Kurven im R^n - Universität Würzburg

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Kapitel 12
Kurven im Rn
12.1
12.2
12.3
12.4
Kurven und Parametertransformationen
Funktionen von beschränkter Schwankung
Die Bogenlänge von Kurven
Parametrisierung nach der Bogenlänge
12.1
Kurven und Parametertransformationen
Wir untersuchen in diesem Abschnitt so genannte Kurven, die in der nachstehenden Definition eingeführt werden.
Definition 12.1 Sei I ⊆ R ein (eigentliches oder uneigentliches) Intervall. Eine stetige
Abbildung f : I → Rn heißt dann Kurve.
Wir schreiben auch f = (f1 , . . . , fn ) und nennen (wie üblich) fk : I → R die k-te Komponentenfunktion von f . Eine Kurve f : I → Rn mit den Komponentenfunktionen fk
heißt
• differenzierbar, wenn alle fk differenzierbar sind (das ist konsistent mit dem Lemma
10.13)
• stetig differenzierbar, wenn alle fk stetig differenzierbar sind.
• stückweise stetig differenzierbar, wenn es eine Partition
a = t0 < t1 < . . . < tm = b
des Intervalls I = [a, b] gibt derart, dass die Komponentenfunktionen fk auf jedem
der Teilintervalle [ti−1 , ti ] stetig differenzierbar sind. (Beachte hierbei, dass f gemäß
Definition einer Kurve automatisch stetig auf dem gesamten Intervall I ist).
Analog lassen sich weitere Glattheitsbegriffe für Kurven definieren, indem man sie auf die
zugehörigen Komponentenfunktionen zurückspult.
Wir geben als Nächstes einige Beispiele von Kurven an.
373
KAPITEL 12. KURVEN IM RN
374
Beispiel 12.2
(a) Ein Kreis vom Radius r > 0 wird beschrieben durch die Kurve
f : [0, 2π] → R2 , t 7→ (r cos t, r sin t).
(b) Eine Gerade durch den Punkt a ∈ Rn mit Richtungsvektor v ∈ Rn \{0} wird dargestellt durch die Kurve
f : R → Rn , t 7→ a + tv.
(c) Durch die Kurve
f : R → R3 , t 7→ (r cos t, r sin t, ct)
wird anschaulich eine Schraubenlinie mit Radius r > 0 dargestellt (c ∈ R\{0}).
-1.0
-0.5
0.0
0.5
1.0
3
2
1
0
1.0
0.5
0.0
-0.5
-1.0
Abbildung 12.1: Schraubenlinie aus dem Beispiel 12.2 (c) mit den Parametern r = 1, c = 0.2
(d) Sei ϕ : I → R eine stetige Funktion auf einem Intervall I ⊆ R. Dann lässt sich der
Graph von ϕ als Kurve im R2 auffassen:
f : I → R2 , t 7→ t, ϕ(t) .
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12.1. KURVEN UND PARAMETERTRANSFORMATIONEN
375
(e) Die durch
f : R → R2 , t 7→ (t2 , t3 )
definierte Kurve wird als Neilsche Parabel bezeichnet. Sie beschreibt anschaulich die
Lösungsmenge der Gleichung y 2 = x3 im R2 .
3
0.4
0.2
0.1
0.2
0.3
0.4
0.5
0.6
-0.2
-0.4
Abbildung 12.2: Neilsche Parabel aus dem Beispiel 12.2 (e) für t ∈ [−0.8, 0.8]
Häufig ist die folgende anschauliche Interpretation einer Kurve recht nützlich: Man fasst
die Variable t ∈ I als Zeit und f (t) ∈ Rn als Ort auf. Die Kurve beschreibt dann die
zeitliche Bewegung eines Punktes in Rn .
Definition 12.3 Seien I ⊆ R ein Intervall und f : I → Rn eine differenzierbare Kurve
mit Komponentenfunktionen fk . Für jedes t ∈ I heißt
(a) f ′ (t) = f1′ (t), . . . , fn′ (t) ∈ Rn der Tangentialvektor der Kurve f zum Parameterwert
t.
(b)
f ′ (t)
kf ′ (t)k2
der Tangenten–Einheitsvektor der Kurve f zum Parameterwert t (wobei dieser
natürlich nur für f ′ (t) 6= 0 definiert ist).
Geometrisch lässt sich der Tangentialvektor als Limes von Sekanten auffassen:
f ′ (t) = lim
h→0
h6=0
f (t + h) − f (t)
.
h
Physikalisch ist f ′ (t) der Geschwindigkeitsvektor zur Zeit t der durch f : I → Rn beschriebenen Bewegung und
p
kf ′ (t)k2 = |f1′ (t)|2 + . . . + |fn′ (t)|2
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376
KAPITEL 12. KURVEN IM RN
ist der Betrag der Geschwindigkeit (im Falle n = 1 ist ja gerade kf ′(t)k2 =
|f1′ (t)|).
p
|f1′ (t)| =
Beispiel 12.4 Sei f : I → Rn eine Kurve mit f (t1 ) = f (t2 ) =: x für t1 6= t2 (die Kurve f
sei also nicht injektiv). Dann heißt x Doppelpunkt der Kurve f . Im Punkt x hat f dann
zwei im Allgemeinen verschiedene Tangentialvektoren. Als konkretes Beispiel betrachten
wir die Kurve
f : R → R2 , t 7→ (t2 − 1, t3 − t).
Wegen f (−1) = f (1) = (0, 0) ist der Ursprung ein Doppelpunkt. Aus f ′ (t) = (2t, 3t2 − 1)
ergeben sich
f ′ (−1) = (−2, 2) und f ′ (1) = (2, 2)
als Tangentialvektoren in x = (0, 0).
3
Wir führen als Nächstes den Begriff einer regulären Kurve ein.
Definition 12.5 Sei f : I → Rn eine stetig differenzierbare Kurve. Die Kurve heißt regulär, wenn f ′ (t) 6= 0 für alle t ∈ I gilt. Ein Parameterwert t ∈ I mit f ′ (t) = 0 heißt
singulär.
Auch hier einige Beispiele zu dem eingeführten Begriff.
Beispiel 12.6 (a) Die Kurve f : [0, 2π] → R2 , t 7→ (r cos t, r sin t) aus dem Beispiel 12.2
(a) ist regulär wegen f ′ (t) = (−r sin t, r cos t) 6= (0, 0) für alle t ∈ [0, 2π] (r > 0).
(b) Die Kurve f : R → R2 , t 7→ (t2 − 1, t3 − t) aus dem Beispiel 12.4 ist wegen f ′ (t) =
(2t, 3t2 − 1) 6= (0, 0) ebenfalls regulär.
(c) Die aus dem Beispiel 12.2 (e) bekannte Neilsche Parabel
f : R → R2 , t 7→ (t2 , t3 )
hat wegen f ′ (t) = (2t, 3t2 ) in t = 0 den einzigen singulären Punkt.
3
Seien f : [a, b] → Rn eine Kurve, [α, β] ⊆ R ein weiteres Intervall und
ϕ : [α, β] → [a, b]
eine bijektive stetige Abbildung. Dann ist die zusammengesetzte Abbildung
g := f ◦ ϕ : [α, β] → Rn
wieder eine Kurve im Rn (als Kompositum zweier stetiger Funktionen). Man sagt, dass
die Kurve g aus f durch die Parametertransformation ϕ hervorgeht und bezeichnet g in
diesem Zusammenhang auch als eine Umparametrisierung von f . Sind sowohl ϕ als auch
die Umkehrfunktion ϕ−1 : [a, b] → [α, β] stetig differenzierbar, so nennt man ϕ eine C 1 –
Parametertransformation.
Die Kurvenpunkte von f und g sind dieselben, denn es gilt
g(t) = f ϕ(t) für alle t ∈ [α, β], aber sie werden im Allgemeinen verschieden durchlaufen.
Da ϕ : [α, β] → [a, b] stetig und bijektiv ist, tritt genau einer der beiden folgenden Fälle
auf:
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12.1. KURVEN UND PARAMETERTRANSFORMATIONEN
377
(a) ϕ ist auf [α, β] streng monoton wachsend. Man nennt die Parametertransformation
ϕ dann orientierungstreu.
(b) ϕ ist auf [α, β] streng monoton fallend. Dann heißt die Parametertransformation ϕ
orientierungsumkehrend .
Handelt es sich bei ϕ um eine C 1 –Parametertransformation, so ist ϕ′ (t) 6= 0 für alle t ∈
[α, β], denn aus ϕ−1 ◦ ϕ = id folgt mit der Kettenregel
(ϕ−1 )′ ϕ(t) · ϕ′ (t) = 1 ∀t ∈ [α, β] =⇒ ϕ′ (t) 6= 0 ∀t ∈ [α, β].
Wegen Satz 6.18 ist ϕ daher genau dann orientierungstreu, wenn ϕ′ (t) > 0 für alle t ∈ [α, β]
gilt, während ϕ genau dann orientierungsumkehrend ist, wenn ϕ′ (t) < 0 für alle t ∈ [α, β]
ist.
Beispiel 12.7 Wir betrachten wieder die den Kreis beschreibende Kurve
f : [0, 2π] → R2 , t 7→ (r cos t, r sin t).
Mit der Parametertransformation
ϕ : [0, π] → [0, 2π], t 7→ 2t,
erhalten wir die Darstellung
g := f ◦ ϕ : [0, π] → R2 , t 7→ (r cos 2t, r sin 2t)
des Kreises. Wegen ϕ′ (t) = 2 > 0 ist die Parametertransformation orientierungstreu. Unter
Verwendung der Parametertransformation
ψ : [0, 2π] → [0, 2π], t 7→ 2π − t,
hingegen ergibt sich die Darstellung
h := f ◦ ψ : [0, 2π] → R2 , t 7→ r cos(2π − t), r sin(2π − t)
des Kreises. Wegen ψ ′ (t) = −1 < 0 ist diese Parametertransformation orientierungsumkehrend.
3
Seien f : [a, b] → Rn eine differenzierbare Kurve und ϕ : [α, β] → [a, b] eine C 1 –Parametertransformation. Dann gilt für die Kurve g = f ◦ ϕ : [α, β] → Rn aufgrund der Kettenregel
g ′ (τ ) = f ′ ϕ(τ ) ϕ′ (τ ).
Die Tangentialvektoren an die Kurve g zum Parameterwert τ ∈ [a, b] und an die Kurve
f zum Parameterwert t := ϕ(τ ) ∈ [α, β] unterscheiden sich also nur um den skalaren
Faktor ϕ′ (τ ) 6= 0. Die zugehörigen Tangenten–Einheitsvektoren sind also (eventuell bis
auf das Vorzeichen) gleich. Das Vorzeichen hängt davon ab, ob ϕ orientierungstreu oder
orientierungsumkehrend ist.
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KAPITEL 12. KURVEN IM RN
378
12.2
Funktionen von beschränkter Schwankung
Wir wollen im nächsten Abschnitt den Kurven eine Länge zuordnen. Dazu erweist es sich als
sinnvoll, zunächst die Klasse der Funktionen von beschränkter Schwankung zu diskutieren.
Diese spielen auch in anderen Bereichen der Analysis eine große Rolle.
Definition 12.8 Sei f : [a, b] → R eine gegebene Funktion.
(a) f heißt von beschränkter Schwankung auf [a, b] (kurz: f ∈ BV ([a, b])), wenn eine
Konstante M > 0 existiert, so dass für alle Partitionen
P : a = x0 < x1 < . . . < xn = b
von [a, b] gilt:
n
X
f (xi ) − f (xi−1 ) ≤ M.
VP (f ) :=
(12.1)
i=1
(b) Ist f ∈ BV ([a, b]), so heißt die dann existierende Konstante
Vab (f ) := sup VP (f )
P
die Totalvariation von f auf [a, b].
Die Totalvariation ist also die kleinstmögliche Konstante M derart, dass die Ungleichung
(12.1) für alle möglichen Partitionen erfüllt ist. Aus der obigen Definition folgt sofort
Vab (f ) = Vab (−f ). Wir beweisen zunächst, dass alle monotonen Funktionen von beschränkter Schwankung sind.
Satz 12.9 ( Monotone Funktionen sind von beschränkter Schwankung )
Jede monotone Funktion f : [a, b] → R ist von beschränkter Schwankung.
Beweis: Wir beweisen die Aussage nur für monoton wachsende Funktionen. Der Beweis
für monoton fallende Funktionen lässt sich analog führen.
Sei P : a = x0 < x1 < . . . < xn = b eine beliebige Partition von [a, b]. Dann gilt
n
n
X
X
VP (f ) =
f (xi ) − f (xi−1 ) =
f (xi ) − f (xi−1 ) = f (b) − f (a) =: M,
i=1
i=1
woraus die Behauptung auch schon folgt.
2
Das folgende Beispiel zeigt, dass eine stetige Funktion nicht notwendig von beschränkter
Schwankung ist.
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12.2. FUNKTIONEN VON BESCHRÄNKTER SCHWANKUNG
379
Beispiel 12.10 Betrachte die auf [0, 2] stetige Funktion
x sin πx ,
falls x =
6 0,
f (x) :=
0,
falls x = 0.
Für eine natürliche Zahl n ∈ N betrachten wir die Partition
P : 0 =: x0 < x1 < . . . < xn = 2 mit xi :=
2
2n + 1 − 2i
∀i = 1, . . . , n
des Intervalls [0, 2]. Für jedes n > 2 gilt dann
VP (f )
=
≥
=
n
X
f (xi ) − f (xi−1 )
i=1
n
X
i=2
n X
i=2
=
f (xi ) − f (xi−1 )
2n + 1 − 2i 2n + 3 − 2i 2
2
sin
π −
sin
π 2n + 1 − 2i
2
2n + 3 − 2i |
2
}
{z
=− sin
n X
2
π 2
+
sin (n − i)π + ·
2 } 2n + 1 − 2i |2n +{z
3 − 2i}
{z
i=2 |
=1 ∀i=2,...,n
>
j:=n−i
=
2n+1−2i
π
2
n
X
i=2
n−2
X
j=0
>0, weglassen
2
2n + 1 − 2i
2
.
1 + 2j
P
2
Der letzte Ausdruck kann jedoch wegen der Divergenz der unendlichen Reihe ∞
j=0 1+2j
durch geeignete Wahl von n beliebig groß gemacht werden, wobei diese Reihe nach dem
Minorantenkriterium divergiert, da wir wegen
n−2
X
j=0
n−2
n−2
n−1
X 2
X 1
X1
2
≥
=
=
1 + 2j
2 + 2j
1+j
k
j=0
j=0
k=1
die harmonische Reihe als Minorante erhalten.
3
Wir zeigen als Nächstes, dass eine Funktion von beschränkter Schwankung stets beschränkt
ist.
Lemma 12.11 ( Funktionen von beschränkter Schwankung sind beschränkt )
Sei f ∈ BV ([a, b]). Dann ist f auf [a, b] beschränkt.
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KAPITEL 12. KURVEN IM RN
380
Beweis: Für ein beliebiges x ∈ [a, b] gilt
f (x) − f (a) ≤ f (x) − f (a) + f (b) − f (x) ≤ Vab (f ),
wobei die erste Ungleichung einfach durch Addition von |f (b) − f (x)| ≥ 0 folgt und die
zweite Ungleichung sich daraus ergibt, dass die drei Punkte a, x, b eine spezielle Partition
des Intervalles [a, b] liefern. Also gilt
f (x) ≤ Vab (f ) + f (a) =: c < ∞
für alle x ∈ [a, b] mit einer von dem speziellen x unabhängigen Konstanten c.
2
Eine der wichtigsten Eigenschaften der Totalvariation ist ihre Additivität.
Satz 12.12 ( Additivität der Totalvariation )
Seien f ∈ BV ([a, b]) und c ∈ (a, b) gegeben. Dann ist f ∈ BV ([a, c]) und f ∈ BV ([c, b])
sowie
Vab (f ) = Vac (f ) + Vcb (f ).
Beweis: Seien Pac , Pcb zunächst beliebige Partitionen von [a, c] und [c, b]. Dann ist Pab :=
Pac ∪ Pcb eine Partition von [a, b]. Daher folgt
VPac (f ) + VPcb (f ) = VPab (f ) ≤ Vab (f ).
(12.2)
Dies impliziert insbesondere
VPac (f ) ≤ Vab (f ) und VPcb (f ) ≤ Vab (f ),
woraus wiederum f ∈ BV ([a, c]) und f ∈ BV ([c, b]) folgt. Weiterhin ergibt sich
Vac (f ) + Vcb (f ) ≤ Vab (f ),
denn (12.2) gilt für alle Partitionen von [a, b], während die Konstante Vab (f ) unabhängig
von der jeweils betrachteten Partition ist.
Zum Beweis der umgekehrten Ungleichung betrachten wir eine Partition
P : a = x0 < x1 < . . . < xn = b
des Intervalls [a, b]. Die Partition Pab := P ∪ {c} ist dann wieder eine Partition von [a, b]
und erzeugt eine Partition Pac bzw. Pcb von [a, c] bzw. [c, b]. Für ein geeignetes k gilt dabei
xk−1 ≤ c < xk und
f (xk ) − f (xk−1 ) ≤ f (xk ) − f (c) + f (c) − f (xk−1 ).
Hieraus folgt
n
X
f (xi ) − f (xi−1 )
VP (f ) =
i=1
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12.2. FUNKTIONEN VON BESCHRÄNKTER SCHWANKUNG
381
n
k−1
X
X
f (xi ) − f (xi−1 )
f (xi ) − f (xi−1 ) + f (xk ) − f (xk−1 ) +
=
i=1
≤
i=k+1
k−1
X
f (xi ) − f (xi−1 ) + f (xk ) − f (c) + f (c) − f (xk−1 )
i=1
n
X
f (xi ) − f (xi−1 )
+
i=k+1
= VPab (f )
= VPac (f ) + VPcb (f )
≤ Vac (f ) + Vcb (f ).
Da P eine beliebige Partition von [a, b] war, impliziert dies
Vab (f ) ≤ Vac (f ) + Vcb (f ),
was zu zeigen war.
2
Bevor wir eine vollständige Charakterisierung für die Klasse der Funktionen von beschränkter Schwankung beweisen, geben wir das folgende Hilfsresultat an.
Lemma 12.13 ( Monotonie der Totalvariation )
Sei f ∈ BV ([a, b]) und definiere
x
Va (f ),
falls a < x ≤ b,
V (x) :=
0,
falls x = a.
Dann gelten die folgenden Aussagen:
(a) Die Funktion V ist monoton wachsend auf [a, b].
(b) Die Funktionen V ± f sind ebenfalls monoton wachsend auf [a, b].
Beweis: Seien x1 , x2 mit a < x1 < x2 < b beliebig gegeben. Nach Satz 12.12 gilt dann
Vax2 (f ) = Vax1 (f ) + Vxx12 (f )
und daher
V (x2 ) − V (x1 ) = Vax2 (f ) − Vax1 (f ) = Vxx12 (f ) ≥ 0,
so dass V monoton steigt.
Weiter folgt mit der trivialen Partition x1 < x2 von [x1 , x2 ]
f (x2 ) − f (x1 ) ≤ f (x2 ) − f (x1 ) ≤ Vxx12 (f ),
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(12.3)
KAPITEL 12. KURVEN IM RN
382
woraus sich unter Verwendung von (12.3)
V (x2 ) − f (x2 ) − V (x1 ) − f (x1 ) = Vxx12 (f ) − f (x2 ) − f (x1 ) ≥ 0
ergibt. Also ist V − f monoton wachsend. Der Nachweis der Monotonie von V + f kann
analog erfolgen.
2
Wir beweisen jetzt das Hauptresultat dieses Abschnitts, wonach eine Funktion genau dann
von beschränkter Schwankung ist, wenn sie sich als Differenz von zwei monoton wachsenden
Funktionen darstellen lässt.
Satz 12.14 ( Charakterisierung der Funktionen von beschränkter Schwankung )
Sei f : [a, b] → R gegeben. Dann ist f ∈ BV ([a, b]) genau dann, wenn f = f + − f − für
zwei monoton wachsende Funktionen f + , f − : [a, b] → R gilt.
Beweis: Sei zunächst f = f + − f − für zwei monoton wachsende Funktionen f + , f − :
[a, b] → R. Wegen Satz 12.9 gilt f + , f − ∈ BV ([a, b]). Offenbar ist BV ([a, b]) ein Vektorraum, so dass f = f + − f − ∈ BV ([a, b]) gilt.
Sei umgekehrt f ∈ BV ([a, b]) vorausgesetzt. Setze
f + (x) :=
V (x) + f (x)
2
und f − (x) :=
V (x) − f (x)
.
2
Wegen Lemma 12.13 sind f + und f − monoton wachsende Funktionen. Per Definition gilt
aber f (x) = f + (x) − f − (x) für alle x ∈ [a, b], womit bereits alles bewiesen ist.
2
Sei f ∈ BV ([a, b]) beliebig gegeben. Wegen Lemma 12.11 ist f dann zumindest beschränkt.
Aufgrund des Satzes 12.14 ist f außerdem Differenz von zwei monotonen Funktionen. Jede
monotone Funktion ist wegen des Korollars 9.39 aber eine Regelfunktion. Da die Summe
(bzw. Differenz) zweier Regelfunktionen offenbar wieder eine Regelfunktion darstellt, folgt
auf diese Weise, dass f bereits eine Regelfunktion ist. Damit haben wir das nachstehende
Resultat bewiesen.
Lemma 12.15 ( Funktionen von beschränkter Schwankung sind Regelfunktionen )
Sei f ∈ BV ([a, b]). Dann ist f eine Regelfunktion.
Mittels der vorigen Resultate können wir zwei weitere Eigenschaften der schon im Lemma
12.13 eingeführten Abbildung V beweisen.
Lemma 12.16 ( Eigenschaften der Totalvariation )
Sei f ∈ BV ([a, b]) und definiere wieder
x
Va (f ), falls a < x ≤ b,
V (x) :=
0,
falls x = a.
Dann gelten die folgenden Aussagen:
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12.2. FUNKTIONEN VON BESCHRÄNKTER SCHWANKUNG
383
(a) V ist eine Regelfunktion auf [a, b].
(b) V und V ± f sind stetig in allen Stetigkeitspunkten von f .
Beweis: (a) Wegen Lemma 12.11 ist V beschränkt. Zusammen mit Lemma 12.13 (a) und
dem Korollar 9.39 folgt dann, dass V eine Regelfunktion ist.
(b) Wir brauchen lediglich die Aussage für V zu beweisen, für V ± f gilt sie dann trivialerweise.
Sei dazu x ∈ [a, b] beliebig gegeben und h > 0 derart, dass x ± h ∈ [a, b] gilt, sofern
links– oder rechtsseitige Grenzwerte betrachtet werden sollen. Aus der Definition von V
und dem Satz 12.12 folgt dann einerseits
V (x) − V (x − h) =
=
=
≥
und andererseits auf analoge Weise
Vax (f ) − Vax−h (f )
x
Vax−h (f ) + Vx−h
(f ) − Vax−h (f )
x
Vx−h (f )
f (x) − f (x − h)
V (x + h) − V (x) = Vxx+h (f ) ≥ f (x + h) − f (x).
(12.4)
(12.5)
Da f als Funktion von beschränkter Schwankung wegen Lemma 12.15 eine Regelfunktion ist
und auch V nach Teil (a) eine Regelfunktion darstellt, existieren für V und f die einseitigen
Grenzwerte V (x+), V (x−) und f (x+), f (x−), vergleiche hierzu die Charakterisierung von
Regelfunktionen aus dem Satz 9.37. Aus (12.4) und (12.5) erhalten wir für h → 0 somit
(12.6)
V (x) − V (x−) ≥ f (x) − f (x−) und
V (x+) − V (x) ≥ f (x+) − f (x).
(12.7)
Sei nun ε > 0 beliebig vorgegeben. Gemäß Definition von V (b) = Vab (f ) existiert dann eine
Zerlegung a = x0 < x1 < . . . < xN = b von [a, b] mit
N
X
f (xi ) − f (xi−1 ) < ε.
V (b) −
i=1
Diese Abschätzung gilt insbesondere für jede Verfeinerung der Partition durch die Zahlen
xi , denn der links stehende Ausdruck wird hierdurch höchstens kleiner. Indem wir V (b) als
Teleskopsumme schreiben, folgt
N X
i=1
V (xi ) − V (xi−1 ) − f (xi ) − f (xi−1 ) < ε,
wobei die einzelnen Summanden wegen (12.4), (12.5) allesamt nichtnegativ sind. Wir
wählen nun ein beliebiges x ∈ [a, b], welches in dem Teilintervall [xi−1 , xi ) liegen möge.
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384
KAPITEL 12. KURVEN IM RN
Sei dann ξ derart, dass xi−1 ≤ x < ξ ≤ xi gilt. Wir verfeinern dann die obige Zerlegung durch Hinzunahme der Punkte x und ξ und erhalten wegen der Nichtnegativität aller
Summanden dann insbesondere die Abschätzung
V (ξ) − V (x) < f (ξ) − f (x) + ε
für alle ξ mit x < ξ ≤ xi . Da ε > 0 beliebig war, folgt
V (ξ) − V (x) ≤ f (ξ) − f (x)
für alle ξ mit x < ξ ≤ xi . Mit ξ → x liefert dies
V (x+) − V (x) ≤ f (x+) − f (x) ∀ x ∈ [a, b).
Ebenso verifiziert man die Gültigkeit der Abschätzung
V (x) − V (x−) ≤ f (x) − f (x−).
Zusammen mit (12.6) und (12.7) haben wir also
V (x+) − V (x) = f (x+) − f (x) und V (x) − V (x−) = f (x) − f (x−)
für alle x ∈ [a, b) bzw. alle x ∈ (a, b]. Aus diesen Gleichungen folgt die Stetigkeit von V in
allen Punkten x, in denen f selbst stetig ist.
2
12.3
Die Bogenlänge von Kurven
Wir wollen in diesem Abschnitt den Kurven eine Länge zuordnen. Sei dazu [a, b] ⊆ R ein
kompaktes Intervall und f : [a, b] → Rn eine Kurve. Unterteilt man das Intervall [a, b] in
a = t0 < t1 < . . . < tm = b
und verbindet die Punkte f (ti−1 ) mit f (ti ) geradlinig für alle i = 1, . . . , m, so erhält man
einen Polygonzug im Rn . Die Länge dieses Polygonzugs ist gegeben durch den Ausdruck
m
X
f (ti ) − f (ti−1 ) .
2
i=1
Dieser dient nun zur Definition einer rektifizierbaren Kurve.
Definition 12.17 Eine Kurve f : [a, b] → Rn heißt rektifizierbar, wenn eine Konstante
M ≥ 0 existiert mit
m
X
f (ti ) − f (ti−1 ) ≤ M
LP (f ) :=
i=1
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12.3. DIE BOGENLÄNGE VON KURVEN
f (t3 )
Kurve f
f (a)
385
Polygonzug
f (t2 )
f (b)
f (t1 )
Abbildung 12.3: Zur Definition der Bogenlänge einer Kurve
für alle Partitionen P : a = t0 < t1 < . . . < tm = b von [a, b]. Die Bogenlänge einer
rektifizierbaren Kurve (manchmal auch nur als Länge der Kurve bezeichnet) ist definiert
durch
L(f ) := sup LP (f ),
P
wobei das Supremum über alle Partitionen P von [a, b] zu nehmen ist.
Wir wollen zunächst zeigen, dass die Bogenlänge einer Kurve nicht von ihrer speziellen
Parametrisierung abhängt. Anschaulich sollte dies klar sein, denn der von einer Kurve
zurückgelegte Weg verändert sich beispielsweise nicht, wenn man die Kurve einmal von der
einen Seite und einmal von der anderen Seite durchwandert.
Lemma 12.18 ( Bogenlänge unabhängig von Parametrisierung )
Seien f : [a, b] −→ Rn eine Kurve, ϕ : [α, β] −→ [a, b] bijektiv und stetig sowie g := f ◦ ϕ :
[α, β] −→ Rn eine durch Parametertransformation aus f entstehende Kurve. Dann gelten:
(a) f ist rektifizierbar ⇐⇒ g ist rektifizierbar.
(b) Ist f (und damit auch g) rektifizierbar, so gilt L(f ) = L(g), die Bogenlängen stimmen
also überein.
Beweis: Wir verifizieren die beiden Aussagen gemeinsam. Sei zunächst f rektifizierbar
und
P : α = t0 < t1 < . . . < tm = β
eine Partition von [α, β]. Nehmen wir ohne Einschränkung an, dass die Parametertransformation ϕ orientierungstreu (also streng monoton steigend) ist, so erhalten wir eine
zugehörige Partition
P ′ : a = ϕ(t0 ) < ϕ(t1 ) < . . . < ϕ(tm ) = b
des Intervalls [a, b]. Da f nach Voraussetzung rektifizierbar ist, folgt
m
m X
X
LP (g) =
g(ti ) − g(ti−1 ) =
f ϕ(ti ) − f ϕ(ti−1 ≤ L(f )
i=1
i=1
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386
KAPITEL 12. KURVEN IM RN
mit einer von der speziellen Partition P unabhängigen Konstanten L(f ). Also ist g rektifizierbar mit L(g) ≤ L(f ). Da ϕ bijektiv ist, kann man analog aus der Rektifizierbarkeit
von g die Rektifizierbarkeit von f schließen und erhält gleichzeitig L(f ) ≤ L(g). Insgesamt
sind damit beide Behauptungen (a) und (b) bewiesen.
2
Wir zeigen jetzt, dass eine Kurve f genau dann rektifizierbar ist, wenn alle ihre Komponentenfunktionen von beschränkter Schwankung sind.
Satz 12.19 ( Charakterisierung rektifizierbarer Kurven )
Eine Kurve f : [a, b] → Rn ist rektifizierbar genau dann, wenn alle Komponentenfunktionen
fk : [a, b] → R (k = 1, . . . , n) von beschränkter Schwankung auf [a, b] sind.
Beweis: Sei zunächst fk ∈ BV ([a, b]) für alle k = 1, . . . , n und
P : a = t0 < t1 < . . . < tm = b
eine beliebige Partition von [a, b]. Dann gilt für alle i = 1, . . . , m
n
X
f (ti ) − f (ti−1 ) ≤ f (ti ) − f (ti−1 ) =
fk (ti ) − fk (ti−1 ).
2
1
k=1
Hieraus folgt
LP (f ) =
m
X
f (ti ) − f (ti−1 )
2
i=1
m X
n
X
fk (ti ) − fk (ti−1 )
≤
i=1 k=1
n X
m
X
fk (ti ) − fk (ti−1 )
=
≤
k=1 i=1
n
X
Vab (fk )
k=1
=: M,
wobei die letzte Ungleichung aus der Tatsache folgt, dass fk ∈ BV ([a, b]) für alle k =
1, . . . , n gilt. Da die Partition P hierbei beliebig gewählt war und die Konstante M von
der speziellen Partition P unabhängig ist, folgt die Rektifizierbarkeit von f .
Sei umgekehrt f rektifizierbar und
P : a = t0 < t1 < . . . < tm = b
eine beliebige Partition von [a, b]. Für alle k = 1, . . . , n und alle i = 1, . . . , m gilt dann
fk (ti ) − fk (ti−1 ) ≤ f (ti ) − f (ti−1 ) .
2
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12.3. DIE BOGENLÄNGE VON KURVEN
387
Hieraus folgt
m
m
X
X
fk (ti ) − fk (ti−1 ) ≤
f (ti ) − f (ti−1 ) ≤ L(f ).
2
i=1
i=1
Dies impliziert fk ∈ BV ([a, b]) für alle k = 1, . . . , n, da die Konstante L(f ) von der speziellen Partition P unabhängig ist.
2
Eine der wichtigsten Eigenschaften der Bogenlänge ist ihre Additivität.
Satz 12.20 ( Additivität der Bogenlänge )
Seien f : [a, b] → Rn eine rektifizierbare
Kurve und c ∈ (a, b) beliebig gegeben. Dann sind
auch die beiden Teilkurven f [a.c] : [a, c] → Rn und f [c,b] : [c, b] → Rn rektifizierbar. Ferner
gilt
Lba = Lca + Lbc ,
wenn wir mit Lba , Lca und Lbc die Bogenlänge der entsprechenden Kurven von f auf [a, b], [a, c]
und [c, b] bezeichnen.
Beweis: Seien Pac , Pcb Partitionen von [a, c] und [c, b]. Dann ist Pab := Pac ∪Pcb eine Partition
von [a, b], und es gilt
LPac (f ) + LPcb (f ) = LPab (f ) ≤ Lba .
Hieraus folgt LPac ≤ Lba sowie LPcb ≤ Lba und somit die Rektifizierbarkeit der beiden Teilkurven auf [a, c] und [c, b]. Da die Partitionen Pac und Pcb beliebig gewählt waren, impliziert
die obige Ungleichung außerdem
Lca + Lbc ≤ Lba .
Zum Nachweis der umgekehrten Ungleichung betrachten wir eine beliebige Partition
P : a = t0 < t1 < . . . < tm = b
von [a, b]. Die Partition P ∪ {c} liefert dann Partitionen Pac , Pcb von [a, c] und [c, b]. Für ein
geeignetes k gilt dabei tk−1 ≤ c < tk und daher
Dies impliziert
f (tk ) − f (tk−1 ) ≤ f (tk ) − f (c) + f (c) − f (tk−1) .
2
2
2
LPab ≤ LPac + LPcb ≤ Lca + Lbc
und daher Lba ≤ Lca + Lbc , was zu zeigen war.
2
Für die praktische Berechnung der Bogenlänge einer Kurve ist das nachstehende Resultat
von großer Bedeutung.
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388
KAPITEL 12. KURVEN IM RN
Satz 12.21 ( Bogenlänge stetig differenzierbarer Kurven )
Sei f : [a, b] → Rn eine stetig differenzierbare Kurve. Dann ist f rektifizierbar mit der
Bogenlänge
Z b
′ f (t) dt.
L(f ) =
2
a
Beweis: Sei P : a = t0 < t1 < . . . < tm = b eine beliebige Zerlegung des Intervalls [a, b].
Nach dem Hauptsatz der Differential– und Integralrechnung gilt dann
Z ti
f (ti ) − f (ti−1 ) =
f ′ (τ )dτ ∀ i = 1, . . . , m
ti−1
und somit
m
X
f (ti ) − f (ti−1 )
LP (f ) =
2
≤
=
i=1
m Z ti
X
i=1
b
Z
a
ti−1
′ f (τ ) dτ
2
′ f (τ ) dτ.
2
Da die rechte Seite von der speziell gewählten Partition unabhängig ist, folgt hieraus einerseits die Rektifizierbarkeit von f und andererseits die Ungleichung
Z b
′ f (t) dt.
L(f ) ≤
2
a
Zum Nachweis der umgekehrten Ungleichung wählen wir ein beliebiges ε > 0. Da f stetig
differenzierbar ist, handelt es sich bei der Ableitung f ′ wegen Satz 4.50 um eine gleichmäßig
stetige Funktion auf dem kompakten Intervall [a, b]. Folglich existiert zu dem gegebenen
ε > 0 ein δ > 0 mit
′
f (t1 ) − f ′ (t2 ) < ε für alle t1 , t2 ∈ [a, b] mit |t1 − t2 | < δ.
(12.8)
Sei nun P : a = t0 < t1 < . . . < tm = b eine Partition mit der Feinheit δ(P ) < δ, so
dass |ti − ti−1 | < δ für alle i = 1, . . . , m gilt. Für jedes t ∈ [ti−1 , ti ] (mit einem festen
i ∈ {1, . . . , m}) ist dann
′ ′ f (t) ≤ f (ti ) + ε
aufgrund der inversen Dreiecksungleichung. Hieraus folgt
Z ti
′ f (t)dt ≤ f ′ (ti ) · (ti − ti−1 ) + ε · (ti − ti−1 )
ti−1
Z ti
′
= f (ti )dt
+ ε · (ti − ti−1 )
ti−1
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12.3. DIE BOGENLÄNGE VON KURVEN
389
Z ti
′
′
′
= f (t) + f (ti ) − f (t) dt
+ ε · (ti − ti−1 )
ti−1
Z ti
Z ti
′
′
′
≤ f (t)dt
f (ti ) − f (t) dt
+
+ ε · (ti − ti−1 )
ti−1
ti−1
≤ f (ti ) − f (ti−1 ) + 2ε · (ti − ti−1 ),
wobei sich die letzte Ungleichung wiederum aus dem Hauptsatz der Differential– und Integralrechnung sowie unter Verwendung von (12.8) ergibt. Addition dieser Abschätzung über
alle i = 1, . . . , m liefert
Z b
′ f (t)dt ≤ LP (f ) + 2ε(b − a) ≤ L(f ) + 2ε(b − a).
a
Da ε > 0 hierbei beliebig gewählt war, folgt
Z b
′ f (t)dt ≤ L(f ).
a
Insgesamt liefert dies die Behauptung.
2
Wir geben als Nächstes einige Beispiele.
Beispiel 12.22
(a) Wir betrachten die Schraubenlinie
f : [0, 2π] → R3 , t → (r cos t, r sin t, ct).
Ihre Länge ist gegeben durch
2π
L(f ) =
Z
2π
=
Z
2π
=
Z
0
0
0
′ f (t)dt
p
p
f1′ (t)2 + f2′ (t)2 + f3′ (t)2 dt
r 2 sin2 t + r 2 cos2 t + c2 dt
√
= 2π r 2 + c2 .
(b) Für den Graphen einer Funktion ϕ : [a, b] → R ist f : [a, b] → R2 , t → t, ϕ(t) die
zugehörige Kurve, für die wir
Z bp
Z b
′ f (t)dt =
1 + ϕ′ (t)2 dt,
L(f ) =
a
a
als Bogenlänge erhalten.
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3
KAPITEL 12. KURVEN IM RN
390
12.4
Parametrisierung nach der Bogenlänge
Es gibt eine relativ natürliche Parametrisierung einer gegebenen Kurve, die wir in diesem
Abschnitt einführen wollen. Sei dazu f : [a, b] → Rn eine stetig differenzierbare Kurve. Wir
definieren hiermit dann die Abbildung
Z t
′ f (s)ds ∀ t ∈ [a, b].
ψ(t) :=
a
Dann gelten:
(a) ψ ist stetig differenzierbar (nach dem Hauptsatz der Differential– und Integralrechnung);
(b) ψ(t) ≥ 0 für alle t ∈ [a, b];
(c) ψ(a) = 0 und ψ(b) = L(f ) = Länge der Kurve f ;
(d) ψ ′ (t) = f ′ (t) ≥ 0 für alle t ∈ [a, b].
Handelt es sich bei f sogar um eine reguläre Kurve, so gilt in Teil (d) die strikte Ungleichung
ψ ′ (t) > 0 für alle t ∈ [a, b]. In diesem Fall ist ψ also streng monoton steigend, also bijektiv
(auf dem Bildbereich) wegen Satz 2.9. Folglich handelt es sich bei der Abbildung
ψ : [a, b] −→ 0, L(f ) , t 7−→ ψ(t)
um eine orientierungstreue Umparametrisierung. Die Umkehrfunktion ϕ := ψ −1 besitzt
wegen Satz 6.9 die Ableitung
ϕ′ (t) =
1
1
=
> 0 ∀ t ∈ 0, L(f )
f ′ ϕ(t) ψ ′ ϕ(t)
(12.9)
und liefert insbesondere auch eine orientierungstreue Umparametrisierung. Hiermit betrachten wir nun die Parametertransformation
g := f ◦ ϕ : 0, L(f ) −→ Rn
von der gegebenen (regulären) Kurve f . Nach der Kettenregel und wegen (12.9) hat diese
spezielle Parametrisierung der gegebenen Kurve die Eigenschaft, dass
′
f ′ ϕ(t)
′
′
∀ t ∈ 0, L(f )
g (t) = f ϕ(t) ϕ (t) = ′
f ϕ(t) gilt, also
′ g (t) = 1 ∀ t ∈ 0, L(t)
ist. Interpretieren wir die Ableitung als Geschwindigkeit, so wird die gegebene Kurve also
mit der konstanten Geschwindigkeit 1 durchlaufen. Wir fassen diese Beobachtungen in dem
folgenden Resultat zusammen.
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12.4. PARAMETRISIERUNG NACH DER BOGENLÄNGE
391
Satz 12.23 ( Parametrisierung nach der Bogenlänge )
Sei f : [a, b] −→ Rn eine reguläre Kurve. Dann existiert genau
′ eine
orientierungstreue
Parametertransformation g := f ◦ϕ von f mit der Eigenschaft g (t) = 1 für t ∈ 0, L(f ) .
Beweis: Aufgrund unserer Vorbetrachtungen müssen wir lediglich die Eindeutigkeitsaussage beweisen.
Sei
dazu h := f ◦σ eine weitere orientierungstreue Parametertransformation
von f mit h′ (t) = 1 für alle t. Dann ist
h = f ◦ σ = g ◦ ϕ−1 ◦ σ = g ◦ ω.
| {z }
=:ω
Wir zeigen nun, dass bereits ω(t) =t für alle
t ∈ 0, L(f ) gilt. Angenommen, dies sei
nicht der Fall. Dann existiert ein t ∈ 0, L(f ) mit t̄ := ω(t) 6= t. Betrachte nun die beiden
Kurven
g̃(t) := g(t) für alle t ∈ [0, t̄] und
h̃(τ ) := h(τ ) = g ω(τ ) für alle τ ∈ [0, t].
Hierbei handelt es sich lediglich um zwei verschiedene Parametrisierungen von derselben
Kurve. Wegen Lemma 12.18 ist die Länge der Kurve aber unabhängig von der speziellen
Parametrisierung, also gilt
L(g̃) = L(h̃).
Andererseits folgt aus dem Satz 12.21
Z t̄
Z t̄
′ ′ g (t) dt = t̄
L(g̃) =
g̃ (t) dt =
0
0 | {z }
=1
und
L(h̃) =
Z
0
t
′ h̃ (τ )dτ =
Z
0
t
′ h (τ ) dτ = t,
| {z }
=1
also der Widerspruch L(g̃) 6= L(h̃). Folglich ist ω(t) = t für alle t ∈ 0, L(f ) und somit
zwangsläufig σ ≡ ϕ.
2
Sei g = f ◦ ϕ die Parameterdarstellung der Kurve f aus dem Satz 12.23.
s(t)
Sei ferner
die Länge der Kurve auf dem Parameterintervall [0, t] für ein festes t ∈ 0, L(f ) . In der
Parametrisierung g gilt dann
Z t
′ g (τ ) dτ = t,
s(t) =
0 | {z }
=1
die Länge ist also gleich dem Parameter t. Man spricht in diesem Zusammenhang daher von
der Parametrisierung nach der Bogenlänge. Diese Parametrisierung nach der Bogenlänge
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KAPITEL 12. KURVEN IM RN
392
ist für einige theoretische Untersuchungen äußerst sinnvoll, scheitert in konkreten Beispielen aber oft daran, dass man ψ bzw. ϕ aufgrund der notwendigen Integration oft nicht
einfach berechnen kann. Im Folgenden ein einfaches Beispiel, wo dies explizit durchführbar
ist.
Beispiel 12.24 Betrachte die Kurve
r cos t
, t ∈ [0, 2π]
f (t) :=
r sin t
mit der Länge L(f ) = 2πr, die anschaulich einen Kreis vom Radius r > 0 um den Ursprung
beschreibt. Wir erhalten
Z tq
Z t
′ ψ(t) :=
f (s) ds =
r 2 sin2 (s) + r 2 cos2 (s)ds = t · r ∀ t ∈ [0, 2π]
0
0
und daher
t
∀ t ∈ [0, 2πr]
r
als Umkehrfunktion. Damit bekommen wir
r cos rt ∀ t ∈ [0, 2πr]
g(t) =
r sin rt
ϕ(t) =
als Parameterdarstellung der Kurve f in der Bogenlänge.
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