Von der Pille bis zum Kaiserschnitt – Frauenkörper zwischen Selbstbestimmung und Medikalisierung Rede von Ulrike Hauffe zur Jubiläumstagung der Gesellschaft für Geburtsvorbereitung und Familienbildung e.V. (GfG) „Am Anfang war Geburt“ Berlin, 09.10.2010 Um es gleich zu allererst zu sagen: Mein Fazit wird nicht sehr optimistisch ausfallen – gleichwohl bin ich nicht entmutigt. Kein bisschen. Mehr denn je – und in diesen Tagen ganz besonders – bin ich stolz und dankbar, zu den Gründungsfrauen der Gesellschaft für Geburtsvorbereitung gehören zu dürfen. Mehr denn je halte ich die GfG für eine unverzichtbare Bastion im Kampf gegen die rasant zunehmende Pathologisierung und Medikalisierung von Frauen. Die Haltung, aus der heraus sie vor 30 Jahren entstanden ist, ist aktueller und wichtiger denn je. An dieser Stelle also herzlichen Glückwunsch! Ihr, Sie, wir alle können stolz auf uns sein. Unser Weg geht weiter. Er war steinig und er wird es bleiben. Aber das seid ihr, das sind Sie und das bin ich gewohnt. Von der Pille bis zum Kaiserschnitt – Frauenkörper zwischen Selbstbestimmung und Medikalisierung lautet der Titel meines Vortrags, da steckt schon alles drin. Mit der Pille hat alles angefangen: die sexuelle Selbstbestimmtheit von Frauen, aber auch die Medikalisierung ihres Körpers. Der Kaiserschnitt mit seinen derzeitigen Raten von rund 30 Prozent und mehr markiert die aktuelle Position dieser Entwicklung: auch er mag für manche Selbstbestimmtheit bedeuten, in meinen Augen ist er aber in seiner inzwischen wahllosen Anwendung Macht- oder besser Entmachtungsinstrument. Die GfG stand und steht hier auf der Seite der Frauen und ihrer Selbstbestimmung, ihrer Fähigkeit zu gebären. Doch der Reihe nach. Als das deutsche Pharmaunternehmen Schering 1961 die erste europäische Verhütungs-Pille „Anovlar“ auf den Markt bringt, ist das keine Sensation, im Gegenteil. Schering machte wenig Werbung für das neue Produkt, und die empfängnisverhütende Funktion galt als Nebenwirkung und wurde öffentlich nicht „Von der Pille bis zum Kaiserschnitt“, Vortrag U. Hauffe, GfG-Tagung, 09.10.10, Seite 1 von 11 benannt. Aufgabe von „Anovlar“ war die „Ruhigstellung des Ovariums“, lindernd einzusetzen für dieses und jenes. Allein der Schlusssatz im Beipackzettel lautete: „Allerdings ist eine Empfängnis unter regelmäßiger Einnahme von Anovlar nicht möglich“ 1 . Die Revolution kam im Nebensatz und blieb lange unentdeckt. Erst in der zweiten Hälfte der 60er Jahre begann der Siegeszug der Pille: 1966 nahmen knapp drei Prozent der bundesdeutschen Frauen die Pille, fünf Jahre später waren es bereits 25 Prozent. Heute nehmen knapp 60 Prozent der Frauen zwischen 20 und 44 die Pille. Die Pille nahm die Angst und machte uns frei. Schluss mit Zwangsheiraten, weil da „was unterwegs war“, wie es so schön verschämt hieß. Schätzungsweise galt das Mitte der 60er für die Hälfte aller Paare. Mitte der 70er war dann der Pillenknick deutlich sichtbar: weniger Kinder, weniger Ehen. Schluss auch mit der UnSichtbarkeit weiblicher Lust, die bis in die Standardschwangerschaftskleidung reichte – dunkle formlose Hänger, die den Bauch, das Ergebnis und den Beweis von gehabtem Sex, verbergen sollten. All das änderte sich nun, und das machte Angst. Der Pille sei Dank. „Das gängige Frauenbild der bundesrepublikanischen Männerwelt gerät ins Wanken“, so formulierte es die Bremer Journalistin Eva Schindele. „She acts like we never have met“, sie benimmt sich als hätten wir uns nie getroffen, klagte Bob Dylan über eine Geliebte der vergangenen Nacht, die ihn am Morgen danach nicht mehr kennt. Das war 1964. Und ohne Pille undenkbar. In den Begriffen von Macht gesprochen: Die Pille ermächtigte uns Frauen. Geburtenplanung, ja Lebensplanung war nun endlich unsere eigene Sache: Wir hatten nun die Macht darüber, schwanger zu werden – oder anderes zu tun. Das Dasein als Hausfrau und Mutter war nicht mehr unausweichliches Schicksal, sondern einer von vielen Wegen, planbar oder vermeidbar. Aber nicht nur den Frauen gab die Pille eine neue Macht – von der Selbstbestimmung komme ich jetzt zur Medikalisierung des Frauenkörpers, die in meinen Augen mit der Pille ihren Anfang nahm. Die Pille war und bleibt zu allererst ein Medikament, auch wenn ihr erster Zweck nicht die Linderung oder Heilung einer Krankheit ist. Sie wird von Ärztinnen und Ärzten verschrieben. Seit Ende der 60er 1 Radiolexikon Pille, Deutschlandfunk 01.04.2008 „Von der Pille bis zum Kaiserschnitt“, Vortrag U. Hauffe, GfG-Tagung, 09.10.10, Seite 2 von 11 Jahre hat sich die Anzahl der Gynäkologinnen und Gynäkologen vervierfacht! Durch die Pille wurde Verhütung zu einem medizinischen Problem und die gesunde Frau zur Patientin. Ärztinnen und Ärzte wurde zu „Sachwaltern weiblicher Fruchtbarkeit“ 2 Mehr Autonomie, aber auch neue und viel mehr Fremdbestimmung. Diese Fremdbestimmung hat uns Frauen seither geprägt – sie beweist, dass weibliche Körperfunktionen an- und ausknipsbar zu sein scheinen wie ein Lichtschalter. Die Pille hat weibliche Körper verfügbarer gemacht als zuvor: Denn die männliche Angst vor einer dank Pille befreiten, unkontrollierbaren weiblichen Lust wird durch eine neue männliche Macht kompensiert: Der Frauenkörper wird in sexueller und sozialer Hinsicht verfügbarer. Schlicht gesagt: Sie muss immer wollen und dafür regelmäßig zum Arzt. Was also für viele Frauen tatsächlich Befreiung bedeutete, hieß für andere eine Unterordnung unter ein neues Diktat von Dauerlust und Kontrolle. Das ist mit Absicht überdeutlich formuliert. Die patriarchale Macht verliert nicht. Ich zitiere den Biochemiker und Erfinder der Pille Carl Djerassi: „Meines Erachtens soll der Mann die Hälfte der Verhütungsmittel übernehmen (...). Die meisten Männer haben nicht einmal die Höflichkeit zu fragen, bist du auf der Pille, sondern sie nehmen an, die Frau nimmt das und genieren sich überhaupt nicht.“ 3 Es sind die Zeiten der programmierten Geburt. „Kommen Sie um sieben Uhr nüchtern, dann haben Sie um 16 Uhr Ihr Kind, und Ihr Mann kann sich extra freinehmen.“ Gebären im Liegen oder vielmehr: Entbinden im Liegen – das Wort „Entbinden“ negiert den aktiven Part der Frauen und klingt schön keimfrei und nicht so elend körperlich und macht mich rasend! – Entbinden im Liegen also ist die Norm, und „nun reißen Sie sich mal zusammen“ hieß es, wenn’s dem Herrn Arzt zu laut wurde. Ehrlich gesagt, ich bin voll Bewunderung für all die Frauen, die unter der Geburt das auch noch über sich haben ergehen lassen. Einerseits. Andererseits war und bin ich voller Wut, dass sie sich das haben gefallen lassen. In einem Akt, der allein ihrer ist. Wir alle, die wir hier sind, waren damals voller Wut. Und wir haben gehandelt. Wir haben uns den Vorgang von Geburt zurück angeeignet. Ich sage so selbstbewusst „wir“, weil ich zwar nicht zu den Gründerinnen der allerersten Stunde 2 Giselind Berg, Standortbestimmung, in: Reprokult: Reproduktion und Gentechnik – Frauen zwischen Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Normierung, Dokumentation der Fachtagung 2001 in Berlin, S. 13ff, S. 13. 3 Zitiert nach Eva Schindele, Zur Kulturgeschichte der Pille, ein WDR-Zeitzeichen vom 18.08.2000 „Von der Pille bis zum Kaiserschnitt“, Vortrag U. Hauffe, GfG-Tagung, 09.10.10, Seite 3 von 11 gehöre, wohl aber ziemlich am Anfang dazugekommen bin – weil mich das Anliegen unserer Gesellschaft für Geburtsvorbereitung schon lang umgetrieben hat. Unseren gemeinsamen Leitsatz „Schwangerschaft ist keine Krankheit.“ verwende ich übrigens häufig – und immer noch ernte ich verdutzte Blicke, ein kurzes Innehalten und schließlich ein Begreifen, das dann meist in Nicken, Lächeln oder ähnliche Jastimmt-Effekte übergeht. Ich finde diese Reaktion im Wortsinn bezeichnend – welches Bild hat unsere Gesellschaft von einer schwangeren Frau gezeichnet? Auf jeden Fall erstmal ein beeinträchtigtes, nicht ein bereichertes – was es doch eigentlich ist. Dass Schwangerschaft also keine Krankheit ist, dass es zum Gebären keinen Arzt und zur Vorbereitung auf die Geburt auch keine Krankengymnastik braucht, das alles hatten wir und viele andere Frauen erkannt und hatten uns aufgemacht, uns dem patriarchalen Medizinbetrieb entgegenzustellen. Mit großem und nachhaltigem Erfolg, wie ich finde. Frauengesundheit ist inzwischen ein feststehender Begriff, den Politik, die Krankenkassen und zu allererst wir, die Basisarbeiterinnen, die vielen Frauengesundheitszentren mit ihrer immens wichtigen Arbeit prägen. Gleichwohl: Unserem Sich-Aneignen der Bestimmungsmacht über den eigenen Körper und die ihm eigenen Fähigkeiten steht eine fortgesetzte Ent-Eignung qua Krank-Schreibung unserer Körper gegenüber. Zwar haben wir, hat die Frauengesundheitsbewegung immer mehr an Terrain (zurück)gewonnen. Geburtshäuser gehören mittlerweile in vielen Städten dazu und sie müssen nicht mehr individuell um die Finanzierung kämpfen. Wir zählen mittlerweile zehn hebammengeleitete Kreißsäle in Deutschland, Hebammen sind wieder für die Schwangerenvorsorge zuständig, und Kliniken wetteifern mit Rooming In, Still- und Babyfreundlichkeit um die Gunst der werdenden Eltern. Ich freue mich, dass in meinem Bundesland Bremen derzeit rund vier Prozent der Frauen außerklinisch, mit einer Hebamme an ihrer Seite gebären. So weit, so gut. Aber dem entgegen steht leider eine ganze Menge: Schwangerschaft ist keine Krankheit – für viele aber ein Risiko, nach den viel zu engen Kriterien des Mutterpasses bereits für über 70 Prozent aller Schwangeren in „Von der Pille bis zum Kaiserschnitt“, Vortrag U. Hauffe, GfG-Tagung, 09.10.10, Seite 4 von 11 Deutschland. Statt in guter Hoffnung befinden sich Schwangere heute fast durchgehend in einem Zustand des Bedürfnisses nach Rückversicherung durch die ExpertInnen, die sie begleiten. Wenn eine Frau vermutet, dass sie schwanger ist, führt sie der erste Weg meist in die Apotheke, um einen Schwangerschaftstest zu kaufen, und der zweite in die gynäkologische Praxis zum Ultraschall. Die Botschaft lautet: „Deine Wahrnehmung ist unwichtig, was zählt, sind die objektiv testbaren Ergebnisse.“ Genau das, wogegen wir einst zusammen gefunden haben, ist zum Normalfall geworden. In der Broschüre „Schwangerschaft heute“, erstellt von der Aktion Mensch und dem Berufsverband der Frauenärzte vor einigen Jahren heißt es: „Sofort zu ersten Vorsorgeuntersuchung… wenn die Regel ausbleibt, ist das Baby bereits zwei Wochen alt. Sie sollten also keine Zeit verlieren! Ihr Frauenarzt/ärztin möchte möglichst schon jetzt eventuelle Risiken für eine Schwangerschaft erkennen und Sie entsprechend beraten.“ 4 Besonders die Benennung des zwei Wochen alten Embryos als Baby ist bezeichnend. Freudige Erwartung ist kein akzeptierter Zustand mehr. Dem Baby wird frühstzeitig eine eigenständige Existenz zugesprochen. Welche Folgen diese frühzeitige Auflösung der Symbiose für die Selbst- und Fremdwahrnehmung hat und was das für die Kompetenz des Sich-SchwangerFühlens bedeutet, wird nicht untersucht. Schwangere Frauen kommen in diesem Szenario nur noch ganz selten auf die Idee, ihr eigenes Empfinden als erste Instanz wahrzunehmen – und ihm zu vertrauen. Stattdessen haben sie den Wunsch, von außen – von Ärzten, Ärztinnen und Hebammen, von Geräten und Tests – die Bestätigung für Normalität, für Gesundheit zu erhalten. Sie sind bereit oder verlangen sogar alle möglichen Formen pränataler Diagnostik an sich anwenden zu lassen. Wir erleben Schwangerschaft heute vorwiegend als Destruktion von Fähigkeiten. Schlimmer noch: als selbst gewählte Destruktion von Fähigkeiten. Hausgeburt gilt vielen als Kindeswohlgefährdung – das verdeutlicht noch einmal den großen Verlust an Vertrauen und den großen, auch und gerade geldlichen Gewinn von Medizin- und Pharmabranche. Dass Hebammen, die außerklinische Geburten begleiten, durch immens hohe Haftpflichtprämien an den Rand ihrer Existenz gedrängt oder gar zur Berufsaufgabe gezwungen werden, spricht Bände – und dass Politik und Kassen hier eine „Lösung“ gefunden haben, die tatsächlich nur ein schlechter Witz ist, noch mehr. 4 ebd. „Von der Pille bis zum Kaiserschnitt“, Vortrag U. Hauffe, GfG-Tagung, 09.10.10, Seite 5 von 11 Selbstbestimmung meint für Frauen heute kaum, sich auf ihre Fähigkeiten und ihr Empfinden zu verlassen und ihren Körper einfach machen zu lassen, wofür er gemacht ist. Selbstbestimmung dient hingegen den meisten Frauen zu einem Maximum an Überwachung, fremder Einflussnahme und Eingriffen. Der Kaiserschnitt markiert hier den anderen Pol, den Gegensatz zu „Meinen Körper machen lassen, wozu er gemacht ist“. Ich meine hier ausdrücklich nicht den medizinisch wirklich notwendigen Kaiserschnitt, der Leben rettet, weil die Wehentätigkeit stoppt, die Plazenta sich vorzeitig ablöst oder die Herztöne des Babys abfallen. Ich meine den inzwischen fast wahllos aus den verschiedensten Gründen durchgeführten Kaiserschnitt. Jedes dritte Kind kommt in Deutschland per Kaiserschnitt zur Welt. Notwendig aus den eben genannten Gründen wären laut Weltgesundheitsorganisation WHO aber nur 15 Prozent. 5 Die anderen 15 Prozent haben andere Gründe: eine schwere erste Geburt, Angst vor Schmerzen, Angst vor möglichen Komplikationen oder Problemen beim Sex durch einen überdehnten Beckenboden. Laut Berufsverband der Frauenärzte nehmen Kaiserschnitt-Geburten zu, weil schwangere Frauen immer älter und damit risikobelasteter würden, weil Neugeborene immer größer und schwerer würden und weil es mehr Mehrlings- und Frühgeburten gebe. Die Sectiorate steigt, füge ich hinzu, weil es schlicht die Kapazitäten für Kaiserschnitte gibt, die Zeit für eine ruhige, der Natur ihren mitunter langsamen Lauf lassende Geburt jedoch nicht. Nicht im Klinikalltag, in dem zwei Stunden ohne Geburtsfortschritt Intervention bedeuten. Es müssen ja Gründe für einen Eingriff formuliert und dokumentiert werden, ansonsten wäre der Kaiserschnitt nicht angezeigt, nicht abrechenbar. Er wäre eine vorsätzliche Verletzung. Neulich saß mir ein Mediziner in sehr verantwortlichem Rang gegenüber. Mit den hohen Schnittzahlen seiner Institution konfrontiert zuckte er mit den Schultern und sagte: „Aber wenn die Frauen doch Angst haben.“ Ernsthaft! Wenn die Frauen doch Angst haben vor einer natürlichen Geburt, dann muss man ihnen doch den Schnitt bieten. Dann hätten wir konsequenterweise eine Sectiorate von nahezu 100 Prozent – denn welche Frau hat keine Angst. Angst ist ein menschliches Grundgefühl, das sich in als bedrohlich und unbekannt empfundenen Situationen als Besorgnis und Erregung äußert. Auslöser können dabei erwartete Bedrohungen etwa der körperlichen Unversehrheit, des Kontrollverlusts, der Selbstachtung oder des 5 Zahlen laut „Kaiserschnitt: Ja oder Nein“, in Emma Sommer 2010, S. 88 ff. „Von der Pille bis zum Kaiserschnitt“, Vortrag U. Hauffe, GfG-Tagung, 09.10.10, Seite 6 von 11 Selbstbildes sein. Evolutionsgeschichtlich hat Angst eine wichtige Funktion als ein die Sinne schärfender Schutzmechanismus, der in tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Gefahrensituationen ein angemessenes Verhalten einleitet. Angst ist also ein sinnvolles Gefühl. Mit ihr begleitend umzugehen gehört eigentlich zur Profession eines Geburtshelfers oder einer Geburtshelferin. Aber dieser Mann ist leider keine Ausnahme. Als wir vor 30 Jahren gemeinsam antraten, war er noch ein Kind. Soviel zur Breitenwirkung unseres Erfolgs. Selbstbestimmung ist keine Einbahnstraße. Wir haben dafür gekämpft uns nicht mehr dem patriarchalen Medizin-System ausliefern zu müssen, sondern unseren Körper mit seinen Fähigkeiten neu anzunehmen und ihm so wie er ist zu vertrauen. Selbstbestimmung 30 Jahre später heißt aber auch • späte, sehr späte Schwangerschaften, die nur durch medizinische Eingriffe, durch aufreibende und gefährliche Hormonbehandlungen mit dem damit verbundenen psychischen und physischen Stress möglich werden • die Inanspruchnahme aller medizinischen Möglichkeiten während einer Schwangerschaft und einer Geburt, außerhalb Deutschlands inklusive der aus meiner Sicht abzulehnenden Präimplantationsdiagnostik (PID), in der Leben schon im allerersten Moment seiner noch kaum vorhandenen Existenz nach Funktionen sortiert und verworfen wird. Häufig geht es hier übrigens um die Geschlechtswahl. In 80 Prozent von rund 3.000 PID-geprüften Zyklen im europäischen Ausland erfolgte die Präimplantationsdiagnostik nur zur Geschlechtswahl: zu 76 Prozent sind männliche Nachkommen die Favoriten. • 6 dem Diktat jugendlicher Schönheit dauerhaft zu gehorchen und seinen Körper entsprechend zu behandeln und behandeln zu lassen – an allen Stellen. Bei den schönheitschirurgischen Eingriffen haben so genannte Genitalkorrekturen eine der höchsten Wachstumstendenzen. • sich vor dem ersten Sex gegen HPV impfen zu lassen und diesen einmaligen und nie wiederkehrenden Akt zu einem Krankheitsrisiko zu machen • die Wechseljahre nicht mehr als Wechseln des Körpers in einen veränderten Zustand des Alters, sondern als fortgesetztes Stadium später Jugend mit stets 6 Linus Geisler: Dammbruch. Gentests an Embryonen, in: Dr. med. Mabuse 187, Sept./Okt.2010, S. 6f. „Von der Pille bis zum Kaiserschnitt“, Vortrag U. Hauffe, GfG-Tagung, 09.10.10, Seite 7 von 11 vorhandener, nötigenfalls per Medikamente und Gleitgel hergestellter Libido zu erleben. Am Montag dieser Woche wurde bekannt, dass der diesjährige Medizin-Nobelpreis an den britischen Forscher Robert Edwards geht, der die künstliche Befruchtung entwickelte. Das Nobel-Komitee bezeichnete seine Erfindung als „Meilenstein der modernen Medizin“. Dank der grundlegenden Forschungen des britischen Wissenschaftlers - von der ersten Idee zur Zeugung eines Embryos im Reagenzglas in den 1950er-Jahren bis zur Therapie - sei ein ganz neues Gebiet der Medizin entstanden. Ein ganz neues Gebiet der Medizin. Und, wenn ich hinzufügen darf: So ein lukratives! Ich weiß, dass ich mich in meiner Rede auf einem dünnen Grat bewege – natürlich brauchen wir die Medizin, natürlich brauchen wir den medizinisch notwendigen Kaiserschnitt und natürlich kann es krank machen oder Symptom einer Krankheit sein, wenn Paare ungewollt kinderlos bleiben. Doch mit Edwards Forschungen begann auch hier das Outsourcing ureigenster weiblicher Körperfunktionen. Über ihre Fruchtbarkeit bestimmte die Pille, über ihre Empfängnis das Reagenzglas. All das, die Medikalisierung und Pathologisierung des Frauenkörpers geschehen zu lassen, ist auch Selbstbestimmung – und mein jetzt schon mehrfach deutlich gewordener Pessimismus gründet sich in meiner Wahrnehmung, wie viel Raum die eben genannten Ausprägungen von Selbstbestimmung inzwischen greifen. Schon klar, dass wir denken, Frauen seien hier nicht wirklich selbst-, sondern fremdbestimmt. Sie unterliegen einem Schönheitsideal, das trotz aller Warnungen immer absurdere Ausmaße annimmt und inzwischen schon Babykleidung tailliert sein lässt. Sie sind Zielscheibe und Opfer einer bestens funktionierenden PRMaschine, die das jeweils Machbare als das gerade Unverzichtbare verkauft. Zugleich erleben sich insbesondere junge Frauen heutzutage als gleichberechtigter als alle Frauengenerationen vor ihnen. Feminismus in all seinen Facetten, auch im Kampf um den eigenen Körper, seine eigene Schönheit und gegen ein normiertes, von männlichen Vorstellungen geprägtes Ideal – all das ist sehr vielen sehr fern. In gewisser Weise hat unsere Revolution ihre Töchter gefressen: sie profitieren von dem, was wir erkämpft haben. Und das Machbare wird zur Pflicht. „Von der Pille bis zum Kaiserschnitt“, Vortrag U. Hauffe, GfG-Tagung, 09.10.10, Seite 8 von 11 Barbara Duden spricht hier von der „Selbstbestimmungsfalle.“ 7 Sie zeigt überdeutlich auf, wie sehr der Begriff Selbstbestimmung sich heute gegen uns Frauen gewendet hat: Die neuen technischen Verfahren, Gentests, künstliche Befruchtung, WunschKaiserschnitt bieten nicht nur neue Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten. Sie stellen vor allem das, was bisher gegeben und selbstverständlich war radikal in Frage. Das Gebären, den Körper machen lassen, wird zu einer Option unter mehreren. So wird Unvergleichliches gleich gemacht. Duden findet hier wunderbare Worte: „An die Freiheit, sich der Zukunft neugierig und hoffnungsvoll in die Arme zu werden, kommt der Wurm.“ Und: „Erwartendes Hoffen, mutiges Entlanggehen, die werden zerstört, weil die Zukunft so modelliert wird, dass sie zur Konsequenz vormaliger selbstbestimmter Entscheidung wird.(...) Die Erfahrung der Unvorhersehbarkeit dessen, was morgen sein wird, weicht der Illusion der Machbarkeit.“ Und hierüber müssen Schwangere entscheiden, selbst bestimmen. Ich zitiere noch einmal Barbara Duden: „Im Kontrast zu früheren Kämpfen von Frauen, die sich gegen Bevormundung selbstbestimmt zur Wehr setzten, und wo es um weibliche Handlungsfreiheit ging, ist dies das genaue Gegenteil von Freiheit. Die ‚selbstbestimmte Entscheidung’ in diesem klinischen Rahmen setzt gar keine Handlungsfreiheit voraus, denn die einzige Aktivität der Frau besteht darin, auszuwählen was sie konsumieren will.“ Wie perfide. Es gehört für Schwangere einiges dazu, sich dieser übermächtigen Technik- und Beratungsmaschine zu widersetzen – und es gehört sicher ein Suchen (und manchmal vielleicht auch Glück) dazu, zur richtigen Zeit die richtigen Menschen zu finden – eine von uns zum Beispiel, die andere, alte und nicht minder sichere Wege zeigt. Ich bin deshalb gar nicht entmutigt, kein bisschen, und ich vertrete heute vehement und mit viel Schwung und Spaß in zahlreichen Reden, Seminaren und Gastbeiträgen all das, was wir damals erarbeitet und errungen haben. Ich sehe auch viele Erfolge. Ich sehe nur nicht den großen Durchbruch: Die Medikalisierung und Pathologisierung des weiblichen Körpers, die mit der Pille ihren Anfang nahm, haben wir nicht aufhalten können. Aber wir haben erfolgreich die Machtfrage gestellt. Wir haben 7 „Die Selbstbestimmungsfalle (2)“ von Prof. Barbara Duden, in Hebammenforum 2/2005 „Von der Pille bis zum Kaiserschnitt“, Vortrag U. Hauffe, GfG-Tagung, 09.10.10, Seite 9 von 11 deutlich Alternativen etablieren können – Wege Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett außerhalb der Klinik und der medizinischen Intervention zu erleben. Geburtsvorbereitung ist heute keine Krankengymnastik mehr, sondern Körperwahrnehmung, Vorbereitung im eigentlichen Sinn – das haben wir gemacht! Wir haben Wege etablieren können, den eigenen Körper in seinem So-Sein annehmen zu lernen. Wir haben durchsetzen können, dass Hormone eben nicht das Mittel der Wahl in den Wechseljahren sind. Wir nehmen Einfluss. Wir werden gehört. Und das feiern wir heute zu Recht. Der Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft, als AKF den meisten bekannt, hat dieser Tage ein zum Thema passendes Positionspapier öffentlich gemacht, zu dessen Unterstützung ich Sie und Euch hiermit ausdrücklich aufrufe. „Es ist höchste Zeit, den Umgang mit Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zu überdenken“, lautet sein Titel, und der sagt schon alles. Viele von Ihnen und Euch werden das Papier sicher schon kennen. Der AKF formuliert seine Besorgnis über die Technik- und Test-Dominanz in der Schwangerschaftsbegleitung und kritisiert, der Kaiserschnitt sei Normalität geworden. „Wir vermissen Entwicklungen, welche die Potenziale der Frauen im Hinblick auf die Schwangerschaft und Geburt unterstützen. Es fehlt die gesellschaftliche Wertschätzung von Schwangerschaft und Geburt. Mütter und junge Familien werden in der ersten Zeit nach der Geburt vernachlässigt, in den Monaten, in denen für die Zukunft des Kindes und die Tragfähigkeit der jungen Familie entscheidende Weichen gestellt werden.“ Das Papier beschreibt all das, wofür wir uns als GfG seit 30 Jahren stark machen, und nennt eine Reihe von Forderungen an Bundes- und Länderregierungen, an Krankenkassen und Berufsverbände, die einen kulturellen Wandel, eine neue Wertschätzung von Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Familienbildung einleiten sollen. Muss es uns beschämen, dass all diese Forderungen heute aktueller denn je sind? Nein, finde ich nicht. Es zeigt, wie richtig wir lagen und noch liegen. Es steckt unser Handlungsfeld erneut ab: Hier ist der gemeinsame Strang, an dem wir ziehen müssen. Dafür möchte ich zum Schluss meiner Rede werben: dass wir uns nicht entmutigen lassen. Dass wir vielleicht nicht mehr mit derselben tiefen Wut auf das patriarchale System, dafür aber mit Lebenserfahrung und Unnachgiebigkeit weiter für „Von der Pille bis zum Kaiserschnitt“, Vortrag U. Hauffe, GfG-Tagung, 09.10.10, Seite 10 von 11 das eintreten, das uns auf unseren gemeinsamen Weg geführt hat. Lohnt es sich? Darüber und über vieles mehr werden wir sicher gleich reden. Ich finde: ja, es lohnt sich sehr! „Von der Pille bis zum Kaiserschnitt“, Vortrag U. Hauffe, GfG-Tagung, 09.10.10, Seite 11 von 11