Bildungsungleichheiten in Deutschland: Über ungleiche Bildungschancen zwischen einzelnen sozialen Schichten sowie von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund von Vanessa Engin Erstauflage Diplomica Verlag 2014 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 95850 788 3 schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG Leseprobe Textprobe: Kapitel 3, Die Bildungsexpansion: ‚ Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes gibt inhaltlich vor, niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen zu benachteiligen oder zu bevorzugen.‘ Dieser Artikel im Grundgesetz bildet die Grundlage dafür, dass allen Kindern in Deutschland der volle Zugang zu Bildung ermöglicht werden sollte. Wenn es um den Begriff der ‘Bildungsexpansion’ geht, stehen vor allem eine höhere Bildungsbeteiligung, der Ausbau von Bildungssystemen, die Ausweitung von Bildungsgelegenheiten für alle Kinder und die erhöhte Nachfrage nach Bildung im Mittelpunkt der Betrachtung. So bestand das Ziel der Bildungsexpansion der 60er Jahren darin, die Rahmenbedingungen für den Bildungszugang so zu gestalten, dass sich die Verweildauer im Bildungssystem verlängert sowie die Zahl höherer Bildungsabschlüsse zunimmt. Auch sollten weder das strukturelle Angebot an Bildungsgelegenheiten noch sozialstrukturelle Eigenschaften von Schulkindern und ihren Eltern systematische Einflüsse auf den Bildungsverlauf und den Erwerb von Bildungszertifikaten haben. Mit dem Ausbau des Schul- und Hochschulwesens und den institutionellen Reformen ist größtenteils erreicht worden, dass institutionelle, ökonomische und geographische Barrieren beim Bildungszugang weitgehend an Bedeutung verloren haben. Insbesondere konnten Mädchen ihre Bildungsdefizite gegenüber den Jungen mehr als ausgleichen, so dass nunmehr von einer Bildungsungleichheit zu Ungunsten von Jungen auszugehen ist. Sind diese Ziele der Reformbemühungen in den 1960er und 1970er Jahren tatsächlich erreicht worden, als es neben der Abwendung eines drohenden ‘Bildungsnotstandes’ und der ‘ Ausschöpfung von Begabtenreserven’, die in den bildungsfernen Sozialschichten vermutet wurden, vor allem um ‘Chancengleichheit durch Bildung’ ging? Gemessen an den bildungsreformerischen Zielsetzungen fallen die soziologischen Evaluationen ernüchternd aus. Im Zuge der Bildungsexpansion gab es zwar deutliche Verbesserungen, sprich die quantitative Zunahmen der Bildungsbeteiligung und eine höhere Bildungsqualität in der Bevölkerung, jedoch gab es gemessen am Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit und Schulbesuch nur mäßige bis geringe Struktureffekte beim Übergang in das Gymnasium. So hängen Chancen für den Übergang in das Gymnasium wie darauf aufbauende Bildungs- und Arbeitsmarktchancen immer noch von der sozialen Herkunft, von der Schichtzugehörigkeit und Klassenlage des Elternhauses ab. Beim Besuch der Realschule hingegen fand eine deutliche Angleichung der Schichten statt. Dass seinerzeit der Zugang zu höherer Bildung von Chancengleichheit geprägt war und dass vor allem Arbeiterkinder und Kinder von Landwirten, einfachen Angestellten und einfachen Beamten dabei benachteiligt waren, war für Dahrendorf (1965) der Ausgangspunkt, vehement die Einlösung von ‘Bildung als Bürgerrecht’ zu fordern. Vor dem Hintergrund des von Picht heraufbeschworenen Katastrophenszenarios warnte Dahrendorf davor, Bildung nur unter ökonomischen Aspekten zu betrachten. Vielmehr betonte er, dass Bildung eine entscheidende Grundvoraussetzung für die Entstehung und Garantie einer demokratischen Gesellschaft mündiger Bürger sei: Geringe Bildungsbeteiligung und hohe Bildungsungleichheit indizieren die Distanz der Eltern zu den Bildungseinrichtungen und damit die traditionelle Unmündigkeit der Bürger sowie einen gesellschaftlichen Modernitätsrückstand. Bildung hingegen bedeute Aufklärung und Erziehung zu liberalen mündigen Bürgern. Dahrendorf teilte die Erwartung, dass mit der Mobilisierung von Bildungsreserven (vor allem in den ‘bildungsfernen’ Sozialschichten) und mit Reformmaßnahmen im Bildungswesen die soziale Ungleichheit der Bildungsbeteiligung umfassend abgebaut und die gesellschaftliche Durchlässigkeit erhöht werden könne. Zweifelsohne war und ist das Prinzip der Chancengleichheit eine Maxime für die Bildungspolitik und die Gestaltung von Bildungssystemen. 3.1, Historische Eingrenzungen der Bildungsexpansion: Die erste Bildungsexpansion erlebten die Menschen im 18. Jahrhundert. Zu Beginn der Industrialisierung gewann das Thema Bildung an enormer Bedeutung, jedoch war in der damaligen Zeit dieser Zugewinn ein exklusives Recht der Reichen und somit nur den privilegierten Schichten vorbehalten. Im 19. und 20. Jahrhundert sind nach Müller u.a. drei Bildungsexpansionsschübe in Europa zu verzeichnen: 1. Die erste Etappe der Bildungsexpansion findet zwischen 1870 und dem Ersten Weltkrieg statt, es etablierten sich immer mehr kirchenunabhängige, nationale Bildungssysteme, die von der staatlichen Administration kontrolliert wurden. 2. In die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fällt die zweite Etappe der Bildungsexpansion. Durch den einsetzenden Demokratisierungsschub in Europa vollzog sich ein Prozess der Öffnung der weiterführenden Schulbildung für breite Bevölkerungsschichten. Grundlage dafür war die Einführung der Volksschule, die für alle gleichermaßen zur besuchten Schulform wurde. 3. Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt die dritte und entscheidende Etappe der Bildungsexpansion. Diese Bildungsexpansion führte zum Ausbau des tertiären Sektors sowie dem Zugang zu höherer Bildung für alle Schichten. 3.2, Ursachen der Bildungsexpansion: Zu Beginn der Bildungsexpansion standen politische Debatten und Katastrophenszenarien. Den Anstoß zur Bildungsreform gab die Debatte des ‘Bildungsnotstandes’. Die großen Qualitätsdefizite im Hinblick auf Bildung machten eine Veränderung unumgänglich. Auch der große Rückstand zum Ausland im Bezug auf die Abiturientenquoten und das Abiturientenniveau ließen Reformen als notwendig erscheinen. Weitere Defizite waren der Lehrernotstand, der schlechte Zustand von Schulräumen und Materialen sowie zu hohe Klassenzahlen. Eine wichtige Ursache für die Bildungsexpansion war der technische Fortschritt sowie das Wirtschaftswachstum. Durch diesen Fortschritt gewann der Besitz von Bildungszertifikaten bei Arbeitern und besonders bei Arbeitsgebern an Bedeutung und somit stieg die Nachfrage nach Bildung stark an. Durch die Bildungszertifikate ergaben sich für die Arbeitnehmer bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Auch begann ein Wettlauf um den Statuserwerb durch Bildung. Je höher das Individuum qualifiziert ist desto höher sein Prestige in der Gesellschaft. Eine weitere Ursache für die Bildungsexpansion sind die hohen Investitionen der Regierung in ein besseres Bildungsangebot. Durch dieses höhere Angebot an Bildung stieg auch die Nachfrage der Bevölkerung nach mehr Bildung. Für die Gesellschaft und die in ihr lebenden Individuen war Bildung der einzige Eingang zu knappen Gütern wie z.B., Reichtum, Macht, und Prestige.