III. Grundlagen der Differential

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III. Grundlagen der Differential - und Integralrechnung
III. Grundlagen der Differential- und
Integralrechnung
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
18
Differenzierbare Funktionen
Maxima und Minima
Mittelwertsätze und Anwendungen
Integrale
Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung
Konstruktion elementarer Funktionen
Partialbruchzerlegung und elementare Stammfunktionen
Uneigentliche Integrale
88
93
95
100
105
108
111
117
Differenzierbare Funktionen
18.1 Motivation. a) Ausgangspunkte der Differentialrechnung sind das geometrische Problem der Bestimmung von Tangenten an (zunächst ebene) Kurven und das
physikalische Problem der Bestimmung von Momentangeschwindigkeiten, etwa bei
Bewegungen auf solchen Kurven. Zunächst wird das Tangentenproblem für solche
Kurven in R2 untersucht, die Graph einer Funktion sind.
b) Es seien also I ⊆ R ein offenes Intervall und f : I 7→ R eine Funktion. Für
a, x ∈ I , x 6= a , betrachtet man die Geraden durch (a, f (a)) und (x, f (x)) (Sekanten an den Graphen von f ) und ihre Steigungen; diese sind offenbar durch die
Differenzenquotienten
∆f (a; x) :=
f (x)−f (a)
x−a
(1)
gegeben. Für x → a (und stetige f ) nähert sich (x, f (x)) dem Punkt (a, f (a)) ,
und die Sekante sollte“ sich der Tangente“ durch (a, f (a)) an den Graphen von
”
”
f annähern. Dies ist genau dann der Fall, wenn die Sekantensteigungen ∆f (a; x)
für x → a einen Grenzwert besitzen.
18.2 Definition. Es seien I ⊆ R ein offenes Intervall und f : I 7→ R eine Funktion. f heißt differenzierbar im Punkt a ∈ I , falls der Grenzwert
f ′ (a) := lim
x→a
f (x) − f (a)
x−a
(2)
existiert. f ′ (a) heißt dann die Ableitung von f an der Stelle a ∈ I .
18.3 Bemerkungen. a) Ist f in a ∈ I differenzierbar, so heißt die durch
y = f (a) + f ′ (a) (x − a)
(3)
gegebene Gerade Tangente in a an den Graphen von f .
b) Mit h := x − a läßt sich der Limes in (2) auch schreiben als
f (a + h) − f (a)
.
h→0
h
f ′ (a) := lim
(4)
18 Differenzierbare Funktionen
89
d
df
(a) = ( f )(a) = f ′ (a) werden oft für die Ableitung
c) Auch die Bezeichnungen
dx
dx
verwendet.
18.4 Beispiele. a) Für pn : x 7→ xn , n ∈ N , gilt aufgrund des binomischen Satzes
(a+h)n −an
h
∆pn (a; a + h) =
= n an−1 +
n
2
an−2 h + · · · + hn−1 → nan−1
für x → a . Somit gilt p′n (a) = nan−1 für alle a ∈ R . Dies ist auch für n = 0 richtig.
b) Die Betragsfunktion A : x 7→ | x | ist in 0 nicht differenzierbar. Es gilt
|x|− |0|
=
∆A(0; x) =
x−0
(
1 , x>0
,
−1 , x < 0
und dieser Ausdruck hat offenbar keinen Grenzwert für x → 0 .
c) Für die Exponentialfunktion gilt nach (6.21)
∆ exp(a; a + h) =
ea+h −ea
h
= ea
eh −1
h
→ ea
für h → 0 ,
also exp′ (a) = exp(a) für alle a ∈ R .
d) Aus den Funktionalgleichungen (3.13) und (3.14) der trigonometrischen Funktionen sowie (5.13) und (5.16) ergibt sich für x ∈ R :
sin(x+h)−sin x
h
cos(x+h)−cos x
h
=
=
=
=
sin x cos h+cos x sin h−sin x
h
cos h−1
sin x + sinh h cos x
h
cos x cos h−sin x sin h−cos x
h
cos h−1
cos
x − sinh h sin x
h
→ cos x ,
→ − sin x ,
also
sin′ x = cos x ,
cos′ x = − sin x ,
x ∈ R.
(5)
18.5 Geschwindigkeiten. Es wird kurz auf eine physikalische Interpretation von
Ableitungen eingegangen. Bezeichnet s(t) den Ort eines sich auf einer Geraden be)
wegenden Massenpunktes zur Zeit t ∈ R , so ist offenbar ∆s(τ ; t) = s(t)−s(τ
die
t−τ
mittlere Geschwindigkeit des Massenpunktes im Zeitintervall [τ, t] . Daher kann die
Ableitung von s in τ , falls sie existiert, als Momentangeschwindigkeit
)
ṡ(τ ) = lim s(t)−s(τ
t−τ
t→τ
des Punktes zur Zeit τ aufgefaßt werden. Auch für andere zeitabhängige Größen
s(t) ist ṡ(τ ) als deren Änderungsgeschwindigkeit zur Zeit τ zu interpretieren. In
der Physik werden Ableitungen nach der Zeit meist mit ˙ = dtd “ bezeichnet.
”
18.6 Einseitige Ableitungen. a) Oft sind auch einseitige Ableitungen wichtig.
Funktionen f : [a, a + δ) 7→ R bzw. f : (a − δ, a] 7→ R heißen rechts- bzw. linksseitig
differenzierbar in a , falls die Grenzwerte
f+′ (a) := lim+
x→a
f (x)−f (a)
x−a
bzw. f−′ (a) := lim−
x→a
f (x)−f (a)
x−a
(6)
90
III. Grundlagen der Differential - und Integralrechnung
existieren.
b) Für die Betragsfunktion A : x 7→ | x | gilt A′+ (0) = 1 , A′− (0) = −1 .
√
c) Die auf [0, ∞) stetige Wurzelfunktion w2 : x 7→ x ist in allen a > 0 differenzierbar, in 0 aber nicht rechtsseitig differenzierbar. In der Tat hat man
∆w2 (a; x) =
√
√
x− a
x−a
=
√ 1√
x+ a
→
(
1
√
2 a
, a>0
+∞ , a = 0
für x → a bzw. x → 0+ . Für a > 0 gilt also w2′ (a) =
1
√
2 a
.
d) Eine Funktion f : I 7→ R heißt differenzierbar auf einem Intervall I , falls
f in jedem Punkt von I differenzierbar ist. Dabei wie auch stets im folgenden
ist Differenzierbarkeit in Intervallendpunkten als einseitige Differenzierbarkeit zu
verstehen.
18.7 Feststellung. Ist eine Funktion f ∈ F (I) differenzierbar in a ∈ I , so ist f
auch stetig in a .
Beweise zu diesem Abschnitt findet man in [K1], Abschnitt 19.
Die Beispiele 18.4 b) oder 18.6 c) zeigen, daß die Umkehrung dieser Aussage nicht
richtig ist. Nach K. Weierstraß gibt es sogar auf R stetige Funktionen, die in keinem
Punkt differenzierbar sind, vgl. [K1], 19.15*.
18.8 Satz. Sind f, g ∈ F (I) in a ∈ I differenzierbar, so gilt dies auch für f +g , f ·g
und, im Fall g(a) 6= 0 , für fg . Es gelten die Regeln
(f + g)′ (a) = f ′ (a) + g ′ (a) ,
(f · g)′ (a) = f ′ (a) · g(a) + f (a) · g ′ (a)
f
g
!′
(a) =
f (a) · g(a) − f (a) · g (a)
g(a)2
′
′
(Produktregel) ,
(7)
(8)
(Quotientenregel) .
(9)
18.9 Satz (Kettenregel). Es seien I, J ⊆ R Intervalle und f : I 7→ J , h : J 7→ R
Funktionen. Ist f differenzierbar in a ∈ I und h differenzierbar in f (a) ∈ J , so ist
auch h ◦ f : I 7→ R differenzierbar in a , und es gilt
(h ◦ f )′ (a) = h′ (f (a)) · f ′ (a) .
(10)
18.10 Beispiele. a) Für g : x 7→ (x2 + 1)n , n ∈ Z , hat man g = h ◦ f mit
f : x 7→ x2 + 1 und h : y 7→ y n . Aus (10) folgt also
g ′(x) = n (x2 + 1)n−1 · 2x .
b) Die Wurzelfunktion w2 : [0, ∞) 7→ R ist stetig und auf (0, ∞)√differenzierbar.
Für eine differenzierbare Funktion f : I 7→ [0, ∞) ist somit g := f auf I stetig
und außerhalb der Nullstellen von f differenzierbar, und dort gilt
g ′(x) =
√1
2
f (x)
· f ′ (x) (für f (x) 6= 0) .
c) Speziell für f : x 7→ r 2 − x2 ist die Funktion g : x 7→
und auf (−r, r) sogar differenzierbar mit
g ′(x) = − √r2x−x2 ,
|x| < r.
(11)
√
r 2 − x2 auf [−r, r] stetig
(12)
18 Differenzierbare Funktionen
91
18.11 Satz. Es seien I ⊆ R ein Intervall und f : I 7→ R stetig und streng monoton;
dann ist auch J := f (I) ein Intervall. Ist f in a ∈ I differenzierbar und f ′ (a) 6= 0 ,
so ist auch f −1 : J 7→ I in f (a) ∈ J differenzierbar, und es gilt
1
.
f ′ (a)
(f −1 )′ (f (a)) =
(13)
18.12 Beispiele und Bemerkungen. a) Die Voraussetzung f ′ (a) 6= 0 ist für
Satz 18.11 wesentlich. Für die Potenzfunktion p3 : x 7→ x3 etwa ist p′3 (0) = 0 , und
√
3 y ist in p (0) = 0 nicht differenzierbar.
p−1
3
3 = w3 : y 7→
b) Wegen exp′ (x) = exp(x) 6= 0 für x ∈ R ist log : (0, ∞) 7→ R differenzierbar mit
1
1
log′ y = exp′ (log
= exp(log
, also
y)
y)
log′ y = 1/y ,
y > 0.
(14)
c) Für die Potenzfunktion pα : x 7→ xα ist pα (x) = exp(α log x) , x > 0 . Mit der
Kettenregel folgt daher p′α (x) = exp(α log x) · α · x1 , also
p′α (x) = α xα−1 ,
x > 0, α ∈ R.
(15)
d) Wegen sin′ x = cos x > 0 auf (− π2 , π2 ) ist der Arcus-Sinus auf (−1, 1) differenzierbar. Für x ∈ (−1, 1) und y := arcsin x ∈ (− π2 , π2 ) gilt
arcsin′ x =
1
sin′ y
1
cos y
=
= √
1
1−sin2 y
=
√ 1
1−x2
.
(16)
e) Die Ableitung des Tangens ist gegeben durch
tan′ x =
cos2 x+sin2 x
cos2 x
=
1
cos2 x
= 1 + tan2 x .
(17)
Wegen tan′ x > 0 auf (− π2 , π2 ) ist der Arcus-Tangens auf R differenzierbar. Für
x ∈ R und y := arctan x ∈ (− π2 , π2 ) gilt
arctan′ x =
1
tan′ y
=
1
1+tan2 y
=
1
1+x2
.
(18)
18.13 Höhere Ableitungen. a) Ist f : I 7→ R eine differenzierbare Funktion auf
I und die durch f ′ : x 7→ f ′ (x) definierte Ableitungsfunktion von f stetig, so heißt
f stetig differenzierbar auf I , Notation: f ∈ C 1 (I, R) = C 1 (I) .
b) Für 2 ≤ m ∈ N werden rekursiv C m (I) := {f ∈ C 1 (I) | f ′ ∈ C m−1 (I)} und
f (m) := (f ′ )(m−1) für f ∈ C m (I) definiert.
c) C ∞ (I) :=
auf I .
∞
T
m=1
C m (I) heißt Menge der unendlich oft differenzierbaren Funktionen
18.14 Beispiele und Bemerkungen. a) Für f ∈ C m (I) heißt f (m) ∈ C(I)
die m-te Ableitung von f . Man schreibt auch f (2) = f ′′ , f (3) = f ′′′ , allgemein
m
d m
f (m) (x) = ddxmf (x) = (( dx
) f )(x) , und für m = 0 auch f (0) (x) := f (x) sowie
0
C (I) := C(I) .
b) Die Ableitung einer differenzierbaren Funktion ist i. a. nicht stetig. Ein solches
Beispiel ist gegeben durch die oszillierende Funktion (vgl. 5.18)
2
u2 : x 7→ x u(x) =
(
x2 cos x1 , x 6= 0
0 , x=0
(19)
92
III. Grundlagen der Differential - und Integralrechnung
Nach 5.18 ist u stetig auf R , und für x 6= 0 berechnen wir
u′2 (x) = 2x cos x1 + x2 · (− sin x1 ) · (− x12 ) = 2x cos x1 + sin x1 .
(20)
Weiter gilt
∆u2 (x; 0) =
u2 (x)−u2 (0)
x
= x cos x1 → 0 für x → 0 ,
und somit existiert u′2 (0) = 0 . Wegen (20) existieren aber die einseitigen Grenzwerte
u′2 (0+ ) und u′2 (0− ) nicht; folglich ist u2 auf R differenzierbar, u′2 in 0 aber unstetig.
x2 , x ≥ 0
ist differenzierbar, und es
−x2 , x < 0
gilt f ′ (x) = 2 | x | für x ∈ R . Somit gilt f ∈ C 1 (R) , aber f ist nicht zweimal
differenzierbar.
c) Die Funktion f : x 7→ x | x | =
(
d) Polynome P liegen in C ∞ (R) . Für n > deg P gilt offenbar P (n) = 0 .
e) Wegen exp′ = exp gilt exp ∈ C ∞ (R) .
f) Für x > 0 gilt log′ x =
1
x
, log′′ (x) = − x12 , log′′′ x =
2
x3
, . . . , allgemein
(m − 1)!
,
xm
wie man induktiv bestätigt. Somit gilt log ∈ C ∞ (0, ∞) .
log(m) (x) = (−1)m−1
(21)
18.15 Satz. Es seien I ⊆ R ein Intervall und 1 ≤ m ≤ ∞ .
a) Für f, g ∈ C m (I) gilt auch f + g , f · g ∈ C m (I) .
b) Für f ∈ C m (I) und h ∈ C m (f (I)) gilt h ◦ f ∈ C m (I) .
c) Ist f ∈ C m (I) und f (x) 6= 0 für x ∈ I , so folgt 1/f ∈ C m (I) .
d) Es sei f ∈ C m (I) streng monoton, und es gelte f ′ (x) 6= 0 für x ∈ I . Dann ist
auch J := f (I) ein Intervall, und es gilt f −1 ∈ C m (J) .
18.16 Beispiele und Bemerkungen. a) In der Situation von Satz 18.15 d) ergibt
sich die strenge Monotonie von f bereits aus den übrigen Voraussetzungen: Nach
dem Zwischenwertsatz gilt f ′ > 0 oder f ′ < 0 , und man verwendet Bemerkung
20.5 unten.
b) Rationale Funktionen, d. h. Quotienten von Polynomen, sind außerhalb der Nullstellen des Nenners C ∞ -Funktionen.
c) Für α ∈ R gilt pα = exp ◦(α log) ∈ C ∞ (0, ∞) .
d) Aus der Produktregel (f g)′ = f ′ g + f g ′ folgt für f, g ∈ C 3 (I) :
(f g)′′ = f ′′ g + f ′ g ′ + f ′ g ′ + f g ′′ = f ′′ g + 2f ′ g ′ + f g ′′ ,
(f g)′′′ = f ′′′ g + 3f ′′ g ′ + 3f ′ g ′′ + f g ′′′ .
dann
Allgemein hat man die folgende Leibniz-Regel für höhere Ableitungen:
(f g)(m) =
m P
m
k=0
k
f (m−k) g (k)
für f, g ∈ C m (I) .
(22)
Der Beweis ergibt sich induktiv genauso wie der des binomischen Satzes unter Verwendung von Lemma 2.12.
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