Vorwort - Springer

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Vorwort
. . . es ist schwer, bei einem unendlichen Thema ein Ende zu finden, und alle
Themen sind unendlich.
Herman Melville (1850)
Die Mathematik und die Naturwissenschaften sind in ihrer heutigen Form
stark geprägt von unseren Versuchen, die Unendlichkeit mit unserem endlichen Verstand zu begreifen. Der deutsche Mathematiker Richard Dedekind
drückte dies im Jahre 1854 so aus (Dedekind (1854)):
Dagegen ist die Wissenschaft selbst . . . einer unendlichen Mannigfaltigkeit,
unendlich verschiedener Darstellungen fähig, weil sie als Werk des Menschen
seiner Willkür unterworfen und von allen Unvollkommenheiten seiner geistigen Kräfte mit getroffen ist. Für einen mit unbegrenztem Verstande begabten
Menschen, dem die letzten von uns durch eine lange Kette von Schlüssen
erhaltenen Konsequenzen unmittelbar evidente Wahrheiten wären, würde eigentlich keine Wissenschaft mehr existieren . . .
Dedekinds Worte spiegeln die zunehmende Aufmerksamkeit wider, welche die
Mathematik des 19. Jahrhunderts der Unendlichkeit widmete. Damals wurde
die Analyse unendlicher Prozesse (die Infinitesimalrechnung) zu einem unentbehrlichen Werkzeug in den Natur- und Ingenieurwissenschaften; es war
der Beginn einer Epoche, in der Unendlichkeit und Logik zum ersten Mal als
eigene mathematische Begriffe angesehen wurden. Dies führte zu neuen Erkenntnissen (zum Teil von Dedekind selbst stammend), gegen die sich alles
vorherige Wissen über diese Themen fast wie ein Kinderspiel ausnahm.
Viele populärwissenschaftliche Bücher sind schon über die Fortschritte in
unserem Verständnis der Unendlichkeit geschrieben worden, welche von Georg Cantors Mengenlehre in den 1870er Jahren und Kurt Gödels Unvollständigkeitssätzen in den 1930er Jahren ausgelöst wurden. Allerdings konzentrieren sich derartige Bücher im Allgemeinen nur auf einen einzigen Aspekt:
Sie sind entweder aus dem Blickwinkel der Mengenlehre oder dem der Logik geschrieben. Es ist, denke ich, noch nicht deutlich genug geworden, dass
die Ergebnisse von Cantor und Gödel ein nahtloses Ganzes bilden. Das Ziel
VIII
Wahrheit, Beweis, Unendlichkeit
des jetzigen Buches besteht darin, dieses große Ganze darzustellen; es soll gezeigt werden, wie Mengenlehre und Logik sich gegenseitig befruchten und wie
sie sich zudem auf die klassische Mathematik auszuwirken beginnen (wobei
Letzteres eine jüngere Entwicklung darstellt, der noch nicht viel Raum in allgemein verständlichen Darstellungen gegeben worden ist).
Insbesondere habe ich einige Sorgfalt darauf verwandt, von zwei bisher
vernachlässigten Persönlichkeiten in der Geschichte der Logik zu erzählen,
nämlich von Emil Post und Gerhard Gentzen. Post entdeckte die Unvollständigkeit schon vor Gödel, veröffentlichte aber seinen Beweis erst später. Dieser
Beweis jedoch verdeutlicht noch mehr als der von Gödel, woher die Unvollständigkeit in Cantors Mengenlehre stammt und wie sie mit der Berechenbarkeitstheorie zusammenhängt. Gentzen wiederum fand angesichts des gödelschen Satzes, demzufolge die Konsistenz (Widerspruchsfreiheit) der Zahlentheorie von einer Voraussetzung abhängt, die von außerhalb der Zahlentheorie
stammt, die geringste solche Voraussetzung – sie erwächst aus Cantors Theorie
der Ordinalzahlen – und ebnete so den Weg zu neuen Einsichten in das Wesen
der Unbeweisbarkeit in Zahlentheorie und Kombinatorik.
Dieses Buch kann als Fortsetzung meines Yearning for the Impossible angesehen werden, dessen Hauptaussage es war, dass wir in vielen Bereichen der
Mathematik nicht ohne irgendeine Art von Unendlichkeit auskommen. Das
jetzige Buch ergründet die Konsequenzen, die sich ergeben, wenn man die
Unendlichkeit akzeptiert, und diese Konsequenzen sind vielseitig und überraschend. Es gibt viele Ebenen der Unendlichkeit, die sich in Höhen bis fast
jenseits aller Vorstellungskraft erstrecken; und doch haben selbst die höchsten
Stufen „beobachtbare“ Auswirkungen auf die Ebene der endlichen Objekte
wie der natürlichen Zahlen 1; 2; 3 : : : In diesem Sinne kann die Unendlichkeit konkreter sein als manche Teile der theoretischen Physik! Im Einklang
mit dieser Behauptung werde ich hier nur wenig voraussetzen, was über die
Schulmathematik hinausgeht – abgesehen von der Bereitschaft, sich mit ungewohnten Ideen auseinanderzusetzen. Sollten sich die Schreibweisen der symbolischen Logik als zu ungewohnt erweisen, dann ist es immer noch möglich,
die symbollastigen Teile zu überspringen und dennoch das Wesentliche der
Geschichte zu erfassen.
Ich habe versucht, den Leser sanft in die technischen Details von Mengenlehre und Logik einzuführen, indem ich in jedem Kapitel einem einzigen
Gedankengang folge, den ich mit einer natürlichen mathematischen Frage
beginne und den ich dann anhand einer Abfolge von historischen Antworten
nachvollziehe. Normalerweise führt jede Antwort ihrerseits zu neuen Fragen,
und aus diesen entstehen wiederum neue Begriffe und Sätze. Jedes Kapitel
endet mit einem längeren Abschnitt „Historischer Hintergrund“, der den Versuch macht, das Thema in den größeren Zusammenhang der Mathematik
Vorwort
IX
und ihrer Geschichte einzuordnen. Meine Absicht dabei ist, Schlüsselideen
zunächst in Großaufnahme zu präsentieren, um sie anschließend aus einem
weiteren Blickwinkel nochmals zu zeigen und so zu vertiefen. Doch ist dies
nicht die einzige Möglichkeit, das Buch zu lesen. Manche Leser werden vielleicht mit Ungeduld die zentralen Sätze erwarten, so dass sie zumindest beim
ersten Lesen die historischen Abschnitte überspringen werden. Andere, die
von Anfang an am großen Bild interessiert sind, können sich zunächst mit
den historischen Hintergründen beschäftigen und erst anschließend in einem
zweiten Durchgang die Details ergänzen.
Das Buch hat sich seit den 1960er Jahren in meinem Unterbewusstsein
entwickelt, als ich mein Studium an der University of Melbourne und meine Promotion am MIT absolvierte. Damals waren Mengenlehre und Logik
meine Vorlieben in der Mathematik, doch hat es lange gedauert, bis ich sie
im richtigen Zusammenhang sehen konnte – ich entschuldige mich bei meinen Lehrern für die späte Rendite auf ihre Investition! Insbesondere möchte
ich Bruce Craven, Melbourne, für seine Nachsicht mit meinen Interessen außerhalb seines Fachgebietes danken sowie meinen Lehrern am MIT, Hartley
Rogers Jr. und Gerald Sacks dafür, dass sie meine Horizonte in Logik und
Mengenlehre erweitert haben.
In neueren Zeiten bin ich Jeremy Avigad dafür zu Dank verpflichtet, dass
er mich auf den neuesten Stand gebracht hat, und Cameron Freer für seine äußerst detaillierte Kritik an einem früheren Entwurf dieses Buches. Sehr
hilfreiche Anmerkungen stammen auch von John Dawson. Sollten noch Fehler übrig geblieben sein, so sind sie allein meine Schuld. Die University of San
Francisco und die Monash University gewährten mir wertvolle Unterstützung
und stellten ihre Einrichtungen zur Verfügung, während ich schrieb und recherchierte.
Ich möchte auch meinem Freund Abe Shenitzer für seine beständige Hilfe
beim Korrekturlesen danken sowie meinen Söhnen Michael und Robert dafür, dass sie diese beschwerliche Aufgabe mitgetragen haben. Und schließlich
danke ich, so wie zu jeder Zeit, meiner Frau Elaine.
University of San Francisco und Monash University
März 2010
John Stillwell
http://www.springer.com/978-3-642-37843-0
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