Der Stoff aus dem Medizinprodukte sind

Werbung
Medizintechnologie.de
Smarte Textilien in der Medizin
Der Stoff, aus dem Medizinprodukte
sind
Die medizintechnische Forschung hat das Garn entdeckt: Mit Sensoren bestückt, mit
Schaltkreisen versehen, mit signalleitenden Fasern umhüllt scheinen dessen
Einsatzmöglichkeiten nahezu unbegrenzt.
Quelle: Fotolia/emuck
22.12.2016 Jahrtausende lang hatten Textilien auf unserer Haut vor allem eine
Funktion: Sie schmückten und schützten den Körper vor äußeren Einflüssen.
Zukünftig wollen Ingenieure, Designer und Techniker neben der Automobil- und
Baubranche auch den Gesundheitsmarkt erobern – mit intelligenten Textilien für
Therapien, Überwachung und Diagnostik. von Beate Wagner
1
Eine Branche im Aufwind
Bis heute sind Textilien aus der Medizin nicht wegzudenken. Moderne Entwicklungen
beflügeln die schwächelnde Branche der Textil- und Bekleidungsindustrie.
Ob es Therapiehandschuhe für Schlaganfallpatienten sind, T-Shirts, die
Mehr auf Medizintechnologie.de
Einen Überblick über Forschungsansätze und Einsatzmöglichkeiten innovativer
Textilien gibt das Dossier:
Smarte Textilien
Herzrhythmusstörungen messen, Mützen, die Hirnströme stimulieren, Socken, die über eine
Das Einsatzgebiet der Garne, Membrane oder Fasern mit Funktion scheint schier unbegrenzt:
Sie sollen die Arbeit der Ärzte in Kliniken erleichtern. Sie könnten die ambulante Versorgung
von Patienten verbessern. Und sie bieten die Chance, ältere Menschen in ihrem häuslichen
Umfeld oder im Seniorenheim besser zu betreuen – und so beispielsweise vor Stürzen zu
bewahren.
Riesiger Markt
In Anbetracht des demographischen
Wandels eröffnet sich dafür ein
riesiger Markt, diese Erfahrung hat die
Future-Shape GmbH mit dem
SensFloor gemacht. Entstanden ist der
intelligente Teppich in einem vom
Bundesforschungsministerium
geförderten Verbundprojekt. Er soll
Älteren oder Demenzkranken den
Komfort des eigenen Zuhauses oder
ein selbstbestimmtes Altern
Der SensFloor erkennt nicht nur, wenn jemand
beispielsweise im Seniorenheim
stürzt, und sendet dann ein Notsignal ans
ermöglichen. „Mit Sensoren
Pflegepersonal oder den Rettungsdienst. Er
ausgestattet verwandelt sich der
erkennt auch, wer über ihn hinweg geht.
Boden in ein großes Touchpad, das
Quelle: Future Shape
den Ort, die Anzahl und die Bewegung
von Personen erkennt“, erklärt
Geschäftführerin Christl Lauterbach.
„Die Unterlage kann gehende von liegenden Personen unterscheiden; stürzt jemand, wird
umgehend ein Notfallsignal an das Pflegepersonal abgesetzt.“ Die Sensorunterlage schaltet
auch das Licht an, öffnet automatisch Türen oder signalisiert unbefugtes Betreten. Das System
kann unter allen gängigen Belägen verlegt werden, so dass es unsichtbar bleibt.
„Die Nachfrage nach SensFloor ist in den letzten zwei Jahren um das Fünffache gestiegen“,
berichtet die Future-Shape-Chefin. Sie schätzt das europäische Marktvolumen für
Sensorböden allein im Pflegebereich auf etwa 100.000 Quadratmeter pro Jahr. Im Ausland
laufe der Vertrieb für SensFloor allerdings besser als in Deutschland. „Unser größter Markt ist
Frankreich, hier haben wir bereits 2012 ein Pflegeheim mit 70 Zimmern ausgestattet“, sagt die
Unternehmerin. Zukunftsträchtige Entwicklungen würden dort zu einem Drittel staatlich
bezuschusst. In Deutschland müssten die Firmen sich aus eigener Kraft auf dem Markt
positionieren.
Dennoch: Durchbruch auf breiter Front
„Textilien mit integrierten digitalen
Funktionen bieten einen innovativen
Quantensprung“, erklärt auch Ingeborg
Neumann, Textilunternehmerin und
Präsidentin des Gesamtverbandes der
deutschen Textil- und Modeindustrie.
„Wir stehen vor einem Durchbruch
smarter Textilien auf breiter
Marktfront.“ An allein 16 deutschen
Textilforschungsinstituten arbeiten
Textilforscher, Mediziner,
Pflegespezialisten, Werkstoff- und
Ingeborg Neumann, Präsidentin des
Maschinenbauexperten interdisziplinär
Gesamtverbandes der deutschen Textil- und
zusammen, um zum Beispiel
Modeindustrie: „Wir stehen vor einem Durchbruch
Innovationen aus dem Bereich der
smarter Textilien auf breiter Marktfront.“
sensorgestützten Textilien zur
Quelle: textil+mode
Marktreife zu bringen. Mit 13 Prozent
machen die smarten Medizintextilien
heute schon rund ein Achtel des Marktvolumens Technischer Textilien aus. Experten
prognostizieren jährliche Zuwächse zwischen fünf und zehn Prozent.
Doch es gibt auch ein Problem, das vor allem für den Gesundheitsmarkt gilt: „Die Schnittstelle
zwischen Forschung und der Industrie ist noch nicht ausgereift“, sagt Neumann. „Es dauert
einfach noch zu lang, bis ein Produkt Marktreife erlangt.“ Biomaterialien, textile Implantate,
Stents, Netze und Gefäßprothesen sind in Kliniken und Operationssälen in aller Welt schon
längst etabliert. Die faserbasierte Wundsensorik, e-Textilien zum Langzeitmonitoring oder
textile Aktuatorik – was in diesem Zusammenhang so viel wie Signalweiterleitung heißt –
verlassen hingegen gerade die Forschungslabore und müssen den Weg vom Prototyp zum
anwendungsreifen Produkt erst noch gehen.
2
CE-Zertifizierung stellt hohe Anforderungen
Entwickler, die an einem Medizinprodukt arbeiten, brauchen einen langen Atem. Die
größte Hürde vor allem für kleine und mittlere Unternehmen ist die CE- Zertifizierung.
Ein Produkt ist dann ein Medizinprodukt, wenn es laut seiner Zweckbestimmung dazu dienen
soll, eine Krankheit oder Verletzung zu diagnostizieren, zu therapieren oder zu überwachen.
Das trifft sowohl zu bei sensorgestützten Kleidungsstücken, die Rhythmusstörungen messen,
bei elektrisch leitenden Fäden, die Schmerzen lindern, oder bei intelligenten Sensoren, die
den Heilungsprozess von Wunden verkürzen. Hersteller, die ein solches Produkt auf den
Markt bringen wollen, müssen schon frühzeitig im Hinterkopf haben, dass sie dafür eine CE-
Zertifizierung durchlaufen müssen, die abhängig von der Risikoklasse des Produktes sehr
aufwändig sein kann. Zudem sind die Textilien und Sensoren selbst noch sehr teuer, die
Vergütung häufig ungeklärt.
In Geduld müssen sich auch die Forscher
Über Artus auf Medizintechnologie.de
der Hohenstein Institute in Bönnigheim
Künstliche Gebärmutter
üben. Gefördert mit Geldern aus dem
für Frühchen
Zentralen Innovationsprogramm
Mittelstand (ZIM) des
Bundeswirtschaftsministeriums haben sie Artus (Artificial Uterus) entwickelt, die weltweit erste
künstliche Gebärmutter, die ein zu früh auf die Welt gekommenes Kind in seinen Zustand vor
der Geburt zurückversetzen kann, indem es motorische und akustische Reize wie im
Mutterleib auf das Kind überträgt. Der Prototyp ist längst gebaut. Für die Zulassung als
Medizinprodukt mit CE-Kennzeichnung sind nun aber die Industriepartner Beluga-Tauchsport
GmbH, die Global Safety Textiles GmbH und die M. Zellner GmbH verantwortlich.
Die Anforderungen dafür sind hoch:
So müssen zum einen über textile
Materialeigenschaften wie Haptik,
Elastizität und Widerstand die
Bedingungen der Gebärmutter
realitätsnah nachgeahmt werden.
Dafür muss die Auswahl von
Fasermaterial und Flächenherstellung
gezielt aufeinander abgestimmt sein.
Artus unterstützt die Entwicklung von
Der Prozess bis zur CE-
frühgeborenen Babys. Akustische und motorische
Kennzeichnung entscheidet bei vielen
Aktuatoren errzeugen sensorische Reize für das
Innovationen über deren Zukunft. „Wir
Frühgeborene.
kämpfen seit Jahren gegen den Trend,
Quelle: Hohenstein Institute
dass Produkte hierzulande zu stark
reguliert werden, um dann zu spät
oder gar nicht beim Patienten anzukommen“, sagt Artus-Projektleiter Professor Dr. Dirk Höfer.
Die enormen Kraftanstrengungen, auch finanziell, die eine CE-Zertifizierung erfordert, könnten
mittlerweile nur noch große Hersteller auf sich nehmen. „Es ist daher kein Wunder, wenn die
innovative Vielfalt kleinerer und mittlerer Unternehmen verkümmert“, sagt Höfer. Derzeit
befinden sich am Markt keine Medizinprodukte für Säuglings-Inkubatoren oder Hilfen zur
Stabilisierung der Säuglinge, die eine sensorische Integrationstherapie ermöglichen. Artus
wäre der erste Textiltherapeut seiner Art.
3
Manche Krankenkassen zahlen, andere nicht
Die CE-Zertifizierung ist das eine – die Erstattung das andere. Werden innovative
Medizinprodukte von den Krankenkassen nicht übernommen, können der
Selbstzahlermarkt oder das Ausland eine Alternative sein.
Die Brüder Tobias und Johannes
Weigl, Gründer des Bonner Start-ups
Bomedus, haben die Zertifizierung
ihrer neuartigen Therapie als
Medizinprodukt in nur einem Jahr
hinter sich gebracht. „Wir waren auf
den Prozess vorbereitet, ohne
finanzielle und fachliche Unterstützung
wäre das aber so schnell nicht
möglich gewesen“, erinnert sich
Tobias Weigl, der Medizin und
Betriebswirtschaftslehre studiert hat.
Die Brüder erhielten mehrere
Millionen Euro an Förder- und
Investorengeldern. 100.000 Euro
haben sie selbst beigesteuert. „Positiv
ausgewirkt hat sich zudem, dass wir
schon diverse Studienergebnisse aus
Die Brüder Tobias (li.) und Johannes Weigl
entwickeln Schmerzgürtel, die auf der Small Fiber
Matrix Stimulation beruhen und das
Schmerzgedächtnis der Patienten
umprogrammieren.
Quelle: Bomedus
der Uni Bonn und der RTWH Aachen
vorweisen konnten, welche die Wirksamkeit der Schmerzbänder belegten.“
Gleichförmige Stromimpulse verändern Schmerzgedächtnis
Die Technologie Small Fiber Matrix Stimulation (SFMS) der Firma Bomedus unterscheidet sich
grundlegend von herkömmlichen Elektrostimulationsverfahren. Basis sind textile Elektroden,
die gezielt nozizeptive Neurone in der Hautoberfläche aktivieren, also bestimmte
Schmerzfasern, im Englischen „Small Fiber“ genannt. Die Elektroden hat das Unternehmen auf
der Grundlage von Forschungsergebnissen des Textilforschungsinstituts Thüringen-Vogtland
(TITV) in Greiz zusammen mit der Universität Bonn entwickelt. Sie bestehen aus leitfähigen,
silberbeschichteten Polyamidfäden, die zu Punkten verwebt sind. An den Körper gelegt,
schicken die Elektroden in der Matrix feine Stromimpulse direkt unter die Haut. Die
gleichförmige Stimulation beruhigt die Nerven und verändert das Schmerzgedächtnis. „Bei
Schmerzpatienten reagiert das schmerzverarbeitende System extrem sensibel“ erläutert
Weigl. „Mit unserer Technologie verlernt der Patient seine Schmerzen, wir steuern durch die
heilsamen Impulse sozusagen das Vergessen.“ Dies sei ein wichtiger und bis jetzt fehlender
Baustein einer multimodalen Schmerztherapie.
Konzentration auf Selbstzahlermarkt und Ausland
2012 wurde das Start-up offiziell im Handelsregister eingetragen. 2014 wurde die SFMSTechnologie zugelassen, später dann die darauf basierenden Produkte. Mittlerweile bietet das
Unternehmen Bänder und Gürtel mit elektrisch leitenden Fäden für sechs Schmerzregionen
wie Knie, Rücken, Ellenbogen oder Nacken an. „Die SFMS wird seit zwei Jahren erfolgreich in
Kliniken und Praxen eingesetzt, daher werden die Kosten von Berufsgenossenschaften
mittlerweile auch vollumfänglich übernommen“, weiß Weigl. „Innovative Krankenkassen, denen
vor einer Operation eine konservative und nicht-medikamentöse Behandlung von
Schmerzpatienten wichtig ist, übernehmen die Kosten ebenfalls.“
Unabhängig von einer Kostenübernahme können die Geräte von Patienten rezeptfrei bezogen
werden. Die Macher von Bomedus konzentrieren sich verstärkt auf den Selbstzahlermarkt und
das Ausland. Ganz gleich, ob es Österreich, Schweiz oder Skandinavien ist – überall
funktioniert der Vertrieb besser als in Deutschland. „Hierzulande ist die Medizintechnikbranche
sehr konservativ und skeptisch“, sagt Weigl. „Neuerungen begegnet sie immer noch eher
zögerlich.“
4
Der lange Weg von der Idee auf den Markt
Gut Ding will Weile haben – und neben persönlichem Einsatz auch klinische Belege.
Zwei Beispiele aus der Wundversorgung.
Die öffentliche Förderung eines Forschungsprojekts ist noch kein Garant dafür, dass es auf
dem Markt ankommt. Oft braucht es zusätzlich eine große Portion persönliches Engagement.
So geschehen bei der textilen Wundauflage Suprathel. Aufgebaut wie die natürliche Haut, ist
Suprathel so etwas wie die „Mutter aller smarten Textilien“. Das Vorzeigeprodukt ist das
Ergebnis jahrelanger Forschungen am Institut für Textil- und Verfahrenstechnik in
Denkendorf. Jahrelang wurde der künstliche Hautersatz vom Bundesforschungsministerium
und dem Land gefördert. Dann stiegen die Industriepartner aus. Institutsdirektor Heinrich
Planck sattelte um – der Wissenschaftler wurde Unternehmer und gründete die PolyMedics
Innovations GmbH aus. „Was wir erforscht hatten, wollten wir auch technisch umsetzten und
die Gewinne daraus wieder in die Forschung zurückfließen lassen“, sagt Planck. Mittlerweile
wird die künstliche Haut in 36 Ländern vertrieben.
Mit dem Wundversorgungssystem wurden bisher bereits über 25.000 Brandopfer weltweit
geholfen. 75 Prozent aller deutschen Verbrennungskliniken setzen den temporären
Hautersatz ein. Er besteht aus einer synthetischen, mikroporösen, elastisch verformbaren
Polymermembran. Sie wird auf die gereinigte Wunde aufgelegt, gibt Milchsäure in die Wunde
ab und minimiert so die Vermehrung von Bakterien – die natürliche Haut kann ungestört
regenerieren. Suprathel wird nur einmal aufgebracht und verbleibt dort bis zur völligen
Abheilung. „ Suprathel funktioniert wie die natürliche Haut, die Wasserdampf aus dem Körper
entlässt, ihn aber gegen Erreger abdichtet und die Wunde komplett bedeckt“, erklärt Planck.
„Die textile Haut lindert nicht nur Schmerzen, sondern ermöglicht es der neuen Haut, darunter
geschützt nachzuwachsen.“
Wundmonitoring spart Verbandswechsel
Auch ein Projekt am Institut für
Textilmaschinen und Textile
Hochleistungswerkstofftechnik (ITM)
der Technischen Universität Dresden
lässt erahnen, wie lang der Weg einer
Idee bis in die Klinik ist. Ziel der
Forschergruppe um Projektleiterin Dr.
Dilbar Aibibu ist es, miniaturisierte,
hochflexible und hauchdünne textile
Biosensoren zu entwickeln, die über
die Heilung in einer chronischen
Wunde berichten.
In Deutschland leiden rund vier
Millionen Menschen an chronischen
Wunden, die Therapie kostet das
Gesundheitssystem acht Milliarden
Euro. Chronische Wunden heilen nur
sehr langsam, müssen oft über
Am Dresdner Institut für Textilmaschinen und
Textile Hochleistungswerkstofftechnik entwickelt
eine Arbeitsgruppe einen Wundverband, der über
textilbasierte Sensoren den Verlauf der
Wundheilung beobachtet.
Quelle: ITM/TU Dresden
Monate oder Jahre mit Wundauflagen,
Salben und Cremes versorgt werden. Die in Dresden entwickelten textilbasierten
Sensornetzwerke sollen – integriert in Wundverbandsysteme – selbst bei längerer
Verweilzeit der Verbände auf chronischen Wunden physiologische Parameter messen. Dazu
zählen der pH-Wert, der Lactat-Gehalt oder die Wundrandtemperatur. Die intelligente
Wundauflage verspricht, den Heilungsprozess objektiv zu überwachen. Verläuft er günstig,
kann ein schmerzhafter Verbandwechsel hinausgezögert werden.
Die Forschung für das patientenfreundliche Wundmonitoring erfolgt in zwei vom
Bundeswirtschaftsministerium geförderten Projekten von 2013 bis 2017. Danach muss die
Methode noch im Tierversuch getestet werden. „Bis wir Ärzte solch ein Wundmonitoring
haben, wird noch viel Zeit vergehen“, weiß Roland Aschoff, Oberarzt der Klinik und Poliklinik
für Dermatologie in Dresden, der das Projekt aus ärztlicher Sicht berät und die vorklinischen
Studien durchführen wird.
© Medizintechnologie.de/jej
Herunterladen