“Reihe keine allgemeinverständliche Einführung zur Gouvernementalität bei Foucault erwarten. Im Gegensatz zu den recht knappen Ausführungen zur Gouvernementalität liefert Michel aber zweitens über das gesamte Buch hinweg en passant eine breite, kenntnisreiche und gut lesbare Auseinandersetzung mit zentralen Debatten der Stadtforschung, welche von Georg Simmel und Walter Benjamin über Jane Jacobs bis hin zu Mike Davis bzw. von der Chicagoer Schule bis zur LA-School reichen. Erfreulich ist drittens, dass der Autor nicht bei der Analyse von Regierungsweisen, Machttechniken und Diskursen stehen bleibt, sondern selbige stets konsequent in ihrem Verhältnis zu Transformationsprozessen kapitalistischer Gesellschaften situiert, was – entgegen seiner selbstironischen Einschätzung – keineswegs als „ökonomistisch“ (20) zu bezeichnen ist, sondern sowohl das Erklärungs- als auch Kritikpotenzial deutlich vertieft. Autor: Dipl.-Geogr. Sebastian Schipper, Goethe-Universität Frankfurt a. M., Institut für Humangeographie, Robert-Mayer-Str. 6-8, 60325 Frankfurt am Main, E-Mail: [email protected] Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Book Reviews Geographische Zeitschrift, Band 100 · 2012 · Heft 4 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart STRUBELT, WENDELIN (Hrsg.): Der gebändigte Raum. Bilder und Texte zur Raumnutzung in Deutschland. Tübingen: Wasmuth Verlag, 2010, 210 S., ISBN 978-3-8030-0720-9, € 35,00 Im Gegensatz zu Bildbänden mit Luftaufnahmen von Gerster (1975) oder Arthus-Bertrand (2001) werden hier Fotos vorgelegt, die sehr nüchtern Raumnutzung, Siedlungsformen und Flächenverbrauch dokumentieren. Entsprechend wird als Ziel des Bandes formuliert: „Es mangelt immer noch an Darstellungen/Veröffentlichungen, die versuchen, die räumlich-empirische Analyse mit bildhaften Dokumentationen und Analysen zu verbinden, sie in einen dialektischen Bezug zu setzen […]. Hier besteht eine Lücke, die wir versuchen wollen mit unserem Band/Buch über die ‚gebändigten Räume’ in Deutschland aufzufüllen“ (29). In seinem einleitenden Essay, dem auch dies Zitat entstammt, untersucht Wendelin Strubelt Bildbände über Deutschland aus früheren Jahrzehnten, angefangen mit dem Kaiserreich. Dazu gehören das Buch „Deutschland“ mit Kommentaren von Ricarda Huch (1932), das ein eher konservativ-bewahrendes Bild von Deutschland zeichnet. Es wurde 1939 nicht wieder aufgelegt, weil die Nationalsozialisten einen neuen Kommentar wollten, der Schweizer Verlag sich jedoch weigerte. 1951 erschien der Band erneut, 1960 in der 6. Auflage (14). Sodann schreibt Strubelt über „Deutschland“ (1956 und 1958) von der Büchergilde Gutenberg sowie „Deutschland“ vom Bertelsmann Lesering (1960), letzteres mit einem einleitenden Essay von Theodor Heuss und einer Gliederung nach Bundesländern. Eine Luftbildreihe bei Westermann aus den späten 1960ern zeigt die „Landschaft als menschliches Tätigkeitsfeld“ (22), hingegen der Band „Im Flug über Deutschland“ (1977) ein schönes Deutschland, seien es Burgen oder Ölraffinerien. „Im Flug über die DDR“ (Bayreuth 1984) vermittelt ein „realistisches Bild der gesellschaftlichen und baulichen Wirklichkeit“ Ostdeutschlands (24). Zwei Bände hebt Strubelt hervor. Zum einen den Band „Das Land der Deutschen“ von Eugen Diesel (1931). Er enthält schon Luftbilder aus dem Zeppelin und Freiballon von Robert Petschow. Es ist wohl der Band, der am stärksten den sozialen Wandel bildlich erfasst, gegliedert in „Naturland- 251 schaft“ – Kulturlandschaft“ – Maschinenlandschaft“. Diesel „lässt die räumliche Inzidenz dieser neuen Form von Gesellschaft, der Massengesellschaft des Industriezeitalters eindrücklich erkennbar werden“, wie Strubelt kommentiert (19). Zum anderen ist es der Band von Brugger mit Luftbildern von BadenWürttemberg (1990) aus 35 Jahren (3. Band 2009), weil er den Wandel sehr gut dokumentiert. Darüber hinaus sei der „Widerspruch zwischen gesellschaftlichen und individuellen Ansprüchen an den Raum […] einzigartig im Detail dargestellt“ (25). Insgesamt wird aus diesem sehr informativen Essay erkennbar, wie sehr die Bildbände anschauliche Dokumente sowohl der Objekte als auch der historischen Sichtweisen sind. Und sie belegen, was Hans-Jochen Vogel schrieb: „Städte sind Stein gewordene Gesellschaftspolitik“ (20). Im folgenden Beitrag geben Fabian Dosch und Gisela Beckmann eine „analytische Sicht auf die gesellschaftlichen Nutzung des Raumes“. Sie belegen den zunächst ungebremsten Gestaltungswillen, die ständige Transformation der Landschaft. Sie gerät nun in einen Gegensatz zu einer ökologisch orientierten Raumordnung. Dazu wird auf das dritte Leitbild der Raumordung von 2006, „Ressourcen bewahren, Kulturlandschaften gestalten“ verwiesen und wir werden belehrt: „Mit dem Leitbild wird der Übergang von einer eher ordnenden zu einer stärker entwickelnden, dialogorientierten Raumordnungsplanung evident“ (35). Es folgen kurze Abschnitte und thematische Karten u. a. zur Waldfläche, zur Siedlungsstruktur, zu Freiflächen und dem demographischen Wandel im Raum. Das ist informativ, aber ein Bezug zu den Fotos wird nicht hergestellt. Der Kontrast dieses administrativen Textes („un froid inventaire de mots et de chiffres“, wie Strubelt auf Seite 10 zu einem anderen Buch zitiert) zu dem fast literarischen von Strubelt könnte kaum größer sein. Der Hauptteil sind 151 Schrägluftbilder, aufgenommen mit einer Kamera an einem Mini-Zeppelin 60 Meter über der Erde. Die Luftbilder sind nach vier räumlichen Kategorien geordnet: Stadtraum – Stadtrand – Kleinstadt/Dorf – Ländlicher Raum. Sie sollen den Raumordnungskategorien der BBR entsprechen. Hierzu einige Beispiele: Unter „Stadtraum“ ist in Berlin ein deutlicher Kontrast zwischen der alten Blockrandbebauung (73) und den irgendwie in den Raum gesetzten Ministergärten (71) dokumentiert, ferner die vertane Chance einer städtebaulichen einheitlichen Konzeption des Potsdamer Platzes Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 252 Buchbesprechungen (61). Zu besichtigen ist auch die spielzeughafte Entsprechung von in Reih und Glied aufgestapelten Containern und parkenden Pkw im Eucaro in Bremen (95) oder die wahllose Anordnung der neuen Wohngebäude in Dessau (97). Am „Stadtrand“ findet sich ein Foto des TagebauRestlochs in Bitterfeld (104) und das Beispiel einer Gartensiedlung in Dessau (105). Zu sehen ist der Flächenverbrauch von eingeschossigen Industriegebäuden und Fachmärkten, hier am Beispiel BerlinBlumberg (107); ferner die merkwürdige Anordnung dreigeschossiger Giebelhäuser im Landkreis Mittenwalde (115). Insgesamt sind die Unterschiede im suburbanen Raum von west- und ostdeutschen Städten nicht (mehr) erkennbar. Für „Kleinstadt/Dorf“ mag man sich über eine Ei-förmige grüne Verkehrsinsel mit zwei Bäumen in Sangershausen (124) wundern, mehr noch über zwei große, fast leere Parkplätze im historischen Stadtkern von Doberlug (127), sowie nach der Wende modernisierte viergeschossige Wohngebäude in Dessau (129) – aber auch alte dörfliche Strukturen (140, 141). Im „ländlichen Raum“ ist vor allem eindrucksvoll zu erkennen, wie stark er den Verkehrstrassen geopfert wurde, insbesondere im Kontrast zu der noch erhaltenen Havellandschaft (180). Was bedauerlich ist: Im Text finden sich keine Hinweise darauf, warum man was ausgewählt hat. Den Lesern geht es so, wie Strubelt es in seinem Text über das Buch Kein „Einst und Jetzt“ (Gütersloh 1960er) geschrieben hat: zu wenig Interpretation, „der Leser ist ziemlich auf sich selbst gestellt“ (20). Vielleicht ist das aber eine zumindest unproduktive Frage, weil die Antwort hierzu von den Autoren so rasch nicht zu erhalten ist. Also sollte man die Frage zugunsten folgender aufgeben: Was sagt mir dieses Foto? Die Antworten können je nach Betrachter/ in unterschiedlich ausfallen. Sie können vor allem von der Dimension abhängen, in der man das Foto, den „Befund“, untersucht, z. B. Flächenverbrauch, Ästhetik, architektonische Qualität, rechtliche Grundlagen. Weitere Fragen sind, was der Vergleich der Fotos innerhalb einer Kategorie und was der Vergleich zwischen den Kategorien erbringt. Warum sollten Planer, Geographen und Soziologen diesen Band lesen? Zum einen, weil erkennbar wird, dass jede Auswahl von Fotos ihrer Zeit und deren Sichtweise verhaftet ist. Zum anderen, weil diese Kontextgebundenheit auch für die Stadt- und Raumplanung gilt. Deshalb eignen sich die Fotos auch besonders gut dazu, zu fragen: Warum wurde hier so gebaut? Luftbilder sind eine Makroperspektive, sozusagen das aggregierte Ergebnis des Handelns individueller und kollektiver Akteure. Man muss untersuchen, welche Bedingungen auf der Makroebene der Gesellschaft oder Stadt zu diesem Ergebnis geführt haben, und weiter: welche dieser Bedingungen die individuellen (u. a. Politiker) und kollektiven Akteure (u. a. Baubehörden) dazu gebracht haben, die Landschaft und den Raum derart umzubauen, sodass wir am Ende das Ergebnis erhalten, welches uns das Luftbild zeigt. Anregend wäre ein Universitäts-Seminar, geleitet von einer Geographin oder einen Geographen und einem/einer Stadt- oder Raumplaner/in, in dem diese Fotos untersucht werden. Vielleicht entstünde dann ein Buch, das die Luftbilder in reale ökonomische und politische Zustände auflöste – also in eine gesellschaftliche Naherkundung. Der Band zeigt nicht nur die Raumnutzung, sondern auch dessen Zerstörung. Insofern ist der Titel irreführend: Den Raum kann man nicht bändigen wie einen Tiger, eher schon schlachten wie Vieh – und das träfe die Sache besser. Es ist der Raum, den wir uns täglich weiter untertan machen. Literatur Arthus-Bertrand, Y. (2001): Die Erde von oben – Tag für Tag. München: Knesebeck. Gerster, G. (1975): Der Mensch auf seiner Erde. Ein Flugbild. Zürich-Freiburg: Atlantis. Autor: Prof. Dr. Jürgen Friedrichs, Universität zu Köln, Institut für Angewandte Sozialforschung, Greinstr. 2, 50939 Köln, E-Mail: [email protected] Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012