Fortbildung 51 Antibiotic Stewardship in der ­kinderärztlichen Praxis Hintergrund Atemwegsinfektionen zählen bei Kindern zwischen eins und sechs Jahren zu den häufigsten Gründen für eine Vorstellung beim Kinderarzt1, im kinderärztlichen Notdienst oder beim niedergelassenen Allgemeinmediziner [73,120]. In bis zu 20% der Fälle kommt es zu einer Anschlusskonsultation (Wiedervorstellung) im Verlauf der gleichen Erkrankungsepisode [18]. Die Mehrzahl der in diesem Zusammenhang beobachteten Infektionen (Akute Otitis media, Rhinitis, Sinusitis, Tonsillopharyngitis, subglottische Laryngitis, akute Bronchitis)2 stellen Virusinfektionen dar; in einem weitaus geringeren Anteil handelt es sich um bakterielle Infektionen (mitunter im Verlauf einer vorausgegangenen Virusinfektion) [16,71,103,133,136]. Eine Vielzahl von Studien weist regional [70], national [57,74] und in anderen europäischen Ländern [31,75,91,108,122] nachdrücklich und übereinstimmend darauf hin, dass Kindern mit eigentlich selbstlimitierenden Atemwegsinfektionen zu häufig Antibiotika verschrieben werden. Durch den unsachgemäßen Einsatz von Antibiotika werden die Patienten unerwünschten Risiken und Nebenwirkungen ausgesetzt, zu denen z. B. Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, antibiotika-assoziierte Diarrhoe [145], Arzneimittelexantheme und autoimmunologische Reaktionen [89,97] zählen. Selten kommt es zu einer durch C. difficile verursachten Enterokolitis [153], einem akuten Leberversagen [138] oder schweren Hautreaktionen bis zum Erythema exsudativum multiforme [30]. Der unsachgemäße Einsatz von Antibiotika bringt weitere Probleme mit sich. Sowohl beim individuellen Patienten als auch darüber hinaus (Familie, Kindergruppe, Region, Land) gibt es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem vermehrten Einsatz von Antibiotika und der Prävalenz von mehrfachantibiotikaresistenten Infektionserregern (MRE) [29,33,36,54,61,62,90]. Zu diesen Erregern gehören z. B. Makrolid-resistente Pneumokokken und GAS3 [11,55,80,85,115], Penicillin- und Amoxicillin-resistente Pneumokokken [4,35,55,61,137] sowie Amoxicillin- und Makrolid-resistente Haemophilus influenzae [115]. Die meisten bakteriellen Erreger (auch MRE) von Atemwegsinfektionen besiedeln die Schleimhaut der Atemwege bevor es zu einer Infektion kommt. Sie sind durch Tröpfchen, direkte und indirekte Kontakte 1 Gemeint ist immer der Facharzt / die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin leicht von Mensch zu Mensch übertragbar, vor allem, wenn Menschen in engem Kontakt zueinander stehen (Familie, Kindertagesstätte, Schulen). Nichtmedikamentöse Hygienemaßnahmen (z. B. Händehygiene)4 sind ein wichtiger, in vielen öffentlichen Kampagnen zur Antibiotikaresistenz unterrepräsentierter Aspekt der Infektionsprophylaxe[76]. Interessanterweise nehmen viele niedergelassene Ärzte (genau wie ihre Kollegen in der Klinik) das Problem der Antibiotika-resistenten Infektionserreger nicht als einen wichtigen Aspekt ihres persönlichen Tätigkeitsbereichs wahr [19,129,156]. Pädiater (auch solche mit sehr hohen Verschreibungsraten) lasten die Problematik der inadäquaten Antibiotikaverordnung eher den Allgemeinmedizinern und einem nicht adäquat besetzten kinderärztlichen Notdienst in ihrer Region an [135]. Annabelle Wagner¹ In dieser Übersicht, die im Rahmen des Projektes „Wann muss ich mir Sorgen machen5“ erstellt wurde, geht es um Hintergründe einer nicht leitliniengerechten Verschreibungspraxis und um Wege aus dem Dilemma der diagnostischen Unsicherheit in der Behandlung von Atemwegs­infektionen bei Kleinkindern. Dr. Hagen Reichert² Das Dilemma der diagnostischen ­Unsicherheit Aus der Perspektive des niedergelassenen Kinderarztes stellt sich das Problem der diagnostischen Unsicherheit bei Atemwegsinfektionen wie folgt dar: Eine sichere Unterscheidung zwischen viralen und bakteriellen Atemwegsinfektionen aufgrund der Anamnese und des Untersuchungsbefundes zum Zeitpunkt der Konsultation ist meist nicht möglich [5,37,45,146,147]. Neben dem Respiratory Syncytial Virus (RSV) und Influenzaviren kommen hier viele weitere virale Infektionserreger infrage (z. B. Rhinoviren, Humanes Metapneumovirus, Coronaviren u.v.m.), deren Nachweis mittels PCRbasierter Verfahren aus respiratorischen Sekreten zwar möglich, aber im ambulanten Bereich aus finanziellen Gründen außerhalb wissenschaftlicher Studien nicht durchführbar ist [84,154]. Kinderärzte stehen immer in einer ‚triadischen‘ (dreiwinkligen) Kommunikation [23], bei der die Eltern von Kleinkindern – im Unterschied zu Schulkindern und Jugendlichen - anstelle ihres Kindes sprechen [22]. Kleinkinder können sich zu 2 Die ambulant erworben Pneumonie wird Gegenstand eines nachfolgenden Beitrages. 4http://www.hygiene-tipps-fuer-kids.de/ 3 ß-hämolysierende Streptokokken der Serogruppe A, Streptococcus pyogenes 5 Universitätsklinikum des Saarlandes, Unterstützt unter anderem von der DGPI e.V. und dem BVKJ eV. 47. Jg. (2016) Nr. 2/16 Prof. Dr. Arne Simon¹ 1Universitätskliniken des Saarlandes, Kinderklinik, Pädiatrische Onkologie und Hämatologie 2Gemeinschaftspraxis für Kinder und Jugendmedizin, Richter, Reichert, Wahlen und Stierkorb, Talstraße 49, 66424 Homburg 52 Fortbildung den eigenen Beschwerden nur bedingt äußern und melden sich häufig nicht, wenn es ihnen schlechter geht. Eine deutliche Abnahme der sozialen Interaktion (Verfolgen, Lachen, auf Spielangebote eingehen, sich bewegen, neugierig sein usw.) muss bei ihnen als mögliches Warnzeichen einer ernsten Erkrankung angesehen werden[40,69,100,117]. Point-of-Care Laborparameter, wie z. B. ein Blutbild mit Differenzialblutbild oder eine CRP-Messung aus dem Kapillarblut [25] sowie eine ProcalcitoninBestimmung aus dem Serum [8,114], sind im ambulanten Behandlungskontext oft nicht verfügbar. Zudem gibt bis heute keinen Konsens in Bezug auf einen geeigneten ‚Grenzwert‘ für das CRP bei Kindern mit Atemwegsinfektionen [25,46,148,151], insbesondere nicht, wenn die Kinder in den ersten 24 Stunden nach Symptombeginn vorgestellt werden [155]. Auch wenn im Verlauf schwerwiegende, potentiell lebensbedrohliche Komplikationen (Meningitis bei Kindern nach Atemwegsinfektion [139-141], Mastoiditis nach AOM, Hirnabszess nach Sinusitis [43,56]) extrem selten sind, besteht die Befürchtung, aus weit über 100 Kindern mit einem eigentlich harmlosen Infekt genau das eine mit einer solchen schwerwiegenden Erkrankung [146] nicht rechtzeitig zu erkennen (‚verpasste Gelegenheit‘) [50,112]. Antibiotika sollten aber nicht verordnet werden, um die Angst der Ärzte zu besänftigen („Drug of fear“) [86]. Auch wenn das ‚Bauchgefühl‘ eines erfahrenen Kinderarztes keineswegs vernachlässigt werden darf (!) [147], kann eine subjektive Wahrnehmung allein nicht in der Mehrzahl der Fälle entscheidend für die Frage sein, ob wir sofort ein Antibiotikum verordnen oder nicht [128,143]. Bedeutet ‚weniger Antibiotika‘ auch ‚mehr Komplikationen‘? Die großzügige Verordnung von nicht indizierten Antibiotika löst das Problem der diagnostischen Unsicherheit nicht [6]. In großen epidemiologischen Studien zu einem restriktiveren Verordnungsverhalten wird das Risiko schwerer eitriger Komplikationen um höchstens 3,8 Fälle pro 10.000 Patienten erhöht (0,4 ‰) [81,111]. Zum Beispiel schützt die antibiotische Therapie jeder AOM nicht vor eitrigen Komplikationen [123], wie z. B. der Mastoiditis [58,72,142] oder vor der noch deutlich selteneren otogenen Meningitis [12]. In den Niederlanden, wo maximal 30% der Kinder mit AOM eine antibiotische Therapie erhalten, sind diese Komplikationen nicht häufiger [150]. Das gleiche gilt für die Inzidenz der Mastoiditis, des Peritonsillar­ abszesses und der Rhinosinusitis in Schweden, wo von 1993-2004 die Antibiotikaverordnungen bei Säuglingen und Kleinkindern (0-4 Jahre) um 37% sowie bei Vorschul- und Schulkindern (5-14 Jahre) um 57% gesenkt wurden [101]. Bei der akuten Bronchitis müssten 22 Patienten behandelt werden, damit ein Patient überhaupt messbar von der Antibiotikatherapie profitiert [124,125]. Ein seltenerer Einsatz von Antibiotika führt auch hier nicht zu vermehrten Komplikationen (z. B. mehr ambulant erworbene Pneumonien) oder einer schnelleren Genesung [17]. Orale Antibiotika verhindern eine Sepsis nicht [121]. Was wissen Eltern über den rationalen Einsatz von Antibiotika Nach den bislang vorliegenden Studien besteht bei einem relevanten Teil aller Eltern (Patienten) die Vorstellung, der Körper ihres Kindes (ihr eigener Körper), könnte sich an Antibiotika „gewöhnen“ wodurch deren „Wirksamkeit mit der Zeit nachlässt“ [14]. Zudem folgen einige Eltern der Idee, das „Abwehrsystem des Kindes werde durch jede Antibiotikaeinnahme geschwächt“6. In diesem Konstrukt ist Antibiotikaresistenz keine Eigenschaft eines (übertragbaren) bakteriellen Infektionserregers, sondern vielmehr eine Eigenschaft des Kindes (des Patienten) bzw. seines ‚Abwehrsystems‘. Viele Untersuchungen zum allgemeinen Informationsstand der Bevölkerung (der Patienten, der Eltern) haben dieses verbreitete Missverständnis nicht berücksichtigt. Auch einige falsche Annahmen zum Fieber, das Atemwegsinfektionen häufig begleitet, bereiten den Eltern Sorgen (Fieberangst, Angst vor Fieberkrämpfen) [38,116,134]. Ein erheblicher Anteil aller Eltern kann (auch jenseits von Sprachbarrieren bei Familien aus anderen Herkunftsländern) auf der Ebene der medizinischen Terminologie nicht zwischen einem Virus und einem Bakterium unterscheiden [20,34,99]. Die Information: „Es ist nur eine Virusinfektion“ wird deshalb nicht verstanden [19] und hilft nicht weiter, vor allem, wenn die Eltern die Symptome ihres Kindes als schwerwiegend und belastend wahrnehmen [21]. Außerdem glaubt etwa die Hälfte aller befragten Erwachsenen, Virusinfektionen könne man mit Antibiotika behandeln, 19% meinen, Antibiotika seien auch bei Erkältung wirksam [24,34,87]. Die Diagnose ‚akute Bronchitis‘ ist bei den meisten Erwachsenen (Eltern) gleichbedeutend mit der Indikation für ein Antibiotikum [24], bedauerlicherweise korreliert dies mit hohen Verschreibungsraten für Antibiotika, wenn der Arzt diese Diagnose stellt [59,109]. Aus diesem Grund wurde bereits vorgeschlagen, den Terminus ‚akute Bronchitis‘ in der Kommunikation mit den Patienten (Eltern) zu vermeiden und stattdessen von einer „Erkältung der Bronchien“ zu sprechen [113]. Obwohl die Zahl von Atemwegsinfektionen im Kleinkindalter insgesamt durch den vermehrten Besuch von Kinderkrippen und Kindertagesstätten zunimmt (bzw. sich in ein jüngeres Lebensalter verschiebt) [39], wissen viele Eltern heute nach wie vor wenig über den natürlichen Verlauf von Atemwegsinfektionen [67,68]. Viele Eltern möchten den Kinderarzt ihres Vertrauens [15] nicht unnötig ‚belästigen‘ 6 Komplexe Überlegungen zum Einfluss der Antibiotikagabe auf das gastrointestinale Mikrobiom und die sogenannte Kolonisationsresistenz des Kindes sind hier nicht ausschlaggebend. 47. Jg. (2016) Nr. 2/16 Fortbildung und insbesondere im Umgang mit ihrem kranken Kind auch nicht als ‚überängstlich, unerfahren und hilflos‘ wahrgenommen werden, obwohl sie sich manchmal so fühlen [105]. Der Grad der Beunruhigung der Eltern trägt unabhängig von den Symptomen des Kindes zu einer Antibiotikaverordnung bei [42]. Was Eltern besonders verunsichert sind fehlende Kriterien dafür, wann es ihrem Kind wirklich schlechter geht und wann eine (erneute) Vorstellung beim Kinder- und Jugendarzt7 zwingend erforderlich ist. Leider werden ihnen genau diese Informationen oft während der Konsultation nicht vermittelt [18]. Erwartungen der Eltern an die Konsultation bei Atemwegs­infektionen Eltern erwarten von der Konsultation vor allen Dingen [2,77,79,109], • eine sorgfältige körperliche Untersuchung ihres Kindes durch den Arzt; • eine Erklärung dazu, welche Erkrankung den Symptomen des Kindes wahrscheinlich zugrunde liegt [79]. Dabei möchten die Eltern, dass der Arzt auf ihre individuellen Fragen eingeht und ihnen zuhört [60,77] und sich ggf. an vorausgegangene Gespräche / Konsultationen erinnert [15,53]; • den Ausschluss einer schwerwiegenden lebensbedrohlichen Erkrankung (vor allem bei hohem Fieber über 39,5°C) [98,104,107]; • Hinweise auf medikamentöse und nicht-medikamentöse Möglichkeiten einer symptomatischen Behandlung • Hinweise auf Warnzeichen zu einem komplizierten Verlauf und an wen sie sich wenden sollen, wenn es dem Kind schlechter geht; • Hinweise auf die voraussichtliche Dauer der Erkrankung (Die Frage „Wie lange muss mein Kind zuhause bleiben?“ ist ein Teilaspekt hiervon) [41]. Wahrscheinlich erwartet nur ein kleiner Teil der Eltern grundsätzlich die Verordnung eines Antibiotikums. Manche Eltern denken jedoch auch: • „Ohne Antibiotika gibt es ein hohes Risiko für schwere Komplikationen.“ • „Mein Kind wird mit Antibiotika schneller wieder gesund.“ • „Warum gehst du zum Kinderarzt, wenn der dir kein Rezept ausstellt?“ Neben dem direkten Einfordern des Rezeptes für ein Antibiotikum (insgesamt selten, max. 10%) kommen folgende etwas subtilere Varianten des gleichen Anliegens/Verhaltens vor [130]: • ein Antibiotikum (das nach der Vorstellung des begleitenden Elternteils eine schnellere Genesung „garantiert“) wird dringend erbeten, weil ein Kindergeburtstag, ein Urlaub oder ein Familienfest bevorstehen. Der Arzt, der ein solches Anliegen „missachtet“, 7 Gemeint sind immer beide Geschlechter und auch Allgemeinmediziner, die Kleinkinder behandeln. 47. Jg. (2016) Nr. 2/16 wird für das voraussichtliche Misslingen des Events in die Verantwortung genommen. • Fehlende verbale und nonverbale Zustimmung zu den differenzialdiagnostischen Überlegungen des Arztes in Richtung einer nicht-bakteriellen Infektion; „Wollen Sie denn wirklich kein Antibiotikum geben?“. „Wenn es nicht besser wird, bin ich morgen wieder hier.“ Oder: „Die Oma hat gesagt: der Junge braucht ein Antibiotikum!“ • Verweis auf vorausgegangene Erfahrungen: „Das hatten wir vor Weihnachten schon einmal, da ist der Husten auch erst nach dem Antibiotikum besser geworden8.“ Gerade für diese Eltern, die das grundsätzlich berechtigte Anliegen einer Partizipation an der Entscheidungsfindung in diesem Sinne falsch interpretieren, ist es wichtig, dass wir als Kinder- und Jugendärzte auf diese falschen Erwartungen eingehen. Wir sollten ihnen unsere Entscheidungskriterien erläutern [96] und dabei konsequent sowohl inhaltlich als auch auf der (empathischen) Beziehungsebene der Gespräche [82,83] die richtigen Botschaften aussenden [94,128]. Die Haltung: „Irgendein Arzt verschreibt den Patienten letztendlich ja doch ein Antibiotikum, wenn sie es nur nachdrücklich genug einfordern“ kann hier nicht zielführend sein [19]. Falsche finanzielle „Anreize“ Die Verschreibung eines Antibiotikums erscheint den Behandlern mitunter kostengünstiger als eine gezielte Erregerdiagnostik zu betreiben oder einen Wiedervorstellungstermin anzubieten. Bereits beim ersten Besuch rechnet der Kinder- und Jugendarzt die Quartalspauschale ab, jeder weitere Besuch im Quartal zieht bei einem ansonsten gesunden Kind ohne eine chronische Grunderkrankung keine weitere Vergütung nach sich und ist daher wirtschaftlich unattraktiv. Dieses System verleitet dazu, den Fall mit einem Antibiotikarezept ‚abzuhandeln‘. Fehlinterpretation elterlicher ­Erwartungen Die Erwartungshaltung der Eltern kann den Kinderarzt ‚unter Druck setzen‘ und führt mitunter zur Verordnung von Antibiotika wider besseres Wissen9 [130], weil der Kinderarzt in einer Art „Balanceakt“ den Wunsch der Eltern über die medizinische Indikation stellt [65,130,132] und die Zufriedenheit der Eltern 8 Hier zeigt sich der mögliche Bumerang-Effekt: wenn beim letzten Mal die nicht indizierte Verordnung von Antibiotika „richtig“ war, wie kann sie jetzt (bei ähnlicher Symptomatik) falsch sein? Diese Spirale der Erwartungen nivelliert sehr schnell die „Zeitersparnis“ durch das großzügige / direkte Verordnen von Antibiotika, weil die Patienten in Zukunft bei ähnlichen Symptomen erneut zum Arzt kommen um sich „ihr Antibiotikum abzuholen“. 9 Man stelle sich im Vergleich hierzu vor, der Arzt verordne Betablocker an alle Patienten, die meinen, diese Medikamente zu benötigen weil ihr Herz zwischenzeitlich „zu schnell schlage“. 53 54 Fortbildung mit dem Ergebnis der Konsultation höher bewertet [19]. Dahinter stehen auf Seiten des Arztes zum Beispiel [112] • die fehlende Zeit für ausführliche Erläuterungen von Nutzen und Risiken einer Antibiotikatherapie [112,135], • die Angst des Arztes, eine schwerwiegende bakterielle Komplikation zu übersehen (drohender Ansehensverlust bei Patienten, Eltern, Kollegen) [112]. • die Notwendigkeit einer Wiedervorstellung bei ‚verzögerter Verordnung‘ (z. B. symptomatische Therapie, Beobachten und Zuwarten bei akuter Otitis media) [7,44], wodurch vor allem in den Wintermonaten der Terminplan der Praxis gesprengt werden kann. • die fehlende Bereitschaft, mit den Eltern ‚zu verhandeln‘ unter der Annahme, solche Diskurse könnten die Arzt-Patienten-Beziehung erheblich untergraben, die langfristig „…wichtiger ist, als die Frage der Verordnung von Penicillin“ [112] Mitunter haben Kinder- und Jugendärzte auch die Befürchtung, die Eltern könnten bei Unzufriedenheit den Kinderarzt wechseln [102] oder den Kinderarzt in Internetportalen „öffentlich abstrafen“ (z. B. durch eine negative Bewertung der Zufriedenheit mit dem Arztbesuch). In einem französischen Survey haben 74% der Ärzte Konsultationen bestätigt, bei denen die Eltern / Patienten das verschriebene Antibiotikum nicht haben wollten (Hunsinger V. Ref. 74 bei [76]). Man muss also annehmen, dass von ärztlicher Seite „kritische“ Nachfragen der Eltern zur Erkrankung des Kindes oder eine hypothetisch von den Eltern geäußerte Diagnose (‚Mein Kind hat schon wieder eine Mandelentzündung‘) [132] als Appell in Richtung einer Antibiotikaverordnung fehlinterpretiert werden [9,10,32,94-96,102]. Der vermeintliche Ruf nach einem Antibiotikum drückt wohl häufig nur den Wunsch nach einer rasch wirksamen symptomatischen Therapie aus (z. B. Analgetika bei Hals- oder Ohrenschmerzen) [149]. Wege aus dem Dilemma der ­diag­nostischen Unsicherheit Drei Kernfragen Drei Kernfragen sollten bei der Behandlung von Atemwegsinfektionen im Kindesalter besonders berücksichtigt werden [71] 1. Wie wahrscheinlich ist eine bakterielle Infektion? 2. Welchen Nutzen hat eine Antibiotikatherapie gegenüber dem natürlichen Verlauf (bei immunkompetenten Kindern ohne eine schwerwiegende Grunderkrankung oder andere Risikofaktoren)? 3. Was ist die bestmögliche Therapie [welches Antibiotikum (möglichst Penicillin-basierte Therapie), welche Dosis, welche Applikationsform (Saft, Tablette), Therapiedauer] Die Eltern an diesen Überlegungen (1 und 2) zu beteiligen schafft eine Grundlage für eine gemeinsame therapeutische Strategie (geteilte Entscheidungsfin- dung) und für eine gute Compliance / höhere Zufriedenheit mit der Konsultation, auch wenn kein Antibiotikum verschrieben wird [3]. Vielmehr können wir Kinderärzte durch Kompetenz und Sorgfalt bei der Anamnese und der körperlichen Untersuchung [106], • den Einsatz der Pulsoxymetrie zur Messung der Sauerstoffsättigung bei jedem Kind mit Atemwegsinfektion und Luftnot[139], • eine regelmäßige kritische Aktualisierung der wissenschaftlichen Grundlagen unseres Vorgehens [71], • einen Anschlusstermin (oder Kontakt) bei ‚zuwartender Beobachtung‘, • die Etablierung eines geeigneten Sicherheitsnetzes der ambulanten Versorgung (‚safety netting‘) [78,118], nach dem Vorsorgeprinzip der Risikoregulierung vorausschauend und systematisch auf die verbleibende‚ diagnostische Unsicherheit‘ reagieren. Sicherheitsnetz der ambulanten V ­ ersorgung Ein Sicherheitsnetz der ambulanten pädiatrischen Versorgung (‚safety netting‘) [78,118] soll die größtmögliche Behandlungssicherheit der Kinder im ambulanten Behandlungskontext gewährleisten. Dabei geht es darum, den Eltern zu vermitteln, wann sie medizinische Hilfe für ihr Kind benötigen und wo sie diese konkret erhalten. Es gibt keine 100%ige Sicherheit in Bezug auf die Diagnose aber aktuell auch keinen Hinweis auf Komplikationen. Wie verläuft die Erkrankung normalerweise (zeitlicher Verlauf)? Worauf genau müssen die Eltern achten (Informationen zu Warnzeichen für einen komplizierten Verlauf, mündlich und/oder schriftlich, ggf. in mehreren Sprachen verfügbar)? Wo (ganz konkret) und wie erhalten sie Hilfe, wenn etwas nicht stimmt? Vereinbarung eines kurzfristigen Anschlusstermins zur klinischen Kontrolle. Abb. 1: Was sind wichtige Beratungsinhalte innerhalb des Sicherheitsnetzes? Empfohlen wird auch die Zusammenfassung am Ende der Konsultation: „Können Sie bitte noch einmal wiederholen, worauf Sie achten sollen?“ Selbstverständlich steht es den Eltern frei, jederzeit erneut medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn sie unsicher oder besorgt sind. Das Sicherheits47. Jg. (2016) Nr. 2/16 56 Fortbildung netz ist nur eine zusätzliche, inhaltliche und strukturellorganisatorische Unterstützung. In vielen Regionen sind außerhalb der normalen Öffnungszeiten der Praxen der kinderärztliche Notdienst und die Notdienstambulanzen der Kinderkliniken wichtige Anlaufstellen innerhalb des ambulanten Sicherheitsnetzes. Für das Ziel einer Reduktion von Antibiotikaverordnungen bei Atemwegsinfektionen kann es sehr hilfreich sein, wenn alle behandelnden Ärzte sich als Teil eines gemeinsamen Netzwerkes10 begreifen und ihre Beratungsinhalte abstimmen, sodass die Eltern bei gleichem Krankheitsbild keine widersprüchlichen Empfehlungen erhalten. Regional organisierte ärztliche Fortbildungen können der Vereinbarung und der Verstetigung einer solchen „guten medizinischen Praxis“ dienen. Francis et al. führten eine qualitative Analyse von ‚verpassten Gelegenheiten‘ (d. h. von Komplikationen mit der Notwendigkeit einer stationärer Behandlung) bei Kindern durch, die initial mit den Symptomen einer Atemwegsinfektion vorstellig wurden [50]. Tatsächlich war keineswegs die fehlende Verordnung eines Antibiotikums für den ungünstigen Verlauf verantwortlich, sondern es gab andere, gravierende strukturell-organisatorische Versäumnisse und Defizite sowohl auf Seiten der Eltern als auch auf Seiten der ‚Anbieter‘ im Gesundheitssystem (keine Erkennung von Warnzeichen durch die schlecht informierten Eltern, Eltern haben Vorbehalte11, das Kind im Notdienst vorzustellen, Eltern erhalten keinen Termin für Verbesserte Kommunikation Ein direkter aber nicht immer einfacher Weg aus diesem Dilemma ist es, die Eltern nach ihren Erwartungen zu befragen und auch ihre individuellen Sorgen und Erklärungsmodelle in Bezug auf die Erkrankung des Kindes anzusprechen [9,10,110]. Während die Frage: „Erwarten Sie, das ich Ihrem Kind ein Antibiotikum verordne?“‘ oft in ein kommunikatives Desaster führt [102] („Warum verweigern sie meinem Kind etwas, was ihm doch zusteht?“), gibt es besser geeignete ‚Türöffner‘ für ein erfolgreiches Gespräch mit den Eltern (siehe Abb. 2). Zahlreiche Untersuchungen deuten darauf hin, dass eine in diesem Sinne verbesserte Kommunikation zwischen Kinderarzt und Eltern (zwischen Arzt und Patient) zu einer Reduktion des nicht gerechtfertigten Einsatzes von Antibiotika bei Atemwegsinfektionen beitragen kann [9,10,20,21,26,27,64,102,119]. Eltern, denen therapeutische Entscheidungen vorab sorgfältig erläutert werden, fühlen sich an der Entscheidungsfindung beteiligt und sind zufriedener mit der Konsultation, auch wenn kein Antibiotikum verordnet wurde [88,96]. Findet ein solcher Informationsaustausch nicht statt, sind Missverständnisse [13] und ggf. auch Fehler bei der Medikamenteneinnahme [1] vorprogrammiert. Naturgemäß ist es für den Kinderarzt einfacher, den Eltern die Entscheidung gegen ein Antibiotikum zu vermitteln, wenn die Familie mit ihrem Kind kontinuierlich bei diesem Arzt in Behandlung ist und eine gegenseitige Vertrauensbasis besteht. Umgekehrt werden – wenn der Kinderarzt im Notdienst die Familie / den Patienten nicht kennt – häu- Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Ihr Kind jetzt ansehen? Was bereitet Ihnen im Moment am meisten Sorge? Wie lange – glauben Sie – dauert eine Bronchitis bei Kindern? In zwei Tagen wird es ihrem Kind besser gehen, sodass es weniger oder kein Ibuprofen mehr benötigt. Wenn wir Ihrem Kind Antibiotika geben, kann es zu unerwünschten Nebenwirkungen kommen (z. B. Durchfall oder Hautausschlag), ohne dass ihm das Antibiotikum dabei hilft, die Infektion schneller zu besiegen. Wir können Ihrem Kind helfen, ohne dass wir Antibiotika geben müssen. (→ konkrete Hinweise auf symptomatische Behandlungsoptionen) Ich möchte Ihnen die Sicherheit geben, dass Sie bei einer Verschlechterung jederzeit wieder hier anrufen oder Ihr Kind vorstellen können. Ich finde das sehr gut, wie sorgfältig Sie Ihr Kind beobachten und möchte Sie sicherheitshalber auf folgende Warnzeichen für einen komplizierten Verlauf hinweisen… Abb. 2: Türöffner der erfolgreichen Kommunikation [83] die Vorstellung eines wirklich kranken Kindes, kein adäquates Sicherheitsnetz12). 10 Ein solches Netzwerk kann auch der prospektiven Evaluation bestimmter ungünstiger Ereignisse (z. B. Mastoiditis, otogene oder sinugene Meningitis usw.) in einer bestimmten Region dienen. 11 Zum Beispiel wegen der langen Wartezeit im ambulanten Notdienst und der zusätzlichen Belastung für ihr Kind, dem es ohnehin nicht gut geht. 12 In England gibt es über ‚NHS direkt‘ jederzeit die Möglichkeit einer telefonischen Beratung; allerdings kommt es anscheinend auch hier zu Problemen mit der korrekten Einordnung der Symptome („Triage“), z. B. weil die Eltern die Symptome nicht adäquat beschreiben können. figer Antibiotika verordnet. [42,112]. Das Bedürfnis nach Verlässlichkeit, gegenseitigem ­Respekt und Kontinuität besteht somit auf beiden Seiten. Durch systematische Analysen von Tonbandaufzeichnungen kinder- und allgemeinärztlicher Konsultationen kamen Stiver et al. [131] zu folgendem Ergebnis: 13 Eine verbesserte Kommunikation und der Wunsch der Eltern, an Entscheidungen aktiv beteiligt zu werden, ändern letztendlich jedoch nichts daran, dass wir 13 Nicht: „Es ist alles in Ordnung, das ist nur eine Virusinfektion.“ 47. Jg. (2016) Nr. 2/16 Fortbildung Die Empfehlung gegen den Einsatz eines Antibiotikums wird von den Eltern deutlich besser akzeptiert und seltener infrage gestellt, wenn ihr eine eindeutige und detaillierte Empfehlung für eine bestimmte symptomatische Behandlung12 vorausgeht. Kinder- und Jugendärzte die Verantwortung für eine angemessene Behandlung der unserer medizinischen Expertise anvertrauten Patienten haben. In diesem Kontext sind die Eltern und Patienten eben nicht nur unsere „Kunden“14 oder „Klienten“, denen wir einen „guten Service“ anbieten [112]. Die eigentlichen Kernbotschaften sollen daher eindeutig und in kurzen verständlichen Sätzen vermittelt werden [131]. Verzögerte Antibiotikaverordnung (‚­ delayed pre­ scription‘) Die verzögerte Antibiotikatherapie (insbesondere das Zuwarten und Beobachten) ist eine effektive Strategie zur Vermeidung von Antibiotika [7,126,127], v.a. bei der AOM (> 24 Monate) und bei der Sinusitis [152]. Eine verzögerte Antibiotikaverordnung kann zwei Strategien beinhalten • Zuwarten und Beobachten („wait and observe“ bzw. „watchful waiting“) Unter einer symptomatischen Therapie (!) wird das Kind von den Eltern sorgfältig beobachtet, eine klinische Kontrolle nach 48 h oder zumindest eine telefonische Rücksprache ist erforderlich. Wenn sich der Zustand des Kindes nicht bessert oder verschlechtert, wird ein Antibiotikum verordnet. • Ein Rezept mitgeben, das nur bei ausbleibender Besserung eingelöst wird Risiko: Die Eltern ‚horten‘ das Antibiotikum, nehmen es selbst oder geben es ihrem Kind ohne einen erneuten Arztbesuch, wenn sie glauben, es sei indiziert. Dieses Risiko ist jedoch nach Untersuchungen von Hawkins et al. [66] sehr gering. In einer bereits 2001 publizierten Studie von Little et al. zur AOM benötigten in der Gruppe mit verzögerte Antibiotikatherapie nur 36 von 150 Patienten (24%) letztendlich ein Antibiotikum [93]. Nach einer Studie von Chao et al. [28], in der beide oben erwähnten Strategien einer verzögerten Antibiotikatherapie bei Kindern über zwei Jahre mit unkomplizierter AOM miteinander verglichen wurden, ist das Zuwarten und Beobachten ohne ein Rezept die Strategie, die mit der niedrigsten Antibiotika-Behandlungsrate einhergeht (hier: kein Antibiotikum bei 81% vs. 53%). Das hält einige Pädiater grundsätzlich davon ab, solche verzögert einzulösende Rezepte auszustellen. Beide Strategien setzen verständige und kompetente Eltern voraus, denen die Warn14 Wenn gute Medizin zu einer Ware wird, die wir unseren Patienten und ihren Familien „verkaufen“, was sind wir Ärztinnen und Ärzte dann? Wir sind im betriebswirtschaftlichen Sinne Dienstleister, aber unsere Verantwortung für die Gesundheit und das Leben der Kinder und das Vertrauen, das die Familien uns schenken, macht unsere Tätigkeit in ihrer Gesamtheit zu deutlich mehr als einer Dienstleistung. 47. Jg. (2016) Nr. 2/16 zeichen für einen komplizierten Verlauf bekannt sein müssen. Die Eltern müssen auch wissen, an wen sie sich bei einer Verschlechterung des Zustandes ihres Kindes wenden sollen (Sicherheitsnetz) [50,78,118]. ‚Zuwarten und Beobachten‘ erfordert einen Anschlusstermin oder zumindest eine gezielte Kontaktaufnahme nach 48-72 Stunden. In einer epidemiologischen Studie aus Frankreich war der Verzicht auf das Antibiotikum maßgeblich für die Abnahme der Prävalenz Penicillin-resistenter Pneumokokken im Rachenabstrich[63]. Weniger Zeitdruck bei der Konsultation? Es gibt Hinweise darauf, dass Kinderärzte sich für das Ausstellen eines Antibiotikums entscheiden, weil sie zu wenig Zeit haben, den Eltern den Hintergrund der Entscheidung gegen eine sofortige Antibiotikatherapie zu erläutern [135]. Dieser kurzfristige Zeitgewinn führt langfristig dazu, dass die Zahl der Konsultationen wegen Atemwegsinfektionen zunimmt (siehe Anmerkung zum Bumerang-Effekt) [19]. Des Weiteren wurde von Linder et al. die Abhängigkeit der Verordnungshäufigkeit vom Zeitpunkt der Konsultation nachgewiesen: erschöpfte Ärzte am Ende eines anstrengenden Arbeitstages greifen demnach schneller zum Rezeptblock [92]. Möglicherweise kann die Verwendung einer Informationsbroschüre (wie in dem Projekt „Wann muss ich mir Sorgen machen“)15 die Kinder- und Jugendärzte langfristig auch in Bezug auf die zu investierende Zeit während der Konsultationen entlasten, weil wesentliche Inhalte zum Thema hier erläutert werden [47-49,51,52]. Die in den Wintermonaten mit ihrem hohen Aufkommen an Infektionskrankheiten allzu oft überlasteten Terminpläne niedergelassener Ärzte werden spürbar entlastet, wenn medizinisch eigentlich nicht notwendige (Folge-)Konsultationen durch eine gezielte Schulung bzw. Information der Eltern entfallen [18,144]. 15 Die Broschüre kann beim mhp Verlag Wiesbaden (https://ww.mhpverlag.de/) und über den Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V. bestellt werden. In einer der nächsten Ausgaben unserer Zeitschrift finden Sie den Folgebeitrag von Dr. Ulrich von Both: Antibiotic Stewardship im stationären Bereich der Pädiatrie Literatur beim Korrespondenzautor Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass kein ­Interessenkonflikt vorliegt. Prof. Dr. med. Arne Simon Klinik für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie Universitätsklinikum des Saarlandes Kirrberger Straße, Gebäude 9 66421 Homburg/Saar, Tel.: 06841/1628399 E-Mail: [email protected] Red.: Huppertz 57